Zu Fuß Karte, Gebiet, Kultur, Natur - Forum.lu

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                                                                  Zu Fuß
                                                       Karte, Gebiet, Kultur, Natur

 Stephanie Majerus        Kann man sich die ersten aufrechtgehenden Homi-         und Wäldern. Zudem demokratisiert sich das Wan-
                          niden beim Spaziergang vorstellen? Nicht wirklich.      dern und Spazieren. In Luxemburg bilden sich in
                          Es ist eine kulturgeschichtlich noch junge Idee,        den 1960er Jahren erste Wandergruppen innerhalb
                          zum Zwecke der Erholung oder Erheiterung, gar           von bestehenden Vereinen, wie zum Beispiel bei den
                          aus Gründen des Zeitvertreibs spazieren zu gehen.       Feuerwehrleuten von Hamm und Ehlerange. 1971
                          Erst mit dem Aufkommen von angelegten Parks,            gründet sich die FLMP (Fédération luxembour-
                          Promenaden und Stadtgärten begannen zunächst            geoise de marche populaire), die die Wanderungen
                          Aristokraten sich dem „Lustwandeln“ zu widmen.          des Internationalen Volkssportverbandes koordi-
                          Ab dem 18. Jahrhundert dann gewann das zwecklos         niert. 70 Wanderungen pro Jahr werden organisiert,
                          scheinende Rumflanieren zunehmend auch im Bür-          an denen im Schnitt 1.000 Personen teilnehmen;
                          gertum an Beliebtheit. Vor allem Anlagen wie die        demnach werden insgesamt knapp mehr als 70.000
                          englischen Gärten wurden geschätzt: Sie imitierten      Teilnahmen im Jahr gezählt. Laut dem Präsidenten
                          die Natur mit ihren unumwundenen Formen und             Romain Buschmann nahm die Teilnehmerzahl in
                          waren trotzdem ganz auf die Bedürfnisse der Spa-        den letzten Jahren stetig zu, vor allem weil sich auch
                          ziergänger ausgerichtet. Die sich allmählich ausbrei-   nicht vereinsgebundene Personen anmeldeten. Das
                          tende Tourismuskultur orientierte sich ebenfalls an     allerdings beschleunigte das Vereinssterben in einer
                          dieser neuzeitlichen Mode. Es entstanden Rundwege       Gesellschaft, die von Individualisierungs- und Plura-
                          in der Nähe von Kurorten, und es wurden Küsten-         lisierungsdynamiken geprägt ist.
                          promenaden angelegt, wie die Promenade des Anglais
                          in Nizza. Für das Bürgertum war das Spazierengehen      Die neuen Wanderbegeisterten sind jung, manche
                          eine willkommene kulturelle Erneuerung, mit der         sogar sehr jung. Man rücke zusehends vom Image
                          sich die feinen Unterschiede markieren ließen: Wer      der „Senioren-Aktivität“ ab, meint der Präsident.
                          spaziert, wird öffentlich als Nicht-Arbeitender iden-   Und tatsächlich hat sich die Zahl der unter 15-Jäh-
                          tifiziert, ohne als Faulenzer zu gelten.                rigen über die letzten sieben Jahre verdoppelt. Den-
                                                                                  noch liegt das Durchschnittsalter der Teilnehmer bei
                          Vom Vereinsleben zum Vereinssterben                     46 Jahren. Die jungen Menschen, häufig Eltern mit
                                                                                  Kindern, erreiche die FLMP heute über die sozialen
                          Vom Bürgertum ausgehend, verbreitet sich der            Medien. Doch die jungen Wandereinsteiger wollen
                          Zeitvertreib im Laufe des 20. Jahrhunderts in die
                          Dienstleistungsgesellschaft und das Vereinsleben
                                                                                  Die Autorin lebt in der Schweiz, wo sie an der Universität Fribourg
                          hinein. Und er wird sportlicher: Ab dem frühen 20.      arbeitet, in den Voralpen wandern geht und im Senseland mit dem
                          Jahrhundert suchen die Wandervögel im deutsch-          Rad fährt. Manchmal ist sie auch in Luxemburg und schlendert dort
                          sprachigen Europa den Wanderrausch in Bergen            wohnortbedingt im Kornkammer-Kanton herum.
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flexible Angebote und Herausforderungen: Dies          beginnen und enden an einem Parkplatz, wie es die
bedeutet einen Mehraufwand für die 335 Ehrenamt-       luxemburgische Begriffsneuschöpfung „Auto-Péde-
lichen der Vereine. „Immer ältere Vorstandsmitglie-    stres“ nahelegt. Insgesamt zählt Luxemburg derzeit
der müssen ein Angebot für immer jüngere Wande-        8.000 Kilometer beschilderte Wege.
rer erstellen“, fasst die FLMP die Belastungsprobe
im Jahresbericht 2019 zusammen. Den Wander-            Nicht nur die Wege multiplizieren sich, sondern
Enthusiasmus schnappen die Jüngeren den Älteren        auch der Ausstattungsbedarf: Noch der kleinste
dennoch nicht weg. Im Jahresbericht weisen vor         Rundgang wird zu einer Kleidungsfrage hochstili-
allem die Pensionierten Höchstleistungen auf: Zwei     siert. Das „Outdoor Apparel“-Segment diversifiziert
Vielgeher, das Ehepaar Edmond und Lily Zahlen,         sich zusehends; atmungsaktive und wasserdichte
die beide über 76 sind, liefen im vergangenen Jahr     Kleidung wird für dreistellige Summen verkauft.
jeweils 1.700 Kilometer.                               Darüber hinaus lässt einen das Phänomen des Nor-
                                                       dic Walking einstweilen daran zweifeln, ob es noch
Auto-Pédestres, Nordic Walking, Waldbaden              schick ist, einfach ohne Schnickschnack draußen
                                                       herumzuspazieren. Die Gehstöcke wurden vom fin-
In den 1960er Jahren wurden nicht nur die ersten       nischen Hersteller Exel produziert und 1999 unter
Wandervereine gegründet. Das Tourismusminis-           dem Fachausdruck Nordic Walking international
terium legte auch die ersten 20 Auto-Pédestres an.     bekannt. Personen mit Rückenproblemen geben an,
Mittlerweile zählt Luxemburg 201 Rundwander-           dass die Gehstöcke ihre Rückenmuskulatur stärken.
wege, und blickt man auf die Verkaufszahlen des        Angesichts seines Nutzens kann man das Nordic
2018 publizierten Karten-Ordners, scheint das          Walking nicht gänzlich als rein unnötigen kommer-
Interesse am Fußgängertum gestiegen zu sein: Fast      ziellen Gag eines Skizubehörproduzenten abtun, der
10.000 Exemplare wurden bisher verkauft. Hinzu-        einfach im Sommer Geschäfte machen wollte.
gesellt haben sich für Tagestouren die 26 nationalen
Wanderstrecken sowie die Streckenabschnitte der        Auto-Pédestre-Rundwege und Nordic Walking sind
CFL-Wanderwege, die an Bahnhöfen beginnen und          allerdings nicht die einzigen Neuerungen, die das
enden. Für die Auto-Pédestres gilt dies nicht: Diese   Spaziergehen in diverse Spielarten auffächern. Vor
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                        Wegweiser auf dem Müllerthal-Trail bei Consdorf (Müllerthal)

                        ein paar Jahren hat auch das Waldbaden seinen                  #Vakanzdoheem
                        Siegeszug in Europa angetreten. Das Phänomen
                        schwappte von Japan, wo man einen gemütlichen                  Aber auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde
                        Spaziergang im Wald als „Shinrinyoku“, also „Wald-             das Spaziergehen nicht als rein passiver Zeitvertreib
                        baden“, bezeichnet, zu uns herüber. Aber dabei soll            angesehen: Der Spaziergänger aus gehobenen Krei-
                        es um mehr gehen als nur um passives Rumspazie-                sen wurde dazu animiert, sich aktiv einzubringen
                        ren, wie eine Waldbaden-Kursleiterin behauptet.                und die Gärten als Gemäldegalerie wahrzunehmen;
                        „Manche mögen es, den Baum zu umarmen oder                     man sprach gar von „poetischen Bilderjagden“.3
                        sich wie ein Bär daran zu reiben“.1
                                                                                       Auf poetische Bilderjagden schickte das Luxem-
                        Der Professor für Umweltimmunologie Qing Li ist ein            burger Tourismusministerium die Einwohner des
                        Popularisierungsvektor dieser rezenten Spaziermode.            2.600 Kilometer kleinen Landes unter dem Hash-
                        In Büchern wie Forest Bathing vertritt er die Ansicht,         tag #Vakanzdoheem. Das Großherzogtum wies im
                        bereits nach einer Stunde im Wald sänken Blutdruck,            Sommer 2020 hohe Corona-Fallzahlen auf, und so
                        Kortisol und Puls, und das Immunsystem verbessere              manch ein Land stufte das Gebiet ohne Meerzugang
                        sich. Mittlerweile öffnete in Japan das erste Zentrum          als Risikogebiet ein – da bleibt mal lieber hier, ver-
                        für „Waldtherapie“, und japanische Universitäten               mittelte die Regierung. Drückte den Volljährigen
                        begannen eine fachärztliche Spezialisierung in „Wald-          einen Gutschein von 50 Euro in die Hand und rief
                        medizin“ anzubieten. Europa zieht nach: Am Berliner            sie auf, schräge (wie die Mushrooms in Useldange)
                        Wannsee plant das zur Charité gehörende Immanuel-              oder luxuriöse Unterkünfte des Landes zu buchen.
                        Krankenhaus einen Waldbadepfad – und bietet damit              RTL half nach, Ortschaften und Rundwanderwege
                        prompt ein Update der Kurort-Promenaden-Tradition              schmackhaft zu machen: So organisierte Romain
                        an. Auch hierzulande fasst der Trend Fuß: Die Erzie-           Buschmann diesen Sommer keine groß angelegten
                        herin Karen Decker bietet das Bëschcoaching an. Nach           Wanderungen, sondern saß an der Buurschter Plage
                        einem Burn-out wurde der Wald zu ihrem Thera-                  vor der RTL-Kamera und erklärte den Zuschauern
                        peuten; heute möchte sie andere Gestresste an diese            unter dem Episoden-Titel 100 % Natur a Freed
                        belaubten Gefährten heranführen.2                              fir Wanderer, dass das Ösling ein anspruchsvolles
Freizeit   September 2020   71

Wandergebiet ist. forum-Mitherausgeber Michel           umstandslos tun. Das digitale Zeitalter hat natür-
Pauly kam dieser Werbeaktion allerdings zuvor und       lich auch hierfür ein Angebot parat: Mit der App
publizierte Ende Juli ein Twitter-Quiz: Auf einem       adidas running kann der Fußgänger seine Schritt-
Foto steht ein sommerlich gekleideter Pauly neben       geschwindigkeit berechnen und laut App-Betreiber
einer Auto-Pédestres-Beschilderung; hinter ihm sind     seine „Erfolge mit einer globalen Community“ tei-
lauschige Mischwälder, ein Tal, ein braunsuppiger       len. Wer nicht mit anderen konkurrieren will, kann
Fluß. „Wo bin ich?“, steht über dem Foto. Eine Fol-     sich selbst „motivierenden Challenges“ stellen und
lowerin rät richtig: im Ourtal bei Roder.               sich beispielsweise die Bewältigung von 1.000 Kilo-
                                                        metern im Jahr zum Ziel setzen. Die App berechnet
Mitte August informierte Tourismusminister Lex          jede Woche die Leistung des Nutzers und schickt
Delles (DP) die Öffentlichkeit übrigens darüber,        ihm motivationssteigernde Sprüche.
dass bisher 17.000 von 730.000 ausgegebenen Bons
eingelöst worden seien.                                 Der Herbst steht an und die Wandersaison neigt
                                                        sich dem Ende zu. Wer kein E-Bike hat und keine
Geheimniskrämerei in Parks                              Lust mehr auf Autostau, kann den Gebrauch sei-
                                                        ner Füße als Verkehrsmittel in den Alltag einbauen.
Wer nicht im Wald baden möchte, kann durch              Falls die Fußgängerin dabei nicht auf Gesundheits-
Städte spazieren. Es ist zumindest eine wunderbare      vorzüge verzichten will, empfiehlt O’Mara, nicht
Art, diese kennenzulernen: ihren Rhythmus, ihre         langsamer als 5 km/h zu gehen und dies mindes-
toten Winkel, ihre prächtigsten Bauten – all das ent-   tens an vier Tagen pro Woche, jeweils 30 Minuten
geht dem durchrasenden Autofahrer. Kneipen, Res-        lang. Laut O’Mara kommen einem dann ein paar
taurants und Fußgängern sollte man ohnehin mehr         Annehmlichkeiten entgegenspaziert: körperliche
Raum geben in Zeiten von Corona-Abstandsregeln          Gesundheit, Kreativität, gute Laune und unver-
– und hierfür Straßen sperren. In Italien hat die       klemmtes Denken.
Stadteroberung insbesondere durch Abendspazier-
gänger schon länger Tradition. Die passeggiata, das
gesellige Spazierengehen, dient dazu, mit Freunden
und Nachbarn zu plaudern und sich bei Gelegenheit
ein gelato an einer Theke zu kaufen.

Beim geselligen Straßenspaziergang denkt man nicht
an Geheimniskrämerei. Aber auch der geheimnis-
umwobene Spaziergang kann in Städten vorkom-
men; in Parks beispielsweise, in denen gedealt wird,
oder in Hollywoodfilmen, in denen Spioninnen
diese Grünanlagen zum Informationsaustausch
bevorzugen, um verwanzten Räumen zu entgehen.
Wer nicht Dealerin oder Hollywoodstar ist, kennt
zumindest die Aufforderung der besten Freundin:
„Lass uns mal spazieren gehen“, ganz klar eine
Ankündigung, dass Persönliches und Geheimes aus-
getauscht werden sollen.

Wache Verträumtheit und der Wettbewerb
im Gehen

Wer grade keine Freunde zur Hand hat, kann den
einsamen Spaziergang genießen. Der Neurowis-            1   https://www.spiegel.de/politik/waldbaden-
senschaftler Shane O’Mara, Autor des Buches Das             manche-moegen-es-den-baum-zu-umarme
Glück des Gehens, schwört auf ihn4: Er ermögliche           n-a-00000000-0002-0001-0000-000164302396 (alle
                                                            Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden
es, in Dialog mit sich selbst zu kommen, und Auf-           zuletzt am 21. August 2020 aufgerufen).
gestautes oder Anstehendes zu durchdenken. Der
                                                        2   http://www.land.lu/page/article/818/335818/DEU/index.html
einsame Spaziergänger verweilt häufig in einem Zeit-
                                                        3   Barbara Piatti, Von der Kunst spazieren zu gehen, in:
fenster der wachen Verträumtheit.                           Heimatschutz/Patrimoine 2010, 2, S. 8-11, hier S.9
                                                        4   Shane O’Mara, Das Glück des Gehens. Was die Wissenschaft
Wer alleine spazieren gehen will, aber trotzdem             darüber weiß und warum es uns so guttut, Reinbek, Rowohlt,
mit anderen in einen Wettkampf treten, kann das             2020.
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