Kunst als Synonym für Lebensqualität
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,QGLYLGXHOOH/HEHQVTXDOLW¶W „Kunst als Synonym für Lebensqualität“ 0DUHQ$VPXVVHQ VSUDFKPLWGHP (UJRWKHUDSHXWHQ 3HWHU:HEHUWËEHU OHEHQVTXDOLW¶WWie war Ihr Werdegang? schnell am Ende meines Ausbildungswissens ange- $XVGUXFNVIRUPHQ 3HWHU:HEHUWIch habe eine klassische Ausbildung langt. Durch Zufall bin ich auf das Konzept von Ki- LQGLYLGXHOOHU.UHDWL zum Handwerker durchlaufen und diesen Beruf naesthetics gestoßen. Dort habe ich etwas Neues, YLW¶WXQG6FK¶UIXQJ gute 10 Jahre ausgeübt. Mit 28 Jahren absolvierte Kreatives erlebt, nämlich, dass ich mit „neurolo- XQVHUHU(LJHQZDKU ich eine Ausbildung zum Ergotherapeuten und bin gisch betroffenen Patienten“ sehr kreativ arbeiten QHKPXQJ zu diesem Zeitpunkt wieder mit der Kunst und kann; „kreativ“ diesmal im Sinne von Bewegung. künstlerischem Ausdruck in Berührung gekom- Ich habe mit Kinaesthetics ein gut anwendbares men. Die Kunsterziehung in der Schule mit diesen Werkzeug in die Hand bekommen, um als Thera- 12 Farben im Malkasten, den DIN-A3-Blättern hat peut und Mensch wirksam zu werden. mich eher frustriert. Erst im Rahmen meiner er- OHEHQVTXDOLW¶W Sie machen gemeinsam mit völlig gotherapeutischen Ausbildung bekam ich plötzlich unterschiedlichen Menschen Kunst. Was bedeutet einen viel größeren Rahmen, um mich erstmals be- Kunst für Sie? wusst künstlerisch auszudrücken. :HEHUW Kunst hat für mich relativ wenig mit Kön- Ab dem Jahr 2001 begann ich, mit Schädel-Hirn- nen zu tun. Ich definiere Kunst als Lernen. Die trauma-betroffenen Menschen zu arbeiten. Ich hatte wenig Ahnung davon und war ziemlich !! !! lebensqualität 01/2010 kinaesthetics und kunst
!! künstlerische Arbeit, die auf ein Ergebnis gerichtet ist, hat mich eher im Ausdruck behindert. Wenn aber eine Lernumgebung gestaltet wird, in der ich künstlerisch tätig sein kann, dann entsteht etwas aus sich heraus. OHEHQVTXDOLW¶W Wie kann ich mir diese Lernumge- „Kunst hat für mich wenig bung vorstellen? :HEHUWWir setzen uns meist den ganzen Tag mit mit Können, sondern mit 'HU.ËQVWOHU einem Thema auseinander. Wir schauen nach den Lernen zu tun.“ 3HWHU:HEHUWLVW.LQDHV verfügbaren Materialien im Atelier. Die Beschaf- WKHWLFV7UDLQHUXQG fenheit der Räume ist sehr wichtig. Da muss mit ELOGHQGHU.ËQVWOHU(U Farbe gekleckert werden können, die Kleidung darf DUEHLWHWPLW0HQVFKHQ schmutzig werden usw. Es muss möglich sein, Din- PLWEHVRQGHUHQ)¶KLJ ge liegen zu lassen, um etwas Neues aufzunehmen, NHLWHQ eventuell kommt man Tage später wieder zu alten Ideen zurück. Es entsteht in mehreren Etappen ein Ausdruck für ein Bild, wir arbeiten mit verschie- densten Materialien und Techniken. MitarbeiterInnen). Fern von diesem vertrauten OHEHQVTXDOLW¶WDas klingt sehr prozesshaft. Welche Kreis sollen sie nun etwas Unbekanntes aus ihrem Idee steckt da dahinter? Inneren hervorholen. Zunächst sehr schwierig! :HEHUW Meine Idee ist, dass jeder Mensch Kre- Aber sie erleben ohne Leistungsdruck etwas wirk- ativität in sich trägt, die nach außen drängt, dass lich Neues und sind am Ende überrascht, was sie dies auch ein Stück Wagnis bedeutet, etwas Neues alles geschaffen haben. Diese Kreativität wohnt in und Ungewisses, dies ist die Spannung, die einem jedem Menschen, solange er lebendig ist, und kann Kunstwerk innewohnt. Um ein solches Stück inne- nicht zerstört werden. re Freiheit zu entwickeln, muss mir meine Umge- OHEHQVTXDOLW¶W In diesem Schaffensprozess ent- bung vermitteln, das, was ich hier mache, ist gut. steht etwas, das man sehen kann; eine ästhetische Die Menschen, mit denen ich arbeite, erleben ei- Wahrnehmung von sich selbst. Wie wirkt das auf nen neuen Lebensbereich. Zunächst verlassen die Menschen, mit denen Sie arbeiten? sie ihre gewohnte häusliche Umgebung und ihre :HEHUWEs erfolgt keine Bewertung, es wird kein bekannten Bezugspersonen (MitbewohnerInnen, Ergebnis gefordert. Die TeilnehmerInnen begin- nen zu arbeiten, sie malen, spachteln oder zeich- nen, sie probieren, ob es eine Technik ist, die ih- nen gefällt. Wenn ja, arbeiten sie daran weiter und vertiefen die Idee. Oder aber sie verwerfen es wieder, aus welchen Gründen auch immer. Ob es nun an der Technik liegt, an den Materialien oder am handwerklichen Geschick, das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Aber das Erkennen findet statt. Meistens arbeite ich mit Gruppen. Die Men- schen melden sich aufgrund der Projektausschrei- bungen an, um – je nach Dauer – zwei bis fünf !! 'LHVSLHOHULVFKH$XV HLQDQGHUVHW]XQJPLW GHUHLQIDFKHQ)RUP GHV.UHLVHVUHGX]LHUW +HPPVFKZHOOHQ kinaesthetics und kunst lebensqualität 01/2010
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!! können wir dann Rahmenbedingungen finden, um eine Ausstellung für andere BewohnerInnen, An- Tage mit mir zu arbeiten. Die findet im Rahmen gehörige, die Öffentlichkeit zu organisieren. Hier von Andragogik statt. Ich weiß vorher nicht, wer steht der Künstler als Mensch im Mittelpunkt. Die kommt, lediglich die Gruppengröße ist festgelegt. Behinderung spielt keine Rolle. Es ist wichtig, das OHEHQVTXDOLW¶W Frei aus sich heraus etwas tun zu Geschaffene in den Raum zu stellen und wirken zu können, lässt etwas entstehen, was wiederum auf lassen. Erst im Dialog über das Bild findet das Pu- uns wirkt. blikum den Kontakt zum Künstler zum Menschen :HEHUWWas auch sehr ausgeprägt ist, ist die Iden- mit Behinderung. tifizierung mit dem, was ich gemacht habe. Hier OHEHQVTXDOLW¶W Auf den mir zur Verfügung gestell- findet eine Ich-Entwicklung, eine Selbstentwick- ten Kunstwerken sehe ich sehr viele Kreise. Hat der lung statt, die einhergeht mit dem Stolz, etwas Ei- Kreis eine besondere Bedeutung? genes geschaffen zu haben, etwas, das präsentiert :HEHUW In diesem Fall war er das Thema des Work- und nach außen getragen werden kann. Ich hatte shops: Der Kreis im künstlerischen Ausdruck, er zwar eine kunsttherapeutische Ausbildung, die verheißt Weite und Geborgenheit zugleich. Er ver- stark psychoanalytisch geprägt war, aber ich möch- lockt dazu, umwandert und durchwandert zu wer- te keinesfalls in diesem Setting eine psychoanaly- den. Von außen nach innen durchschritten, gibt er tische Betrachtungsweise über das entstandene Konzentration, lässt eine Mitte finden. Von innen Bild lostreten. Es soll wirklich jeder durch sich nach außen durchmessen, erschließt er immer selbst erkennen, was er geschaffen hat. Am Ende größere Weiten des Raumes, bildet konzentrische Kreise und wird zuletzt zum Bild des Kosmos. So lautete die Anregung. Wir waren etwa 30 Leu- te, die sich bewegt und mit malerischen Mitteln kennengelernt haben. Die Kreisform ist ein relativ einfaches Prinzip für Menschen, die eine kognitiv rationale Herangehensweise an Kunst haben. Ih- nen erging es ähnlich wie mir vor 20 Jahren, wenn mir jemand etwas Künstlerisches abverlangt hätte. „Bewegungen und Malen: Ich hätte sofort abgewehrt: „Das kann ich nicht!“ runde Linien auf dem Papier Hier war die Idee, dass wir eine ganz einfache ge- ometrische Form nehmen, die in diesem Fall auch als Ausdruck kreisender etwas Grafisches, Intellektuelles bietet. Einen Kreis kann jeder malen, weshalb die Hemmschwelle re- Bewegungen, die im Körper lativ niedrig ist, um sich mit Stift und Pinsel damit stattfinden.“ zu beschäftigen. !! kinaesthetics und kunst lebensqualität 01/2010
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!! OHEHQVTXDOLW¶W Bei diesem Workshop trafen Be- wohnerInnen und MitarbeiterInnen der Einrich- tung sowie deren Angehörige und Kinaesthetics- TrainerInnen aufeinander, um zu malen. Wie empfanden die unterschiedlichen Gruppierungen den gemeinsamen Workshop? :HEHUWWir wollten alle Beteiligten zusammenbrin- OHEHQVTXDOLW¶W Welche Bedeutung messen Sie der gen, um gemeinsam Probleme bildnerisch oder über Hand als Werkzeug bei? Bewegung analysieren und weiter bearbeiten zu kön- :HEHUW Die Hand hat sicher eine der entschei- nen. Es war sehr spannend und zeitintensiv. Wir ha- denden Bedeutungen in der Funktionalität. Ich ben morgens um 8:30 Uhr begonnen und an einem merke es an mir selbst: Erst heute Nachmittag war Abend sogar bis Mitternacht gegrillt. Wir haben uns ich im Krankenhaus, weil ich mir den Daumen ge- in verschiedenen Rollen getroffen – ob als Elternteil, brochen habe. Jetzt ist er geschient und ich fühle als MitarbeiterIn, als TrainerIn oder BewohnerIn – mich eingeschränkt. Die Hand als Werkzeug, um und viel über diese Rollen und die eigene Rolle ge- gestalterisch tätig zu werden, ist immens wichtig; lernt – ob bei einem belanglosen Plausch am Lager- nicht umsonst spricht man von „Handwerk“. Die feuer, in einer gemeinsamen Bewegung oder beim Hand ist für mich der Körperteil, den ich am ge- kreativen Arbeiten. Es entstanden völlig neue Bezie- zieltesten einsetzen kann, um Dinge, die innen hungen und Sichtweisen zwischen den Mitarbeite- entstehen, nach außen tragen zu können. Ob es rInnen, den BewohnerInnen und den Angehörigen. Gedanken, Ideen, Gefühle oder Emotionen sind, Für die TrainerInnen war es interessant, abseits des die ich bildnerisch darstellen will, hilft mir die klinischen Alltags mehr über die Abläufe einer Ein- Hand, es zu tun. richtung der Behindertenhilfe zu erfahren. Es war das Diese Meinung resultiert aus meiner Ausbildung pralle Leben, was da in dem Workshop abgelaufen ist! zum Ergotherapeuten und meinem Wissen darü- OHEHQVTXDOLW¶W Welche Bedeutung hat Bewegung ber, wie groß die motorische Präsenz sein kann. für diese künstlerische Betätigung? Die Hand hat die Möglichkeit, differenziert Dinge :HEHUWWir beschäftigten uns auf eine ganz an- zu tun, wie sonst kein anderer Körperteil – eventu- dere Art mit Bewegung und erkannten, dass das ell noch der Mund. Die Hand, so finde ich, nimmt Bild oder das Produkt an sich völlig nebensächlich eine Sonderstellung ein. ist. Wir wollten keine schönen Bilder malen. Die OHEHQVTXDOLW¶W Was ist für Sie Lebensqualität in Ausgangsidee war, Bewegung stattfinden zu lassen Bezug auf Kunst? Kunst und Lebensqualität, gibt es mit Hilfe kreativer Techniken, ob nun Pinsel, Stifte eine Verbindung? oder Spachtel. Wir fokussierten uns auf das The- :HEHUW Es ist für mich Lebensqualität, dass ich ma Kreis und kreisende Bewegung auf Papier und die intellektuelle und geistige Freiheit habe, mei- auch auf kreisende Bewegungen, die im Körper ne Kunst jetzt und heute ausleben zu dürfen. Ob stattfinden. in unserer Geschichte oder in Ländern mit tota- litären Staatsformen, zuerst wird die Freiheit der Kunst eingeschränkt oder verboten. Was den Mächtigen nicht passt, darf nicht sein. Kunst ist für mich Lebensqualität. Es ist ein Synonym für mich. Es gehört einfach dazu. lebensqualität die Zeitschrift für Kinaesthetics Ein Kooperationsprodukt von: Kinaesthetics Deutschland, Kinaesthetics Italien, Kinaesthetics Österreich, Kinaesthetics Schweiz, European Kinaesthetics Association, Stiftung Lebensqualität. Herausgeber: Stiftung Lebensqualität, Nordring 20, CH-8854 Siebnen. www.zeitschriftlq.com www.kinaesthetics.net lebensqualität 01/2010 kinaesthetics und kunst
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