Wunderblock Sibylle Omlin 2004 - Markus Schwander

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Wunderblock Sibylle Omlin 2004 - Markus Schwander
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            Sibylle Omlin, Wunderblock in: Abdruck – zu den Objekten und Zeichnungen von Markus Schwander
                                                     Revolver, 2004

Sibylle Omlin 2004
Wunderblock

Cézanne à Winterthur #6 2003

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat im                    lange unversehrt bewahrt, also ein Blatt
Zusammenhang mit dem Erinnerungsver-                         Papier, das ich mit Tinte beschreibe. Ich
mögen immer wieder das Bild des Schrei-                      erhalte dann eine‚ ‹dauerhafte Erinnerungs-
bens gebraucht und in diesem Kontext auch                    spur›. Der Nachteil dieses Verfahrens be-
die Schreibgeräte analysiert:                                steht darin, dass die Aufnahmefähigkeit
                                                             der Schreibfläche sich bald erschöpft. Das
«Ich kann eine Schreibfläche wählen, wel-                    Blatt ist voll geschrieben, hat keinen Raum
che die ihr anvertraute Notiz unbestimmt                     für neue Aufzeichnungen, und ich sehe mich

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genötigt, ein anderes, noch unbeschriebe-                  Zelluloidplatte des die Wachstafel decken-
nes Blatt in Verwendung zu nehmen.»¹                       den Blattes ausführt. […] Ein spitzer Stilus
                                                           ritzt die Oberfläche, deren Vertiefungen die
Auch die Schiefertafel als Schreibfeld gab                 ‹Schrift› ergeben. Beim Wunderblock ge-
bei Freud zu wenig her, um die Leistung der                schieht dieses Ritzen nicht direkt, sondern
Erinnerung zu beschreiben:                                 unter Vermittlung des darüber liegenden
                                                           Deckblattes.»³
«Wenn ich zum Beispiel mit Kreide auf eine
Schiefertafel schreibe, so habe ich eine Auf-              Dieses Gerät namens Wunderblock scheint
nahmefläche, die unbegrenzt lange aufnah-                  mir für eine Beschreibung von Markus
mefähig bleibt und deren Aufzeichnungen                    Schwanders Zeichnungen von einigem Inte-
ich zerstören kann, sobald sie mich nicht                  resse. Die Zeichentechnik, die der Künstler
mehr interessieren, ohne die Schreibflä-                   für zwei Serien aus den Jahren 2001 bis
che verwerfen zu müssen. Der Nachteil ist                  2004 angewendet hat, enthält einige Ele-
hier, dass ich eine Dauerspur nicht erhalten               mente des Wunderblocks: Zum einen die
kann. Will ich neue Notizen auf die Tafel                  Ritzung: Schreiben als Ritzen, das einen
bringen, so muss ich die, mit denen sie be-                Abdruck hinterlässt. Zum andern das In-
reits bedeckt ist, wegwischen. Unbegrenz-                  direkte: die zwei Blätter des Wunderblocks
te Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von                     vermitteln Schrift, vom einen zum andern.
Dauerspuren scheinen sich also für die Vor-
richtungen, mit denen wir unser Gedächt-
nis substituieren, auszuschliessen, es muss
entweder die aufnehmende Fläche erneuert
oder die Aufzeichnung vernichtet werden.»²

Freud interessierte im Zusammenhang mit
der ‹seelischen Wahrnehmung› sowohl die
Erregung durch Wahrnehmung, die sich als
dauernde Erinnerungsspuren zu speichern
vermag, als auch der Umstand, dass im-
mer wieder neue Spuren der Wahrnehmung
ältere überschreiben können. Freud nahm                    Cézanne à Winterthur #46 2004
sich angesichts dieses Umstandes einen
Schreibapparat vor, der um die Jahrhun-                    Drittens: der Wunderblock ist ein Gerät, bei
dertwende unter dem Namen ‹Wunder-                         dem alle neuen Inskriptionen das Löschen
block› in den Handel kam. Es war ein klei-                 der alten notwendig ist, die alten Inskripti-
nes Gerät, das mehr zu leisten versprach                   onen bleiben jedoch als feine Spur auf dem
als ein Blatt Papier oder die Schiefertafel.               Blatt unauslöschlich eingeschrieben.
                                                                 Markus Schwander interessiert sich
«Der Wunderblock ist eine in einen Papier-                 dafür, was über ein indirektes Verfahren für
rand gefasste Tafel aus dunkelbräunlicher                  die Zeichnung gewonnen werden kann, im
Harz- oder Wachsmasse, über welche ein                     Bereich des Sujets, im Bereich der Zeichen-
dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist,                 technik, und – wohl das wichtigste Motiv
am oberen Ende an der Wachstafel fest                      – im Bereich der medialen Überlagerung.
haftend, am unteren ihr frei anliegend.                    Markus Schwanders Zeichnungen zeigen
Dieses Blatt ist der interessantere Anteil                 nicht nur eine Kombination von Bildern, die
des kleinen Apparats. Es besteht selbst aus                durch Übereinanderkopieren und Überlap-
zwei Schichten, die ausser an den beiden                   pen entstehen, immer ist auch das Phä-
queren Rändern voneinander abgehoben                       nomen des Verbergens, des Löschens, des
werden können. Die obere Schicht ist eine                  Weglassens im Spiel.
durchsichtige Zelluloidplatte, die untere                        Für die Serie Dogs and Flowers von
ein dünnes, also durchscheinendes Wachs-                   2002 hat der Künstler während eines Auf-
papier. […] Man gebraucht diesen Wunder-                   enthalts in Südafrika eine neue Technik
block, indem man die Aufschreibung auf der                 entwickelt. Die Zeichnung wurde von Vor-

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lagen mittels Kugelschreiber und Kohle-                      Markus Schwander bereits vor der Arbeit
pauspapier auf ein weisses Zeichenblatt                      an seinen Zeichnungen beschäftigt. Für die
übertragen. Das Positiv der Vorlage wird                     Handlininen-Arbeiten um 1994 sammelte er
als Abrieb in der Zeichnung ein Negativ.                     Handinnenflächen von Personen, die sich
Dabei ist die Vorlage selbst bereits ein                     aus irgendeinem Grund versammeln. Wäh-
Negativ: Das Sujet der Zeichnung resultiert                  rend der Versammlung wurde die Gruppe
aus einem Kopierverfahren. Fotografische                     von Menschen aufgefordert, Fotokopien
Bilder, die der Künstler am Computer be-                     ihrer Handinnenseiten zur Verfügung zu
arbeitet und ineinander montiert, werden                     stellen. Für die Sammlung IV beispiels-
in Schwarz-Weiss ausgedruckt und da-                         weise wurde an einer Vernissage in einer
durch stark konturiert. Mit dem Kohlepaus-                   Galerie ein Kopierer aufgestellt. Die Gäste
papier nachgezeichnet, reduziert sich die                    konnten ihre Hände fotokopieren. Aus den
fotografische Addition in Umrisslinien und                   Kopien der Händepaare fertigte der Künst-
blauen Flächen. Dieses doppelte Negativ-                     ler Keramikreliefs, die ein Jahr später in
verfahren nach Fotovorlagen bringt schein-                   der gleichen Galerie ausgestellt wurden:
bar blind zusammen, was eigentlich nicht                     Das Negativ der Handfläche verwandelte

Dogs & Flowers #7, 2002

zusammenpassen will: Blumenidyll und                         sich wieder zum Positiv. Das Projekt der
Schäferhunde, Zähnefletschen und Blü-                        Umwandlung von individuellen Handlinien,
tenknäuel, Bougainvillea und Gittertor mit                   aus denen Physiognomen Charaktereigen-
Warnschildern. Die Engführung von Aggres-                    schaften herauslesen, fand in der Arbeit
sion, häuslichem Frieden und Abschreckung                    Konferenz von 1995 seine Fortsetzung. Die
nach aussen setzt somit ein eigenes Auf-                     Konferenz von Handflächen zeigt einen
schreibesystem voraus,4 das visuelle Ein-                    kleinen Machtzirkel, nämlich die Handlinien
drücke, fotografische Erinnerungsbilder und                  von sechs Menschen, die durch ihre gesell-
eine zeichnerische Abdrucktechnik umfasst.                   schaftliche Funktion direkt Macht auf den
      Das komplexe Umkopierverfahren von                     Künstler ausüben (können): ein Galerist, ein
Bildern, Konturen und Zeichenhaftem hat                      Museumsdirektor, ein Polizist, ein Sammler,

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ein Politiker und ein Manager. Die Handli-                 Auffallend ist das Layout der Zeichnungen:
nien wurden vergrössert, in einem Positiv-                 die durchgepausten Gemälde sind oft
verfahren als Gummistempel gegossen und                    durch den Rand des Papiers beschnitten;
mit Stempelfarbe eingefärbt auf Rahmen                     es bestehen grosse Leerräume zwischen
montiert. Die Frage nach dem Individuellen                 den Bildern. Eine Art Petersburger-Hän-
einer Handlinie wurde mit der Frage nach                   gung auf dem weissen Blatt. Es geht somit
Macht verbunden. Die Menschen, die das                     nicht darum, inhaltliche Bezüge zwischen
Bild ihrer Handinnenflächen dem Künstler                   den Malereien des 19. Jahrhunderts herzu-
überliessen, empfinden sich selbst zwar                    stellen, sondern eine ornamentale Struktur
nicht als mächtig, da sie ihrerseits von                   in den Gemälden samt Rahmen über ein
anderen Mächtigen abhängen. Dennoch be-                    Kopierverfahren deutlich zu machen. Die
stimmen sie im Einzelfall über Lebensge-                   Technik des Indirekten (mehrfaches Um-
schichten. Die Farbe auf dem Stempel kann                  kopieren, Kompilieren und Abreiben), die
also Spuren hinterlassen, diese Lebensli-                  mit dem Verdecken und wieder Aufdecken
nien können ihrerseits als Stempel dienen.                 spielt, zielt auf eine andere Sichtbarkeit
       Was bei der Arbeit Konferenz inter-                 der Werke: auf das Unterbewusstsein der
essiert, ist der Umstand, dass ein Bild zu                 Bilder. Die Bildvorlagen werden zu einem
einem Stempel werden kann. Ein Bild kann                   Vorbewusstsein der Zeichnungen von Mar-
wieder Spuren hinterlassen. Bilder sind                    kus Schwander. Auf dem Blatt Papier geht
ihrerseits Speicher von visuellen Informa-                 es darum, diese Spuren als dauerhafte
tionen, ähnlich wie ein Wunderblock. Sie                   Erinnerung einzuprägen. Der Raum ist be-
können Erinnerungen aufnehmen und wie-                     grenzt, die Zeichnung muss deshalb immer
der abgeben. Bilder sind fähig, Entlegenes                 von neuem beginnen. Freuds Befürchtung,
und zeitlich Disparates auf engem Raum                     dass die dauerhafte Erinnerung nur um den
zusammen zu bringen. Dieser Umstand be-                    Preis einer partiellen Überschreibung und
schäftigte Markus Schwander bei Dogs and                   Auslöschung zu haben ist, setzt Markus
Flowers, aber auch bei der ein Jahr später                 Schwander in ein mehrschichtiges Kopier-
entstanden Zeichenserie mit Kohlenpapier,                  verfahren von Bildern um. Kernstück ist
die den Namen Cézanne à Winterthur von                     dabei das Kohlepauspapier: Es trägt die
2003 trägt. Cézanne à Winterthur ist ein                   dauerhaft angelegten Bilder der Fotogra-
stellvertretender Titel, erzählt der Künst-
ler,5 «an ihm gefällt mir, dass er eine Reise
suggeriert, die der Mensch Cézanne nie
gemacht hat, aber seine Bilder». Ausgangs-
punkt war eine Recherche über Stillleben,
angefangen in der Sammlung Oskar Rein-
hardt Römerholz in Winterthur. Der Künst-
ler fotografierte ausschliesslich Stillleben
mit Früchten aus Museen in der Schweiz
und in Deutschland; also Bilder, die das
Herkunftsland der Künstler über Ankäufe
verlassen haben. In seinem Atelier kopierte
der Künstler die Fotos der verschiedenen
Gemälde von Renoir, Courbet, Cézanne
samt Rahmen mit seiner Paustechnik auf
grosse Bögen Papier. Die Zeichnungen sind
mit dem Namen des Künstlers und mit mu-
seumstechnischen Angaben beschriftet. So
vereint Markus Schwander Bilder aus den
oft weit auseinander liegenden Museen zu
einer neuen Form von Stillleben aus Gemäl-
den: zu einem musée imaginaire, das auf
das visuelle Gedächtnis der Kunstbetrach-
ter setzt.                                                 Cézanne à Winterthur #3 2003

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Cézanne à Winterthur #9, 2003

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fien und der Kopien wie auch den Abrieb.
Der Abrieb wird als Spur des Gebrauchs an
das Bild weiter gegeben. So entsteht in den
Zeichnungen ein Eindruck von kollektivem
Bildgedächtnis, das den Gebrauch der Bilder
in sich trägt.

1 Sigmund Freud, Notiz über den ‹Wunderblock›, in: Das Ich
  und das Es. Meta-psychologische Schriften, Fischer
  Taschenbuch-Ausgabe, Frankfurt am Main 1992, S. 313.

2 Vgl. Anm. 1, S. 313/314.

3 Vgl. Anm. 1, S. 315.

4 Den Begriff entlehne ich Friedrich Kittler. Vgl. Friedrich
  Kittler, Aufschreibesysteme 1800 – 1900, München 1985.

5 Mail des Künstlers vom 16. Mai 2003.

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