www.ssoar.info - oder warum Menschen weiße ...

Die Seite wird erstellt Carina Janssen
 
WEITER LESEN
www.ssoar.info - oder warum Menschen weiße ...
www.ssoar.info

   Bedeutung und Sinn - oder warum Menschen weiße
   Turnschuhe tragen
   Rommerskirchen, Jan

   Postprint / Postprint
   Zeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Rommerskirchen, J. (2018). Bedeutung und Sinn - oder warum Menschen weiße Turnschuhe tragen. Journal für
korporative Kommunikation, 2, 11-25. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-60281-9

Nutzungsbedingungen:                                             Terms of use:
Dieser Text wird unter einer CC BY Lizenz (Namensnennung) zur    This document is made available under a CC BY Licence
Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden   (Attribution). For more Information see:
Sie hier:                                                        https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018

Jan Rommerskirchen:
Bedeutung und Sinn - oder warum Menschen weiße
Turnschuhe tragen

Menschen kaufen oftmals Markenprodukte, weil diese für sie eine besondere Bedeutung oder einen spezifischen
Sinn haben. Daher stellt die Frage: Ist die Bedeutung einer Marke das Resultat der Unternehmenskommunikati-
on oder prägen die Konsumenten den Sinn einer Marke? In diesem Beitrag werden die Begriffe Bedeutung und
Sinn in einem theoretischen Rahmen hergeleitet und auf die Konsumsoziologie übertragen. Im Zusammenhang
damit wird auch die Frage nach der Macht strategischer Kommunikationen für die Entstehung von Bedeutungen
und Sinnzuweisungen untersucht. Dieser Beitrag kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Konzepte Sinn und
Bedeutung nicht nur für die Markenführung, sondern ebenso für die Konsumsoziologie und darüber hinaus für
eine praxeologische Kommunikationstheorie grundlegend sind: Sinn initiiert und generiert Bedeutungen, Bedeu-
tungen konstruieren und legitimieren Sinn. Bedeutung ohne Sinn ist gehaltlos, Sinn ohne Bedeutung belanglos.

Es ist ein allgegenwärtiges Phänomen: Wer in den          schuhs, und auf die mediale Berichterstattung hier-
letzten Monaten einer Gruppe von Schülern oder            über folgte die Nachfrage in den Geschäften. Adidas
Studenten begegnete und dabei auf den Boden blick-        lieferte daraufhin einige neue Modelle des weißen
te, entdeckte mit großer Wahrscheinlichkeit weiße         Turnschuhs an ausgewählte Geschäfte, allerdings in
Turnschuhe an deren Füßen. Viele Jahre lang wurden        geringen Stückzahlen. Mit der Strategie der künstli-
weiße Turnschuhe nur von wenigen Menschen und             chen Verknappung bewirkte Adidas den gleichen
nur in Sporthallen oder auf Tennisplätzen getragen,       Effekt wie das US-Unternehmen Apple mit seinen
dann plötzlich änderte sich dies und immer mehr           Smartphones und einer sehr ähnlichen Strategie: Die
Männer und Frauen trugen sie in der Schule, der           Aufmerksamkeit und die Nachfrage nach weißen
Hochschule, der Freizeit und bei der Arbeit. Der          Turnschuhen stiegen, die Schlangen vor den Ge-
weiße Turnschuh ist heute salonfähig: Die Schau-          schäften wurden länger und die Medien berichteten
spielerin Ellen DeGeneres trägt sie bei der Oscar-        über beides, was zu noch größerer Nachfrage seitens
Verleihung und Mercedes-Chef Dieter Zetsche bei           der Kunden und stark steigenden Umsätzen seitens
der Präsentation neuer Automodelle.                       des Unternehmens führte. Die Kampagne des Unter-
   Diese Entwicklung erfolgte nicht zufällig (vgl.        nehmens Adidas war rundum erfolgreich, denn sie
hierzu Weiguny, 2016). Ende der 1960er Jahre wur-         schuf ein neues Bedürfnis bei den Konsumenten. Vor
de der erfolgreiche Tennisspieler Stan Smith vom          allem aber erhielt der weiße Turnschuh durch die
Unternehmen Adidas mit einem besonderen Turn-             Adidas-Kampagne eine neue Bedeutung. Und diese
schuh ausgestattet: Auf der Zunge seiner weißen           vom Unternehmen Adidas geprägte Bedeutung
Schuhe war gut sichtbar ein Bild des Sportlers abge-      machte den weißen Turnschuh zu einem begehrten
druckt. Stan Smith gewann zahlreiche Turniere und         Konsumgut und zum hochpreisigen Statussymbol.
der weiße Turnschuh mit seinem Bild verkaufte sich           Ein anderes Phänomen ist der Kult um die Marke
millionenfach. Nach einigen Jahren gerieten der           Harley-Davidson. Das Unternehmen ist die vermut-
Spieler und sein Schuh jedoch in Vergessenheit. Fast      lich bekannteste Motorradmarke der Welt und baut
fünfzig Jahre später entschied sich das Unternehmen       seit 1903 in Milwaukee im US-Bundesstaat Wis-
Adidas zu einem Relaunch seines ehemals so erfolg-        consin große Motorräder, die mehr kosten als ein gut
reichen Produkts und plante eine Kampagne.                ausgestatteter VW Golf. Trotz der Verkaufspreise
   Hierfür wurde der weiße Turnschuh zunächst vom         von bis zu 25.000 Euro ist die Marke nicht nur bei
Markt genommen, anschließend an einige ausge-             ihren Kunden äußerst beliebt. Sie gilt sogar als ikoni-
wählte Prominente wie den Sänger Pharrell Willi-          sche Marke, die spezifische Werte symbolisiert und
ams, die Modedesignerin Phoebe Philo und das Mo-          damit einen Platz im begehrten Pantheon der Kul-
del Gisele Bündchen verschenkt. Die Prominenten           turikonen verdient (vgl. Holt, 2004, S. 4).
trugen das Geschenk bei öffentlichen Auftritten, sie         Der Mythos Harley-Davidson handelt von indivi-
legitimierten die Parketteignung des weißen Turn-         dueller Freiheit, hedonistischer Lebensfreude und

                                                  journal-kk.de                                               11
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018

dem Überschreiten von Grenzen. Angeblich schuf             und stellte auch keine Motorräder zur Verfügung.
das Unternehmen diesen besonderen Mythos in den            Harley-Davidson war schlichtweg blind für die Zei-
1980er Jahren, um sich gegen die Übermacht japani-         chen der Zeit und ignorierte den neuen symbolischen
scher Motorradhersteller zu wehren, die auch damals        Gehalt der Marke. Erst Jahre später, am Rande des
schon zuverlässigere und leistungsstärkere Motorrä-        wirtschaftlichen Ruins Anfang der 1980er Jahre,
der zu günstigeren Preisen anboten. Angeblich war          erkannte Harley-Davidson die Möglichkeiten des
der Mythos Harley-Davidson das Ergebnis guten              Mythos und absorbierte ihn für seine eigenen Zwe-
Marketings. Doch diese Geschichte stimmt nicht             cke der Selbstdarstellung. Quell des Mythos waren
(vgl. a. a. O., S. 155). Während das Unternehmen           jedoch die Fahrer der Harleys, eine subversive
Harley-Davidson – zumindest bis Anfang der 1990er          Graswurzelbewegung, die der Marke einen neuen
Jahre – solide Motorräder für den erfolgreichen ame-       Sinn gaben.
rikanischen Mittelstand, die Polizei und das Militär         Diese beiden Markengeschichten sollen hier als
verkaufen wollte, erfand die Kulturindustrie eine          Ausgangspunkt für die Diskussion einer konsumso-
ganz andere Geschichte, die in Filmen wie The Wild         ziologischen Frage dienen: Ist die Bedeutung einer
One, Hell’s Angels, Easy Rider und Terminator II           Marke das Resultat der Unternehmenskommunikati-
erzählt wurde: die Geschichte vom Fahrer einer             on oder prägen die Konsumenten den Sinn einer
Harley als reaktionärem Revolverhelden und liberta-        Marke? Das Unternehmen Adidas konstruierte er-
rischem Gesetzlosen, der sich nur am Rande der             folgreich die Bedeutung weißer Turnschuhe, Harley-
Gesellschaft bewegt.                                       Davidsons Erfolg gründet auf einem Sinn, den die
   Der Outlaw-Mythos, der die Harleys zu den               Konsumenten der Marke gaben. In der nachfolgen-
„trusty steeds of the gunfighter“ (a. a. O., S. 165)       den Diskussion sollen daher die Begriffe Bedeutung
machte, entstand nicht etwa in der Marketingabtei-         und Sinn zunächst in ihren jeweiligen Theoriekon-
lung des Unternehmens, sondern entwickelte sich            text eingeordnet werden, anschließend schlage ich
seit den 1950er Jahren innerhalb jugendlicher Sub-         einen kommunikationswissenschaftlichen Vermitt-
kulturen und wurde bald von der Popkultur stilisiert.      lungsversuch vor, der nicht zuletzt einen For-
Einen wesentlichen Beitrag hierfür leistete der Film       schungsbeitrag für die Praxis der Unternehmens-
Easy Rider aus dem Jahr 1969, in der Blütezeit der         kommunikation liefern will.
Hippies und der Blumenkinder-Epoche. In diesem               Der philosophische Ausgangspunkt dieser Diskus-
modernen Western erfahren seine Protagonisten,             sion stammt von dem Philosophen Gottlob Frege. In
verkörpert von Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack         seiner Schrift Über Sinn und Bedeutung (1892) fragt
Nicholson, auf ihren umgebauten Harleys ein Ame-           Frege nach den Gedanken eines Sprechers bei dem
rika, das seine ursprünglichen Werte wie Freiheit          Satz: „Der Abendstern ist ein von der Sonne be-
und Selbstbestimmung verloren hat. Douglas Holt            leuchteter Körper“, beziehungsweise: „Der Morgen-
charakterisiert diese modernen Westernhelden als           stern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper“.
„lay philosophers of the frontier“ und „dangerous          Wenn der Sprecher nicht wüsste, dass der Abend-
tough guys who would do whatever it took to restore        stern der Morgenstern ist, dann wäre der subjektive
the country's historic rugged individualism, a coun-       Gedanke, den er sprachlich äußert, und damit der
try that would once again celebrate white men' s           Sinn beider Sätze unterschiedlich. Die Bedeutung
autonomy and power“ (a. a. O., S. 168). In den west-       beider Sätze ist für Frege jedoch dieselbe, denn die
lichen Jugendkulturen dieser Zeit wurde eine indivi-       Gedanken des Sprechers deuten in beiden Sätzen auf
duell umgebaute Harley-Davidson nach dem Vorbild           den Planeten Venus. Die Bedeutung der Begriffe
der Easy Rider-Motorräder schnell zum Symbol der           Morgenstern und Abendstern ist für Frege somit ein
Sehnsucht nach Selbstermächtigung und der Befrei-          objektiver Gedanke, der für alle Sprecher gleicher-
ung von gesellschaftlichen Zwängen.                        maßen wahr ist. Der Sinn der beiden Begriffe und
   Diesem in der Jugend- und Popkultur geprägten           der Sätze, die mit ihnen gebildet werden, kann je-
Bild ergab sich das Unternehmen Harley-Davidson            doch subjektiv durchaus unterschiedlich sein, und
jedoch eher widerwillig, als das es daran auch nur         ein Sprecher könnte den ersten Satz für wahr, den
mitgearbeitet hätte. Für den Film Easy Rider, in dem       zweiten für falsch halten. Die Bedeutung eines Be-
auch reichlich illegale Drogen konsumiert wurden,          griffs oder eines Satzes deutet für Frege somit auf
verweigerte das Unternehmen jede Unterstützung             seinen objektiven Gedankeninhalt, der aber unab-

12                                                journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018

hängig vom subjektiven Verständnis eines Begriffs          meinschaft. Zu den erkennbaren Phänomenen des
oder eines Satzes sein kann. Das subjektive Ver-           Sakralen gehört zum einen der Kult, also die ge-
ständnis ist hingegen der Sinn des Begriffs und des        meinsame Ausübung von rituellen Handlungen, zum
Satzes und dieser entsteht in akteursabhängigen,           anderen das Totem, das physische Objekt als symbo-
mentalen Akten der Interpretation und der Beurtei-         lische Verkörperung der Sakralität der Gemeinschaft
lung von Vorstellungen und Intentionen.                    (vgl. a. a. O., S. 612). In den kultischen Handlungen
   Wenn wir nun versuchen, diese sprachphilosophi-         und den symbolischen Totems verwirklicht sich das
sche Grundlage auf den Konsum und damit auf Sinn           kollektive Bewusstsein, sie sind die Identität der
und Bedeutung der Dinge zu übertragen, müssen wir          Gemeinschaft. Erst durch die Anerkennung des Kults
zunächst die soziale Wirkung dieser Begriffe be-           und des Totems wird der Einzelnen zum Mitglied
trachten. Damit wechseln wir von der Philosophie           seiner Gemeinschaft und zeigt seine Unterwerfung
zur Soziologie und finden hier die beiden klassischen      unter ein Kollektivbewusstsein, welches nun für ihn
Antagonisten in der Erklärung von Bedeutung und            real ist.
Sinn: Émile Durkheim und Max Weber. Bei beiden                Die Kraft des kollektiven Bewusstseins, seiner kul-
Soziologen steht die Frage nach der bindenden Kraft        tischen Handlungen und symbolischen Totems,
von Bedeutungen und der separierenden Macht der            übersteigt nun die Gemeinschaft, geht ihr voraus und
Sinnbezüge im Zentrum ihrer Welterklärungen,               wird sie überdauern. Das kollektive Bewusstsein
jedoch sehen beide Theoretiker weitgehend unter-           markiert die Grenze zwischen jenen, die zur Ge-
schiedliche Welten vor sich.                               meinschaft gehören, und jenen, die nicht dazugehö-
                                                           ren. Es existiert losgelöst vom einzelnen und zwingt
Bedeutung                                                  ihn zum Glauben an die Handlungen und Totems als
Der französische Soziologe Émile Durkheim sieht            soziale Tatsachen (faits sociaux) der Gemeinschaft
eine Welt, die von gemeinsamen Bedeutungen                 (vgl. a. a. O., S. 114). Und obwohl diese sozialen
durchdrungen ist. Jede menschliche Gemeinschaft            Tatsachen nur Vorstellungen des Geistes sind und
baut für ihn auf einem gemeinsamen Bewusstsein             „rein ideell“, wirken sie, „als ob sie reell wären: sie
der Bedeutungen auf, sie initiieren und legitimieren       bestimmen das Verhalten der Menschen mit dersel-
die Gemeinschaft. Wie schon für Aristoteles ist der        ben Notwendigkeit wie physische Kräfte“ (a. a. O.,
Mensch auch für Durkheim ein soziales Wesen, das           S. 312).
sein ethos, sein Denken und sein Handeln, nur in der          Da die Gemeinschaft für Durkheim immer auch
Gemeinschaft entwickeln kann. Den Nukleus jeder            eine moralische Gemeinschaft ist, können einige
menschlichen Gemeinschaft sieht Durkheim in ei-            soziale Tatsachen zu heiligen Dingen und heiligen
nem kollektiven Bewusstsein (conscience collective),       Werten werden (vgl. Müller, 1992). Diese erscheinen
an dem sich das Denken und das Handeln der Ge-             dann in Helden und Heiligen, in Mythen und Flag-
meinschaftsmitglieder orientiert. Die individuellen        gen, in Grenzen und Verfassungen; selbst „den
Vorlieben, Geschmäcker und Einstellungen sind              Glauben an Menschenrechte und Menschenwürde als
ebenso wie die gemeinsamen sozialen Handlungs-             Ausdruck eines Prozesses der Sakralisierung der
normen und Werthaltungen an diesem kollektiven             Person“ (Joas, 2015, S. 86) betrachtet Durkheim als
Bewusstsein zumindest ausgerichtet (vgl. Durkheim,         soziale Tatsache, die zur geronnenen Identität einer
1992, S. 128).                                             Gemeinschaft werden kann und in ihrer Konsequenz
  In Durkheims Welt existieren daher nur zwei Ar-          einige Praktiken des Sozialen moralisch verbietet,
ten von Handlungen und Dingen: die profanen und            andere erzwingt. Die Handlung oder ihre Unterlas-
die sakralen. Die profanen Handlungen und Dinge            sung werden für den einzelnen Akteur zum morali-
widersetzen sich dem kollektiven Bewusstsein und           schen Bekenntnis zur Gemeinschaft und seiner Mit-
haben folglich auch keine Bedeutungen für die Ver-         gliedschaft. Sich gegen das Gesollte zu wenden
bindung zwischen dem Einzelnen und seiner Ge-              würde bedeuten, sich gegen die Zugehörigkeit zur
meinschaft. Sie stehen isoliert für sich. Ganz anders      Gemeinschaft zu entscheiden – und genau hierin
die sakralen Handlungen und Dinge: Sie korrespon-          liegt die zwingende Kraft des Normativen für Durk-
dieren mit dem kollektiven Bewusstsein und festigen        heim. In der Übertragung der Fregeschen Unter-
die Stellung des Einzelnen als Mitglied seiner Ge-         scheidung von Bedeutung und Sinn kann man nun
                                                           festhalten, dass Bedeutungen für Durkheim nur im

                                                   journal-kk.de                                               13
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018

Sakralen ihre symbolische Kraft entfalten können,          dernen Massengesellschaft. Erst die Manipulation
während es subjektive Sinnzuschreibungen lediglich         der Gedanken und der Handlungen der Menschen
im Profanen geben kann.                                    schafft Ordnung in der Gesellschaft. Ohne Manipula-
   Zwar spielen der Konsum und seine Güter für             tionen würde das Chaos herrschen: „Die bewusste
Durkheim keine explizite Rolle, doch sind die impli-       und zielgerichtete Manipulation der Verhaltenswei-
ziten Analogien zwischen Religion und Kapitalis-           sen und Einstellungen der Massen ist ein wesentli-
mus, Kult und Konsum, Totems und Konsumgütern              cher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.
kaum zu übersehen. Konkreter formuliert Edward             Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, len-
Bernays einige Jahre später die zwingende Kraft des        ken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die ei-
Konsums im Kapitalismus. Für Bernays ist dieser            gentlichen Regierungen in unserem Land. Wir wer-
Zwang jedoch keine transzendente Erfahrung, son-           den von Personen regiert, deren Namen wir noch nie
dern die notwendige Macht des Unterbewussten über          gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen,
das riskante Chaos moderner Massengesellschaften.          unseren Geschmack, unsere Gedanken. Doch das ist
Bernays überträgt hierzu die Erkenntnisse der psy-         nicht überraschend, dieser Zustand ist nur eine logi-
choanalytischen Forschungen seines Onkels Sig-             sche Folge der Struktur unserer Demokratie: Wenn
mund Freud. Für Freud ist klar, dass „das Ich nicht        viele Menschen möglichst reibungslos in einer Ge-
Herr sei in seinem eigenen Haus“ (Freud, 1917, S.          sellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungs-
11) und dass vor allem das irrationale Es, das Tier im     prozesse dieser Art unumgänglich“ (a. a. O., S. 19).
Menschen, seinen Willen lenkt – wenn es nicht von             Diese Aufgabe der Lenkung der Massen kommt
der Gesellschaft mit ihrer Kultur und ihren Verhal-        bei Bernays einer kleinen Gruppe mächtiger Propa-
tenserwartungen gebändigt wird.                            gandisten aus der Politik und den Unternehmen zu,
   Freuds Neffe Bernays betrachtet den Menschen            denn sie „steuern die öffentliche Meinung, stärken
ebenfalls als wenig rationales Wesen, insbesondere         alte gesellschaftliche Kräfte und bedenken neue
wenn dieses Wesen Mitglied einer größeren Gruppe           Wege, um die Welt zusammenzuhalten und zu füh-
ist. Der Einzelne in der Gruppe ist leicht manipulier-     ren“ (ebd.). Die unbedingte Notwendigkeit von Pro-
bar, da „eine Gruppe nicht im eigentlichen Sinne des       paganda erkennt Bernays nicht nur in der Politik,
Wortes »denkt«. Anstelle von Gedanken stehen bei           sondern auch in freien Marktwirtschaften, die den
der Gruppe Impulse, Gewohnheiten und Gefühle“              Homo oeconomicus prinzipiell überfordern würden
(Bernays, 2007, S. 51). Für Bernays ist der Mensch         und nur durch eine stillschweigende Übereinkunft
in der Gesellschaft zudem nie ‚allein‘, die Gesell-        über die Übertragung der Lenkungsmacht an die
schaft blickt ihm immer über die Schulter: „Da der         Propagandisten funktionieren könnten: „Theoretisch
Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftswesen ist,           entscheidet sich beim Kauf jeder für die beste und
empfindet er auch dann als Mitglied der Herde, wenn        billigste Ware, die ihm angeboten wird. In der Pra-
er allein zuhause im stillen Kämmerlein sitzt. Die         xis jedoch käme unser Wirtschaftsleben vollständig
durch den Einfluss der Gruppe geprägten Verhal-            zum Erliegen, wenn wir alle Preise vergleichen wür-
tensmuster sind sogar dann noch aktiv“ (a. a. O., S.       den und die Unmengen von Seifen, Textilien oder
50). Und so kommt Bernays von seinen drei Prämis-          Brotsorten auch noch chemisch untersuchen wollten,
sen, dass der Mensch erstens von seinen unterbe-           bevor wir sie kaufen. Um ein derartiges Chaos zu
wussten Motivationen getrieben wird, zweitens nie          vermeiden, besteht eine stille gesellschaftliche Über-
wirklich für sich ist und drittens als Teil einer Ge-      einkunft darüber, dass unser Blick durch den Einsatz
meinschaft mehr fühlt, als dass er denkt, zu der           von Propaganda lediglich auf eine reduzierte Aus-
Schlussfolgerung, dass der Mensch immer und in             wahl an Gedanken und Gegenständen fällt“ (a. a. O.,
jeder Situation impulsiv und beeinflussbar ist.            S. 20).
   Daher werden die Gefühle und die Gedanken der              Dass Menschen in demokratischen und liberalen
Menschen in allen Bereichen des Lebens durch Pro-          Staaten mit kapitalistischen Märkten und wettbe-
paganda gelenkt und gesteuert, jede Bedeutung ist          werbsorientierter Wirtschaft der Manipulation durch
das Ergebnis von Manipulation (vgl. a. a. O., S. 27).      Propaganda zustimmen, liegt für Bernays jedoch
Dies, so Bernays, ist jedoch keineswegs problema-          nicht nur an den funktionalen Defiziten der Konsu-
tisch, sondern schlichtweg die notwendige Voraus-          menten. Von Sigmund Freud weiß Bernays, dass die
setzung für das geordnete Funktionieren einer mo-          Kompensation unterdrückter Wünsche und Sehn-

14                                                 journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018

süchte die eigentliche Triebfeder menschlicher Mo-          volle Eingriff der Organisationen reguliert somit in
tivationen ist. Ein Konsumgut, so Bernays, werde            zweifacher Weise die soziale Wirklichkeit: Die be-
daher auch nicht aus rationalen Gründen begehrt,            deutungsgenerierende und identitätsformende Macht
sondern weil es „als Symbol für etwas anderes steht;        der Organisationen formt zunächst ein Positionie-
für eine Sehnsucht, die der Konsument sich aus              rungsfeld für Dinge und Menschen, um dann den
Scham nicht eingesteht“ (a. a. O., S. 52). Diese ei-        Zugang zu diesem Feld zu erteilen und zu verweh-
gentlichen Bedeutungen zu erkennen und den Kon-             ren. Mit anderen Worten: Der kapitalistische Kreis-
sumenten zu vermitteln, ist die wesentliche Aufgabe         lauf aus Bedürfnis, Konsum und Erfüllung (und dem
der Unternehmen in modernen Märkten – und die               nächsten Bedürfnis und so weiter) wird vollständig
Grundlage ihrer Macht bei der Durchsetzung ihrer            von der wirklichkeitserschaffenden Macht der Orga-
Interessen.                                                 nisationen und vor allem der Unternehmen regle-
   Der Text von Edward Bernays stammt zwar aus              mentiert.
den 1920er Jahren, er bietet mit seinen deutlichen             Das Phänomen der weißen Turnschuhe ist folglich
Worten aber immer noch anregende Gedanken über              für Durkheim, Bernays und Ortmann lückenlos re-
die Manipulation der Menschen in modernen Gesell-           konstruierbar: Die Bedeutung der Dinge ist das Re-
schaften. Die Rolle der Unternehmen dabei betont            sultat der machtvollen Ausgestaltung eines unterbe-
auch ein aktueller Autor, Günther Ortmann. Er               wussten kollektiven Glaubens an ihre Legitimität als
schreibt Organisationen, ähnlich wie Bernays, eine          soziale Tatsache. Wer diesen Glauben anerkennt,
Macht zu, durch die sie das Denken, Empfinden und           nimmt am gesellschaftlichen Spiel des Kulturkapita-
Verhalten von Menschen in hohem Maße beeinflus-             lismus (vgl. Rifkin, 2007) teil, in dem die sakralisier-
sen und steuern können: „Organisationen sind die            ten Konsumgüter zugleich kulturelle Bedeutungen
mächtigsten Kommunikatoren der Moderne und also             und die sozialen Identitäten ihrer Konsumenten re-
die mächtigsten Beeinflusser aller drei Weisen oder         präsentieren. Die Schöpfer des Spiels, der Bedeutun-
Dimensionen der Welterschließung: der Wahrneh-              gen und der Identitäten sind die Unternehmen. Aller-
mung und Interpretation der Welt, der Verständi-            dings sind widerspenstige Sinnzuschreibungen für
gung über die Welt und des Eingreifens in die Welt.         die Vertreter dieses Ansatzes kaum nachvollziehbar.
Sie sind es nicht zuletzt durch ihre Kommunikations-
und ihre Exkommunikationsmacht“ (Ortmann, 2011,             Sinn
S. 371).                                                    Die konsumierende Massengesellschaft des westli-
   Die Macht von Organisationen, zu denen Ortmann           chen Kapitalismus ist auch für Max Weber die Folie,
insbesondere die Unternehmen zählt, weil „deren             vor der ein großer Teil seiner umfangreichen Arbei-
Kommunikationsmacht in Bezug auf Märkte viel                ten entstand. Und doch sieht er eine andere Welt als
klarer vor Augen steht“ (a. a. O., S. 375), umfasst für     Émile Durkheim und seine Nachfolger. In der Welt
ihn nicht nur die Macht der Konstruktion der Bedeu-         von Max Weber gibt es weder gemeinsame Werte
tung der Dinge, sondern weit darüber hinaus auch            noch kollektive Bedeutungen, sondern nur das indi-
die Gestaltungsmacht über die Interpretation dieser         viduelle Streben nach Erfolg in einer den Wettbe-
Dinge und überhaupt der sozialen Identität der Inter-       werb und die Konkurrenz fördernden Marktgesell-
preten: „Organisationen stellen und legen fest, was         schaft. Die Grundlagen dieser „spezifischen Wirt-
einer oder etwas »ist«“ (a. a. O., S. 378). Die Macht       schaftsgesinnung“ (Kocka, 2014, S. 13) des Kapita-
der Organisationen – „die modernen Fabrikations-            lismus legten jedoch zuvor die Utilitaristen des 17.
stätten der Identität“ (ebd.) – erstreckt sich nicht        und 18. Jahrhunderts. So wurde das menschliche
zuletzt auf die Kontrolle über den Zugang zu den            Handeln für Jeremy Bentham und John Stuart Mill
„gesellschaftlich wirklich wichtigen Spielen“ (ebd.),       ausschließlich von der Erwartung auf Freude und
an denen die Menschen teilnehmen dürfen oder eben           Lust sowie der Vermeidung von Schmerz und Leid
nicht.                                                      motiviert (vgl. Bentham, 1992, und Mill, 2006). Da
   Ortmann sieht folglich in der Marktgesellschaft          die Bewertung von Freude und Leid grundsätzlich
eine doppelte Ermächtigung der Organisationen: Sie          subjektiv ist, orientieren sich Menschen nur an ihren
bestimmen über die Regeln des Spiels via Identitäts-        höchsteigenen Erwartungen hieran. Gemeinsames
und Bedeutungskonstruktionen und über seine Teil-           Handeln und Kooperationen sind folglich von einer
nehmer via In- und Exklusionsmacht. Dieser macht-

                                                    journal-kk.de                                                15
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018

zumindest ähnlichen Erwartung an individuelle               und Berechenbarkeit des Handelns, Formen der
Freuden abhängig, anderenfalls wäre ein solches             Kooperation und letztendlich die Entstehung von
kollaboratives Handeln aus rein utilitaristischen           sozialen Normen und Werten ermöglicht. Soziale
Gründen nicht erklärbar. Einflussreich war der Utili-       Ordnung ist für Weber daher eine Konsequenz der
tarismus insbesondere mit der Verbreitung der politi-       zweckrationalen und somit reziproken Sinnzuschrei-
schen Ökonomie von Mill, in der er der klassischen          bung (vgl. a. a. O., S. 21). Die Ordnungen der Ge-
ökonomischen Behauptung, dass der Wert der Dinge            sellschaft und der kapitalistischen Märkte entstehen
von ihrem funktionalen Nutzen abhängen würde,               für ihn keinesfalls aus kollektiven Verbindlichkeiten,
grundsätzlich widersprach. Für Mill lagen der Wert          die den Einzelnen in seinem Handeln binden oder
und der Nutzen der Dinge vor allem in ihrer Fähig-          gar zwingen, sondern ausschließlich durch die prak-
keit, ein akteursspezifisches Bedürfnis zu befriedigen      tische Umsetzung subjektiver, rationaler Interessen.
(to satisfy a desire) (vgl. Mill, 1871, S. 331). Dieses        Die ego-orientierte Sinngebung jedes Handelns im
Bedürfnis war für Mill die subjektive Bewertung             Rahmen eines utilitaristischen Gratifikationskalküls
jener Freude und Lust, die die Dinge ihren Käufern          hat eine lange Tradition, von ihrem Begründer
versprachen, und damit rückte John Stuart Mill das          Thomas Hobbes über Adam Smith und die Utilitaris-
Individuum ins Zentrum der utilitaristisch-liberalen        ten bis zu Max Weber, und auch in der Spätmoderne,
Ökonomie.                                                   wie sie Ulrich Beck diagnostizierte, sehr wirkungs-
   Zwar kennt auch Max Weber die prägenden Kräfte           mächtige Vertreter. Die Austauschtheorien über den
sozialer Gemeinschaften auf die „Gleichartigkeit und        neuen Homo oeconomicus von George C. Homans
Gegensätzlichkeit des Habitus und der Lebensge-             (vgl. Homans, 1972) oder das rationalistische Mak-
wohnheiten“ (Weber, 2008, S. 306) innerhalb eines           ro-Mikro-Makro-Modell von James S. Coleman (vgl.
Stammes beziehungsweise deren Funktion bei der              Coleman, 1995) prägten über Jahrzehnte die wissen-
sozialen Differenzierung, allerdings sieht er insbe-        schaftliche Untersuchung des Verhaltens von Kon-
sondere in den westlichen Gesellschaften einen Pro-         sumenten. Die Ökonomen Gary S. Becker (vgl.
zess der fortschreitenden Rationalisierung der Le-          Becker, 1993) und Milton Friedman (vgl. Friedman,
bensführung und des Wirtschaftens. In seiner Einlei-        2004) wurden – nicht zuletzt durch ihre Auszeich-
tung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen be-            nung mit Nobelpreisen - zu populären Unterstützern
schreibt Max Weber ausführlich diesen historischen          neo-utilitaristischer Erklärungen menschlichen Ver-
Wandel vom Stammesleben, das von seinen charis-             haltens, auch über die Rolle als Konsument hinaus:
matischen Zauberern angeführt wird, zur rationalen          Alles – Ausbildung, Arbeit, Freundschaft und sogar
Demokratie der „religiös Unmusikalischen“ (Weber,           die Liebe zu anderen Menschen – stand unter dem
2007, S. 308). Bekanntlich spielt die Rationalisie-         Verdacht der Rationalität, subjektiver Sinnzuschrei-
rung, ausgelöst oder zumindest verstärkt durch den          bungen des Handelns und eines nutzenmaximieren-
Protestantismus und den Calvinismus mit ihrem               den Verhaltens in sozialen Beziehungen jeder Art.
individuell adressierten Heilversprechen der Prädes-           Die moderne Psychologie sieht sich oftmals in die-
tination, für Weber dann auch eine wesentliche Rolle        ser Tradition, vor allem da, wo sie sich als Naturwis-
beim Aufstieg des Kapitalismus (vgl. a. a. O., S.           senschaft mit rein empirischen Methoden versteht. In
80ff.). In modernen Gesellschaften sieht Weber              den letzten Jahren gab es daher eine Reihe von Un-
daher auch nur einen rein „subjektiven Sinn“                tersuchungen, die die Sinnzuweisungen von Men-
(Weber, 2008, S. 3), der aus dem Individuum heraus          schen an Dinge erforschen. Beispielsweise unter-
entsteht, als Motivation allen Handelns.                    suchten Jennifer Aaker und Susan Fournier die Art
   Dieser subjektive Sinn motiviert für Weber jedes         der Beziehungen zwischen Menschen und Marken.
menschliche Handeln, nicht zuletzt in sozialen Be-          Sie postulierten, dass Menschen einigen Marken
ziehungen und im Geschäftsverkehr. Hierbei ist die          menschliche Eigenschaften zuschreiben (vgl. Aaker,
Zuschreibung von Sinn keineswegs willkürlich,               1997) und zu ihnen ähnliche emotionale Beziehun-
sondern grundsätzlich rational und somit auf die            gen wie zu anderen Menschen eingehen (vgl.
Auswahl sachlicher Ziele und effizienter Mittel be-         Fournier, 1998). Derartige parasoziale Beziehungen
grenzt. Insofern gibt es durchaus die Wahrschein-           (vgl. Horton & Wohl, 1956) zwischen Menschen und
lichkeit, dass mehrere Menschen ähnlich oder gar            Marken sind seitdem Gegenstand umfangreicher
konform handeln, was wiederum Regelmäßigkeiten              Forschungen, um die anthropomorphisierten Eigen-

16                                                  journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018

schaften einer Marke und die emotionalen Bindun-            se darauf, dass Beziehungen zu Marken weniger
gen an sie zu erklären.                                     intensiv und leidenschaftlich sind als Beziehungen
   Die neurologische Grundlage für die Untersuchung         zwischen Menschen. In ihrer Studie zeigte sich, dass
parasozialer Beziehungen sind Gehirnaktivitäten, die        die emotionale Erregung und die Anzeichen von
in Magnetresonanztomographen (fMRT) gemessen                Freude bei zwischenmenschlichen Beziehungen
wurden. Es zeigte sich, dass die Aktivitäten der Ge-        deutlich ausgeprägter sind, und sie schlagen daher
hirne der Probanden in Abhängigkeit vom jeweils             vor, die Markenbeziehung als Freundschaft zu be-
präsentierten Objekt variierten: Beim Anblick von           trachten. Marc Fetscherin erinnert daran, dass das
bestimmten Marken wurden nicht nur beliebige                Konzept der parasozialen Beziehung eine einseitige
neuronale Aktivitäten ausgelöst, sie spiegelten viel-       Beziehung zu einem mentalen Konstrukt wie einem
mehr die konkreten Einstellungen einer Versuchs-            Vorbild, einem Star oder einer Medienfigur be-
person zu einer konkreten Marke (vgl. Reimann,              schreibt, und keine interpersonelle Beziehung zwi-
Castano, Zaichkowsky, & Bechara, 2012). Diese               schen realen, interagierenden Menschen (vgl.
Gehirnaktivitäten werden aufgrund der auffälligen           Fetscherin, 2014).
und objektabhängigen Regionen als Gefühle be-                  Eine simple Analogie, die Marken als soziale Ak-
zeichnet und sie unterscheiden sich – zumindest             teure mit einer eigenständigen Identität behandelt, ist
neurologisch - kaum von jenen Gefühlen, die Pro-            für diese Autoren nicht zulässig. Sinnzuschreibungen
banden entwickeln, wenn sie an andere Menschen              bleiben auch für die Psychologie in den meisten
denken.                                                     Fällen dem Menschen vorbehalten. Für diese
   Die Gefühle, die Marken auslösen können, werden          Psychologen bleibt die Sinnzuschreibung an Marken
in der aktuellen Forschung jedoch sehr unterschied-         zweckrational, da die Anthropomorphisierung der
lich interpretiert. So werden in einer Studie von           Dinge die Funktion hat, den Umgang mit ihnen zu
Fritz, Lorenz und Kempe (2014) vier Beziehungsty-           erleichtern beziehungsweise rational berechenbar zu
pen unterschieden. Grundlage dieser Typologie war           machen (vgl. Gilmore, 1919). Ähnliches sahen auch
die Bewertung der Dauer der Beziehung, der Zufrie-          John Stuart Mill und Max Weber: Für sie war die
denheit, der Selbstverpflichtung (Commitment) und           individuelle Sinnzuschreibung eine Form des Nut-
der Leidenschaft in der Markenbeziehung. Während            zens der Dinge, der mittelbar eine kollektive und
eine Glückliche Partnerschaft als eng, vertrauens-          gemeinschaftsstützende ökonomische Funktion
voll, leidenschaftlich und intim beschrieben wurde,         (Wunschbefriedigung) sowie eine soziale Funktion
weist die Beste Freundschaft zu einer Marke eine            (Normengenese) hatte.
besonders lange Dauer, dafür aber weniger Leiden-              Der Sinn einer Harley-Davidson wäre folglich für
schaft auf. Eine bloße Zweckgemeinschaft hingegen           John Stuart Mill, Max Weber und die objekt-
ist laut der Studie lediglich langfristig – Emotionali-     anthropomorphisierenden Psychologen durchaus
tät spielt hierbei keine Rolle – und der Beziehungs-        verständlich: Die Kreation einer subjektiven Sinnzu-
typus Loser Kontakt ähnelt einer Zufallsgemein-             schreibung an ein Objekt befriedigt für sie nicht nur
schaft. Ähnliche Untersuchungen der Konsumenten-            ein akteursspezifisches Bedürfnis nach Freude durch
Marken-Beziehung schlagen Bezeichnungstypen wie             individuelle und autonome Prädestinationserfüllung,
alte Freunde, Geschwister, Hassliebe, nervige Be-           sondern auch das rationale Streben nach gemeinsa-
kanntschaft, Ehepartner und Affäre vor (vgl. Avery,         men Praktiken in einem kooperativen Handlungs-
Fournier, & Wittenbraker, 2014). Einige Autoren             rahmen. Jedoch würden sie den kollektiven Glauben
schlagen sogar vor, die Beziehungen von Menschen            an die Bedeutung weißer Turnschuhe für einen ge-
zu Markenobjekten als Markenliebe (Brand Love) zu           fährlichen Aberglauben aus vor-rationalen Zeiten
beschreiben (vgl. Batra, Ahuvia, & Bagozzi, 2012            halten. Wiederum ist das eine Phänomen erklärbar,
sowie Albert, 2013) und erkennen in Einzelfällen            das andere nicht.
sogar Identitätsverschmelzungen (Brand Identity
Fusion) von Menschen mit ihren Marken (vgl. Ling            Gemeingut
& Sung, 2014).                                              Aus den bisherigen Darstellungen ergeben sich daher
   Andere Autoren sind angesichts derart euphori-           zwei paradigmatische Erklärungen für die Konsum-
scher Beschreibungen jedoch skeptisch. Langner,             soziologie. Im ersten Paradigma erhalten Dinge wie
Schmidt und Fischer (2015) verweisen beispielswei-

                                                    journal-kk.de                                               17
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018

Unternehmen und Marken als mentale Konstrukte               selbst versteht er als Netzwerk von Kommunikatio-
eine Bedeutung im sozialen Feld beziehungsweise             nen kollektiver Akteure, die wiederum aus Individu-
werden im sozialen Raum der Gemeinschaft in ihrer           en und denen ihnen nahestehenden Primärgruppen
Bedeutung erkannt. Im zweiten Paradigma schreiben           bestehen.
Menschen den Dingen einen subjektiven Sinn zu, der             Auf diesem Fundament baut Mead seine eigene
eine zweckrationale Nutzenfunktion im akteursbezo-          Sozialisationstheorie auf, in der die Identität bezie-
genen Gratifikationskalkül hat. Das erste Paradigma         hungsweise das ‚Selbst-Bewusstsein‘ eines Indivi-
entspricht dem methodologischen Kollektivismus,             duums (self) aus den Komponenten Ich (I) und Mich
das zweite Paradigma dem methodologischen Indi-             (Me) zusammengesetzt ist. Das Ich bildet sich in der
vidualismus. Mit ersterem Paradigma ließe sich die          Interaktion mit konkreten Anderen, das Mich in der
schnelle und massenhafte Verbreitung von weißen             inneren Reflexion normativer Erwartungen der gene-
Turnschuhen gut erklären, mit letzterem die subver-         ralisierten Anderen. In beiden Fällen sind das soziale
sive Mystifizierung der Marke Harley-Davidson.              Handeln, die Erfahrung und der Aufbau einer Bezie-
   Soziologische Ansätze, die beide Paradigmen und          hung zum konkreten beziehungsweise zu den genera-
damit auch beide Erklärungsmodelle der sozialen             lisierten Anderen die Voraussetzung für die Entste-
Wirkung der Dinge zusammenführen wollen, finden             hung von Identität, die daher für Mead nur als sozia-
sich in den interpretativen Theoriemodellen. In der         le Identität möglich ist. Den Aufbau einer sozialen
Nachfolge eines kantischen Konstruktivismus stehen          Beziehung beschreibt Mead als Perspektivenwech-
insbesondere die Gründungsväter des Pragmatismus            sel, bei dem sich das Individuum vorstellt, sein eige-
Charles S. Peirce, William James und John Dewey.            nes Handeln aus der Sicht seines jeweiligen Gegen-
In der Frühzeit des Pragmatismus stand für sie je-          übers zu beobachten: „Man stellt sich selbst als han-
doch das Problem der Vermittlung von Bewusstsein            delnd gegenüber anderen vor. In dieser Vorstellung
und Handeln im Fokus. Erst die zweite Generation            tritt man nur in indirekter Rede als Subjekt des Han-
der Pragmatisten, die sich innerhalb der Chicago            delns auf und ist dennoch ein Objekt“ (Mead G. H.,
School in eher soziologisch (William I. Thomas und          [1913] 1980, S. 243). Das Subjekt muss sich objekti-
Robert E. Park) oder philosophisch (George Herbert          vieren, damit gemeinsames Handeln möglich wird.
Mead) ausgerichtete Themen differenzierte, suchte              Ausgangspunkt seiner Identitätstheorie ist folglich
eine Erklärung für die Verbindungen zwischen indi-          die Fähigkeit des Menschen, sich in sein Gegenüber
viduellem Handeln und sozialer Ordnung (vgl. Joas           hineinzuversetzen, die Rolle des Anderen in der
& Knöbl, 2004, S. 186).                                     Beziehung zu übernehmen (im Original: role-taking)
   Die Bedeutung von sprachlichen Zeichen, Hand-            und dadurch das eigene Handeln als soziales Han-
lungen und Dingen für das Soziale war insbesondere          deln zu verstehen: Das Individuum muss sich selbst
in den Schriften von George Herbert Mead ein zent-          in seiner Haltung und in seinem Handeln als ein
rales Thema. Das Fundament seiner Überlegungen              Anderer generalisieren (vgl. Mead G. H., [1922]
findet sich bei seinem Vorgänger Charles Horton             1980, S. 295). Nur durch die Fähigkeit der Rollen-
Cooley, dem eigentlichen Begründer einer „soziolo-          übernahme und der Objektivierung des Subjekts ist
gischen, prozessualen Sozialisations- und Identitäts-       für Mead die „Rekonstruktion des Strukturzusam-
theorie“ (Keller, 2012, S. 87). Für Cooley ist Identi-      menhangs, der mich selbst und meine Perspektive
tät immer soziale Identität, denn sie ist nur durch den     mit enthält“ (Joas, 1989, S. 156), überhaupt möglich.
Blick in den Spiegel, den das Gegenüber darstellt,          Dies gilt für interpersonale Beziehungen ebenso wie
denkbar (looking-glass self). Die Identitätsbildung         für die rein mentalen Beziehungen zu den generali-
versteht er als dreistufigen Spiegelungsprozess der         sierten Anderen, die als abstrakte, virtuelle Entitäten
Selbstwahrnehmung, an dessen Anfang (1) die eige-           dem Individuum gegenüberstehen.
ne Vorstellung davon steht, wie die anderen uns                Aus diesen Objektivierungen heraus entstehen für
sehen, gefolgt von (2) der Vorstellung, wie andere          Mead die Bedeutungen von Menschen und Dingen.
über unsere Selbstdarstellung urteilen, und schließ-        Diese Bedeutungen sind für Mead immer allgemeine
lich (3) unserer Bewertung dieser beiden Vorstellun-        Bedeutungen (im Original: universal meaning) und
gen (vgl. Mead G. H., [1939] 1980). Für Cooley sind         sie müssen den Charakter eines Gemeinguts (im
das Individuum und die Gemeinschaft deshalb un-             Original: common property) haben, damit sie im
trennbar miteinander verbunden, die Gesellschaft            sozialen Handeln ihre Funktion übernehmen können

18                                                  journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018

(Mead G. H., [1922] 1980, S. 295). In der sozialen         ihn die Bedeutung aus dem Interaktionsprozess zwi-
Interaktion haben die Zeichen, Gebärden und Worte          schen verschiedenen Personen hervor. Die Bedeu-
oder auch die Dinge somit erst dann eine Signifi-          tung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der
kanz, wenn sie für den Akteur selbst und in seiner         Art und Weise, in der andere Personen ihr gegen-
Objektivierung durch den Perspektivwechsel eine            über in Bezug auf dieses Ding handeln. Ihre Hand-
gemeinsame und damit allgemeine Bedeutung ha-              lungen dienen der Definition dieses Dinges für diese
ben: „Erst durch die Fähigkeit, zur gleichen Zeit man      Person. Für den symbolischen Interaktionismus sind
selbst und ein anderer zu sein, wird das Symbol            Bedeutungen daher soziale Produkte, sie sind Schöp-
signifikant oder bedeutungsvoll“ (ebd.). Jegliches         fungen, die in den und durch die definierenden Akti-
soziale Handeln und Kommunizieren ist daher für            vitäten miteinander interagierender Personen her-
die allgemeine und damit gemeinsame Bedeutungs-            vorgebracht werden“ (Blumer, 2013, S. 67).
anzeige auf die beiden Deutungsebenen der Denota-             Andererseits betont Mead jedoch immer wieder,
tion und der Konnotation angewiesen. Ersteres deno-        dass Konnotationskonzepte in einer „unbegrenzten
tiert durch einen Namen, Letzteres konnotiert durch        Kommunikationsgemeinschaft“ (im Original: uni-
ein mentales Konzept (in der Übersetzung findet sich       verse of discourse) generalisiert sein müssen, damit
hier das Wort ‚Begriff‘, im Original heißt es jedoch       die Interaktion durch signifikante Symbole erfolg-
concept; siehe hierzu Mead G. H., 1922).                   reich sein kann (vgl. Mead G. H., [1922] 1980, S.
   Problematisch ist bei Mead allerdings der unbe-         297). Wenn Mead dann einen „sozialen Organismus“
stimmte ontologische Status dieses mentalen Kon-           (Mead G. H., [1927] 1983, S. 224) beschreibt, in
zepts, das den Dingen ihre konnotative Bedeutung           dessen Strukturen die Allgemeingültigkeit der signi-
und damit ihre Signifikanz verleiht. Ist dieses Kon-       fikanten Symbole enthalten ist und der dadurch das
zept eine subjektive Intention und deren Signifikanz       Diskursuniversum erst konstituiert, postuliert er eine
eine bloße Vermutung oder ‚existiert‘ dieses Kon-          akteursungebundene Entität. Diese Entität vom indi-
zept? Ist dessen ‚Existenz‘ dann eine konforme Vor-        viduellen Bewusstsein und der subjektiven Interpre-
stellung in den Köpfen der Sprecher, wie sie in den        tation loszulösen und ihr damit einen ontologischen
repräsentationalistischen Theorien verstanden wird,        Seins-Status zuzuschreiben, rückt Mead zumindest in
oder gar eine kollektive Idee, auf die die Sprecher        die Nähe jenes Kollektivbewusstsein, wie es schon
intellektuell zugreifen können, wie sie die Realisten      Émile Durkheim beschrieben hat. Bedeutungen sind
verstehen? Entsteht das Gemeingut, auf das die             dann nur als Umsetzung eines kollektiven Bewusst-
Sprecher konnotativ deuten, in der Kommunikation           seins denkbar. Auch wenn ein derartiger ontologi-
oder besteht es schon vor der Interaktion?                 scher und erkenntnistheoretischer Realismus sicher-
   Einerseits beschreibt Mead diesen Vorgang der           lich nicht Meads Verständnis des Pragmatismus
Aneignung von Bedeutungen als das „einfühlende,            entsprach, so findet er sich heute doch bei Sprach-
wechselseitige Sich-Versetzen in die Rollen anderer“       philosophen wie John Searle (2012) oder den neuen
(a. a. O., S. 297) und damit als subjektive Intention      Realisten wie Quentin Meillassoux (2010), Paul
beziehungsweise akteursgebundene Interpretation in         Boghossian (2013) und Markus Gabriel (2015).
der Interaktion. Diese Deutung der subjektiven Be-            Der Pragmatist Mead ist in dieser Frage letztend-
deutungsgenese stärkt Mead vor allem in einer späte-       lich unentschlossen und gibt den Interpreten seiner
ren Schriften über Eine pragmatische Theorie der           Schriften ausreichend Anlass für unterschiedliche
Wahrheit (vgl. Mead G. H., [1929] 1983) und sie            Auslegungen (vgl. Wenzel, 1985). Fest steht nur,
findet sich dann auch expliziter bei seinem Schüler        dass es für Mead keinen subjektiven Sinn geben
Herbert Blumer, der Bedeutungen von Dingen als             kann, da alle kommunikativen Gehalte ihre univer-
soziale Schöpfungen definiert, die das Resultat von        selle Signifikanz bereits durch eine „antizipatorische
akteurs- und situationsgebundenen Definitions- und         Rollenübernahme“ (vgl. Joas, 1989, S. 154) nachge-
Interpretationsprozessen sind: „Weder betrachtet           wiesen haben müssen, bevor sie zum Einsatz kom-
[der symbolische Interaktionismus] die Bedeutung           men können. Damit bleibt bei George Herbert Mead
als den Ausfluss der inneren Beschaffenheit des            die Frage offen, ob Bedeutungen vor der Interaktion
Dinges, das diese Bedeutung hat, noch ist für ihn die      bereits bestehen (significatio ante communicatio)
Bedeutung das Ergebnis einer Vereinigung psycho-           oder ob sie in der Interaktion entstehen (significatio
logischer Elemente im Individuum. Vielmehr geht für        ex communicatio). Durch Meads Ablehnung eines

                                                   journal-kk.de                                              19
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 2/2018

subjektiven Sinns führt diese Frage in einen infiniten     Aussagen über kulturelle und moralische Orientie-
Regress: Die Signifikanz der Symbole zeigt sich in         rungen als quasi-ontologischen Kern in sich tragen
Interaktionen, wenn sie bereits in vorherigen Interak-     (vgl. Misik, 2007). Und doch kann und darf man
tionen generalisiert wurden, in denen sie wiederum         diesen Glauben an die wahren Bedeutungen eben
in einer vorherigen Interaktion generalisiert wurden       nicht als evolutionären Fortschritt einer freien
und so weiter. Und so führt uns diese Frage schluss-       Marktwirtschaft schlichtweg hinnehmen, sondern
endlich zum alten Universalienstreit zurück (vgl.          muss nach der Begründung fragen, warum der My-
Rommerskirchen, 2017a, S. 135ff.): Liegt die Bedeu-        thos der Macht des Kulturkapitalismus als Grund für
tung der Universalien ante rem, in re oder post rem?       diesen Kult gesehen wird. Es macht, mit den Worten
                                                           John Deweys, einen wesentlichen Unterschied, ob
Macht                                                      man etwas anerkennen kann oder soll: Erst die „Be-
Die konsumsoziologische Frage bleibt daher: Ist die        hauptung der Gültigkeit verleiht der Tatsache Autori-
Bedeutung einer Marke das Resultat der Unterneh-           tät“ und kennzeichnet den Übergang von der volun-
menskommunikation oder prägen die Konsumenten              tativen Festlegung zur internalisierten „Selbstrecht-
den Sinn der Marke? Hinter dieser Frage verbirgt           fertigung und Rationalisierung“ von Werten und
sich nicht zuletzt das Phänomen der kommunikativen         Wahrheit (vgl. Dewey, 1998, S. 263). Für eine analy-
Macht. Haben die Unternehmen die Macht der stra-           tische Untersuchung der Macht von Unternehmen
tegischen Bedeutungsvermittlung von Marken oder            und des sozialen Handelns von Konsumenten ist es
haben die Konsumenten die Deutungsmacht über               daher notwendig, an die beiden Perspektiven der
deren Sinn?                                                Untersuchung von Marktphänomenen zu erinnern:
   Macht ist heute ein „ubiquitäres Phänomen von           an die Perspektive der Konstruktion und der Inter-
Gesellschaft“ (Imbusch, 2012, S. 13), zugleich aber        pretation der Dinge und ihrer Phänomene (vgl.
auch ein pejorativer Terminus, da er zumeist einen         Rommerskirchen, 2017b).
Vorwurf impliziert – den Vorwurf des Missbrauchs              Zur Perspektive der Konstruktion: Unternehmen
und der Unterwerfung. Daher findet man den Termi-          versuchen, die inkludierende und exkludierende
nus auch eher im Feuilleton als in der Wissenschaft.       Wirkung ihrer Objekte zu stärken, indem sie diesen
In der Ökonomie ist Macht seit vielen Jahren ein           zunehmend eine kulturelle und - im Sinne Durk-
verdrängtes Konzept (vgl. Oltmanns, 2012), in der          heims moralische - Bedeutung geben. Unternehmen
Soziologie und der Politikwissenschaft wird Macht          generieren diese Bedeutungen, die sie ihren Produk-
zumeist eher historisch oder anekdotisch besprochen.       ten und Dienstleistungen anheften, und die strategi-
   Auch Niklas Luhmann hat das eigentümlich Un-            sche Kommunikation dieser Bedeutungen und der
scharfe und Mythische der Macht schon beschrieben:         passenden Botschaften ist ein wesentlicher Bestand-
„Die Macht der Macht scheint im Wesentlichen auf           teil ihrer kommunikativen Tätigkeit. Hier ist nicht
dem Umstand zu beruhen, dass man nicht genau               der Ort, um die Legitimität der Unternehmen bei
weiß, um was es sich eigentlich handele“ (Luhmann,         dieser Konstruktionsarbeit zu diskutieren, an Zu-
1969, S. 149). Und wenn man mit George Herbert             stimmung und Kritik herrscht kein Mangel (vgl.
Mead feststellt, dass der Kult die Gruppe definiert,       hierzu Rommerskirchen, 2018). Sicherlich jedoch
der Mythos jedoch der Grund des Handelns ex post           gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass Unternehmen
ist (vgl. Mead G. H., [1929] 1983), so sollte man          die Bedeutungen ihrer Produkte und Dienstleistun-
beim Konzept der Macht die Ursachen und die Wir-           gen erschaffen und für ihre strategischen Ziele
kungen des sozialen Handelns genau analysieren,            kommunizieren – wie ja auch das Beispiele der wei-
bevor man über das Mysteriöse der Macht Mutma-             ßen Turnschuhe zeigt. Die Kommunikation der Un-
ßungen anstellt.                                           ternehmen ist üblicherweise persuasiv und oftmals
   In Konsumsoziologie ist die Ansicht weit verbrei-       auch manipulativ, sie kann ihre Rezipienten und
tet, dass der Kult der Gruppe der gemeinsame Glau-         deren Gedanken und Gefühle aber kaum „gegen
be an die symbolischen Bedeutungen der Dinge ist.          Widerstreben“ (Weber, 2008, S. 38) zum Konsum
Im Zeitalter des Kulturkapitalismus befriedigen die        zwingen.
Waren schon lange keine schlichten Grundbedürfnis-            Dass die Menschen sich des Machtstrebens der
se mehr, vielmehr sollen sie vermeintlich wahre            Unternehmen sehr wohl bewusst sind und diesem
                                                           sehr skeptisch gegenüberstehen, belegt auch das weit

20                                                 journal-kk.de
Journal für korporative Kommunikation - Ausgabe 1/2018

verbreitete Misstrauen, dass sie bei den meisten            gen Wunsch hierzu zur Wirklichkeit (vgl. Brandom,
Formen der Unternehmenskommunikation empfin-                2000, S. 99f.). In den Worten Immanuel Kants: Der
den: In einer Studie sagten zwei Drittel der Befrag-        Gebrauch der praktischen Vernunft ist Ausdruck der
ten, dass sie Werbung im Fernsehen, im Radio und            Würde eines autonomen Menschen und Freiheit ist
in Zeitschriften kaum oder gar nicht vertrauen, bei         die Anerkennung seiner Selbstverpflichtung.
Werbung in sozialen Netzwerken und im Internet                 Die Macht der Unternehmen ist jedoch die Herr-
waren es sogar circa 80% (vgl. Nielsen, 2016). Die          schaft über die Optionen, und auch diese ist limitiert.
Rezipienten der Unternehmenskommunikation sind              Nur wenn Menschen in ihrer Rolle als Konsumenten
sich somit mehrheitlich der Tatsache bewusst, dass          die Bedeutungen der Dinge zur Vermittlung von
sie die angebotenen Inhalte interpretieren müssen. In       Identität und Zugehörigkeit anerkennen, bedienen sie
der gleichen Studie sagten aber auch 80% der Be-            sich der Kommunikationsmacht der Unternehmen.
fragten, dass sie Empfehlungen von Bekannten,               Diese „Form der Macht“, so Jo Reichertz, „resultiert
beziehungsweise mehr als 60%, dass sie anderen              […] aus der in und mit der Kommunikation geschaf-
Konsumentenbewertungen im Internet durchaus oder            fenen sozialen Beziehung und der durch diese Bezie-
absolut vertrauen. Bei der Interpretation spielt somit      hung grundgelegten Beweggründe“ (Reichertz, 2011,
das – reale oder virtuelle – soziale Feld der Rezipien-     S. 232). Mit Verweis auf Robert Brandom beschreibt
ten eine wichtige Rolle (vgl. Hammerl, Dorner,              Reichertz die Wirkung dieser aus der Kommunikati-
Foscht, & Brandstätter, 2016).                              on entstehenden Macht als „deontischen Status“, der
  Der Macht der Unternehmen über die Konstrukti-            eine „besondere soziale Beziehung“ (a. a. O., S. 233)
on der Dinge steht die Definitions- und Interpretati-       beschreibt. Die Macht dieser Beziehung über das
onsmacht der Konsumenten entgehen. Folgt man                Denken und das Verhalten der Menschen ist jedoch,
Herbert Blumer, dann sind die Bedeutungen der               so Reichertz weiter, in ihrer Wirkung auf die freiwil-
Dinge soziale Schöpfungen: Sie entstehen in einem           lige Anerkennung und „die Zustimmung zur Macht
Prozess der Interaktion, in dem Subjekte im und mit         des Gegenübers“ (a. a. O., S. 236) angewiesen.
dem sozialen Feld deren Bedeutungen frei definieren            Doch ist es eben diese autonome Anerkennung, die
und interpretieren (vgl. Blumer, 2013, S. 76). Diese        die zwingende Macht auf gehorsame Herrschaft
Prozesse werden durch die Konstruktions- und                reduziert und damit den Terminus der Kommunikati-
Kommunikationsanstrengungen der Unternehmen                 onsmacht, wie ihn Reichertz hier definiert, in Frage
nur akzidentiell berührt, indem sie die Optionen und        stellt. Macht, so Max Weber, ist durch die Chance
Wahlmöglichkeiten gestalten. Die Bindung an diese           auf grenzenlosen Zwang definiert, Herrschaft hinge-
Bedeutungen bleibt ein Akt der freien Anerkennung,          gen ist auf Anerkennung angewiesen und ist immer
eine autonome Festlegung auf eine akteursspezifi-           limitiert (vgl. Weber, 2008, S. 38). Daher verfehlt
sche Ligatur (vgl. Dahrendorf, 1979).                       Reichertz das spezifisch Interpretative dieser beson-
  Menschen wählen ihre Ligaturen aus Optionen, es           deren sozialen Beziehung, wenn er behauptet, dass
sind freie Festlegungen in und mit einem sozialen           die Akteure einen „gemeinsamen Status“ erreichen,
Feld, in dem Zugehörigkeiten fakultativ sind. Jedoch        wenn sie den deontischen Status „teilen“ (Reichertz,
sind diese Festlegungen sicherlich weder völlig frei        2011, S. 232). Robert Brandom weist gerade das
im Sinne einer willkürlichen Meinung, noch ohne             Gemeinsame des deontischen Status mit Verweis auf
jeden Zwang im Sinne eines anarchischen Leer-               Immanuel Kants Konzeption von normativer Freiheit
raums. Die Festlegungen sind an „die ärgerliche             zurück, wenn er immer wieder auf die subjektive
Tatsache“ (Dahrendorf, 2010, S. 23) sozial bedingter        Anerkennung des normativen Status und die subjek-
Rollen und Optionen geknüpft, die die eigene Ge-            tive Zuerkennung normativer Einstellungen hinweist.
schichte und die Erwartungen an die Zukunft mit             Für Robert Brandom ist der deontische Status Aus-
sich bringen. Und doch ist es wie bei der Geschichte        druck der positiven Freiheitskonzeption, wie sie von
von Odysseus, der sich von seinen Freunden an den           Kant als spezifische Fähigkeit der „Freiheit, etwas zu
Mast des Schiffs binden lässt, um den Versuchungen          tun, verstanden [wird], anstatt als Freiheit von Be-
der Sirenen zu entgehen: Die Option, sich binden zu         schränkungen“ (Brandom, 2015, S. 56). Das Beson-
lassen, resultiert aus einer gemeinsam erlebten und         dere an der sozialen Beziehung, wie Reichertz sie
faktischen Umwelt, die Festlegung auf die Handlung          beschreibt, ist daher für Brandom die Freiheit der
selbst wird aber erst durch den freien und vernünfti-       Anerkennung deontischer Status und sozialer Schöp-

                                                    journal-kk.de                                               21
Sie können auch lesen