WO DINGE WOHNEN DAS PHÄNOMEN SELFSTORAGE - Wien Museum

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Wien, Jänner 2019

WO DINGE WOHNEN
DAS PHÄNOMEN SELFSTORAGE

Pressegespräch:      Mittwoch, 13. Februar 2019, 10 Uhr
Eröffnung:           Mittwoch, 13. Februar 2019, 18.30 Uhr
Ausstellungsdauer: 14. Februar bis 7. April 2019
Öffnungszeiten:      Dienstag bis Sonntag und Feiertag, 10 bis 18 Uhr
Pressefotos:         www.wienmuseum.at/de/presse

Ausstellungsort:     Wien Museum MUSA, Felderstraße 6-8, 1010 Wien

       Welche Dinge heben wir auf, und welche geben wir weg? Darüber entscheidet nicht nur
       der praktische oder emotionale Wert eines Gegenstands, sondern auch der vorhandene
       Platz zur Aufbewahrung – vor allem in der Stadt, wo Stauraum im eigenen Wohnhaus
       zunehmend Mangelware wird. Wenn klassische Lagerräume wie Dachböden verschwinden
       und steigende Mieten den Umzug in eine größere Wohnung unerschwinglich machen,
       stellt sich die Frage: Wohin mit den Dingen, die immer mehr werden? Eine Option sind
       „Selfstorages“ — flexibel anmietbare Lagerabteile, die fast rund um die Uhr zugänglich sind.
       Das Geschäftsmodell der „Selbsteinlagerung“ („Self Service Storage“), das in den 1960er
       Jahren in den USA entwickelt wurde, erlebt seit den 2000er Jahren auch in Wien einen
       Boom.

       Die Ausstellung „Wo Dinge wohnen“ fragt nach den Gründen und Rahmenbedingungen
       für diesen Trend – und danach, wer diese neu geschaffenen Räume in welcher Form nutzt.
       Was erzählt das Phänomen Selfstorage über gegenwärtige Stadtentwicklung? Welche Rolle
       spielen beschleunigte Lebensstile und wachsende Mobilität und Flexibilität? Und welche
       Lebensentwürfe und biografische Einschnitte spiegeln sich in der Nutzung von Selfstorages
       wider? Herzstück der Ausstellung bilden Porträts von Wiener Selfstorage-NutzerInnen,

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wobei neben Videointerviews auch Teile ihrer ausgelagerten „Schätze“ zu sehen sind:
      Sie reichen von privaten Fotoalben aus der Zwischenkriegszeit über Opernballkleider,
      Alltagsgegenständen aus der DDR und altem Kinderspielzeug bis hin zu Schnittmustern
      einer Wiener Modedesignerin und dem Tonbandarchiv eines Avantgarde-Komponisten.
      Gerahmt werden diese Porträts mit zahlreichen Infografiken und einer umfangreichen
      Fotodokumentation von Klaus Pichler, der nicht nur das äußere Erscheinungsbild der
      neuen Selfstorage-Anlagen festgehalten hat, sondern auch deren innere Atmosphäre.

      Der Boom einer neuen Dienstleistung

      Ende der 90er Jahre eröffnete die Firma MyPlace den ersten Selfstorage-Standort am
      Stadtrand von Wien. Seither sind sowohl das Angebot von als auch die Nachfrage nach
      Selfstorage-Räumen in der Stadt rasant gewachsen: Allein MyPlace – bis heute Marktführer
      im deutschsprachigen Raum – eröffnete seit damals zehn weitere Filialen in der Stadt.
      Verfügte die erste Anlage des Unternehmens noch über bescheidene 195 Quadratmeter
      Lagerfläche, so boten alle Standorte zusammen im Jahr 2018 bereits 47.739 Quadratmeter
      an. Mittlerweile gibt es rund 15 Anbieter am Wiener Markt, die insgesamt geschätzt 95.000
      Quadratmeter Selfstorage-Lagerfläche an rund 60 Standorten anbieten. Rund zwei Dutzend
      weitere Selfstorage-Anlagen ergänzen das Angebot im Wiener Umland.

      Rund zwei Drittel der Selfstorage-Fläche wird von Privatpersonen genutzt, der Rest
      von meist kleineren Gewerbebetrieben, VertreterInnen, Online-HändlerInnen oder
      SteuerberaterInnen, die hier ihre Akten auslagern. Wer Stauraum außer Haus sucht,
      kann zwischen mehrgeschoßigen „Häusern für Dinge“, weiträumigen Containeranlagen
      in den Außenbezirken sowie kleinen innerstädtischen Selfstorages wählen, die in
      leerstehenden Geschäftslokalen in der Erdgeschoßzone errichtet werden. Dieses dritte
      Segment verzeichnet aktuell die stärksten Wachstumsraten im Hinblick auf die Zahl neuer
      Standorte. Das sorgt auch für Kritik: StadtforscherInnen befürchten eine Verödung des
      öffentlichen Raums durch mit Werbung verklebte und zugemauerte Fensteröffnungen.

      Wachsende Mobilität als zentraler Faktor für das Phänomen Selfstorage

      Mit dem rasantem Wachstum der Branche liegt Wien im europäischen Trend. Doch was
      macht Selfstorage als Thema für ein Stadtmuseum so interessant? Der Trend zum Miet-
      lager erzählt viel über die Herausforderungen an das heutige Leben in der Stadt. Europaweit
      zeigt sich, dass die Dienstleistung Selfstorage vor allem dort boomt, wo Menschen häufig
      umziehen. Die Zahl der Umzüge steigt auch in Wien seit einigen Jahren markant an: Rund
      zehn Prozent der Bevölkerung zieht jedes Jahr innerhalb von Wien um, was nicht zuletzt
      auch auf die Zunahme befristeter Mietverträge zurückzuführen ist. Berufliche Mobilität – ein
      zwischenzeitlicher Auslandsaufenthalt oder ein neuer Job in einer anderen Stadt – kann
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ebenso ein Grund sein, ein Storage anzumieten, wie ein biografischer Einschnitt: ein
      scheidungsbedingter Umzug in eine kleinere Wohnung etwa, in der man nicht das gesamte
      Hab und Gut verstauen kann; eine kurzfristige Wohnungsräumung nach dem Tod der Eltern
      (noch nie wurden so viele Gegenstände vererbt wie von der ersten Generation, die den
      Wohlstand nach 1945 voll miterlebt hat); eine „doppelte Wohnungseinrichtung“ beim Zusam-
      menziehen mit einem neuen Partner oder einer neuen Partnerin. In all diesen Fällen landen
      Dinge im Storage, weil es keinen Platz für sie in der Wohnung gibt, man sich aber auch
      (noch) nicht endgültig von ihnen trennen will.

      (Abstell-)Raum wird knapp und teuer in der Stadt

      Selfstorage ist damit mit einem weiteren zentralen Stadtthema verbunden: der Wohnraum-
      entwicklung. Seit Mitte der 2000er Jahre wächst die Wiener Bevölkerung rasant, das
      Wohnungsangebot konnte mit dieser Entwicklung jedoch nicht Schritt halten. Das erhöhte
      die Preise für Miet- und Eigentumswohnungen ebenso wie die Finanzkrise 2007/08, die
      viele InvestorInnen auf den Immobilienmarkt ausweichen ließ. Die Preise für Hauptmiet-
      wohnungen sind in Wien bei privaten Neuvermietungen zwischen 2005 und 2017 um 43,3
      Prozent gestiegen, die Quadratmeterpreise für Eigentumswohnungen seit dem Jahr 2000
      um 120 Prozent. Erstmals seit 50 Jahren kontinuierlichen Wachstums sinkt seit 2011 die
      durchschnittliche Wohnnutzfläche pro Person in Wien wieder leicht. Wie in anderen Städten
      sind auch hier die klassischen „Dingräume“ (Petra Beck) im Rückzug begriffen: Dachböden
      werden zu Wohnungen ausgebaut, Keller bei Neubauten oft genauso wenig eingeplant wie
      Abstellräume in den effizient geschnittenen „Smart-Wohnungen“. Fazit: Der Platz wird
      knapper und immer teurer. Bevor man sich eine größere Wohnung leistet, weicht man beim
      Verstauen kurz- oder langfristig lieber auf Selfstorage-Abteile aus, selbst wenn diese
      durchaus ihren Preis haben.

      Wie gehen wir mit der Flut der Dinge um?

      Selfstorage ist ein Phänomen, das zugleich auch mit der wachsenden Zahl der Dinge zu
      tun hat, die uns umgeben. Schätzungen gehen davon aus, dass Menschen in der westlichen
      Welt heute durchschnittlich rund 10.000 Gegenstände besitzen. Manch einer fühlt sich
      von dem immer mehr werdenden „Zeug“ mittlerweile überfordert und „bedrängt“. Es ist kein
      Zufall, dass gerade in jüngster Zeit „Decluttering“, d.h. das Entrümpeln und Sich-Befreien
      von Dingen, zum Lifestyle-Trend geworden ist — und dass Selfstorage mitunter auch
      genützt wird, um sich Freiraum in der eigenen Wohnung zu verschaffen.

      Die Ausstellung „Wo Dinge wohnen“ wirft einen konzentrierten Blick auf unseren Umgang
      mit den den Gegenständen. Oft sind es Dinge von geringem materiellen Wert, die im

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Selfstorage landen: Fahrräder und Möbel, Zeitschriften und Bücher, Kleidung und
      Geschirr, Fotoalben und altes Kinderspielzeug. Gerade bei einer langfristigen Nutzung
      von Selfstorage übersteigen die Mietkosten oft den pekuniären Wert der darin gelagerten
      Sachen. Doch unser Verhältnis zu den Dingen ist, wie auch die Ethnologin Petra Beck
      betont, alles andere als sachlich. Mit manchen verbinden wir persönliche Erinnerungen,
      andere heben wir „für später“ auf, denn „das kann man noch brauchen“. Insofern steckt in
      der Selfstorage-Nutzung stets auch ein utopisches Moment: Man hebt Dinge auf, weil man
      an ihre zukünftige Verwendung in einer anderen Lebenssituation oder in einer größeren
      Wohnung glaubt. Das Zwischenlager verschafft nicht nur Platz, sondern auch Zeit, um die
      Entscheidung über den endgültigen Verbleib von Dingen nicht gleich treffen zu müssen.

      Selfstorage-MieterInnen im Porträt

      Das Herzstück der Ausstellung und des Begleitbuches bilden Porträts von sechs Personen,
      die auf sehr unterschiedliche Art Selfstorage-Angebote nutzen oder in jüngster Zeit genutzt
      haben. Ausgewählte Objekte aus ihren Abteilen und Videoporträts erlauben einen sehr
      privaten Einblick in Familiengeschichten, persönliche Biografien und Lebensstile, erzählen
      von Berufskarrieren und privaten Schicksalsschlägen, zeugen von Sammelleidenschaft und
      von der Hoffnung auf neue Wohn- und Lebenssituationen, in denen man die Dinge wieder
      nutzen kann. Florian Franke-Petsch lagerte bis vor kurzem eine riesige Arbeitsbibliothek
      und seine Sammlung von DDR-Alltagsgegenständen in einem Selfstorage aus; Renata
      Marie Werdung hat sich ihr Abteil als begehbaren Kleiderschrank für ihre Abend- und
      Opernballgarderobe eingerichtet; Frau M. nutzt ihr Depot u.a. für alte Möbel und das Archiv
      ihrer Familie, die 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde; der Modedesignerin
      Christiane Gruber bot Selfstorage die Möglichkeit, sich vor einer beruflichen Neupositio-
      nierung eine Nachdenkpause zu verschaffen; der Avantgarde-Komponist Georg Graewe
      verstaut in einem kleinen Abteil fast seinen gesamten persönlichen Besitz, weil er beruflich
      flexibel sein möchte und aus Überzeugung ein Leben mit leichtem Gepäck forciert; Herr B.
      wiederum nutzt ein „Social Selfstorage“-Angebot der Caritas, weil er aufgrund von aktueller
      Wohnungslosigkeit seine letzten Besitztümer nirgendwo anders lagern könnte.

      Die Porträts bieten ein Kaleidoskop urbaner Lebenspraxis und offenbaren einen höchst
      bewussten, individuell sehr unterschiedlichen Umgang mit den Dingen. Ergänzt werden
      sie von großformatigen Infografiken zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
      Rahmenbedingungen des Phänomens Selfstorage. Eine interaktive Station erlaubt es
      den BesucherInnen, zu deponieren, für welche Dinge sie selbst mehr Platz brauchen
      würden. Ein eigener Ausstellungsbereich widmet sich auch dem „Projektionsraum“ Self-
      storage. Die Ungewissheit, was sich hinter den abgeschlossenen Türen von Selfstorage-
      Abteilen verbergen mag, befördert nicht zuletzt die Fantasien von FilmemacherInnen. Sie
      inszenieren, wie zahlreiche Filmausschnitte zeigen, das Mietlager wechselweise als Ort
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des Schreckens, als Ort überraschender Funde oder als Zufluchtsort. Oder manchmal
      einfach nur als Ort, der hilft, das eigene Leben „in Ordnung“ zu bringen.

      Begleitbuch im Verlag Park Books

      Zur Ausstellung erscheint ein 160-seitiges Begleitbuch bei Park Books, das neben zahl-
      reichen Fotografien von Klaus Pichler und sechs Porträts von Storage-NutzerInnen
      vertiefende Texte zu verschiedenen Aspekten des Themas enthält: Petra Beck analysiert
      Selfstorages als „Sammlungsorte des Selbst“ und beschreibt deren innere Organisation
      und Atmosphäre; Justin Kadi widmet sich dem Stauraum in Zeiten der Wohnungskrise;
      Maik Novotny setzt sich mit der Architektur der neuen Mietlager kritisch auseinander;
      Angelika Psenner analysiert, wie sich Selfstorages im urbanen Erdgeschoß auf den
      öffentlichen Raum auswirken; Martina Nußbaumer beschreibt das Selfstorage als Schau-
      platz im Kino und Fernsehen; Klaus Pichler erzählt vom „Kopfkino“, das bei seinen
      fotografischen Erkundungstouren ablief; Peter Stuiber verknüpft das Thema Selfstorage
      mit dem Lifestyle-Trend „Decluttering“.

      Während der Umbauphase des Wien Museums am Karlsplatz wird das MUSA, das seit
      Anfang 2018 ein neuer Standort des Wien Museum ist, als Ausweichquartier für
      kulturhistorische Themenausstellungen des Wien Museums fungieren. Auch die Startgalerie,
      eine Ausstellungsfläche für junge KünstlerInnen, und die Artothek der Stadt, die es möglich
      macht, sich Kunst für zu Hause auszuborgen, haben ihren Standort im MUSA. Beide werden
      während der Umbauphase weiterhin bei freiem Eintritt zugänglich sein. Das MUSA soll nach
      Ende der Umbauphase wieder Ausstellungsfläche für zeitgenössische Kunst sein.

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Eintritt:                  Erwachsene: EUR 7,- / ermäßigt EUR 5,-*
                           (SeniorInnen, Wien-Karte, Ö1-Club, Menschen mit Behinderung, Studierende
                           bis 27 Jahre, Lehrlinge, Präsenz- und Zivildiener, Gruppen ab 10 Personen)
                           Kinder und Jugendliche unter 19 Jahre – Eintritt frei!
                           Jeden ersten Sonntag im Monat für alle BesucherInnen – Eintritt frei!

                           *Mit diesem Ticket erhalten Sie einen Gratisbesuch in einem weiteren Standort
                           des Wien Museums innerhalb eines Jahres.

BesucherInneninfo:         +43 1 5058747-85173,
                           service@wienmuseum.at, www.wienmuseum.at

KuratorInnen:              Martina Nußbaumer, Peter Stuiber

Ausstellungsarchitektur:   Robert Rüf

Grafik:                    Larissa Cerny

Hauptsponsor:              Wiener Stadtwerke

Presse:                    Barbara Wieser, Wien Museum
                           +43 1 5058747-84068
                           barbara.wieser@wienmuseum.at

                           Angelika Seebacher, Wien Museum
                           +43 664 882 938 54
                           angelika.seebacher@wienmuseum.at

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