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www.ssoar.info Bedeutung und Sinn - oder warum Menschen weiße Turnschuhe tragen Rommerskirchen, Jan Postprint / Postprint Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Rommerskirchen, J. (2018). Bedeutung und Sinn - oder warum Menschen weiße Turnschuhe tragen. Journal für korporative Kommunikation, 2, 11-25. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-60281-9 Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer CC BY Lizenz (Namensnennung) zur This document is made available under a CC BY Licence Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden (Attribution). For more Information see: Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018 Jan Rommerskirchen: Bedeutung und Sinn - oder warum Menschen weiße Turnschuhe tragen Menschen kaufen oftmals Markenprodukte, weil diese für sie eine besondere Bedeutung oder einen spezifischen Sinn haben. Daher stellt die Frage: Ist die Bedeutung einer Marke das Resultat der Unternehmenskommunikati- on oder prägen die Konsumenten den Sinn einer Marke? In diesem Beitrag werden die Begriffe Bedeutung und Sinn in einem theoretischen Rahmen hergeleitet und auf die Konsumsoziologie übertragen. Im Zusammenhang damit wird auch die Frage nach der Macht strategischer Kommunikationen für die Entstehung von Bedeutungen und Sinnzuweisungen untersucht. Dieser Beitrag kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Konzepte Sinn und Bedeutung nicht nur für die Markenführung, sondern ebenso für die Konsumsoziologie und darüber hinaus für eine praxeologische Kommunikationstheorie grundlegend sind: Sinn initiiert und generiert Bedeutungen, Bedeu- tungen konstruieren und legitimieren Sinn. Bedeutung ohne Sinn ist gehaltlos, Sinn ohne Bedeutung belanglos. Es ist ein allgegenwärtiges Phänomen: Wer in den schuhs, und auf die mediale Berichterstattung hier- letzten Monaten einer Gruppe von Schülern oder über folgte die Nachfrage in den Geschäften. Adidas Studenten begegnete und dabei auf den Boden blick- lieferte daraufhin einige neue Modelle des weißen te, entdeckte mit großer Wahrscheinlichkeit weiße Turnschuhs an ausgewählte Geschäfte, allerdings in Turnschuhe an deren Füßen. Viele Jahre lang wurden geringen Stückzahlen. Mit der Strategie der künstli- weiße Turnschuhe nur von wenigen Menschen und chen Verknappung bewirkte Adidas den gleichen nur in Sporthallen oder auf Tennisplätzen getragen, Effekt wie das US-Unternehmen Apple mit seinen dann plötzlich änderte sich dies und immer mehr Smartphones und einer sehr ähnlichen Strategie: Die Männer und Frauen trugen sie in der Schule, der Aufmerksamkeit und die Nachfrage nach weißen Hochschule, der Freizeit und bei der Arbeit. Der Turnschuhen stiegen, die Schlangen vor den Ge- weiße Turnschuh ist heute salonfähig: Die Schau- schäften wurden länger und die Medien berichteten spielerin Ellen DeGeneres trägt sie bei der Oscar- über beides, was zu noch größerer Nachfrage seitens Verleihung und Mercedes-Chef Dieter Zetsche bei der Kunden und stark steigenden Umsätzen seitens der Präsentation neuer Automodelle. des Unternehmens führte. Die Kampagne des Unter- Diese Entwicklung erfolgte nicht zufällig (vgl. nehmens Adidas war rundum erfolgreich, denn sie hierzu Weiguny, 2016). Ende der 1960er Jahre wur- schuf ein neues Bedürfnis bei den Konsumenten. Vor de der erfolgreiche Tennisspieler Stan Smith vom allem aber erhielt der weiße Turnschuh durch die Unternehmen Adidas mit einem besonderen Turn- Adidas-Kampagne eine neue Bedeutung. Und diese schuh ausgestattet: Auf der Zunge seiner weißen vom Unternehmen Adidas geprägte Bedeutung Schuhe war gut sichtbar ein Bild des Sportlers abge- machte den weißen Turnschuh zu einem begehrten druckt. Stan Smith gewann zahlreiche Turniere und Konsumgut und zum hochpreisigen Statussymbol. der weiße Turnschuh mit seinem Bild verkaufte sich Ein anderes Phänomen ist der Kult um die Marke millionenfach. Nach einigen Jahren gerieten der Harley-Davidson. Das Unternehmen ist die vermut- Spieler und sein Schuh jedoch in Vergessenheit. Fast lich bekannteste Motorradmarke der Welt und baut fünfzig Jahre später entschied sich das Unternehmen seit 1903 in Milwaukee im US-Bundesstaat Wis- Adidas zu einem Relaunch seines ehemals so erfolg- consin große Motorräder, die mehr kosten als ein gut reichen Produkts und plante eine Kampagne. ausgestatteter VW Golf. Trotz der Verkaufspreise Hierfür wurde der weiße Turnschuh zunächst vom von bis zu 25.000 Euro ist die Marke nicht nur bei Markt genommen, anschließend an einige ausge- ihren Kunden äußerst beliebt. Sie gilt sogar als ikoni- wählte Prominente wie den Sänger Pharrell Willi- sche Marke, die spezifische Werte symbolisiert und ams, die Modedesignerin Phoebe Philo und das Mo- damit einen Platz im begehrten Pantheon der Kul- del Gisele Bündchen verschenkt. Die Prominenten turikonen verdient (vgl. Holt, 2004, S. 4). trugen das Geschenk bei öffentlichen Auftritten, sie Der Mythos Harley-Davidson handelt von indivi- legitimierten die Parketteignung des weißen Turn- dueller Freiheit, hedonistischer Lebensfreude und journal-kk.de 11
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018 dem Überschreiten von Grenzen. Angeblich schuf und stellte auch keine Motorräder zur Verfügung. das Unternehmen diesen besonderen Mythos in den Harley-Davidson war schlichtweg blind für die Zei- 1980er Jahren, um sich gegen die Übermacht japani- chen der Zeit und ignorierte den neuen symbolischen scher Motorradhersteller zu wehren, die auch damals Gehalt der Marke. Erst Jahre später, am Rande des schon zuverlässigere und leistungsstärkere Motorrä- wirtschaftlichen Ruins Anfang der 1980er Jahre, der zu günstigeren Preisen anboten. Angeblich war erkannte Harley-Davidson die Möglichkeiten des der Mythos Harley-Davidson das Ergebnis guten Mythos und absorbierte ihn für seine eigenen Zwe- Marketings. Doch diese Geschichte stimmt nicht cke der Selbstdarstellung. Quell des Mythos waren (vgl. a. a. O., S. 155). Während das Unternehmen jedoch die Fahrer der Harleys, eine subversive Harley-Davidson – zumindest bis Anfang der 1990er Graswurzelbewegung, die der Marke einen neuen Jahre – solide Motorräder für den erfolgreichen ame- Sinn gaben. rikanischen Mittelstand, die Polizei und das Militär Diese beiden Markengeschichten sollen hier als verkaufen wollte, erfand die Kulturindustrie eine Ausgangspunkt für die Diskussion einer konsumso- ganz andere Geschichte, die in Filmen wie The Wild ziologischen Frage dienen: Ist die Bedeutung einer One, Hell’s Angels, Easy Rider und Terminator II Marke das Resultat der Unternehmenskommunikati- erzählt wurde: die Geschichte vom Fahrer einer on oder prägen die Konsumenten den Sinn einer Harley als reaktionärem Revolverhelden und liberta- Marke? Das Unternehmen Adidas konstruierte er- rischem Gesetzlosen, der sich nur am Rande der folgreich die Bedeutung weißer Turnschuhe, Harley- Gesellschaft bewegt. Davidsons Erfolg gründet auf einem Sinn, den die Der Outlaw-Mythos, der die Harleys zu den Konsumenten der Marke gaben. In der nachfolgen- „trusty steeds of the gunfighter“ (a. a. O., S. 165) den Diskussion sollen daher die Begriffe Bedeutung machte, entstand nicht etwa in der Marketingabtei- und Sinn zunächst in ihren jeweiligen Theoriekon- lung des Unternehmens, sondern entwickelte sich text eingeordnet werden, anschließend schlage ich seit den 1950er Jahren innerhalb jugendlicher Sub- einen kommunikationswissenschaftlichen Vermitt- kulturen und wurde bald von der Popkultur stilisiert. lungsversuch vor, der nicht zuletzt einen For- Einen wesentlichen Beitrag hierfür leistete der Film schungsbeitrag für die Praxis der Unternehmens- Easy Rider aus dem Jahr 1969, in der Blütezeit der kommunikation liefern will. Hippies und der Blumenkinder-Epoche. In diesem Der philosophische Ausgangspunkt dieser Diskus- modernen Western erfahren seine Protagonisten, sion stammt von dem Philosophen Gottlob Frege. In verkörpert von Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack seiner Schrift Über Sinn und Bedeutung (1892) fragt Nicholson, auf ihren umgebauten Harleys ein Ame- Frege nach den Gedanken eines Sprechers bei dem rika, das seine ursprünglichen Werte wie Freiheit Satz: „Der Abendstern ist ein von der Sonne be- und Selbstbestimmung verloren hat. Douglas Holt leuchteter Körper“, beziehungsweise: „Der Morgen- charakterisiert diese modernen Westernhelden als stern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper“. „lay philosophers of the frontier“ und „dangerous Wenn der Sprecher nicht wüsste, dass der Abend- tough guys who would do whatever it took to restore stern der Morgenstern ist, dann wäre der subjektive the country's historic rugged individualism, a coun- Gedanke, den er sprachlich äußert, und damit der try that would once again celebrate white men' s Sinn beider Sätze unterschiedlich. Die Bedeutung autonomy and power“ (a. a. O., S. 168). In den west- beider Sätze ist für Frege jedoch dieselbe, denn die lichen Jugendkulturen dieser Zeit wurde eine indivi- Gedanken des Sprechers deuten in beiden Sätzen auf duell umgebaute Harley-Davidson nach dem Vorbild den Planeten Venus. Die Bedeutung der Begriffe der Easy Rider-Motorräder schnell zum Symbol der Morgenstern und Abendstern ist für Frege somit ein Sehnsucht nach Selbstermächtigung und der Befrei- objektiver Gedanke, der für alle Sprecher gleicher- ung von gesellschaftlichen Zwängen. maßen wahr ist. Der Sinn der beiden Begriffe und Diesem in der Jugend- und Popkultur geprägten der Sätze, die mit ihnen gebildet werden, kann je- Bild ergab sich das Unternehmen Harley-Davidson doch subjektiv durchaus unterschiedlich sein, und jedoch eher widerwillig, als das es daran auch nur ein Sprecher könnte den ersten Satz für wahr, den mitgearbeitet hätte. Für den Film Easy Rider, in dem zweiten für falsch halten. Die Bedeutung eines Be- auch reichlich illegale Drogen konsumiert wurden, griffs oder eines Satzes deutet für Frege somit auf verweigerte das Unternehmen jede Unterstützung seinen objektiven Gedankeninhalt, der aber unab- 12 journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018 hängig vom subjektiven Verständnis eines Begriffs meinschaft. Zu den erkennbaren Phänomenen des oder eines Satzes sein kann. Das subjektive Ver- Sakralen gehört zum einen der Kult, also die ge- ständnis ist hingegen der Sinn des Begriffs und des meinsame Ausübung von rituellen Handlungen, zum Satzes und dieser entsteht in akteursabhängigen, anderen das Totem, das physische Objekt als symbo- mentalen Akten der Interpretation und der Beurtei- lische Verkörperung der Sakralität der Gemeinschaft lung von Vorstellungen und Intentionen. (vgl. a. a. O., S. 612). In den kultischen Handlungen Wenn wir nun versuchen, diese sprachphilosophi- und den symbolischen Totems verwirklicht sich das sche Grundlage auf den Konsum und damit auf Sinn kollektive Bewusstsein, sie sind die Identität der und Bedeutung der Dinge zu übertragen, müssen wir Gemeinschaft. Erst durch die Anerkennung des Kults zunächst die soziale Wirkung dieser Begriffe be- und des Totems wird der Einzelnen zum Mitglied trachten. Damit wechseln wir von der Philosophie seiner Gemeinschaft und zeigt seine Unterwerfung zur Soziologie und finden hier die beiden klassischen unter ein Kollektivbewusstsein, welches nun für ihn Antagonisten in der Erklärung von Bedeutung und real ist. Sinn: Émile Durkheim und Max Weber. Bei beiden Die Kraft des kollektiven Bewusstseins, seiner kul- Soziologen steht die Frage nach der bindenden Kraft tischen Handlungen und symbolischen Totems, von Bedeutungen und der separierenden Macht der übersteigt nun die Gemeinschaft, geht ihr voraus und Sinnbezüge im Zentrum ihrer Welterklärungen, wird sie überdauern. Das kollektive Bewusstsein jedoch sehen beide Theoretiker weitgehend unter- markiert die Grenze zwischen jenen, die zur Ge- schiedliche Welten vor sich. meinschaft gehören, und jenen, die nicht dazugehö- ren. Es existiert losgelöst vom einzelnen und zwingt Bedeutung ihn zum Glauben an die Handlungen und Totems als Der französische Soziologe Émile Durkheim sieht soziale Tatsachen (faits sociaux) der Gemeinschaft eine Welt, die von gemeinsamen Bedeutungen (vgl. a. a. O., S. 114). Und obwohl diese sozialen durchdrungen ist. Jede menschliche Gemeinschaft Tatsachen nur Vorstellungen des Geistes sind und baut für ihn auf einem gemeinsamen Bewusstsein „rein ideell“, wirken sie, „als ob sie reell wären: sie der Bedeutungen auf, sie initiieren und legitimieren bestimmen das Verhalten der Menschen mit dersel- die Gemeinschaft. Wie schon für Aristoteles ist der ben Notwendigkeit wie physische Kräfte“ (a. a. O., Mensch auch für Durkheim ein soziales Wesen, das S. 312). sein ethos, sein Denken und sein Handeln, nur in der Da die Gemeinschaft für Durkheim immer auch Gemeinschaft entwickeln kann. Den Nukleus jeder eine moralische Gemeinschaft ist, können einige menschlichen Gemeinschaft sieht Durkheim in ei- soziale Tatsachen zu heiligen Dingen und heiligen nem kollektiven Bewusstsein (conscience collective), Werten werden (vgl. Müller, 1992). Diese erscheinen an dem sich das Denken und das Handeln der Ge- dann in Helden und Heiligen, in Mythen und Flag- meinschaftsmitglieder orientiert. Die individuellen gen, in Grenzen und Verfassungen; selbst „den Vorlieben, Geschmäcker und Einstellungen sind Glauben an Menschenrechte und Menschenwürde als ebenso wie die gemeinsamen sozialen Handlungs- Ausdruck eines Prozesses der Sakralisierung der normen und Werthaltungen an diesem kollektiven Person“ (Joas, 2015, S. 86) betrachtet Durkheim als Bewusstsein zumindest ausgerichtet (vgl. Durkheim, soziale Tatsache, die zur geronnenen Identität einer 1992, S. 128). Gemeinschaft werden kann und in ihrer Konsequenz In Durkheims Welt existieren daher nur zwei Ar- einige Praktiken des Sozialen moralisch verbietet, ten von Handlungen und Dingen: die profanen und andere erzwingt. Die Handlung oder ihre Unterlas- die sakralen. Die profanen Handlungen und Dinge sung werden für den einzelnen Akteur zum morali- widersetzen sich dem kollektiven Bewusstsein und schen Bekenntnis zur Gemeinschaft und seiner Mit- haben folglich auch keine Bedeutungen für die Ver- gliedschaft. Sich gegen das Gesollte zu wenden bindung zwischen dem Einzelnen und seiner Ge- würde bedeuten, sich gegen die Zugehörigkeit zur meinschaft. Sie stehen isoliert für sich. Ganz anders Gemeinschaft zu entscheiden – und genau hierin die sakralen Handlungen und Dinge: Sie korrespon- liegt die zwingende Kraft des Normativen für Durk- dieren mit dem kollektiven Bewusstsein und festigen heim. In der Übertragung der Fregeschen Unter- die Stellung des Einzelnen als Mitglied seiner Ge- scheidung von Bedeutung und Sinn kann man nun festhalten, dass Bedeutungen für Durkheim nur im journal-kk.de 13
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018 Sakralen ihre symbolische Kraft entfalten können, dernen Massengesellschaft. Erst die Manipulation während es subjektive Sinnzuschreibungen lediglich der Gedanken und der Handlungen der Menschen im Profanen geben kann. schafft Ordnung in der Gesellschaft. Ohne Manipula- Zwar spielen der Konsum und seine Güter für tionen würde das Chaos herrschen: „Die bewusste Durkheim keine explizite Rolle, doch sind die impli- und zielgerichtete Manipulation der Verhaltenswei- ziten Analogien zwischen Religion und Kapitalis- sen und Einstellungen der Massen ist ein wesentli- mus, Kult und Konsum, Totems und Konsumgütern cher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. kaum zu übersehen. Konkreter formuliert Edward Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, len- Bernays einige Jahre später die zwingende Kraft des ken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die ei- Konsums im Kapitalismus. Für Bernays ist dieser gentlichen Regierungen in unserem Land. Wir wer- Zwang jedoch keine transzendente Erfahrung, son- den von Personen regiert, deren Namen wir noch nie dern die notwendige Macht des Unterbewussten über gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, das riskante Chaos moderner Massengesellschaften. unseren Geschmack, unsere Gedanken. Doch das ist Bernays überträgt hierzu die Erkenntnisse der psy- nicht überraschend, dieser Zustand ist nur eine logi- choanalytischen Forschungen seines Onkels Sig- sche Folge der Struktur unserer Demokratie: Wenn mund Freud. Für Freud ist klar, dass „das Ich nicht viele Menschen möglichst reibungslos in einer Ge- Herr sei in seinem eigenen Haus“ (Freud, 1917, S. sellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungs- 11) und dass vor allem das irrationale Es, das Tier im prozesse dieser Art unumgänglich“ (a. a. O., S. 19). Menschen, seinen Willen lenkt – wenn es nicht von Diese Aufgabe der Lenkung der Massen kommt der Gesellschaft mit ihrer Kultur und ihren Verhal- bei Bernays einer kleinen Gruppe mächtiger Propa- tenserwartungen gebändigt wird. gandisten aus der Politik und den Unternehmen zu, Freuds Neffe Bernays betrachtet den Menschen denn sie „steuern die öffentliche Meinung, stärken ebenfalls als wenig rationales Wesen, insbesondere alte gesellschaftliche Kräfte und bedenken neue wenn dieses Wesen Mitglied einer größeren Gruppe Wege, um die Welt zusammenzuhalten und zu füh- ist. Der Einzelne in der Gruppe ist leicht manipulier- ren“ (ebd.). Die unbedingte Notwendigkeit von Pro- bar, da „eine Gruppe nicht im eigentlichen Sinne des paganda erkennt Bernays nicht nur in der Politik, Wortes »denkt«. Anstelle von Gedanken stehen bei sondern auch in freien Marktwirtschaften, die den der Gruppe Impulse, Gewohnheiten und Gefühle“ Homo oeconomicus prinzipiell überfordern würden (Bernays, 2007, S. 51). Für Bernays ist der Mensch und nur durch eine stillschweigende Übereinkunft in der Gesellschaft zudem nie ‚allein‘, die Gesell- über die Übertragung der Lenkungsmacht an die schaft blickt ihm immer über die Schulter: „Da der Propagandisten funktionieren könnten: „Theoretisch Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftswesen ist, entscheidet sich beim Kauf jeder für die beste und empfindet er auch dann als Mitglied der Herde, wenn billigste Ware, die ihm angeboten wird. In der Pra- er allein zuhause im stillen Kämmerlein sitzt. Die xis jedoch käme unser Wirtschaftsleben vollständig durch den Einfluss der Gruppe geprägten Verhal- zum Erliegen, wenn wir alle Preise vergleichen wür- tensmuster sind sogar dann noch aktiv“ (a. a. O., S. den und die Unmengen von Seifen, Textilien oder 50). Und so kommt Bernays von seinen drei Prämis- Brotsorten auch noch chemisch untersuchen wollten, sen, dass der Mensch erstens von seinen unterbe- bevor wir sie kaufen. Um ein derartiges Chaos zu wussten Motivationen getrieben wird, zweitens nie vermeiden, besteht eine stille gesellschaftliche Über- wirklich für sich ist und drittens als Teil einer Ge- einkunft darüber, dass unser Blick durch den Einsatz meinschaft mehr fühlt, als dass er denkt, zu der von Propaganda lediglich auf eine reduzierte Aus- Schlussfolgerung, dass der Mensch immer und in wahl an Gedanken und Gegenständen fällt“ (a. a. O., jeder Situation impulsiv und beeinflussbar ist. S. 20). Daher werden die Gefühle und die Gedanken der Dass Menschen in demokratischen und liberalen Menschen in allen Bereichen des Lebens durch Pro- Staaten mit kapitalistischen Märkten und wettbe- paganda gelenkt und gesteuert, jede Bedeutung ist werbsorientierter Wirtschaft der Manipulation durch das Ergebnis von Manipulation (vgl. a. a. O., S. 27). Propaganda zustimmen, liegt für Bernays jedoch Dies, so Bernays, ist jedoch keineswegs problema- nicht nur an den funktionalen Defiziten der Konsu- tisch, sondern schlichtweg die notwendige Voraus- menten. Von Sigmund Freud weiß Bernays, dass die setzung für das geordnete Funktionieren einer mo- Kompensation unterdrückter Wünsche und Sehn- 14 journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018 süchte die eigentliche Triebfeder menschlicher Mo- volle Eingriff der Organisationen reguliert somit in tivationen ist. Ein Konsumgut, so Bernays, werde zweifacher Weise die soziale Wirklichkeit: Die be- daher auch nicht aus rationalen Gründen begehrt, deutungsgenerierende und identitätsformende Macht sondern weil es „als Symbol für etwas anderes steht; der Organisationen formt zunächst ein Positionie- für eine Sehnsucht, die der Konsument sich aus rungsfeld für Dinge und Menschen, um dann den Scham nicht eingesteht“ (a. a. O., S. 52). Diese ei- Zugang zu diesem Feld zu erteilen und zu verweh- gentlichen Bedeutungen zu erkennen und den Kon- ren. Mit anderen Worten: Der kapitalistische Kreis- sumenten zu vermitteln, ist die wesentliche Aufgabe lauf aus Bedürfnis, Konsum und Erfüllung (und dem der Unternehmen in modernen Märkten – und die nächsten Bedürfnis und so weiter) wird vollständig Grundlage ihrer Macht bei der Durchsetzung ihrer von der wirklichkeitserschaffenden Macht der Orga- Interessen. nisationen und vor allem der Unternehmen regle- Der Text von Edward Bernays stammt zwar aus mentiert. den 1920er Jahren, er bietet mit seinen deutlichen Das Phänomen der weißen Turnschuhe ist folglich Worten aber immer noch anregende Gedanken über für Durkheim, Bernays und Ortmann lückenlos re- die Manipulation der Menschen in modernen Gesell- konstruierbar: Die Bedeutung der Dinge ist das Re- schaften. Die Rolle der Unternehmen dabei betont sultat der machtvollen Ausgestaltung eines unterbe- auch ein aktueller Autor, Günther Ortmann. Er wussten kollektiven Glaubens an ihre Legitimität als schreibt Organisationen, ähnlich wie Bernays, eine soziale Tatsache. Wer diesen Glauben anerkennt, Macht zu, durch die sie das Denken, Empfinden und nimmt am gesellschaftlichen Spiel des Kulturkapita- Verhalten von Menschen in hohem Maße beeinflus- lismus (vgl. Rifkin, 2007) teil, in dem die sakralisier- sen und steuern können: „Organisationen sind die ten Konsumgüter zugleich kulturelle Bedeutungen mächtigsten Kommunikatoren der Moderne und also und die sozialen Identitäten ihrer Konsumenten re- die mächtigsten Beeinflusser aller drei Weisen oder präsentieren. Die Schöpfer des Spiels, der Bedeutun- Dimensionen der Welterschließung: der Wahrneh- gen und der Identitäten sind die Unternehmen. Aller- mung und Interpretation der Welt, der Verständi- dings sind widerspenstige Sinnzuschreibungen für gung über die Welt und des Eingreifens in die Welt. die Vertreter dieses Ansatzes kaum nachvollziehbar. Sie sind es nicht zuletzt durch ihre Kommunikations- und ihre Exkommunikationsmacht“ (Ortmann, 2011, Sinn S. 371). Die konsumierende Massengesellschaft des westli- Die Macht von Organisationen, zu denen Ortmann chen Kapitalismus ist auch für Max Weber die Folie, insbesondere die Unternehmen zählt, weil „deren vor der ein großer Teil seiner umfangreichen Arbei- Kommunikationsmacht in Bezug auf Märkte viel ten entstand. Und doch sieht er eine andere Welt als klarer vor Augen steht“ (a. a. O., S. 375), umfasst für Émile Durkheim und seine Nachfolger. In der Welt ihn nicht nur die Macht der Konstruktion der Bedeu- von Max Weber gibt es weder gemeinsame Werte tung der Dinge, sondern weit darüber hinaus auch noch kollektive Bedeutungen, sondern nur das indi- die Gestaltungsmacht über die Interpretation dieser viduelle Streben nach Erfolg in einer den Wettbe- Dinge und überhaupt der sozialen Identität der Inter- werb und die Konkurrenz fördernden Marktgesell- preten: „Organisationen stellen und legen fest, was schaft. Die Grundlagen dieser „spezifischen Wirt- einer oder etwas »ist«“ (a. a. O., S. 378). Die Macht schaftsgesinnung“ (Kocka, 2014, S. 13) des Kapita- der Organisationen – „die modernen Fabrikations- lismus legten jedoch zuvor die Utilitaristen des 17. stätten der Identität“ (ebd.) – erstreckt sich nicht und 18. Jahrhunderts. So wurde das menschliche zuletzt auf die Kontrolle über den Zugang zu den Handeln für Jeremy Bentham und John Stuart Mill „gesellschaftlich wirklich wichtigen Spielen“ (ebd.), ausschließlich von der Erwartung auf Freude und an denen die Menschen teilnehmen dürfen oder eben Lust sowie der Vermeidung von Schmerz und Leid nicht. motiviert (vgl. Bentham, 1992, und Mill, 2006). Da Ortmann sieht folglich in der Marktgesellschaft die Bewertung von Freude und Leid grundsätzlich eine doppelte Ermächtigung der Organisationen: Sie subjektiv ist, orientieren sich Menschen nur an ihren bestimmen über die Regeln des Spiels via Identitäts- höchsteigenen Erwartungen hieran. Gemeinsames und Bedeutungskonstruktionen und über seine Teil- Handeln und Kooperationen sind folglich von einer nehmer via In- und Exklusionsmacht. Dieser macht- journal-kk.de 15
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018 zumindest ähnlichen Erwartung an individuelle und Berechenbarkeit des Handelns, Formen der Freuden abhängig, anderenfalls wäre ein solches Kooperation und letztendlich die Entstehung von kollaboratives Handeln aus rein utilitaristischen sozialen Normen und Werten ermöglicht. Soziale Gründen nicht erklärbar. Einflussreich war der Utili- Ordnung ist für Weber daher eine Konsequenz der tarismus insbesondere mit der Verbreitung der politi- zweckrationalen und somit reziproken Sinnzuschrei- schen Ökonomie von Mill, in der er der klassischen bung (vgl. a. a. O., S. 21). Die Ordnungen der Ge- ökonomischen Behauptung, dass der Wert der Dinge sellschaft und der kapitalistischen Märkte entstehen von ihrem funktionalen Nutzen abhängen würde, für ihn keinesfalls aus kollektiven Verbindlichkeiten, grundsätzlich widersprach. Für Mill lagen der Wert die den Einzelnen in seinem Handeln binden oder und der Nutzen der Dinge vor allem in ihrer Fähig- gar zwingen, sondern ausschließlich durch die prak- keit, ein akteursspezifisches Bedürfnis zu befriedigen tische Umsetzung subjektiver, rationaler Interessen. (to satisfy a desire) (vgl. Mill, 1871, S. 331). Dieses Die ego-orientierte Sinngebung jedes Handelns im Bedürfnis war für Mill die subjektive Bewertung Rahmen eines utilitaristischen Gratifikationskalküls jener Freude und Lust, die die Dinge ihren Käufern hat eine lange Tradition, von ihrem Begründer versprachen, und damit rückte John Stuart Mill das Thomas Hobbes über Adam Smith und die Utilitaris- Individuum ins Zentrum der utilitaristisch-liberalen ten bis zu Max Weber, und auch in der Spätmoderne, Ökonomie. wie sie Ulrich Beck diagnostizierte, sehr wirkungs- Zwar kennt auch Max Weber die prägenden Kräfte mächtige Vertreter. Die Austauschtheorien über den sozialer Gemeinschaften auf die „Gleichartigkeit und neuen Homo oeconomicus von George C. Homans Gegensätzlichkeit des Habitus und der Lebensge- (vgl. Homans, 1972) oder das rationalistische Mak- wohnheiten“ (Weber, 2008, S. 306) innerhalb eines ro-Mikro-Makro-Modell von James S. Coleman (vgl. Stammes beziehungsweise deren Funktion bei der Coleman, 1995) prägten über Jahrzehnte die wissen- sozialen Differenzierung, allerdings sieht er insbe- schaftliche Untersuchung des Verhaltens von Kon- sondere in den westlichen Gesellschaften einen Pro- sumenten. Die Ökonomen Gary S. Becker (vgl. zess der fortschreitenden Rationalisierung der Le- Becker, 1993) und Milton Friedman (vgl. Friedman, bensführung und des Wirtschaftens. In seiner Einlei- 2004) wurden – nicht zuletzt durch ihre Auszeich- tung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen be- nung mit Nobelpreisen - zu populären Unterstützern schreibt Max Weber ausführlich diesen historischen neo-utilitaristischer Erklärungen menschlichen Ver- Wandel vom Stammesleben, das von seinen charis- haltens, auch über die Rolle als Konsument hinaus: matischen Zauberern angeführt wird, zur rationalen Alles – Ausbildung, Arbeit, Freundschaft und sogar Demokratie der „religiös Unmusikalischen“ (Weber, die Liebe zu anderen Menschen – stand unter dem 2007, S. 308). Bekanntlich spielt die Rationalisie- Verdacht der Rationalität, subjektiver Sinnzuschrei- rung, ausgelöst oder zumindest verstärkt durch den bungen des Handelns und eines nutzenmaximieren- Protestantismus und den Calvinismus mit ihrem den Verhaltens in sozialen Beziehungen jeder Art. individuell adressierten Heilversprechen der Prädes- Die moderne Psychologie sieht sich oftmals in die- tination, für Weber dann auch eine wesentliche Rolle ser Tradition, vor allem da, wo sie sich als Naturwis- beim Aufstieg des Kapitalismus (vgl. a. a. O., S. senschaft mit rein empirischen Methoden versteht. In 80ff.). In modernen Gesellschaften sieht Weber den letzten Jahren gab es daher eine Reihe von Un- daher auch nur einen rein „subjektiven Sinn“ tersuchungen, die die Sinnzuweisungen von Men- (Weber, 2008, S. 3), der aus dem Individuum heraus schen an Dinge erforschen. Beispielsweise unter- entsteht, als Motivation allen Handelns. suchten Jennifer Aaker und Susan Fournier die Art Dieser subjektive Sinn motiviert für Weber jedes der Beziehungen zwischen Menschen und Marken. menschliche Handeln, nicht zuletzt in sozialen Be- Sie postulierten, dass Menschen einigen Marken ziehungen und im Geschäftsverkehr. Hierbei ist die menschliche Eigenschaften zuschreiben (vgl. Aaker, Zuschreibung von Sinn keineswegs willkürlich, 1997) und zu ihnen ähnliche emotionale Beziehun- sondern grundsätzlich rational und somit auf die gen wie zu anderen Menschen eingehen (vgl. Auswahl sachlicher Ziele und effizienter Mittel be- Fournier, 1998). Derartige parasoziale Beziehungen grenzt. Insofern gibt es durchaus die Wahrschein- (vgl. Horton & Wohl, 1956) zwischen Menschen und lichkeit, dass mehrere Menschen ähnlich oder gar Marken sind seitdem Gegenstand umfangreicher konform handeln, was wiederum Regelmäßigkeiten Forschungen, um die anthropomorphisierten Eigen- 16 journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018 schaften einer Marke und die emotionalen Bindun- se darauf, dass Beziehungen zu Marken weniger gen an sie zu erklären. intensiv und leidenschaftlich sind als Beziehungen Die neurologische Grundlage für die Untersuchung zwischen Menschen. In ihrer Studie zeigte sich, dass parasozialer Beziehungen sind Gehirnaktivitäten, die die emotionale Erregung und die Anzeichen von in Magnetresonanztomographen (fMRT) gemessen Freude bei zwischenmenschlichen Beziehungen wurden. Es zeigte sich, dass die Aktivitäten der Ge- deutlich ausgeprägter sind, und sie schlagen daher hirne der Probanden in Abhängigkeit vom jeweils vor, die Markenbeziehung als Freundschaft zu be- präsentierten Objekt variierten: Beim Anblick von trachten. Marc Fetscherin erinnert daran, dass das bestimmten Marken wurden nicht nur beliebige Konzept der parasozialen Beziehung eine einseitige neuronale Aktivitäten ausgelöst, sie spiegelten viel- Beziehung zu einem mentalen Konstrukt wie einem mehr die konkreten Einstellungen einer Versuchs- Vorbild, einem Star oder einer Medienfigur be- person zu einer konkreten Marke (vgl. Reimann, schreibt, und keine interpersonelle Beziehung zwi- Castano, Zaichkowsky, & Bechara, 2012). Diese schen realen, interagierenden Menschen (vgl. Gehirnaktivitäten werden aufgrund der auffälligen Fetscherin, 2014). und objektabhängigen Regionen als Gefühle be- Eine simple Analogie, die Marken als soziale Ak- zeichnet und sie unterscheiden sich – zumindest teure mit einer eigenständigen Identität behandelt, ist neurologisch - kaum von jenen Gefühlen, die Pro- für diese Autoren nicht zulässig. Sinnzuschreibungen banden entwickeln, wenn sie an andere Menschen bleiben auch für die Psychologie in den meisten denken. Fällen dem Menschen vorbehalten. Für diese Die Gefühle, die Marken auslösen können, werden Psychologen bleibt die Sinnzuschreibung an Marken in der aktuellen Forschung jedoch sehr unterschied- zweckrational, da die Anthropomorphisierung der lich interpretiert. So werden in einer Studie von Dinge die Funktion hat, den Umgang mit ihnen zu Fritz, Lorenz und Kempe (2014) vier Beziehungsty- erleichtern beziehungsweise rational berechenbar zu pen unterschieden. Grundlage dieser Typologie war machen (vgl. Gilmore, 1919). Ähnliches sahen auch die Bewertung der Dauer der Beziehung, der Zufrie- John Stuart Mill und Max Weber: Für sie war die denheit, der Selbstverpflichtung (Commitment) und individuelle Sinnzuschreibung eine Form des Nut- der Leidenschaft in der Markenbeziehung. Während zens der Dinge, der mittelbar eine kollektive und eine Glückliche Partnerschaft als eng, vertrauens- gemeinschaftsstützende ökonomische Funktion voll, leidenschaftlich und intim beschrieben wurde, (Wunschbefriedigung) sowie eine soziale Funktion weist die Beste Freundschaft zu einer Marke eine (Normengenese) hatte. besonders lange Dauer, dafür aber weniger Leiden- Der Sinn einer Harley-Davidson wäre folglich für schaft auf. Eine bloße Zweckgemeinschaft hingegen John Stuart Mill, Max Weber und die objekt- ist laut der Studie lediglich langfristig – Emotionali- anthropomorphisierenden Psychologen durchaus tät spielt hierbei keine Rolle – und der Beziehungs- verständlich: Die Kreation einer subjektiven Sinnzu- typus Loser Kontakt ähnelt einer Zufallsgemein- schreibung an ein Objekt befriedigt für sie nicht nur schaft. Ähnliche Untersuchungen der Konsumenten- ein akteursspezifisches Bedürfnis nach Freude durch Marken-Beziehung schlagen Bezeichnungstypen wie individuelle und autonome Prädestinationserfüllung, alte Freunde, Geschwister, Hassliebe, nervige Be- sondern auch das rationale Streben nach gemeinsa- kanntschaft, Ehepartner und Affäre vor (vgl. Avery, men Praktiken in einem kooperativen Handlungs- Fournier, & Wittenbraker, 2014). Einige Autoren rahmen. Jedoch würden sie den kollektiven Glauben schlagen sogar vor, die Beziehungen von Menschen an die Bedeutung weißer Turnschuhe für einen ge- zu Markenobjekten als Markenliebe (Brand Love) zu fährlichen Aberglauben aus vor-rationalen Zeiten beschreiben (vgl. Batra, Ahuvia, & Bagozzi, 2012 halten. Wiederum ist das eine Phänomen erklärbar, sowie Albert, 2013) und erkennen in Einzelfällen das andere nicht. sogar Identitätsverschmelzungen (Brand Identity Fusion) von Menschen mit ihren Marken (vgl. Ling Gemeingut & Sung, 2014). Aus den bisherigen Darstellungen ergeben sich daher Andere Autoren sind angesichts derart euphori- zwei paradigmatische Erklärungen für die Konsum- scher Beschreibungen jedoch skeptisch. Langner, soziologie. Im ersten Paradigma erhalten Dinge wie Schmidt und Fischer (2015) verweisen beispielswei- journal-kk.de 17
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018 Unternehmen und Marken als mentale Konstrukte selbst versteht er als Netzwerk von Kommunikatio- eine Bedeutung im sozialen Feld beziehungsweise nen kollektiver Akteure, die wiederum aus Individu- werden im sozialen Raum der Gemeinschaft in ihrer en und denen ihnen nahestehenden Primärgruppen Bedeutung erkannt. Im zweiten Paradigma schreiben bestehen. Menschen den Dingen einen subjektiven Sinn zu, der Auf diesem Fundament baut Mead seine eigene eine zweckrationale Nutzenfunktion im akteursbezo- Sozialisationstheorie auf, in der die Identität bezie- genen Gratifikationskalkül hat. Das erste Paradigma hungsweise das ‚Selbst-Bewusstsein‘ eines Indivi- entspricht dem methodologischen Kollektivismus, duums (self) aus den Komponenten Ich (I) und Mich das zweite Paradigma dem methodologischen Indi- (Me) zusammengesetzt ist. Das Ich bildet sich in der vidualismus. Mit ersterem Paradigma ließe sich die Interaktion mit konkreten Anderen, das Mich in der schnelle und massenhafte Verbreitung von weißen inneren Reflexion normativer Erwartungen der gene- Turnschuhen gut erklären, mit letzterem die subver- ralisierten Anderen. In beiden Fällen sind das soziale sive Mystifizierung der Marke Harley-Davidson. Handeln, die Erfahrung und der Aufbau einer Bezie- Soziologische Ansätze, die beide Paradigmen und hung zum konkreten beziehungsweise zu den genera- damit auch beide Erklärungsmodelle der sozialen lisierten Anderen die Voraussetzung für die Entste- Wirkung der Dinge zusammenführen wollen, finden hung von Identität, die daher für Mead nur als sozia- sich in den interpretativen Theoriemodellen. In der le Identität möglich ist. Den Aufbau einer sozialen Nachfolge eines kantischen Konstruktivismus stehen Beziehung beschreibt Mead als Perspektivenwech- insbesondere die Gründungsväter des Pragmatismus sel, bei dem sich das Individuum vorstellt, sein eige- Charles S. Peirce, William James und John Dewey. nes Handeln aus der Sicht seines jeweiligen Gegen- In der Frühzeit des Pragmatismus stand für sie je- übers zu beobachten: „Man stellt sich selbst als han- doch das Problem der Vermittlung von Bewusstsein delnd gegenüber anderen vor. In dieser Vorstellung und Handeln im Fokus. Erst die zweite Generation tritt man nur in indirekter Rede als Subjekt des Han- der Pragmatisten, die sich innerhalb der Chicago delns auf und ist dennoch ein Objekt“ (Mead G. H., School in eher soziologisch (William I. Thomas und [1913] 1980, S. 243). Das Subjekt muss sich objekti- Robert E. Park) oder philosophisch (George Herbert vieren, damit gemeinsames Handeln möglich wird. Mead) ausgerichtete Themen differenzierte, suchte Ausgangspunkt seiner Identitätstheorie ist folglich eine Erklärung für die Verbindungen zwischen indi- die Fähigkeit des Menschen, sich in sein Gegenüber viduellem Handeln und sozialer Ordnung (vgl. Joas hineinzuversetzen, die Rolle des Anderen in der & Knöbl, 2004, S. 186). Beziehung zu übernehmen (im Original: role-taking) Die Bedeutung von sprachlichen Zeichen, Hand- und dadurch das eigene Handeln als soziales Han- lungen und Dingen für das Soziale war insbesondere deln zu verstehen: Das Individuum muss sich selbst in den Schriften von George Herbert Mead ein zent- in seiner Haltung und in seinem Handeln als ein rales Thema. Das Fundament seiner Überlegungen Anderer generalisieren (vgl. Mead G. H., [1922] findet sich bei seinem Vorgänger Charles Horton 1980, S. 295). Nur durch die Fähigkeit der Rollen- Cooley, dem eigentlichen Begründer einer „soziolo- übernahme und der Objektivierung des Subjekts ist gischen, prozessualen Sozialisations- und Identitäts- für Mead die „Rekonstruktion des Strukturzusam- theorie“ (Keller, 2012, S. 87). Für Cooley ist Identi- menhangs, der mich selbst und meine Perspektive tät immer soziale Identität, denn sie ist nur durch den mit enthält“ (Joas, 1989, S. 156), überhaupt möglich. Blick in den Spiegel, den das Gegenüber darstellt, Dies gilt für interpersonale Beziehungen ebenso wie denkbar (looking-glass self). Die Identitätsbildung für die rein mentalen Beziehungen zu den generali- versteht er als dreistufigen Spiegelungsprozess der sierten Anderen, die als abstrakte, virtuelle Entitäten Selbstwahrnehmung, an dessen Anfang (1) die eige- dem Individuum gegenüberstehen. ne Vorstellung davon steht, wie die anderen uns Aus diesen Objektivierungen heraus entstehen für sehen, gefolgt von (2) der Vorstellung, wie andere Mead die Bedeutungen von Menschen und Dingen. über unsere Selbstdarstellung urteilen, und schließ- Diese Bedeutungen sind für Mead immer allgemeine lich (3) unserer Bewertung dieser beiden Vorstellun- Bedeutungen (im Original: universal meaning) und gen (vgl. Mead G. H., [1939] 1980). Für Cooley sind sie müssen den Charakter eines Gemeinguts (im das Individuum und die Gemeinschaft deshalb un- Original: common property) haben, damit sie im trennbar miteinander verbunden, die Gesellschaft sozialen Handeln ihre Funktion übernehmen können 18 journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018 (Mead G. H., [1922] 1980, S. 295). In der sozialen ihn die Bedeutung aus dem Interaktionsprozess zwi- Interaktion haben die Zeichen, Gebärden und Worte schen verschiedenen Personen hervor. Die Bedeu- oder auch die Dinge somit erst dann eine Signifi- tung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der kanz, wenn sie für den Akteur selbst und in seiner Art und Weise, in der andere Personen ihr gegen- Objektivierung durch den Perspektivwechsel eine über in Bezug auf dieses Ding handeln. Ihre Hand- gemeinsame und damit allgemeine Bedeutung ha- lungen dienen der Definition dieses Dinges für diese ben: „Erst durch die Fähigkeit, zur gleichen Zeit man Person. Für den symbolischen Interaktionismus sind selbst und ein anderer zu sein, wird das Symbol Bedeutungen daher soziale Produkte, sie sind Schöp- signifikant oder bedeutungsvoll“ (ebd.). Jegliches fungen, die in den und durch die definierenden Akti- soziale Handeln und Kommunizieren ist daher für vitäten miteinander interagierender Personen her- die allgemeine und damit gemeinsame Bedeutungs- vorgebracht werden“ (Blumer, 2013, S. 67). anzeige auf die beiden Deutungsebenen der Denota- Andererseits betont Mead jedoch immer wieder, tion und der Konnotation angewiesen. Ersteres deno- dass Konnotationskonzepte in einer „unbegrenzten tiert durch einen Namen, Letzteres konnotiert durch Kommunikationsgemeinschaft“ (im Original: uni- ein mentales Konzept (in der Übersetzung findet sich verse of discourse) generalisiert sein müssen, damit hier das Wort ‚Begriff‘, im Original heißt es jedoch die Interaktion durch signifikante Symbole erfolg- concept; siehe hierzu Mead G. H., 1922). reich sein kann (vgl. Mead G. H., [1922] 1980, S. Problematisch ist bei Mead allerdings der unbe- 297). Wenn Mead dann einen „sozialen Organismus“ stimmte ontologische Status dieses mentalen Kon- (Mead G. H., [1927] 1983, S. 224) beschreibt, in zepts, das den Dingen ihre konnotative Bedeutung dessen Strukturen die Allgemeingültigkeit der signi- und damit ihre Signifikanz verleiht. Ist dieses Kon- fikanten Symbole enthalten ist und der dadurch das zept eine subjektive Intention und deren Signifikanz Diskursuniversum erst konstituiert, postuliert er eine eine bloße Vermutung oder ‚existiert‘ dieses Kon- akteursungebundene Entität. Diese Entität vom indi- zept? Ist dessen ‚Existenz‘ dann eine konforme Vor- viduellen Bewusstsein und der subjektiven Interpre- stellung in den Köpfen der Sprecher, wie sie in den tation loszulösen und ihr damit einen ontologischen repräsentationalistischen Theorien verstanden wird, Seins-Status zuzuschreiben, rückt Mead zumindest in oder gar eine kollektive Idee, auf die die Sprecher die Nähe jenes Kollektivbewusstsein, wie es schon intellektuell zugreifen können, wie sie die Realisten Émile Durkheim beschrieben hat. Bedeutungen sind verstehen? Entsteht das Gemeingut, auf das die dann nur als Umsetzung eines kollektiven Bewusst- Sprecher konnotativ deuten, in der Kommunikation seins denkbar. Auch wenn ein derartiger ontologi- oder besteht es schon vor der Interaktion? scher und erkenntnistheoretischer Realismus sicher- Einerseits beschreibt Mead diesen Vorgang der lich nicht Meads Verständnis des Pragmatismus Aneignung von Bedeutungen als das „einfühlende, entsprach, so findet er sich heute doch bei Sprach- wechselseitige Sich-Versetzen in die Rollen anderer“ philosophen wie John Searle (2012) oder den neuen (a. a. O., S. 297) und damit als subjektive Intention Realisten wie Quentin Meillassoux (2010), Paul beziehungsweise akteursgebundene Interpretation in Boghossian (2013) und Markus Gabriel (2015). der Interaktion. Diese Deutung der subjektiven Be- Der Pragmatist Mead ist in dieser Frage letztend- deutungsgenese stärkt Mead vor allem in einer späte- lich unentschlossen und gibt den Interpreten seiner ren Schriften über Eine pragmatische Theorie der Schriften ausreichend Anlass für unterschiedliche Wahrheit (vgl. Mead G. H., [1929] 1983) und sie Auslegungen (vgl. Wenzel, 1985). Fest steht nur, findet sich dann auch expliziter bei seinem Schüler dass es für Mead keinen subjektiven Sinn geben Herbert Blumer, der Bedeutungen von Dingen als kann, da alle kommunikativen Gehalte ihre univer- soziale Schöpfungen definiert, die das Resultat von selle Signifikanz bereits durch eine „antizipatorische akteurs- und situationsgebundenen Definitions- und Rollenübernahme“ (vgl. Joas, 1989, S. 154) nachge- Interpretationsprozessen sind: „Weder betrachtet wiesen haben müssen, bevor sie zum Einsatz kom- [der symbolische Interaktionismus] die Bedeutung men können. Damit bleibt bei George Herbert Mead als den Ausfluss der inneren Beschaffenheit des die Frage offen, ob Bedeutungen vor der Interaktion Dinges, das diese Bedeutung hat, noch ist für ihn die bereits bestehen (significatio ante communicatio) Bedeutung das Ergebnis einer Vereinigung psycho- oder ob sie in der Interaktion entstehen (significatio logischer Elemente im Individuum. Vielmehr geht für ex communicatio). Durch Meads Ablehnung eines journal-kk.de 19
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018 subjektiven Sinns führt diese Frage in einen infiniten Aussagen über kulturelle und moralische Orientie- Regress: Die Signifikanz der Symbole zeigt sich in rungen als quasi-ontologischen Kern in sich tragen Interaktionen, wenn sie bereits in vorherigen Interak- (vgl. Misik, 2007). Und doch kann und darf man tionen generalisiert wurden, in denen sie wiederum diesen Glauben an die wahren Bedeutungen eben in einer vorherigen Interaktion generalisiert wurden nicht als evolutionären Fortschritt einer freien und so weiter. Und so führt uns diese Frage schluss- Marktwirtschaft schlichtweg hinnehmen, sondern endlich zum alten Universalienstreit zurück (vgl. muss nach der Begründung fragen, warum der My- Rommerskirchen, 2017a, S. 135ff.): Liegt die Bedeu- thos der Macht des Kulturkapitalismus als Grund für tung der Universalien ante rem, in re oder post rem? diesen Kult gesehen wird. Es macht, mit den Worten John Deweys, einen wesentlichen Unterschied, ob Macht man etwas anerkennen kann oder soll: Erst die „Be- Die konsumsoziologische Frage bleibt daher: Ist die hauptung der Gültigkeit verleiht der Tatsache Autori- Bedeutung einer Marke das Resultat der Unterneh- tät“ und kennzeichnet den Übergang von der volun- menskommunikation oder prägen die Konsumenten tativen Festlegung zur internalisierten „Selbstrecht- den Sinn der Marke? Hinter dieser Frage verbirgt fertigung und Rationalisierung“ von Werten und sich nicht zuletzt das Phänomen der kommunikativen Wahrheit (vgl. Dewey, 1998, S. 263). Für eine analy- Macht. Haben die Unternehmen die Macht der stra- tische Untersuchung der Macht von Unternehmen tegischen Bedeutungsvermittlung von Marken oder und des sozialen Handelns von Konsumenten ist es haben die Konsumenten die Deutungsmacht über daher notwendig, an die beiden Perspektiven der deren Sinn? Untersuchung von Marktphänomenen zu erinnern: Macht ist heute ein „ubiquitäres Phänomen von an die Perspektive der Konstruktion und der Inter- Gesellschaft“ (Imbusch, 2012, S. 13), zugleich aber pretation der Dinge und ihrer Phänomene (vgl. auch ein pejorativer Terminus, da er zumeist einen Rommerskirchen, 2017b). Vorwurf impliziert – den Vorwurf des Missbrauchs Zur Perspektive der Konstruktion: Unternehmen und der Unterwerfung. Daher findet man den Termi- versuchen, die inkludierende und exkludierende nus auch eher im Feuilleton als in der Wissenschaft. Wirkung ihrer Objekte zu stärken, indem sie diesen In der Ökonomie ist Macht seit vielen Jahren ein zunehmend eine kulturelle und - im Sinne Durk- verdrängtes Konzept (vgl. Oltmanns, 2012), in der heims moralische - Bedeutung geben. Unternehmen Soziologie und der Politikwissenschaft wird Macht generieren diese Bedeutungen, die sie ihren Produk- zumeist eher historisch oder anekdotisch besprochen. ten und Dienstleistungen anheften, und die strategi- Auch Niklas Luhmann hat das eigentümlich Un- sche Kommunikation dieser Bedeutungen und der scharfe und Mythische der Macht schon beschrieben: passenden Botschaften ist ein wesentlicher Bestand- „Die Macht der Macht scheint im Wesentlichen auf teil ihrer kommunikativen Tätigkeit. Hier ist nicht dem Umstand zu beruhen, dass man nicht genau der Ort, um die Legitimität der Unternehmen bei weiß, um was es sich eigentlich handele“ (Luhmann, dieser Konstruktionsarbeit zu diskutieren, an Zu- 1969, S. 149). Und wenn man mit George Herbert stimmung und Kritik herrscht kein Mangel (vgl. Mead feststellt, dass der Kult die Gruppe definiert, hierzu Rommerskirchen, 2018). Sicherlich jedoch der Mythos jedoch der Grund des Handelns ex post gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass Unternehmen ist (vgl. Mead G. H., [1929] 1983), so sollte man die Bedeutungen ihrer Produkte und Dienstleistun- beim Konzept der Macht die Ursachen und die Wir- gen erschaffen und für ihre strategischen Ziele kungen des sozialen Handelns genau analysieren, kommunizieren – wie ja auch das Beispiele der wei- bevor man über das Mysteriöse der Macht Mutma- ßen Turnschuhe zeigt. Die Kommunikation der Un- ßungen anstellt. ternehmen ist üblicherweise persuasiv und oftmals In Konsumsoziologie ist die Ansicht weit verbrei- auch manipulativ, sie kann ihre Rezipienten und tet, dass der Kult der Gruppe der gemeinsame Glau- deren Gedanken und Gefühle aber kaum „gegen be an die symbolischen Bedeutungen der Dinge ist. Widerstreben“ (Weber, 2008, S. 38) zum Konsum Im Zeitalter des Kulturkapitalismus befriedigen die zwingen. Waren schon lange keine schlichten Grundbedürfnis- Dass die Menschen sich des Machtstrebens der se mehr, vielmehr sollen sie vermeintlich wahre Unternehmen sehr wohl bewusst sind und diesem sehr skeptisch gegenüberstehen, belegt auch das weit 20 journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018 verbreitete Misstrauen, dass sie bei den meisten gen Wunsch hierzu zur Wirklichkeit (vgl. Brandom, Formen der Unternehmenskommunikation empfin- 2000, S. 99f.). In den Worten Immanuel Kants: Der den: In einer Studie sagten zwei Drittel der Befrag- Gebrauch der praktischen Vernunft ist Ausdruck der ten, dass sie Werbung im Fernsehen, im Radio und Würde eines autonomen Menschen und Freiheit ist in Zeitschriften kaum oder gar nicht vertrauen, bei die Anerkennung seiner Selbstverpflichtung. Werbung in sozialen Netzwerken und im Internet Die Macht der Unternehmen ist jedoch die Herr- waren es sogar circa 80% (vgl. Nielsen, 2016). Die schaft über die Optionen, und auch diese ist limitiert. Rezipienten der Unternehmenskommunikation sind Nur wenn Menschen in ihrer Rolle als Konsumenten sich somit mehrheitlich der Tatsache bewusst, dass die Bedeutungen der Dinge zur Vermittlung von sie die angebotenen Inhalte interpretieren müssen. In Identität und Zugehörigkeit anerkennen, bedienen sie der gleichen Studie sagten aber auch 80% der Be- sich der Kommunikationsmacht der Unternehmen. fragten, dass sie Empfehlungen von Bekannten, Diese „Form der Macht“, so Jo Reichertz, „resultiert beziehungsweise mehr als 60%, dass sie anderen […] aus der in und mit der Kommunikation geschaf- Konsumentenbewertungen im Internet durchaus oder fenen sozialen Beziehung und der durch diese Bezie- absolut vertrauen. Bei der Interpretation spielt somit hung grundgelegten Beweggründe“ (Reichertz, 2011, das – reale oder virtuelle – soziale Feld der Rezipien- S. 232). Mit Verweis auf Robert Brandom beschreibt ten eine wichtige Rolle (vgl. Hammerl, Dorner, Reichertz die Wirkung dieser aus der Kommunikati- Foscht, & Brandstätter, 2016). on entstehenden Macht als „deontischen Status“, der Der Macht der Unternehmen über die Konstrukti- eine „besondere soziale Beziehung“ (a. a. O., S. 233) on der Dinge steht die Definitions- und Interpretati- beschreibt. Die Macht dieser Beziehung über das onsmacht der Konsumenten entgehen. Folgt man Denken und das Verhalten der Menschen ist jedoch, Herbert Blumer, dann sind die Bedeutungen der so Reichertz weiter, in ihrer Wirkung auf die freiwil- Dinge soziale Schöpfungen: Sie entstehen in einem lige Anerkennung und „die Zustimmung zur Macht Prozess der Interaktion, in dem Subjekte im und mit des Gegenübers“ (a. a. O., S. 236) angewiesen. dem sozialen Feld deren Bedeutungen frei definieren Doch ist es eben diese autonome Anerkennung, die und interpretieren (vgl. Blumer, 2013, S. 76). Diese die zwingende Macht auf gehorsame Herrschaft Prozesse werden durch die Konstruktions- und reduziert und damit den Terminus der Kommunikati- Kommunikationsanstrengungen der Unternehmen onsmacht, wie ihn Reichertz hier definiert, in Frage nur akzidentiell berührt, indem sie die Optionen und stellt. Macht, so Max Weber, ist durch die Chance Wahlmöglichkeiten gestalten. Die Bindung an diese auf grenzenlosen Zwang definiert, Herrschaft hinge- Bedeutungen bleibt ein Akt der freien Anerkennung, gen ist auf Anerkennung angewiesen und ist immer eine autonome Festlegung auf eine akteursspezifi- limitiert (vgl. Weber, 2008, S. 38). Daher verfehlt sche Ligatur (vgl. Dahrendorf, 1979). Reichertz das spezifisch Interpretative dieser beson- Menschen wählen ihre Ligaturen aus Optionen, es deren sozialen Beziehung, wenn er behauptet, dass sind freie Festlegungen in und mit einem sozialen die Akteure einen „gemeinsamen Status“ erreichen, Feld, in dem Zugehörigkeiten fakultativ sind. Jedoch wenn sie den deontischen Status „teilen“ (Reichertz, sind diese Festlegungen sicherlich weder völlig frei 2011, S. 232). Robert Brandom weist gerade das im Sinne einer willkürlichen Meinung, noch ohne Gemeinsame des deontischen Status mit Verweis auf jeden Zwang im Sinne eines anarchischen Leer- Immanuel Kants Konzeption von normativer Freiheit raums. Die Festlegungen sind an „die ärgerliche zurück, wenn er immer wieder auf die subjektive Tatsache“ (Dahrendorf, 2010, S. 23) sozial bedingter Anerkennung des normativen Status und die subjek- Rollen und Optionen geknüpft, die die eigene Ge- tive Zuerkennung normativer Einstellungen hinweist. schichte und die Erwartungen an die Zukunft mit Für Robert Brandom ist der deontische Status Aus- sich bringen. Und doch ist es wie bei der Geschichte druck der positiven Freiheitskonzeption, wie sie von von Odysseus, der sich von seinen Freunden an den Kant als spezifische Fähigkeit der „Freiheit, etwas zu Mast des Schiffs binden lässt, um den Versuchungen tun, verstanden [wird], anstatt als Freiheit von Be- der Sirenen zu entgehen: Die Option, sich binden zu schränkungen“ (Brandom, 2015, S. 56). Das Beson- lassen, resultiert aus einer gemeinsam erlebten und dere an der sozialen Beziehung, wie Reichertz sie faktischen Umwelt, die Festlegung auf die Handlung beschreibt, ist daher für Brandom die Freiheit der selbst wird aber erst durch den freien und vernünfti- Anerkennung deontischer Status und sozialer Schöp- journal-kk.de 21
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