Wie ist die militärische Lage in der Ukraine einzuschätzen?

Die Seite wird erstellt Jannik Zimmermann
 
WEITER LESEN
Wie ist die militärische Lage in der Ukraine einzuschätzen?
Wie ist die militärische Lage in der Ukraine einzuschätzen?
                                           10. März 2022

Vor zwei Wochen, am Morgen des 24. Februar 2022 begann Russland mit dem Überfall auf die
Ukraine. Mit dem Einmarsch setzte die russische Regierung ihre Drohung um, die sie als Teil ihres
Ultimatums an die USA und die NATO formuliert hatte: die Vornahme „militärtechnischer
Reaktionen.“ Der Einmarsch erfolgte entlang von vier Achsen. Die erste Angriffsachse zielte auf die
ukrainische Hauptstadt Kiew, die nur 125 km südlich der belarussischen Grenze liegt, von wo der
Angriff seinen Ausgang nahm. Die zweite Achse hat die ostukrainische Metropole Charkiw im Visier.
Die dritte Achse zielt auf die Eroberung des restlichen Donbass und die Eroberung der Hafenstadt
Mariupol, um damit eine Landbrücke in Richtung Krim herzustellen. Die vierte Achse besteht aus
Versuchen, von der Krim her den Süden der Ukraine zu erobern und das Land gänzlich von seinen
Seeverbindungen abzuschneiden. Daneben gab und gibt es Luftangriffe gegen militärische und zivile
Ziele in praktisch allen Teilen der Ukraine. Der Angriff begann mit schweren Raketenangriffen auf
mehrere Lagerhäuser mit Treibstoffvorräten für das ukrainische Militär in der Nord-, Ost- und
Zentralukraine sowie auf Luftabwehrstellungen und Flugplätze.

Wie aus der anliegenden Graphik des Institutes for the Study of War hervorgeht, sind die Erfolge oder
Misserfolge je nach Front unterschiedlich zu bewerten. Allerdings ist nicht in jedem Fall gesichert,
dass das, was als russisch besetzt beschrieben wird, auch tatsächlich unter russischer Kontrolle ist.
Andere Graphiken bieten ein differenzierteres Bild, sind aber nicht immer so aktuell. Eine Ausnahme
stellt die ständig aktualisierte Graphik der Neuen Zürcher Zeitung dar.

                                                 1
Die Lage an den vier Frontabschnitten

Was den Kampf um Kiew betrifft, so findet dieser hierzulande in den Medien die meiste
Aufmerksamkeit. Das russische Militär hatte anfangs gehofft, durch eine vorgeschobene
Luftlandeoperation am 24. Februar den Flughafen Hostomel einzunehmen und von dort den
Regierungssitz in Kiew zu erstürmen. Das ist kläglich am massiven Widerstand der ukrainischen
Streitkräfte gescheitert. Aber am 25. Februar hatten russische Heeresverbände den Nordwesten von
Kiew erreicht. Mittlerweile befindet sich der Flughafen unter russischer Kontrolle, ist aber
weitgehend zerstört und militärisch bedeutungslos geworden.

Seit dem 1. März wird eine bis zu 60 Kilometer lange Kolonne aus gepanzerten Fahrzeugen, Artillerie
und Lastwagen beobachtet, die sich von Belarus aus westlich des Dnipro in Richtung Kiew bewegt.
Die Tatsache, dass Russland derart viel Gerät und Soldaten offen und massiert transportiert, schien
darauf hinzudeuten, dass es großes Vertrauen in seine Boden-Luft Abwehr hat. Inzwischen weist
vieles darauf hin, dass dieser Konvoi zum Stehen gekommen ist und erheblich unter ukrainischen
Angriffen aus der Luft, durch Drohnen oder aus dem Hinterhalt gelitten hat. Experten sehen in der
Bewegung den Versuch, die in den ersten Tagen offenkundig gewordenen logistischen Defizite der
russischen Truppen wettzumachen. Dennoch gehen die russischen Angriffe weiter, während die
Ukrainer alles daran setzen, um die Angriffe zurückzuschlagen.

In den vergangenen Tagen ist von russischer Seite versucht worden, nordwestlich von Kiew liegende
Vororte einzunehmen, was offenkundig nur teilweise erfolgreich war. Derzeit bereiten sich die
russischen Truppen auf einen weiteren Angriff über Irpin vor. An ihm sollen auch Einheiten des
tschetschenischen Führers Kadyrow, der russischen Nationalgarde Rosgwardia, der
Polizeispezialeinheit OMON sowie der berüchtigten Wagner Gruppe (nennt sich jetzt „Liga”) beteiligt
sein. Dies könnte, so das Institute for the Study of War, ein Indikator dafür sein, dass das russische
Militär alleine nicht mit der Lage fertig wird und auf diese irregulären Einheiten zurückgreift. Möglich
ist aber auch, dass sie geschickt wurden, um bereits eroberte Städte zu unterdrücken. Da die
geplante Eroberung der Städte scheiterte, müssen diese Brigaden erst einmal Seite an Seite mit der
russischen Armee agieren.

Östlich des Dnipro ist ein Vorstoß entlang des östlichen Ufers in Richtung Kiew erfolgt, Truppen
befinden sich etwa 100 km nordöstlich von Kiew. Des Weiteren sind russische Truppen von weiter
östlich her unter Umgehung der Stadt Sumy in Richtung Kiew vorgestoßen. Derzeit befinden sich die
ersten russischen Verbände etwa 20 – 30 km östlich von Kiew. Aber wie stark diese auf Straßen sich
langsam bewegenden Kräfte sind und wieweit sie durch ukrainische Gegenwehr abgenutzt worden
sind, ist nicht bekannt. Aber auch hier dürften die Ukraine eine effektive hit-and-run Taktik verfolgen.
Eine britische Tageszeitung brachte am 10. März ein Video, auf dem zu sehen war, wie die
ukrainischen Streitkräfte östlich von Kiew eine aus gepanzerten Fahrzeugen bestehende russische
Kolonne auf einer Straße beschossen und eine Reihe von Treffern erzielten.

Ziel Russlands ist es offenbar, die Hauptstadt einzunehmen. Dafür sind theoretisch zwei Wege
denkbar: entweder eine Belagerung, bei der alle Zugänge nach Außen abgeschnitten werden, oder
die Einnahme der Stadt durch direkte Angriff, am besten von zwei Seiten zugleich. Bislang lassen die
Bewegungen der russischen Streitkräfte vor Kiew noch kein klares Profil erkennen. Das Institute for
the Study of War kommentierte: „Das russische Militär hat seine erfolglosen Versuche fortgesetzt
Kiew einzukesseln. Die Russen greifen weiterhin nur in Einzelaktionen an und setzen nur wenige
taktische Bataillone ein, verzichten aber auf den Einsatz größerer Kräfte.“ Zu diesen Einzelaktionen
gehören aber zunehmend Luftangriffe auf zivile Ziele sowie auf Infrastruktur.

                                                   2
In der Neuen Zürcher Zeitung wurden die unterschiedlichen Phasen einer versuchten Eroberung der
ukrainischen Hauptstadt dargelegt. Nach der Aufklärungsphase käme die Phase der Isolierung der
Stadt von der Außenwelt. Dem würde die Bildung von Brückenköpfen an den Stadtgrenzen folgen.
Erst dann käme der Hauptstoß unter dem Einsatz von viel Feuer auf die Sperren der Gegner. Die
gängigen Panzerhaubitzen der russischen Armee würden dabei nichts Gutes verheißen, weil sie nicht
zielgenau sind. Sollte dieser Hauptstoß erfolgreich sein, würde die Phase der Sicherung einsetzen,
Besonders entlang der Hauptachsen würde es darum gehen, versteckte Scharfschützen
auszuschalten.

Sowohl östlich wie westlich von Kiew werden Versuche russischer Einheiten beobachtet, weiter
südlich vorzudringen, um so die Möglichkeit einer Einkesselung Kiews von allen Seiten zu schaffen.
Ob diese erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten. Bei dem Versuch, sich Kiew von Westen zu
nähern und gleichzeitig eine strategische Autobahn Kiew-Odessa zu blockieren, sammelte sich eine
große Menge russischer Truppen um Kopyliv-Yasnohorodka (60 km von Kiew entfernt). Am 10. März
wehrten die ukrainischen Streitkräfte den Angriff erfolgreich ab und sicherten so die
Hauptversorgungsader für Kiew.

Sollten die russischen Truppen Fortschritte machen bei der Umschließung von Kiew, stellt sich für
Präsident Selensky ernsthaft die Frage, ob er die Hauptstadt verlassen und die Regierungsgeschäfte
von Lwiw aus führen soll. Er stellt die wichtigste, demokratisch legitimierte Führungskraft der
Ukraine dar. Solange er lebt und aktiv ist, wird keine Marionettenregierung in der Ukraine Fuß fassen
können. Aber selbst nach seinem Tod würde die Bevölkerung der Ukraine eine von Moskau
eingesetzte Regierung ablehnen und vermutlich auch bekämpfen und sabotieren. Wie wichtig
Russland aber die Ausschaltung Selenskis ist, ließ sich daran erkennen, dass mehrfach Anschläge auf
sein Leben abgewendet werden konnten.

Aber noch ist Kiew nicht eingeschlossen und die ukrainischen Streitkräfte bemühen sich verzweifelt,
die Umschließung ihrer Hauptstadt zu verhindern. Die Kampfkraft und der Durchhaltewillen der
Ukrainer ist enorm und wird durch die täglichen Aufrufe von Präsident Selensky, seiner Frau und
auch des Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko immer weiter gestärkt, vor allem da die russischen
Truppen zum einen Schwächen zeigen, zum anderen aber immer brutaler gegen die Zivilbevölkerung
vorgehen und die Wut und die Entschlossenheit der Ukrainer steigern.

Russische Truppen versuchen weiterhin die Städte Sumy und Tschernihiw im Nordosten bzw. Osten
Kiews zu erobern. Aus Sumy gelang es, am 9. März eine größere Zahl von Zivilisten zu evakuieren. Bei
den russischen Angriffen auf Tschernihiw am 10. März wurden Brandbomben eingesetzt, die nach
dem Völkerrecht verboten sind.

Die Front um Charkiw ist durch Vorstöße der russischen Truppen in einer Tiefe von bis zu 100 km in
ukrainisches Territorium gekennzeichnet. Aber es ist ihnen bislang nicht gelungen, die Millionenstadt
einzunehmen. Die russischen Angriffstruppen sind dazu übergegangen, die Bevölkerung der Stadt
und die dortigen Behörden und Verteidigungskräfte durch Artilleriebeschuss, Raketen- und
Luftangriffe mürbe zu machen, um vielleicht in den nächsten Tagen einen erneuten Angriff auf das
Stadtzentrum vorzunehmen. In Charkiw spielen sich seither dramatische Szenen unter der
Bevölkerung ab und die Versorgungslage ist kritischer als in Kiew. Allerdings konnten die russischen
Truppen keine weiteren Geländegewinne in dem Oblast erzielen. Laut Angaben des ukrainischen
Generalstabs wurde ein Angriff russischer Truppen auf die Stadt Isjum 70 km südlich von Charkiv,
abgewiesen. Am 7. März soll der Chef des Stabes der 41, Armee kombinierter Streitkräfte, General
Vitaly Gerasimow, bei Kämpfen ums Leben gekommen sein.

                                                  3
An der südöstlichen Front (Donbass-Front) gibt es erhebliche Geländegewinne der russischen
Truppen und der Verbände der sogenannten „Volksrepubliken“ im Bezirk Luhansk, weniger im Bezirk
Donezk. Extrem kritisch ist die Lage in der Hafenstadt Mariupol, die von russischen Truppen
eingeschlossen ist. Das Rote Kreuz bezeichnet die dortige humanitäre Situation als „apokalyptisch.“
Es ist davon auszugehen, dass die Stadt an Russland fällt. Zwischen Mariupol und Donezk fanden
auch heftige Kämpfe um die Stadt Wolnowacha statt. Versuche, Zivilisten aus beiden Städten durch
„humanitäre Korridore“ in Sicherheit zu bringen, sind im Feuer russischer Soldaten gescheitert. Um
die Kapitulation zu erzwingen, werden beide Städte schwer bombardiert, Infrastruktur und die
Logistik werden zerstört.

Die südliche Front (Krim-Front) ist der Bereich, wo Russland die bislang größten Geländegewinne hat
erzielen können. Seit 2014 hat Russland durch einen systematischen Aufbau von Truppen dafür
gesorgt, dass eine Invasion erfolgreich ablaufen würde. Diese Erwartung hat sich wohl erfüllt. Hinzu
kam, dass ukrainische Verbände in der Region von dem Angriff überrascht worden waren und wegen
der viel zu spät erfolgten Mobilmachung anfangs nicht reagieren konnten. Mittlerweile ist die
Großstadt Cherson von russischen Truppen eingenommen worden. Russische Truppen bewegen sich
in zwei Richtungen: einmal in Richtung Westen. Dort wurde die Hafenstadt Mykolajiw belagert,
konnte aber nicht eingenommen werden. Derzeit versuchen russische Truppen diese nördlich bzw.
nordwestlich zu umgehen. Ziel könnte sein, auf die Großstadt Odessa vorzustoßen. Bislang ist es in
Odessa ruhig geblieben, allerdings befinden sich vor dem Hafen Landungsschiffe der russischen
Marine, die jederzeit einen Angriff starten können. Vermutlich wird damit solange gewartet, bis die
Armeeverbände weiter in Richtung Westen vordringen. Odessa hat zudem einen Bürgermeister, der
einer pro-russischen Partei angehört und es gibt in der Stadt Klagen, wonach die Stadtverwaltung
sich nicht ausreichend darum bemühe, die Verteidigung zu organisieren.

Am 6. März kam es zu einem unerwarteten und irrationalen Angriff. Das Ziel war der relativ kleine
Flughafen Havryschiwka in der Region Winnyzja (im Zentralwesten der Ukraine). Zunächst wurde
angenommen, dass der Angriff von den Gebieten Transnistriens ausging. Es wurde jedoch bestätigt,
dass acht Raketen aus dem Schwarzmeer abgeschossen worden waren. Laut Bellingcat war der
russische Präsiden Putin „wütend“, als er erfuhr, dass die Russen den unbedeutenden Flughafen
Winnyzja mit den wertvollsten Raketen beschossen hatten, von denen es in Russland nicht mehr als
eintausend gibt.

Die andere Zielrichtung weist in Richtung Nordosten. Russische Truppen haben die Städte Melitopol
und Enerhoda (am Dnipro) eingenommen und es wird ein Angriff auf die Stadt Saporischschja
erwartet, die am Dnipro liegt. Beobachter befürchten, dass russische Verbände aus der Charkiw
Front versuchen werden, sich mit den Truppen aus dem Süden zu vereinigen, um so die im Gebiet
Donezk operierenden Hauptkräfte der ukrainischen Streitkräfte abzuschneiden. Ziel wäre die
Eroberung der Stadt Dnipro.

Die Gesamtlage

Ein Gesamtbild zu gewinnen, ist derzeit sehr schwierig. Sicher ist, dass Russland langsam vorrückt,
gleichzeitig aber erhebliche Verluste einstecken muss. Es gibt kaum verlässliche Zahlen über Verluste,
aber nach Angaben des Oryx-Blogs, der aus sozialen Medien Informationen zusammenstellt, sind die
nachgewiesenen russischen Verluste deutlich höher als diejenigen der ukrainischen Verbände. Bei
einigen Kategorien (Panzer, gepanzerte Infanteriefahrzeuge, LKW) seien drei- bis vierfach so hohe
Verluste zu vermelden. Russische Vormärsche erfolgen in der Regel auf Straßen. Dadurch erhoffen
sie sich ein schnelles Vorkommen, aber sie setzen sich dadurch ukrainischen Angriffen aus, die ihnen
erhebliche Verluste beschert haben.

                                                  4
Das Vorgehen der russischen Truppen gegen Städte und Großstädte ist durch brutale und
indiskriminierende Angriffe gekennzeichnet, bei denen wahllos in Wohnviertel geschossen wird oder
gezielt Infrastruktureinrichtungen angegriffen werden, darunter auch Krankenhäuser und
Geburtsklinken. Eingekesselte Städte werden von der Versorgung mit Wasser, Strom und
Lebensmittel abgeschnitten und Angebote für Fluchtkorridore können oft nicht umgesetzt werden,
da am Ende doch Busse mit Zivilisten beschossen werden. Selbst wenn ein Fluchtkorridor zum Abzug
von Frauen, Kindern und älteren Menschen führt, beginnt danach erst recht die Bombardierung oder
der Beschuss durch Artillerie. Hier beginnt sich das zu wiederholen, was man in den vergangenen
Jahren in Syrien beobachten konnte und was auch schon im Tschetschenienkrieg 1999 beobachtet
werden konnte.

Was die mittelfristigen Perspektiven betrifft, sind die Meinungen der Experten gespalten:

•   Auf der einen Seite stehen diejenigen, die davon ausgehen, dass Russland zwar erhebliche
    Rückschläge hat einstecken müssen und sich dessen bewusst ist, dass die ursprüngliche Planung
    falsch war und am unerwartet heftigen Widerstand der Ukrainer gescheitert sei. Aber
    mittelfristig werde sich die größere Masse durchsetzen und dazu führen, dass Russland seine
    Ziele langsamer, aber dennoch konsequent weiter verfolgen und am Ende siegen werde.
•   Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die darauf verweisen, dass der Angriff Russlands
    erhebliche strukturelle Defizite seiner Streitkräfte habe erkennen lassen. Dazu gehören Probleme
    im Bereich Logistik und taktische Kommunikation sowie die schlechte Moral der kämpfenden
    Truppe. Außerdem sei auffällig, wie wenig die Luftwaffe mit ihren über 300 modernen
    Kampfflugzeugen eingesetzt worden sei. Offenkundig, so eine Analyse vom Royal United Service
    Institut (RUSI) ist die russische Luftwaffe nicht zu komplexen Operationen im größeren Maßstab
    in der Lage. Der erwartete Cyber-Großangriff auf die Ukraine habe ebenfalls nicht stattgefunden,
    eher befinde sich Russland hier in der Defensive, nicht zuletzt, weil westliche Cyberkräfte
    eingeschritten seien und private Hackergruppen aus aller Welt Russland angriffen. Viele weisen
    auch auf strategische Fehler der russischen Invasoren hin. Von der „Kunst der operativen
    Kriegführung,“ der sich russische Generäle stets rühmen, sei bei der Invasion nicht viel zu
    erkennen gewesen. Der Aufmarschplan lasse erhebliche Mängel erkennen. Das russische Militär
    bleibe weit hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück. Zudem würden die Kräfte, die derzeit
    in der Ukraine im Einsatz sind, nicht für eine dauerhafte Besetzung der Ukraine ausreichen.

Professor Eliot A. Cohen von der Johns-Hopkins Universität schrieb hierzu: „Zwei Narrative kursieren:
eines erzählt von Karten mit Pfeilen und farbigen Gebieten, in denen Russland langsam, aber
konstant vorankommt; das andere von Russlands Eingeständnis, Wehrpflichtige eingesetzt zu haben,
von zurückgelassenen Fahrzeugen und einer Gefallenenrate von vielleicht 5 Prozent oder mehr, und
so weiter. Das eine handelt von materiellen Faktoren, das andere von moralischen Faktoren. Zeit, zu
Carl von Clausewitz zurückzukehren. Tatsächlich spielen materielle Faktoren ab einem bestimmten
Punkt eine Rolle, wenn nämlich die Chancen auf Sieg überproportional sind. Aber ansonsten
dominieren moralische Faktoren. Das Problem ist, dass wir in diesem Krieg so wenig darüber wissen,
weil wir nur sehr wenig Einblicke in die russische Seite bekommen.“ (Zitat nach Ulrich Speck,
Morgenlage 10.3.2022)

Tatsächlich dürfte entscheidend sein, wie die russische Seite die Aussichten sieht. Wenn dort die
erstgenannte Perspektive überwiegt, dann ist mit einem brutalen Krieg bis zu einem bitteren Ende zu
rechnen. Wenn die andere Einschätzung überwiegt (wozu die westlichen Sanktionen und
Waffenlieferungen erheblich beitragen), dann könnte Russland bereit sein zu Gesprächen über einen
Waffenstillstand. Diese könnten dann Ausgangspunkt für Verhandlungen über ein Paket sein, bei

                                                  5
dem am Ende Russland und die Ukraine bittere Pillen schlucken müssen. Die am 10. März
begonnenen Gespräche in Istanbul zwischen den Außenministern beider Länder haben bislang keine
diesbezüglichen Perspektiven erkennen lassen. Dennoch werden Assoziationen an den „Winterkrieg“
von 1939 wach, wo die Sowjetunion Finnland angriff und sich das Land erbittert wehrte – mit der
Folge, dass die Rote Armee enorme Verluste einstecken musste, letztendlich aber wieder abzog.

Die Gefahr einer internationalen, gar nuklearen Eskalation

Die Einschätzung der Gesamtlage ist auch wichtig für die Frage nach dem Verhalten der westlichen
Staatenwelt. Wenn man davon ausgeht, dass Russland mit „Masse“ am Ende siegen wird und
jederzeit zur Eskalation gegen westliche Interventionen bereit und fähig ist, dann bleibt eigentlich
nur noch Passivität übrig und dann machen Waffenlieferungen an die Ukraine wenig Sinn. Wenn man
die oben genannten strukturellen Defizite der russischen Streitkräfte jedoch ernst nimmt und sie für
strategisch relevant hält, dann ergibt sich ein anderes, zumindest differenzierteres Bild. Der frühere
NATO Oberbefehlshaber Wesley Clark wies am 10. März in einem Interview mit der Deutschen Welle
darauf hin, dass, wenn man das russische Ultimatum vom 15. Dezember 2021 ernst nimmt, dann
wären nach der Eroberung der Ukraine die baltischen Staaten, Polen und Moldau an der Reihe,
gewaltsam „entmilitarisiert“ und „entnazifiziert“ zu werden. Von daher sei es für die NATO
angebracht, die derzeitigen Schwächen der russischen Truppen zu nutzen, um den ukrainischen
Truppen zu helfen, die Aggressoren außer Landes zu treiben – zu Lande und zur Luft. Eine so günstige
Gelegenheit gäbe es nicht wieder. Russische Drohungen mit Atomwaffen könne der Westen durch
eigene Atomwaffendrohungen kontern. Ergänzend wäre anzumerken: Solange die NATO dabei nicht
auf russisches Territorium vordringt, ist zumindest der russischen Militärdoktrin zufolge auch nicht
mit dem Einsatz von Kernwaffen zu rechnen – was allerdings nicht ausschließt, dass sich Putin anders
entscheidet.

Von derartigen Gedanken ist die Biden-Administration trotz zunehmender Kritik im Kongress weit
entfernt. Zwar liefert sie weiter im großen Umfang panzerbrechende Waffen und Luftabwehrraketen.
Aber ansonsten reagiert sie unschlüssig, widersprüchlich und nervös. Vergangene Woche versuchte
Außenminister Anthony Blinken die polnische Regierung davon zu überzeugen, dass sie 28 Mig-29
Abfangjäger an die Ukraine abgeben solle – sie würden modernere amerikanische Flugzeuge
erhalten. Als sich die polnische Regierung tatsächlich zu diesem Schritt entschloss, aber aus Gründen
der Risikoverlagerung darum bat, diese auf dem Umweg über einen amerikanischen Stützpunkt in
Deutschland abzugeben, wurde diese Idee vom Pentagon geradezu brüsk zurückgewiesen und unter
anderem mit der Gefahr begründet, dass mit dem von Polen intendierten Vorgehen Russland zur
Eskalation gegen die NATO veranlasst werden könnte. Diese Widersprüchlichkeit war keine
Sternstunde der amerikanischen Diplomatie.

Die Angst vor einem Atomkrieg treibt auch die deutsche Politik und vor allem die Öffentlichkeit um,
die auf apokalyptische Szenarien erfahrungsgemäß besonders gerne und intensiv anspricht. So hat
sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz gegen den Transfer der polnischen Mig-29 an die Ukraine
ausgesprochen, weil die Gefahr eines Kernwaffenkrieges drohe. Allerdings stellt sich dann die Frage,
was sind erlaubte und was nicht-zulässige Waffenlieferungen? Und warum?

Mit den bisher vorgenommenen Lieferungen von Panzerabwehr und Flugabwehrraketen und mit der
Verhängung der Sanktionen sind die Staaten des Westens schon Konfliktpartei und werden
entsprechend von Russland dafür kritisiert. Damit gehen Risiken einher, die zumindest bei uns nicht
reflektiert werden. Aaron Stein schrieb in War on the rocks, dass es passieren könne, dass Konvois
mit westlichen Waffen Gegenstand russischer Luftangriffe werden. Dies könnte zu einer Eskalation
der militärischen Gewalt zwischen NATO und Russland führen. Wenn das stimmt, dann fragt man

                                                  6
sich, wo der Unterschied zu Kampfflugzeugen liegt? Man muss sich denn auch die Frage stellen,
warum die russische Luftwaffe nicht diese Konvois bekämpft? Vermutlich ist die Furcht auf russischer
Seite sehr groß, dass derartige Angriffe die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens der NATO auf Seiten
der Ukraine erhöhen werden. Und das wäre der Alptraum für die russischen Militärplaner.

Die Frage ist dann auch: welche Möglichkeiten der Eskalation außer Anschlägen aus der Luft oder
durch Marschflugkörper hat Moskau derzeit? Und was könnte es sich davon versprechen? Und, was
spricht aus russischer Sicht dagegen? Dies ist nicht mehr das Europa des Kalten Krieges, wo
eineinhalb Millionen Soldaten auf beiden Seiten der Trennlinie in Mitteleuropa standen und ein
kleinerer Zwischenfall unter Umständen eine umfangreiche Invasion des Warschauer Paktes hätte
auslösen können. Etwas Anderes wäre es, wenn Russland die Option hätte, zum Zweck der Eskalation
eine Invasion der baltischen Staaten und Polens vorzunehmen. Angesichts der in der Ukraine
erkennbar gewordenen Defizite und der Überdehnung der russischen Streitkräfte und angesichts der
verstärkten Präsenz amerikanischer und anderer Kräfte in Polen und den baltischen Staaten ist das
Zurzeit keine realistische Option für Moskau.

Es ist auch nicht notwendigerweise davon auszugehen, dass Russland Kernwaffen einsetzen wird, um
die Ukraine zu unterwerfen. Die Erhöhung der Alarmstufe, die Putin vor wenigen Tagen befahl, galt
offenkundig nur den strategischen Angriffskräften. Sie beinhaltet lediglich einen Zustand der
erhöhten Aufmerksamkeit. Dass Russland die USA mit strategischen Kernwaffen angreifen wird, um
in der Ukraine zu siegen, dürfte unwahrscheinlich sein, auch wenn man denjenigen folgt, die Putin als
durchgeknallt bezeichnen. Dieser ist noch nicht zu einer Strategie des nuclear brinkmanship
übergegangen, wenngleich die Erhöhung der Alarmstufe ein subtiler Schritt in diese Richtung war.
Putin wird, selbst wenn er durchgeknallt ist, nicht alleine den mutmaßlichen „Roten Knopf“ drücken
können. Es ist nicht viel bekannt über die Freigabeverfahren für den Einsatz strategischer Kernwaffen
(noch weniger über die Verfahren bei nicht-strategischen Kernwaffen), aber die zentrale Rolle scheint
dort der Chef des Generalstabs zu spielen – als Ermöglicher oder als Verhinderer eines
Kernwaffenangriffs. Auch macht der Einsatz von taktischen Kernwaffen in einem Land keinen Sinn, in
dem eigene Truppen in großer Zahl stehen. Putins Erhöhung der Warnstufe hat aber im Westen erst
einmal Selbstabschreckung ausgelöst.

                                                 7
Sie können auch lesen