Wie gross ist der zukünftige Anpassungsbedarf bei der AHV? Rückblick 1948-1998 und Ausblick 1998-2048

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Wie gross ist der zukünftige Anpassungsbedarf bei der AHV?
 Rückblick 1948-1998 und Ausblick 1998-2048
 MARCEL R. SAVIOZ und MARTIN WECHSLER*

                                                     My interest is in the future because
                                                     I ani going to spend the rest of my life there.
                                                                                    C.F. Kettering1

1. EINLEITUNG

 Am 6. Juli 1947 wurde das AHV-Gesetz mit 79.3% der Stimmen und einer Stimmbetei-
 ligung von 80% angenommen und am 1. Januar 1948 in Kraft gesetzt. Die Alters- und
 Hinterlassenenversicherung feierte somit am 1. Januar 1998 den fünfzigsten Jahrestag
 ihres Bestehens. Im Gegensatz zum Optimismus, der bei ihrer Gründung herrschte, ver-
breitet sich fünfzig Jahre danach eine gewisse Ernüchterung. Insbesondere sind die
zukünftigen Rentner unsicher darüber, ob sie, wie viel sie und in welchem Alter sie Ren-
ten von der AHV erwarten können. So rechnen in der Alterskategorie der 20- bis 29-
jährigen nur 41.5% damit, im Alter eine AHV-Rente zu erhalten.2 Die «Sicherheit der so-
zialen Wohlfahrt», insbesondere der AHV, die der Grundpfeiler der schweizerischen
Alterssicherung ist, wird somit zunehmend zum Thema. Die vorliegende Studie nimmt
den 50. Geburtstag der AHV und die Veränderung des Vertrauens der Versicherten in

*    Marcel R. Savioz, Lehrbeauftragter für Ökonometrie. Universität St. Gallen, SIAW, Dufourstr. 48,
     CH-9000 St. Gallen, Schweiz. E-mail: marcel.savioz@siaw.unisg.ch.
     Martin Wechsler, Eidg. dipi. Pensionsversicherungsexperte. Büro für unabhängige Pensionskassen- und
     Versicherungsberatung, Nenzlingerweg 16, CH-4223 Blauen. E-mail: wm@alters-vorsorge.ch
     Die Autoren danken den Referenten des Symposiums «Sozialpolitik: Grenzen und Möglichkeiten» des
     Vereins Jugend und Wirtschaft, Rorschach, 3. September 1997, und Muttenz, 29 Januar 1998, insbeson-
     dere Altnationalrat und Arbeitgebervertreter Heinz Allenspach, Dr. Hans Rudolf Schuppisser, Sekretär
     des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, Serge Gaillard, Sekretär des Schweizerischen Gewerk-
     schaftsbundes, Dr. W. Haug, Vizedirektor des Bundesamtes für Statistik, und Prof. Dr. Hans Schmid, Di-
     rektor des Forschungsinstitutes für Arbeit und Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen, für ihre wert-
     vollen Beiträge und den Teilnehmern für die interessante Diskussion. Weiter danken wir Reto Casserini,
     Dr. Lars P. Feld, Dr. Christian Jochum, Prof. Dr. Gebhard Kirchgässner, Prisca Koller, Prof. Dr. Olivier
     Landmann und Ulrich Müller für ihre wertvollen Anregungen und Diskussionen. Natürlich entbinden
     diese Annerkennungen die Autoren nicht der Verantwortung für den Inhalt dieser Studie.

1.   Zitiert nach C. W. J. GRANGER ( 1989), S. 197.
2.   Umfrage des Institutes für Marktanalyse in Hergiswil im Auftrag von Finanz und Wirtschaft, publiziert
     am 23. Juli 1997.
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diese Institution zum Anlass, der folgenden Frage nachzugehen: «Wie gross ist der
zukünftige Anpassungsbedarf bei der AHV?». Die Kenntnis der Versicherten von der
Grössenordnung des langfristigen, demographisch bedingten Anpassungsbedarfs ist eine
Vorbedingung zur Erhaltung ihres Vertrauens in die AHV.
    Wie es das einleitende Zitat ankündigt, wählen wir zur Beantwortung dieser Frage
eine langfristige Betrachtung. Einem Rückblick über die ersten fünfzig Jahre wird ein
Ausblick über die nächsten fünfzig Jahre folgen. Dabei geht es uns um die Identifikation
der Probleme in der Alters- und Hinterlassenenversicherung und um die quantitative Be-
stimmung der Anpassungen. Gezielt verwenden wir deskriptive Methoden und Simula-
tionen, wie sie von massgeblichen Instanzen, wie der IDA FiSo (Interdépartementale
Arbeitsgruppe Finanzierungsperspektiven der Sozialversicherungen) zur Vorbereitung
der sozialpolitischen Entscheidungen ebenfalls verwendet wurden.3
    Wir kommen zu folgenden Ergebnissen: Wie die Berechnungen unter Beibehaltung
der heutigen umlagefinanzierten AHV zeigen, ist der Anpassungsbedarf von Leistungen
und/oder Beiträgen aufgrund der zukünftigen demographischen Entwicklung substan-
tiell. Jedoch ist der Anpassungsbedarf nicht so gross, dass die AHV ihre Schutzfunktion
im Alter einbüssen würde. Selbst im «worst case»-Szenario eines Nullwachstums der
Arbeitsproduktivität (d.h. eines leicht negativen Wirtschaftswachstums ab 2008) sind
mit den heutigen Einnahmequellen und Beitragssätzen in der Zukunft über sFr. 65.-
einer Rente von heute sFr. 100.- finanziert. Dieser Deckungsbeitrag einer einzelnen
Rente erhöht sich erheblich, wenn das Produktivitätswachstum grösser ausfällt. Der
Schlüssel zur Finanzierung der AHV liegt somit zu einem erheblichen Teil bei der Wirt-
schaftspolitik. Diese soll - als historisch neue Aufgabe - eine dynamische wirtschaftli-
che Entwicklung in einer demographisch alternden Gesellschaft ermöglichen. Gelingt
eine Wirtschaftspolitik, die ein Produktivitätswachstum von 1.5% erlaubt, wie es über
den Zeitraum 1960-1990 der Fall war, so sind bereits Dreiviertel des heutigen Renten-
niveaus ohne Beitragssatzerhöhung auch in der Zukunft finanziert. Der demographische
Anpassungsbedarf wäre demnach in der Grössenordnung eines Viertels der Ausgaben.
    Die Frage nach dem Anpassungsbedarf in der AHV wird wie folgt beantwortet: Im
Abschnitt 2 blicken wir auf die ersten 50 Jahre des Bestehens der AHV zurück. Dabei
zeigen wir auf, dass die Finanzierung der AHV-Leistungen im Zeitraum 1948-1998
immer schwieriger wurde. Im 3. Abschnitt werden die Ursachen der heutigen und abseh-
baren zukünftigen Finanzierungsprobleme der AHV analysiert. Im Abschnitt 4 folgt ein
Ausblick 1998-2048 über die langfristigen Perspektiven der AHV. Unter der Annahme
eines Weiterbestehens der heutigen im Umlageverfahren finanzierten AHV wird der An-
passungsbedarf der Renten und/oder Beiträge anhand von Simulationsrechnungen er-
mittelt. In den Schlussfolgerungen (Abschnitt 5) werden die wichtigsten Ergebnisse zu-
sammengefasst. Die Simulationsergebnisse sind im Anhang wiedergegeben und die
Rechenmethode ist im Text dokumentiert.

3.    Zum Stellenwert von deskriptiven Methoden und Simulationsmethoden in der empirischen Wirtschafts-
      forschung siehe G. KIRCHGÄSSNER und M.R. SAVIOZ (1997).
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 2. AHV-RETROSPEKTIVE: DIE VERGANGENEN FÜNFZIG JAHRE

Der Verfassungsauftrag zur «Alters- und Hinterlassenenversicherung» (Art. 34^uater BV)
wurde von Volk und Ständen bereits am 6. Dezember 1925 gegeben. Es dauerte dann
23 Jahre bis dieser Auftrag ausgeführt wurde. Ein erster Gesetzesentwurf, die nach Bun-
desrat Schulthess benannte «Lex Schulthess», scheiterte am 6. Dezember 1931 an einem
Referendum. Das Versicherungsobligatorium und die als nicht finanzierbar empfunde-
nen Renten waren die Ursachen. Entscheidend für den Durchbruch der AHV war die
1939 für Unselbständigerwerbende und 1940 für Selbständigerwerbende in Kraft ge-
setzte Lohn- und Verdienstersatzordnung (LVEO), die Vorgängerin der heutigen Er-
werbsausfallentschädigung (EO). Diese Versicherung glich teilweise den Lohn- und
Verdienstausfall der Wehrmänner aus. Diejenigen, welche trotz militärischem Dienst
zeitweise oder permanent einer Erwerbstätigkeit nachgehen konnten, mussten Beiträge
entrichten. Die LVEO hat aufgezeigt, dass eine auf dem Umlageverfahren basierende
AHV finanzierbar ist. Die kriegsbedingte Hochachtung des Solidaritätsprinzips führte zu
einer Neubeurteilung der Nachteile eines Versicherungsobligatoriums. Noch während
des Krieges (ab 1941) wurden mehrere Standesinitiativen und eine Volksinitiative, die
eine Umwandlung der Lohn- und Verdienstsordnung in eine Alters- und Hinterlassenen-
versicherung vorschlug, eingereicht. Gegen das 1946 vom Parlament verabschiedete
AHV-Gesetz wurde das Referendum ergriffen. Mit der zahlenmässig grössten Majorität,
die je einer Vorlage zum Erfolg verholfen hatte, stimmte das Volk am 6. Juli 1947 mit
79.3% der Stimmen dem AHV-Gesetz zu. Am 1. Januar 1948 wurde das AHV-Gesetz in
Kraft gesetzt.4

2.1. Der institutionelle Ausbau
Die Grundzüge der heutigen AHV sind bereits im Gesetz von 1947 vorgegeben: Ziel der
AHV ist es, den Existenzbedarf des Versicherten im Alter (Altersrente) zu decken. Fer-
ner soll beim Tod des Versicherten die finanzielle Existenz der Hinterlassenen (Witwen-
und Witwerrente,5 Waisenrente) gesichert werden. Die Versicherung wird im Umlage-
verfahren finanziert: Dabei werden die Rentenleistungen durch die obligatorischen
Beiträge der noch nicht rentenberechtigten Bevölkerung, der erwerbstätigen Rentner
sowie durch Bundesbeiträge gedeckt. Die Beiträge werden in Lohnprozenten6 für die Er-

4.   Vgl. R BlNSWANGER (1986), S. 116.
5.   Während die anderen Renten schon im Gesetz von 1947 vorhanden waren, sind Witwerrenten erst mit
     der 10. Revision eingeführt worden.
6.   Der Beitragssatz vom Lohneinkommen beträgt 8.4% für Unselbständigerwerbende, wobei Arbeitgeber
     und Arbeitnehmer je die Hälfte entrichten, und 7.8% für Selbständigerwerbende mit einem Einkommen
     von sFr. 47 800.- und mehr. Nichterwerbstätige zahlen Beiträge nach Vermögen und Renteneinkommen,
     mindestens sFr. 390.- und maximal sFr. 10000.- pro Jahr. Rentner mit einen Freibetrag des Lohnein-
     kommens von sFr. 16800.- pro Jahr sind ebenfalls beitragspflichtig. Diese Angaben beziehen sich auf
     das Jahr 1998.
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werbstätigen und abgestuft nach dem Vermögen für Nichterwerbstätige erhoben.7 Sah
die Lex Schulthess noch eine Mischung von Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren
vor, so begnügt sich die AHV mit einen Ausgleichsfonds, der die Renten ein Jahr lang
decken soll. Das Solidaritätsprinzip will, dass die Lohnprozentbeiträge gegen oben nicht
beschränkt sind, während die Renten nach oben und unten restringiert sind. Auf das Ver-
sicherungsprinzip wurde nicht verzichtet, da die Renten zwischen einer Minimal- und
einer Maximalrente nach den geleisteten Beiträgen entrichtet werden. Ferner führen Bei-
tragslücken zu proportionalen Leistungskürzungen.
   Am 3. Dezember 1972 wurde der Art. 34^uater der Bundesverfassung revidiert und das
Drei-Säulenprinzip der Altersvorsorge in die Bundesverfassung aufgenommen. Darin
wird die existenzsichernde AHV durch die berufliche Vorsorge (zweite Säule) und durch
das steuerlich geförderte Sparen (dritte Säule) ergänzt. Die berufliche Vorsorge, welche
seit 1985 obligatorisch ist, soll die Fortführung der gewohnten Lebenshaltung ermög-
lichen und wird nach dem Kapitaldeckungsverfahren finanziert.
   Das AHV-Gesetz wurde seit 1948 bereits zehnmal revidiert. Die ersten Revisionen er-
höhten die Renten und bauten die Leistungen aus. So wurde 1957 anlässlich der 4. Re-
vision das Rentenalter der Frauen von 65 auf 63 Jahre herabgesetzt. Mit der 6. Revision
im Jahr 1964 wird ein Rentenalter von 62 Jahren für die Frauen eingeführt. Die 1966 ein-
geführten Ergänzungsleistungen zur AHV sollen eine bedarfsgerechte Existenzsiche-
rung ermöglichen. Sie haben die Differenz zwischen den anrechenbaren Ausgaben und
dem Einkommen des Rentenbezügers zu decken.8 Die wichtigste Neuerung der 9. AHV-
Revision (1979) war die automatische Anpassung der Renten an die Lohn- und Preis-
entwicklung mit dem sog. Mischindex. Mit der 10. Revision (1993/97) lösten individu-
elle Renten die Ehepaarrenten ab. Die AHV ging vom Familienprinzip über auf das
Einzelrentensystem. Neu werden Erziehungs- und Betreuungsgutschriften gewährt, so
dass diese Tätigkeiten bei der Bestimmung der Renten berücksichtigt werden. Als Pen-
dant zur Witwenrente wird die Witwerrente eingeführt. Zur Finanzierung dieser Leis-
tungsverbesserungen wird, bis zum Jahr 2005, das Rentenalter der Frauen schrittweise
auf 64 Jahre erhöht. Neu wird der flexible Rentenvorbezug um ein oder zwei Jahre bei
entsprechender Kürzung ermöglicht.
   Will man verstehen, warum sich die Finanzierungsfrage der AHV in der Zukunft an-
ders stellen wird als in der Vergangenheit, so ist eine Analyse des AHV-Finanzhaushalts
im Rückblick nützlich. Zwei Perioden sind zu unterscheiden: In den fünfziger, sechziger
und anfangs der siebziger Jahre wurden die Leistungen der AHV ohne wesentliche Fi-
nanzierungsprobleme stetig ausgebaut. Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wur-

7.    Die nichterwerbstätigen Ehegatten, deren erwerbstätige Ehepartner den doppelten Mindestbeitrag leis-
      ten, sind nicht beitragspflichtig.
8.    Die anrechenbaren Ausgaben setzten sich zusammen aus dem Lebensbedarf ( 1998: sFr. 16 290.- für Al-
      leinstehende und sFr. 24435.- für Ehepaare), dem Mietzins (bis zu einem Höchstbetrag) und den Kran-
      kenkassenprämien. Bei den Einnahmen werden weitere Renteneinkommen, Einkommen aus Vermögen
      und den Vermögensverzehr berücksichtigt.
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den die AHV-Leistungen nicht mehr im gleichen Umfang ausgeweitet, und die Finan-
zierung über Lohnprozente ist schwieriger geworden.

2.2. Leistung und Ausgaben
Bei der Einführung der AHV im Jahre 1948 betrug die einfache Maximalrente (bzw. Mi-
nimalrente) sFr. 125.- (sFr. 40.-) pro Monat. Berücksichtigt man die Geldentwertung, so
entspricht dies fünfzig Jahre später einer Rente von sFr. 524.30 (sFr. 167.80). Ein Lohn-
einkommen in der Höhe der damaligen Rente entspricht 1998 einer Rente von
sFr. 1249.10 (sFr. 399.70). Zunächst waren Gesetzesrevisionen notwendig, um die Ren-
ten der Teuerung anzugleichen, wobei die Renten schneller als die Inflation wuchsen.
Wie Abbildung 1 zeigt, ist dabei vor allem die 8. AHV-Revision, welche in den Jahren
1973 und 1975 in zwei Etappen eingeführt wurde und die Renten nominell fast verdop-
pelte, zu erwähnen.

                      Abbildung 1: Entwicklung der AHV-Maximalrente

                              ] Zu laufenden Preisen
                              - Zu Preisen von 1998
                              -- In Lohnfranken von 1998

Mit der 9. AHV-Revision wurde 1979 die automatische und volle Anpassung der Renten
an die Preisentwickung sowie an die Hälfte der Lohnentwicklung (Mischindex) einge-
führt. Im fünfzigsten Jahr des Bestehens der AHV beträgt die Maximalrente sFr. 1990.-
(sFr. 995.-). Verglichen mit 1948 entspricht dies in konstanten Geldeinheiten einer Zu-
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nähme von 280% (490%) oder gemessen an der durchschnittlichen Lohnentwicklung
einer Zunahme von 60% (150%). Jedoch erfolgte dieser reale Leistungsausbau
hauptsächlich in der Wachstumsepoche von 1955 bis 1975. Danach sind die Renten,
wenn man die Geldentwertung berücksichtigt, nur unwesentlich gewachsen. Wenn man
sie mit der durchschnittlichen Lohnentwicklung vergleicht, sind sie sogar gefallen.
Heute erhalten ein Drittel der Rentner die Maximalrente und ein weiteres Drittel eine
Rente, die in der Nähe des Maximums liegt. Die Untersuchung von R.E. LEU et al.
(1997) hat für das Jahr 1992 gezeigt, dass im Gegensatz zu früheren Untersuchungen
Altersrentner und -rentnerinnen nicht überdurchschnittlich von Ressourcenschwäche
betroffen sind.9
   Der Ausbau der AHV-Leistungen führte zu einem starken Ausgabenwachstum.
Während das Bruttoinlandsprodukt zwischen 1960 und 1990 real um durchschnittlich
2.1 % pro Jahr wuchs, nahmen die realen AHV-Ausgaben um 6.7% zu. Dies entspricht
einer Verdoppelung alle 10 Jahre. Diese Ausgabendynamik war nur unwesentlich auf die
Zunahme des Alterslastquotienten (1.3%) und des Bevölkerungswachstums (0.5%)
zurückzuführen. Der grösste Teil (4.9%) ist auf den Leistungsausbau bzw. die Zunahme
der Ausgaben pro Rentner zurückzuführen.10

2.3. Beiträge und Einnahmen
Die dynamische Entwicklung der AHV-Ausgaben wurde bis 1975 mühelos durch die
Zunahme der Einnahmen gedeckt. Der Anteil der Einnahmen, der durch die Subventio-
nen von Bund und Kantonen bezahlt wurde, schwankte dabei zwischen 20% und 30%.
Gegenwärtig übernimmt die öffentliche Hand 20 Prozent der Ausgaben der AHV (Bund:
17%, Kantone 3%). Die Einnahmen des Bundes aus der Branntwein- und der Tabak-
steuer sowie der zukünftigen Besteuerung der Spielbanken sind zweckgebunden zur
Deckung dieses Beitrages an die Ausgaben der AHV zu verwenden. Die Hauptfinanzie-
rungsquelle der AHV sind jedoch die Lohnprozente. Bemerkenswert ist dabei, dass mit
Ausnahme der siebziger Jahre, in denen die Leistungen ausgebaut wurden, die Beitrags-
sätze konstant geblieben sind (vgl. Abbildung 2). Die Beitragssätze für Unselbständig-
erwerbende betrugen von 1948 bis 1968 4% und seit 1975 8.4%. Artikel 41 ler Absatz 3bis
der Bundesverfassung, der in der Volksabstimmung vom 28. November 1993 angenom-
men wurde, erlaubt die Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt zur Si-
cherstellung der Finanzierung der AHV und der Invalidenversicherung. Dieser Steuer-
prozent wird ab dem 1. Januar 1999 erhoben und die Mehrwertsteuer von 6.5% auf 7.5%
erhöht.

 9.   Vgl. R.E. LEU, et al. (1997), S.155.
10.   Vgl. M. WECHSLER und M.R. SAVIOZ ( 1996), S. 81.
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                                                                     483

                                          Abbildung 2: Beitragssätze der AHV

                9               .

               8-

               7-

               6-

               5-

               4                                              /

               3    1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 }   1 1 1 1 1 1 1 1   1 1 1 1 1 1 1 1   » i 11 1 1 1   11 11 i 11   11

                      50        55         60        65           70        75         80         85         90      95

                        Unselbständigerwerbende                                         Selbständigerwerbende

Die günstige Einnahmensituation lässt sich damit erklären, dass das Aufkommen aus
Lohnprozenten nicht nur mit der Inflation, sondern auch mit der Produktivität und der
Erwerbstätigkeit wächst. Einerseits stieg die Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätigen
zwischen 1950 und 1975 mit einer jährlichen Wachstumsrate von 2.6%, was zu einer
Verdoppelung der Lohnsumme in diesem Zeitraum führte. Andererseits nahm die An-
zahl der Erwerbstätigen von 2.3 Mio. (1950) auf 3.8 Mio. (1990) zu. Schliesslich wurden
im Laufe der Zeit immer mehr Einkommensarten der AHV-Pflicht unterstellt. So stieg
der Anteil der AHV-Lohnsumme am Bruttoinlandsprodukt von 54% (1960) auf über
60% (1997).
   Nach 1975 wurde immer deutlicher, dass der Finanzierungsmotor der AHV stottert.
In Abbildung 3 sind die Beitragseinnahmen pro Erwerbstätigen zu Preisen von 1998, be-
zogen auf ein Lohnprozent, dargestellt. Eine trendmässige Abnahme der Ergiebigkeit
der Lohnprozentfinanzierung ist deutlich zu erkennen. Jahrzehnt für Jahrzehnt ist deren
durchschnittlichen Wachstumsrate um etwa die Hälfte gefallen: 4.2% (60er), 2.4%
(70er), 1.2% (80er). So brachte zu Preisen von 1998 ein Lohnprozent 1960 etwa
sFr. 274.- und 1992 ein Maximum von sFr. 601.- pro Erwerbstätiger. Danach sind die
Einnahmen pro Lohnprozent im Durchschnitt um ein halbes Prozent gefallen und er-
reichten 1998 etwa sFr. 587.- pro Erwerbstätigen. Dass immer mehr Einkommen der
AHV-Beitragspflicht unterstellt wurden, konnte die trendmässige Entwicklung nicht
verändern.
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                         Abbildung 3: Ergiebigkeit der Lohnprozentfinanzierung

           700

           600-

           500

           400-

           300-

           2 0 0   -   i i i i j i i » i | i i i i | i i i i | i i i i j i i i i | i i i i |   i

                   60        65        70        75        80        85        90        95

             Beitragseinnahmen zu Preisen von 1998 pro Lohnprozent und Erwerbstätigen

Welche Erklärung kann für die Erosion der Einnahmen der Lohnprozentfinanzierung
gegeben werden? Die Wachstumsrate der realen Lohnsumme ist die Summe der Wachs-
tumsraten des realen Lohnstundensatzes und des Arbeitsvolumens in Arbeitsstunden.
Somit gibt es für das Versiegen der Lohnprozent-Quelle zwei Möglichkeiten: Erstens
könnte es sich um einen «productivity slow-down» handeln. Zweitens ist es möglich,
dass die Zunahme des Arbeitsvolumens - aufgrund der Erwerbstätigkeit der geburten-
starken Jahrgänge, der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frauen und der Einwanderung
- die trendmässige Abnahme der durchschnittlichen Arbeitszeit pro Erwerbstätigen (auf-
grund längerer Ausbildungszeiten, abnehmender Wochenarbeitszeit) immer weniger
wettmachen konnte. In ihren Konsequenzen für die AHV-Einnahmen unterscheiden sich
diese zwei Hypothesen nicht. Aufgrund fehlender langer statistischer Reihen über das
Arbeitsvolumen ist eine Untersuchung der Ursachen der Erosion der Lohnprozentfinan-
zierung schwierig. Gemäss J. CHRISTOFFEL (1995), der eigene Schätzungen des Arbeits-
volumens vornahm, nimmt die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität pro Arbeits-
stunde nicht ab. Sollte die zweite Erklärung zutreffen, so muss die Frage nach den
Anreizwirkungen von Lohnprozenten auf das Arbeitsangebot gestellt werden. Für die
AHV-Finanzierung ist es nicht gleichgültig, ob das Produktivitätswachstum zu einer
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Zunahme der nicht besteuerten Freizeit oder zu höheren Löhnen und Konsumausgaben
führt.
   Schliesslich ist zu bemerken, dass eine Finanzierung der AHV über die Mehrwert-
steuer, welche die Konsum-Spar-Entscheidung der Haushalte anders beeinflusst als eine
Lohnprozentfinanzierung, sich hinsichtlich ihres Einflusses auf die Arbeitszeit-Freizeit-
Entscheidung der Haushalte nicht grundsätzlich unterscheidet. Stösst die Belastung des
Produktionsfaktors Arbeit an Grenzen, kann angenommen werden, dass andere Finan-
zierungsquellen als Lohnprozente und Mehrwertsteuer in Betracht gezogen werden müs-
sen. Energie-Lenkungssteuern, deren primäre Aufgabe die Reduktion von klimaverän-
dernden Emissionen ist, können als Instrument angesehen werden, wie sekundär die
Belastung des Produktionsfaktors Arbeit reduziert werden kann.11 So zieht die Interdé-
partementale Arbeitsgruppe Finanzierungsperspektiven der Sozialversicherungen (IDA-
FiSo) als mögliche Finanzierungsquelle der AHV zusätzlich zur Mehrwertsteuer eine
Energiesteuer in Betracht.12

3. URSACHEN DER FINANZIERUNGSPROBLEME DER AHV

Die Finanzierungsprobleme der AHV sind erst in den letzten Jahren vom Publikum und
von den politischen Entscheidungsträgern wahrgenommen worden. Im November 1993
gab die Nationalfondsstudie «Soziale Sicherheit nach 2000» einen Gesamtüberblick
über die Ausgabenentwicklung aller Sozialversicherungsträger. Sie identifizierte die
AHV und die Krankenversicherung als die zwei Versicherungsträger, bei denen die Aus-
gabendynamik am ausgeprägtesten ausfallen würde. Unter der Annahme eines Wachs-
tums der Arbeitsproduktivität von 1% würden die Ausgaben der AHV im Jahre 2026
47 Mrd. (9.6% des BIPs) betragen.13 Daraufhin lancierte Herr P. Hasler, Direktor des Ar-
beitgeberverbandes, Anfang 1994 die Forderung nach einem «Moratorium» beim Aus-
bau der Sozialversicherungen. Noch im Mai 1994 schrieb Frau Bundesrätin Dreifuss in
einem «offenen Brief an alle Frauen und Männer, die besorgt sind um die Zukunft der
AHV», dass bis im Jahr 2000 «die Einnahmen die Ausgaben der AHV übersteigen» wer-
den. Im Oktober 1995 veröffentlichte das Departement des Innern, dem sie als Sozial-
ministerin vorsteht, einen Bericht «zur heutigen Ausgestaltung und Weiterentwicklung
der schweizerischen Drei-Säulen-Konzeption der Alters-, Hinterlassenen- und Invali-
denvorsorge».14 Die darin enthaltenen Prognosen zum Finanzhaushalt weisen ab dem
Jahr 2000 im Szenario «moderates Wachstum» (einprozentiges Wachstum der Arbeits-
produktivität) und ab dem Jahr 1997 im Szenario «Null-Wachstum» (kein Wachstum der

11.   Vgl. dazu G. KIRCHGÄSSNER und M.R. SAVIOZ (1995), L.R FELD, G. KIRCHGÄSSNER, und M.R. SAVIOZ
      (1996) und G. KIRCHGÄSSNER, U MÜLLER und M.R. SAVIOZ (1998).
12.   IDA FiSo (1996).
13.   M. WECHSLER und M.R. SAVIOZ (1993), S.l 19 und Anhang.
14.   BSV (1995).
486                                                                              SAVIOZ / WECHSLER

Arbeitsproduktivität) ein Defizit auf. Ferner zeigt die Studie, dass der AHV-Ausgleichs-
fonds im Jahr 2010 (Szenario «moderates Wachstum») oder im Jahr 2008 (Szenario
«Null-Wachstum») aufgebraucht sein wird. Dabei ist die vom Stimmvolk akzeptierte
Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Finanzierung der durch die demographische Alterung
bedingten Mehrausgaben der AHV um 1% bereits einbezogen worden (0.5% ab 2000
und 1 % ab 2003). Um den Effekt der demographischen Alterung sichtbar zu machen, ist
der gewählte Prognosehorizont bis zum Jahr 2010 zu kurz.15 Im Jahre 1996 erschien der
Bericht der «Interdepartementalen Arbeitsgruppe Finanzierungsperspektiven der Sozial-
versicherungen» (IDA FiSo).16 Der Prognosehorizont wird darin bis zum Jahr 2025
erweitert, und in einem Gesamtüberblick werden alle Sozialversicherungen betrachtet.
Die AHV-Ausgaben sollen unter der Annahme eines Wachstums der Arbeitsproduk-
tivität von 1% im Jahre 2025 46.9 Mrd. betragen.17 Als im Jahre 1996, zum ersten Mal
seit fünfzehn Jahren, die AHV-Rechnung mit einem negativen Ergebnis abschloss,
schien die Wirklichkeit diese Prognosen zu bestätigen.18 Die gegenwärtigen Finanzie-
rungsprobleme der AHV unterscheiden sich jedoch von den langfristigen. In der kurzen
Frist ist die wirtschaftliche Lage (vgl. 3.1.) und in der langen Frist der demographische
Wandel (vgl. 3.2) bestimmend für die Finanzierung der AHV.

3.1. Die wirtschaftliche Entwicklung
Die veränderte Finanzierungslage der AHV ab dem Jahr 1992 ist durch die wirtschaftli-
che Entwicklung mitverursacht. AHV-Ausgaben und AHV-Einnahmen entwickeln sich
unterschiedlich im Konjunkturverlauf. So sind die Ausgaben, die von den Rentenhöhen
und von der Anzahl Rentner abhängig sind, weitgehend von der kurzfristigen wirt-
schaftlichen Entwicklung unabhängig. Die Beiträge jedoch, die von der Anzahl Be-
schäftigter und deren Lohn abhängig sind, stagnieren in der Rezession. Somit vergrös-
sern (verringern) sich die Überschüsse der AHV im Aufschwung (in der Rezession). Das
Ergebnis des Finanzhaushalts der AHV ist somit prozyklisch.

15.   Im Jahr 1995 erscheint auch der Bericht «Mut zum Aufbruch», der für die A Iters Vorsorge das Leitbild
      einer «allgemeinen existenzsichernden Grundversorgung mit individueller Ergänzung» entwirft. Vgl.
      D. DE PURY, H. HAUSER und B. SCHMID (1995), S. 63.
16.   IDA FiSo (1996).
17.   IDAFiSo(1996),S. 24.
18.   BSV (1998).
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                                        487

                    Abbildung 4: Überschüsse und Defizite im AHV-Finanzhaushalt

          3000

         • 3 0 0 0 -' | i i i i | i i i i | i i i i | i i i i | i i i i | t i i i | i i '
                  65         70            75       80         85          90          95

                                  1    I    AHV-Rechnungssaldo
                                            BIP-Wachstumsrate (zu Preisen von 1998)

Dieser Zusammenhang ist in Abbildung 4 dargestellt. Deutlich zu erkennen ist, dass die
Rezessionen von 1974, 1982 und 1992 Verringerungen der Überschüsse oder sogar De-
fizite in der AHV-Rechnung nach sich zogen.
   Von der konjunkturellen Situation sind trendmässige Entwicklungen zu unterschei-
den. Erstens kann vermutet werden, dass die Wachstumsdynamik der Schweizer Wirt-
schaft abnimmt. Weil Lohnsumme und Bruttoinlandprodukt sich im Gleichschritt be-
wegen, war Abbildung 3 bereits eine Illustration dieser Hypothese. Die Defizite in der
AHV-Rechnung ab 1996 lassen sich nicht, was die Einnahmen betrifft, auf ein Konjunk-
tureinbruch zurückführen, sondern eher auf eine Phase bescheidenen Wachstums. Der
Ertrag der Mehrwertsteuer, die ab dem 1. Januar 1999 zur Fianzierung der AHV um 1 %
erhöht wurde, wird auf sFr. 1260 (1999) und sFr. 1729 (2000) Millionen geschätzt.19

19.   Der Ertrag aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1% soll sFr. 1521 Millionen im Jahre 1999 und
      sFr. 2083 Millionen im Jahre 2000 betragen (Preise von 1997). Davon fliessen 17% dem Bund zur
      Deckung seines Beitrages an die Ausgaben der AHV zu. Vgl. J. TEYGELER (1997).
488                                                                               SAVIOZ / WECHSLER

Diese zusätzlichen Einnahmen sind in der gleichen Grössenordnung wie das AHV-Defi-
zit von sFr. 1393 Millionen für das Jahr 1998. Zweitens wird, als Folge des globalen
Wandels, eine Verschiebung der Relation von Lohn- und Kapitalerträgen vermutet.20
Ferner könnte sich die Spannweite zwischen den Löhnen von hoch- zu niedrigqualifi-
zierten Arbeitnehmern ausweiten. Dabei ist nicht auszuschliessen, dass die Löhne im un-
teren Segment real sinken, so dass die Anzahl erwerbstätiger Armer («working poor»)
zunimmt.21 Diese zwei Entwicklungen würden die Einnahmen von Sozialversicherungs-
trägern, welche wie die AHV über Lohnprozente finanziert sind, berühren. Die dritte
trendmässige Entwicklung ist der demographische Wandel. Dieser wird einerseits dazu
führen, dass die Bevölkerung im Rentenalter zunehmen wird, während andererseits die
Bevölkerung im erwerbsfähigem Alter und damit ceteris paribus das Wachstumpotential
der Wirtschaft abnehmen wird.

3.2. Die demographische Entwicklung
Die Herausforderung, welche die demographische Entwicklung für die AHV bildet, ist
schon lange bekannt. Bereits 1978 hat der Bericht der Expertengruppe «Wirtschaftslage»
- der sog. Drei-Weisen-Bericht - darauf aufmerksam gemacht (G. BOMBACH, H. KLEI-
NEWEFERS, und L. WEBER, 1978). Zehn Jahre später, also 1988, hat eine erste Simula-
tionsstudie (Y. ABRAHAMSEN, et al., 1988) den demographisch bedingten Anpassungsbe-
darf bei der AHV aufgezeigt. Schliesslich sei als weitere Vorgängerin der aktuelleren
Arbeiten, die wir oben erwähnt haben, eine Simulationsuntersuchung des Bundesamtes
für Statistik genannt (BFS, 1990). Sicher hat diese frühzeitige Diskussion um die demo-
graphische Entwicklung der AHV dazu beigetragen, dass der im Kapitaldeckungsver-
fahren finanzierten beruflichen Vorsorge (zweite Säule) ein grosses Gewicht beigemes-
sen wurde. Andererseits wurde, um einen übermässigen Ausbau der Leistungen zu
verhindern, bewusst auf eine Teilfinanzierung der AHV im Kapitaldeckungsverfahren
verzichtet.

3.2.1. Die Entwicklung der Bevölkerung im Rentenalter
Es müssen zwei demographische Phänomene unterschieden werden: sinkende Gebur-
tenzahlen und steigende Lebenserwartung.
   Ab 1940 stiegen die Geburtenzahlen. Die fünfziger Jahrgänge werden daher «Baby-
Boomer»-Generation genannt. In der Schweiz findet ein Rückgang der Geburten seit
dem Jahr 1964 statt. Man sprach damals vom «Pillenknick». Die nachfolgenden siebzi-
ger Jahrgänge werden, aufgrund des starken Rückgangs der Fruchtbarkeit, gelegentlich
«Baby-Bust»-Generationen genannt. Die Entwicklung der Geburtenzahl spiegelt sich

20.   Vgl. dazu M.F. HELLWIG (1996). Vgl. ferner R. KAPPEL und O. LANDMANN (1997) zum Thema «Globa-
      lisierung und Schweizer Wirtschaft».
21.   Mehr als die Hälfte der Armen in der Schweiz sind erwerbstätig. Vgl. R.E. LEU, et al., (1997), S. 391.
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                                         489

 mit einer Verzögerung von 65 Jahren in der Entwicklung der Rentnerbevölkerung wider.
 Daher erreichen im Jahre 2005 die ersten Baby-Boomer und im Jahre 2030 die ersten
 Baby-Buster das Rentenalter.
    Die Lebenserwartung ab der Geburt nimmt zu. Sie betrug 72.4 Jahre für Männer in
der Zeitperiode 1978-83 und 74.2 Jahre im Zeitraum 1988-1993. Die entsprechenden
Zahlen für Frauen sind 79.1 Jahre und 81.1 Jahre. Der Anstieg der Lebenserwartung, so-
fern er unterschätzt wird, stellt sowohl ein Problem für die AHV wie auch für die beruf-
liche Vorsorge dar. Wegen der steigenden Lebenserwartung müsste bereits heute der
gesetzliche Rentenumwandlungssatz von 7,2%, der in der beruflichen Vorsorge gilt, re-
duziert werden.
   Nach dem Referenzszenario «Trend» des Bundesamtes für Statistik, das wir für unse-
re Rechnungen benutzen, werden diese zwei Faktoren dazu führen, dass die Bevölke-
rung, die heute 7.1 Millionen Personen beträgt, im Jahre 2028 bis auf 7.6 Millionen
anwachsen wird.22 Danach wird die Bevölkerung abnehmen und im Jahre 2050
7.35 Millionen Personen betragen. Die Anzahl Personen im Rentenalter wird von 1 Mil-
lion im Jahr 1995 und 1.2 Millionen im Jahr 2005 bis auf 1.8 Millionen im Jahr 2035
anwachsen. Danach stabilisiert sich diese Zahl auf hohem Niveau.
   Oft wird gar nicht wahrgenommen, wie grundlegend der demographische Wandel ist.
Wichtig ist festzustellen, dass es sich dabei nicht nur um das «Durchlaufen» von stark
besetzten Jahrgängen durch die Bevölkerungspyramide handelt. Viel mehr haben wir es
aufgrund des «Baby-Bust» mit einer grundlegenden Veränderung der Altersstruktur zu
tun, so dass die Bevölkerung langfristig schrumpfen wird. Überspitzt formuliert wird
sich in drei Jahrzehnten, zwischen 2005 und 2035, die wachsende Bevölkerungspyrami-
de in einen schrumpfenden Obelisk wandeln.

3.2.2. Die Entwicklung der Erwerbstätigkeit
Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung kann bei konstantem alters- und geschlechts-
spezifischem Erwerbsverhalten die Entwicklung der Erwerbstätigkeit prognostiziert
werden. Angesichts der langen Prognosehorizonte erheben wir keinen höheren An-
spruch als denjenigen, grundlegende Zusammenhänge numerisch zu illustrieren. Wir
wählen daher ein einfaches Vorgehen.
   Formal23 lässt sich die Erwerbstätigkeit aus den demographischen Prognosen folgen-
dermassen gewinnen:
                                              et = E t b t                                         (1)

22.   Beim Szenario «Trend» wird eine unveränderte Fruchtbarkeit, ein massiger Anstieg der Lebenserwar-
      tung und massiger Rückgang der Sterblichkeit, und eine massige Einwanderung angenommen.Vgl. BFS
      (1996) Seite 14 bis 26 für eine genaue Beschreibung der Annahmen und ihre Quantifizierung.
23.   Die technischen Absätze werden immer als solche angekündigt und können vom Leser übersprungen
      werden, ohne den Zusammenhang zu verlieren. Vektoren (Kleinbuchstaben) und Matrizen (Grossbuch-
      staben) sind fett geschrieben.
490                                                                                 SAVIOZ / WECHSLER

    Dabei ist b t ein 200x1 Spalten vektor, der die Bevölkerungspyramide (100 Jahre,
Männer und Frauen) darstellt. Wir benutzen dazu das Hauptszenario «Trend» des Bun-
desamtes für Statistik.24 E t ist eine Diagonalmatrix mit den alters- und geschlechtsspezi-
fischen Erwerbsquoten auf der Hauptdiagonalen. Das Produkt E t b t ergibt folglich den
Spaltenvektor et, der die alters- und geschlechtsspezifische Erwerbstätigkeit darstellt.
Prämultiplikation mit dem transponierten Summationsvektor25 1 ergibt die aggregierte
Erwerbstätigkeit L t =l T e t im Jahre t.26
    Die Wachstumsrate der Erwerbstätigkeit ist in Abbildung 5 dargestellt. Ersichtlich ist,
dass die Wachstumsrate der Erwerbstätigen ab dem Jahr 2002 abnimmt, wobei sie jedoch
bis zum Jahr 2007 positiv bleibt. In diesem Jahr erreicht das Niveau der Erwerbstätigkeit
ein historisches Maximum von etwa 3.7 Millionen Erwerbstätigen. Danach wird die
Wachstumrate der Erwerbstätigkeit negativ bleiben. Die Periode von 2006 bis 2028 ist
folglich eine Phase mit zunehmender Bevölkerung und abnehmenden Erwerbstätigen,
während danach sowohl Bevölkerung als auch Erwerbstätigkeit abnehmen werden. Gut
ersichtlich in Abbildung 5 ist ab dem Jahr 2030 ein «Echoeffekt», der dadurch zustande
kommt, dass die Kinder der «Baby-Boomen>-Jahrgänge dann im erwerbsfähigem Alter
sind. Jedoch wird dies die Schrumpfungsrate der Erwerbstätigkeit nur verkleinern.

      Abbildung 5: Demographisch bedingte Entwicklung der Wachstumsrate der Erwerbstätigkeit

                Wachstumsrate
                0.6

                      2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050               Jahre

                                             Jahreswachstumsrate

24.   BFS(1996).
25.   Der Summationsvektor 1 ist ein S pal ten vektor, der aus lauter Einsen besteht. 1 T ist der transponierte
      Summationsvektor.
26.   Die Prognose des Arbeitsvolumens wäre sinnvoller als diejenige der Erwerbstätigen. Jedoch sind den
      Autoren Statistiken über die Arbeitszeit in der Schweiz über lange Zeiträume, getrennt nach Geschlecht
      und Alter, nicht bekannt.
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                            491

    Aufgrund dieser Entwicklung und derjenigen der Rentnerzahl wird sich die Zahl der
Erwerbstätigen pro Rentner ungünstig verändern. Beträgt das Verhältnis von Erwerbs-
tätigen zu Rentnern bis etwa zum Jahr 2005 3.5 zu 1, so wird dieses Verhältnis im Jahr
2030 2 zu 1 betragen.

3.2.3. Die langfristige wirtschaftliche Entwicklung
Die Entwicklung der Beschäftigung wird sich - ceteris paribus - auch auf die Entwick-
lung des Bruttoinlandproduktes auswirken: Bei gegebener Kapitalausstattung und tech-
nischem Wissen ist das Bruttoinlandprodukt eine Funktion des Arbeitsvolumens.
   Formal wird eine linear-homogene Cobb-Douglas-Produktionsfunktion mit Harrod-
neutralem technischem Fortschritt unterstellt. Das Bruttoinlandprodukt kann dann nach
folgendem einfachem Verfahren ermittelt werden: Weil der Reallohn pt gleich dem
Grenzprodukt der Arbeit aBIPt, I Lp ist, ist die Lohnsumme ptLt gleich dem Produkt der
Outputelastizität der Arbeit a mit dem Bruttoinlandprodukt BIPt. Das Bruttoinlandpro-
dukt BIPt im Jahr t ist folglich gegeben durch:

                                    BIPt = a-\PtL)                                    (2)

Dabei ist die Outputelastizität a identisch mit der Lohnquote. Die Erwerbstätigen
L t =l T e t sind durch (1) gegeben. Der Reallohn wächst mit der Wachstumsrate p% der
Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätiger: p, = (1 +/?/100) p,_,. Bei diesem Verfahren, das
für unseren Zweck genügt, wird implizit angenommen, dass die Kapitalakkumulation
und das Arbeitsangebot nicht durch die Finanzierung der Sozialversicherungen berührt
werden. Als Korrektiv werden unterschiedliche Szenarien hinsichtlich der Arbeitspro-
duktivität gerechnet.
    Der Verlauf des Bruttoinlandproduktes ist für verschiedene Annahmen bezüglich der
Arbeitsproduktivität in Abbildung 6 dargestellt. Ersichtlich ist, dass ohne technischen
Fortschritt - Nullwachstumsrate der Arbeitsproduktivität (p = 0.0) - der Verlauf des
Bruttoinlandproduktes die demographisch bedingte Entwicklung der Erwerbstätigkeit
wiedergibt: Das Bruttoinlandprodukt fällt ab 2007. Eine ungünstige Wachstumsrate der
Arbeitsproduktivität von einem halben Prozent (p = 0.5) vermag gerade die abnehmen-
de Erwerbstätigkeit zu kompensieren: Das BIP bleibt ab 2015 in etwa konstant. Eine
Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität von einem Prozent (p = 1.0) überspielt die
ungünstige Entwicklung der Erwerbstätigkeit. Allerdings ist, wie die Grafik zeigt, der
Verlauf des Bruttoinlandproduktes eher linear als exponentiell.
492                                                                                SAVIOZ / WECHSLER

          Abbildung 6: Demographisch bedingte Entwicklung des Bruttoinlandproduktes

                Mio. Fr. zu konstanten
                Preisen

                550000 1                                                           .

                500000                                                         ^   ^

                450000                             ^   ^

                400000

                350000 I — , , . , , | ,,,.,,,., ,  • ,          ,          r~^
                         2000       2005  2010 2015 2020          2025    2030

                                         p = 0.0       p = 0.5   -   p = 1.0

Erst eine Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität von anderthalb Prozent (p = 1.5), die
in der Abbildung 6 nicht dargestellt wurde, bedeutet in etwa eine konstante Zuwachsrate
des BIP über den Zeitraum von 2005 bis 2035. Der Punkt, der hier hervorgehoben wird
ist, dass ab dem Jahre 2002 eine neue Zeitperiode beginnt, in der die Erwerbstätigkeit, im
Gegensatz zur ganzen Nachkriegszeit, nicht mehr zum Wachstum beiträgt. Die durch-
nittliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandprodukts von 2.1 Prozent zwischen
1960-1990 war zu mehr als einem Viertel auf die Wachstumsrate der Erwerbstätigkeit
(+0.5%) zurückzuführen. In der Zukunft wird ein Teil des Produktivitätswachstums
durch den Rückgang der Erwerbstätigkeit kompensiert. So führt eine Produktivität von
1.5 Prozent nur mehr zu einem Wachstum von 1.2 Prozent zwischen 2005 und 2035.

4. AHV-PROSPEKTIVE: DIE NÄCHSTEN FÜNFZIG JAHRE

Wirtschaftssubjekte planen über einen ganzen Lebenszyklus. Die Voraussicht der künf-
tigen Mehrbelastung durch Sozialversicherungsbeiträge und/oder verringerte künftige
Leistungen zeigt folglich bereits heute Auswirkungen. Wirtschaftssubjekte dürften mehr
auf private Ersparnisse zählen und im Umfang ihrer Wahlmöglichkeit eher heute Arbeit
anbieten als in der Zukunft, wenn Konsumausgaben und Arbeitseinkommen stärker be-
lastet werden. Besonders problematisch ist der Mangel an Information hinsichtlich des
Umfangs der zukünftigen Belastung durch die Beiträge und/oder den Abbau der Ren-
tenleistungen. Dies könnte in der Gegenwart zu einem zusätzlichen Angebot an Arbeit
und zu einem doppelten Sparen einmal obligatorisch institutionell und einmal privat und
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                                           493

 freiwillig («Angstsparen»), führen, das bei einem besseren Informationsstand der Wirt-
 schaftssubjekte entfallen würde. In diesem Sinne wird in diesem Abschnitt versucht, die
 Grössenordnung des Anpassungsbedarfs in der AHV abzuschätzen.

4.1. Langfristige Finanzierungsperspektiven der AHV
Zur Prognose der Ausgaben der schweizerischen Sozialversicherungen verwenden wir
die Altersausgabenprofil-Methode.27 Da diese Methode zur Vorbereitung der sozialpoli-
tischen Entscheidungen verwendet wird,28 geben wir eine stilisierte Beschreibung des
Vorgehens in den Gleichungen (1) bis (4). Unter der Annahme der Gültigkeit des heuti-
gen institutionnellen Rahmens29 inklusive Inkraftsetzung der 10. AHV-Revision sind
fünf Arbeitsproduktivitätsszenarien berechnet worden. Im «worst case»-Szenario wird
ein Nullwachstum der Arbeitsproduktivität angenommen. Dieses bildet einen seit der
Entstehung der Marktwirtschaft für längere Perioden nie beobachteten Fall. Im Refe-
renzszenario wird eine Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität von 1 % angenommen .
Das Szenario mit einer Wachstumsrate von 1.5% entspricht der historischen durch-
schnittlichen Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in den Jahren 1960 bis 1990.30
Ergänzt werden diese Szenarien mit einem ungünstigen 0.5%-Szenario und einem güns-
tigen 2%-Szenario. Die Ergebnisse der fünf Szenarien finden sich im Anhang.

4.1.1 Die Entwicklung der Ausgaben der AHV
Die Ausgaben der AHV hängen von der Anzahl der Rentner und der Höhe der Renten
ab. Die Entwicklung der Anzahl der Rentenbezieher ist bis Mitte des nächsten Jahrhun-
derts bereits ermittelbar, sind doch die zukünftigen Rentner heute schon geboren. Findet
kein «Klettern entlang der Rentenleiter» statt,31 so wird sich die alters- und geschlechts-
spezifische Rentenausgabenstruktur nicht verändern. Inflationsbereinigt werden die
Renten wegen des Mischindexes mit der Hälfte der Wachstumsrate der Arbeitsprodukti-
vität zunehmen.
   Formal ausgedrückt lassen sich die realen AHV-Ausgaben im Jahre t folgendermas-
sen darstellen:

                                              at = l T A t b t                                       (3)

27.   Vgl. M. WECHSLER und M.R. SAVIOZ (1993, 1996).
28.   Vgl. IDA FiSo (1996) oder A. STREIT (1999).
29.   Vgl. M. BUTLER ( 1997) für eine politisch-ökonomische Untersuchung der AHV
30.   Aus wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchungen ist bekannt, dass das Wirtschaftswachstum in den Jahr-
      zehnten 1960 bis 1990 überdurchnittlich hoch war. Vgl. R. METZ (1998).
31.   Dies bedeutet wegen der wachsenden Löhne eine kontinuierliche Anpassung des Aufwertungsfaktors
      gegen unten. Der Aufwertungsfaktor ist administrativ festgesetzt und bestimmt die Rentenhöhe eines
      Versicherten aufgrund der Beiträge, die er geleistet hat.
494                                                                     SAVIOZ / WECHSLER

At, eine Diagonalmatrix, ist das Altersausgabenprofil. Sie gibt die durchschnittlichen
AHV-Ausgaben wieder, die eine Person eines bestimmten Alters und Geschlechts aus-
löst. Berücksichtigt wird dabei, dass die AHV nicht nur Altersrenten, sondern auch Wit-
wen-, Witwer-, Kinder- und Waisenrenten ausbezahlt. Das Produkt A t b t des Ausgaben-
profils mit dem Bevölkerungsvektor ergibt die AHV-Ausgaben nach Alter und
Geschlecht. Die Prämultiplikation mit dem transponierten Summationsvektor 1 ergibt
die AHV-Gesamtausgaben at im Jahr t. Aufgrund des Mischindexes wird das Altersaus-
gabenprofil At eines bestimmten Jahres t berechnet, indem das empirisch ermittelte
Altersausgabenprofil A0 des Ausgangsjahres 199732 mit der Hälfte der Produktivitäts-
wachstumsrate p% hochgerechnet wird: At = ( 1 + p/200)1 A 0 . Die Ausgabenprofile wur-
den dabei wegen der 10. AHV-Revision, die etappenweise in Kraft gesetzt wird, ent-
sprechend angepasst.
   Die Ergebnisse lassen sich folgendermassen zusammenfassen: Unabhängig vom be-
trachteten Szenario beginnt die demographisch bedingte Zunahme der Ausgaben in der
Mitte des nächsten Jahrzehnts (etwa ab 2004). Es folgt dann während dreissig Jahren, bis
etwa 2034, eine dynamische Entwicklung der Ausgaben. Betragen diese Ausgaben im
Referenzszenario (p = 1.0) 29 Mrd. Franken im Jahre 2004 (7.2% des BIP), so wachsen
sie auf 52 Mrd. Franken (10.3% des BIP) im Jahre 2034 an. Dies entspricht einer Zu-
nahme von 80% in dreissig Jahren oder einer jährlichen Wachstumsrate von 2%. Ab dem
Jahr 2035 folgt eine Periode der Stabilisierung, in welcher die Ausgaben im Wesentli-
chen mit der Hälfte der Produktivität anwachsen (Mischindex). Die Erhöhung des Frau-
enalters auf 64 bringt eine Entlastung der Ausgaben, die bei den Berechnungen berück-
sichtigt wurde.

4.1.2. Die Entwicklung der Einnahmen in der AHV
Die Haupteinnahmequellen der AHV sind die Lohnbeiträge, die Einnahmen der Mehr-
wertsteuer, die Beiträge der öffentlichen Hand und die Zinseinnahmen. Die Beitragsein-
nahmen hängen von den Beitragssätzen und von der Entwicklung der AHV-pflichtigen
Lohnsumme ab. Bei den Berechnungen wurden die heutigen Beitragssätze konstant ge-
halten. Die Lohnsumme ist durch die Erwerbstätigkeit (vgl. Abschnitt 3.2) und die ange-
nommene Entwicklung der Arbeitsproduktivität vorgegeben. Die Einnahmen aus der
Mehrwertsteuer hängen vom Steuersatz (1%), vom Anteil der Einnahmen die dem Bund
zufliessen, (17%) und von den Konsumausgaben ab. Die Subventionen des Bundes zur
AHV decken aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen ein konstantes Verhältnis der
AHV-Ausgaben, nämlich 20%, was bei konstanten Steuersätzen eine Zunahme des An-
teils der Sozialausgaben am Staatsbudget bedingt. Schliesslich sind die Zinseinnahmen
eine Funktion der Grösse des AHV-Ausgleichsfonds und der erzielten Anlagerendite.

32.   Quelle: Sonderauswertung des Bundesamtes für Sozialversicherung für den Forschungsauftrag
      M. WECHSLER und M.R. SAVIOZ (1996).
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                                               495

 In formaler Notation lassen sich die realen AHV-Einnahmen folgendermassen ermitteln:

                                    e{ = (T, + r2) aBWt + yat + rft                                        (4)

 Ist T, der durchschnittliche AHV-Beitragssatz und aBIP, die Lohnsumme, so stellt der
 erste Summand in der obigen Gleichung die Beitragseinnahmen dar. Ist x2 der einpro-
 zentige Mehrwertsteuersatz (abzüglich 17%) und wird a mit der Konsumquote gleich-
 gesetzt, so ergibt der zweite Term die Mehrwertsteuereinnahmen. Ist y der Anteil der
 AHV-Ausgaben at, der durch die öffentliche Hand finanziert wird, so bildet der dritte
 Summand die Subventionseinnahmen der AHV Der vierte Ausdruck ist das Produkt der
realen Rendite r mit dem Ausgleichsfonds ft und ergibt die realen Zinseinnahmen. Die
Höhe des Ausgleichsfonds wird anhand der Bilanzgleichung//+, =f + (et - a,) für jedes
Jahr bestimmt. Die Wachstumsrate der Produktivität und der reale Zinssatz wurden in
jedem Szenario gleichgesetzt.33 Die Prognosen des BIP und der Ausgaben stammen aus
Gleichung (2) und (3).
    Die Ergebnisse für das Referenzszenario (p = 1.0) sind die folgenden: Von 1998 bis
2004 steigen die Einnahmen von 25 Mrd. Franken bis 29 Mrd. Franken. Dies entspricht
einer jährlichen Wachstumsrate von 2.4%, die auf die Einführung der Mehrwertsteuer,
das Lohnwachstum (1%) und das Wachstum der Erwerbstätigkeit (0.4%) zurückzu-
führen ist. Zwischen 2004 und 2034 wachsen die Einnahmen bis auf 37 Mrd. Franken
an, was nur mehr eine jährliche Wachstumsrate von 0.8% bedeutet. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass schwach besetzte Jahrgänge in den Arbeitsmarkt eintreten. Ferner
wandeln sich wegen des Finanzierungsdefizits die Zinseinnahmen in Zinsausgaben, die
wiederum den Finanzhaushalt der AHV belasten. Bei dieser Rechnung wurde angenom-
men, dass Defizite zugelassen und die Beitragssätze nicht angehoben werden.

4.1.3. Die Entwicklung des AHV-Ergebnisses
Besonders im Zeitraum von 2004 bis 2034 werden die Ausgaben schneller als die Ein-
nahmen wachsen. Dies gilt für alle gewählten Szenarien. Im Referenzsenario (p = 1)
beträgt die Wachstumsrate der Ausgaben 2.0 Prozent, verglichen mit derjenigen der
Einnahmen von 0.8 Prozent. Die Ausgabenentwicklung, obwohl gedämpft durch die
Wirkung des Mischindexes, übertrifft diejenige der Einnahmen, auch wenn man einen
höheren Produktivitätzuwachs pro Erwerbstätige (p = 2.0) annimmt als die historischen
Raten der Nachkriegszeit. Wie Abbildung 7 es zeigt, wird auch mit den zusätzlichen

33.   Für eine offene Volkswirtschaft ist der reale Zinssatz exogen. Wir treffen die vorsichtige Annahme, dass
      der Welt-Zinssatz die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität nicht übersteigt.
496                                                                            SAVIOZ / WECHSLER

Mehrwertsteuereinnahmen die AHV-Rechnung im Lauf des neuen Jahrzehnts wieder
defizitär.34 Dabei fängt die demographische Alterung mit dem Aufkommen der Baby-
Boomer im Rentenalter erst im Jahre 2005 an.

                    Abbildung 7: Finanzhaushalt der AHV zwischen 1998 und 2012

         2000

                                       111
          1000-

                                i         1                                  1
              0-
                         1          i | r 1
         -1000.

         2000-
                  P
         3000-

         4000 _

         6000 _
                   98        00      02        04       06                           12

                            H       p=0.0    • •     p=1.0             p=2D

Die Perspektive eines «Austrocknens» des Ausgleichsfonds im nächsten Jahrzehnt ist
durch die zusätzlichen Mehrwertsteuereinnahmen abgewendet worden. Wir gehen jetzt
der Frage nach, in welcher Grössenordnung die Beiträge und/oder Leistungen angepasst
werden müssen, damit die Finanzen der AHV langfristig im Gleichgewicht bleiben.

4.2. Leistungsneutrale Beitragsanpassung
Wie hoch müssten die Beitragssätze sein, um die heutigen Leistungen ohne Defizit zu
finanzieren? In Abbildung 8 sind die Ergebnisse grafisch dargestellt.

34.   Das laufende Defizit ist kein Mass für das langfristige finanzielle Gleichgewicht der AHV. Vgl. M.
      WECHSLER und M.R. SAVIOZ (1996) für eine Intergenerative Umverteilungsrechnung sämtlicher Sozial-
      versicherungsträger und S. FELDER (1997) für eine Intergenerative Umverteilungsrechnung der AHV.
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                                                          497

                 Abbildung 8: Entwicklung der Lohnprozente bei gegebenen Leistungen

               22-

                                                                                           o   o    O   0   0    o
               20 A

               18

                                                                                       A   *   A
               16

               14-                              O        A                      a o o
                                                     A

               12-     o o ° ° *
                       l *A A         Bn
                       * a a a
               10     I j I M I | I I I I | I I I I | I I I I | I I I I | I I I I | I I I I | I I M | I M I | I I

                      00       05          10       15       20      25       30        35         40       45

                                           o p=0.0           * p=1.0           ° p=2.0

Wenn heute die gesamten Ausgaben der AHV anhand von Beiträgen finanziert würden,
müssten nicht 8.4 Lohnprozente, sondern 11.5 dafür aufgewendet werden. Bis etwa im
Jahr 2004 genügt dieser Beitragssatz, um die AHV-Ausgaben zu finanzieren. Jedoch
müssten dann vom Jahr 2004 bis zum Jahr 2034 demographisch bedingt die Beitragssät-
ze kontinuierlich angehoben werden. Dann findet eine Stabilisierung oder sogar eine
Entlastung statt. Im Jahre 2034 müssten die Lohnprozente, um die heutigen Leistungen
zu decken, zwischen 14% und 20% betragen. Im Referenzszenario (p = 1.0) und im his-
torischen Szenario (p = 1.5) betrügen die Sätze 16.5% und 15.0%.35 Man sieht somit,
dass die heutigen Leistungen mit einer Erhöhung der Lohnprozente zwischen 3.5% und
5% finanzierbar sind.36 Rückwirkungen von Beitragserhöhungen auf die Kapitalakku-
mulation und das Arbeitsangebot sind hier nicht berücksichtigt. Ferner wurde die AHV
isoliert betrachtet und nicht beachtet, dass weitere Sozialversicherungsträger demogra-
phisch bedingt einen zusätzlichen Finanzierungsbedarf aufweisen werden. Somit ist die
umgekehrte Rechnung aufschlussreicher, die angibt, welcher Anteil der Leistungen mit

35.   Damit vergleichbar ermittelt S. FELDER (1997), S. 504, einen maximalen Beitragssatz von 16.5 Lohn-
      prozenten im Jahre 2032 bei einer Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität von 1%. M. BUTLER (1997a)
      ermittelt einen maximalen Beitragssatz von 16%.
36.   Die Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre 4% (p = 1.5) und 6% (p = 1.0).
498                                                                                                    SAVIOZ / WECHSLER

den heutigen Beiträgen finanzierbar ist. Sie trifft keine Annahmen bezüglich der Belast-
barkeit der Wirtschaft.

4.3.   Belastungsneutrale Leistungsanpassung
Wie müssten sich die Rentenleistungen verändern, damit sie mit den heutigen Beitrags-
sätzen ohne Defizit finanzierbar wären? Die Ergebnisse sind in Abbildung 9 dargestellt.

                  Abbildung 9: Entwicklung des Deckungsgrades bei gegebener Finanzierung

           110

           100-

            6 0    l | ii i i | i   i i i | ii ii| i i i i   | i i i i | i ii i | i i i   i | i i ii| i i i i | i   i

                    00       05         10       15          20      25        30         35        40       45

                                           • p=0.0 A              p=i.o         • p=2.0

Die Abbildung 9 macht deutlich, dass dank den zusätzlichen Mehrwertsteuereinnahmen
und ohne Leistungsausbau die AHV bis im Jahr 2004 im finanziellen Gleichgewicht ist.
Ab diesem Datum macht sich die demographische Entwicklung bemerkbar und es
wären, um Defiziten vorzubeugen, substantiellere Anpassungen der Leistungen notwen-
dig. Interessant sind die Ergebnisse für das Jahr 2034, wenn sich die demographische Al-
terung stabilisiert. Man sieht, dass selbst im «worst case»-Szenario (p = 0.0) 65% der
Rentenhöhe finanzierbar ist.37 Zieht man in Betracht, dass ein solches Szenario ganz an-

37.    Dabei wurde vorausgesetzt, dass die öffentliche Hand 20% der Ausgaben deckt (y= 0.2). Bei einer voll-
       ständigen Finanzierung über Lohnprozente (/ = 0.0) und Konstanz der Beitragssätze wäre der
       Deckungsgrad 57% im «worst case»-Szenario (p = 0.0).
WIE GROSS IST DER ZUKÜNFTIGE ANPASSUNGSBEDARF BEI DER AHV?                           499

dere Probleme als die sozialpolitischen stellt, kann der Schluss gezogen werden, dass
eine AHV mit etwas höheren Leistungen als die Minimalrente in jedem Fall ohne Bei-
tragserhöhung finanzierbar ist. Im Referenzszenario (p = 1.0) und im historischen Sze-
nario (p = 1.6) zeigt sich, dass mit der heutigen Finanzierung, 72% resp. 77% der Renten-
leistungen gedeckt sind. Liegt die Wachstumsrate der Produktivität über 1%, so bringen
selbst kleine Steigerungen dieser Wachstumsrate substantielle Verbesserungen der
Deckungsbeiträge. So vergrössert sich der Deckungsgrad um 5% wenn die Produktivität
sich um ein erstes halbes Prozent, und um 7% wenn sie sich um ein weiteres halbes Pro-
zent erhöht. Die Einführung eines Mehrwertsteuer-Prozents zugunsten der AHV hat die
langfristige finanzielle Situation dieser Versicherung verbessert, lagen die Deckungs-
beiträge davor noch bei 65% (p = 1.0) und 70% (p = 1.5).
   Die vorgestellten Ergebnisse sind vergleichbar mit derjenigen älterer Projektionen.
Der Deckkungsgrad von 76.7 % bei einer Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität von
1%, der von der Inderdepartementalen Arbeitsgruppe «Finanzierungsperspektiven der
Sozialversicherungen» (IDA FiSo) ermittelt wurde, bezieht sich auf das Jahr 2025.38 Die
Rechnungen beruhen auf den Bevölkerungsprognosen des Jahres 1992,39 während die
Ergebnisse, die hier vorgestellt wurden, auf denjenigen des Jahres 1996 basieren.40 Ohne
die Einnahmen der Mehrwertsteuer zu berücksichtigen, ergeben unsere Projektionen
einen vergleichbaren Deckungsbeitrag von 74% für das Jahr 2025. Mit der Mehrwert-
steuer erhöht sich der Deckungsbeitrag auf 80%. Allerdings fällt diese Zahl bis auf 72%
wenn die Rechnung bis in das Jahr 2034 weitergeführt wird. Dann stabilisiert sich der
Deckungsbeitrag, weil die schwach besetzten Jahrgänge das Rentenalter erreichen.

5. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Wie wir einleitend dargestellt haben, ist aus Umfragen bekannt, dass junge AHV-Versi-
cherte oft der Auffassung sind, dass sie im Alter von der AHV überhaupt keine Leistun-
gen erhalten werden. Auf dem Hintergrund des fünfzigsten Jahrestages der AHV sind
wir in diesem Papier der Frage nachgegangen, wie gross der Anpassungsbedarf bei der
AHV ist und ob jüngere Versicherte damit rechnen müssen, im Alter von diesem Ver-
sicherungsträger keine Leistungen zu erhalten. In einem historischen Rückblick
1948-1998 zeigen wir zunächst auf, dass die Finanzierung der AHV-Leistungen in der
Vergangenheit immer schwieriger geworden ist. Wir wenden uns dann der Zukunft zu.
Aus Projektionen 1998-2048 können drei Schlussfolgerungen gezogen werden: Erstens
führt die Einführung eines zusätzlichen Mehrwertsteuer-Prozents zugunsten der AHV ab
den 1. Januar 1999 zu einem finanziellen Gleichgewicht bis in die Mitte des neuen Jahr-
zehnts. Zweitens werden angesichts des demographischen Wandels ab dem Jahr 2005

38.   IDA FiSo ( 1996), S. 24 und S. 148.
39.   BFS(1992).
40.   BFS(1996).
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