Zu Fuß Karte, Gebiet, Kultur, Natur - Forum.lu
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68 forum 409 Freizeit Zu Fuß Karte, Gebiet, Kultur, Natur Stephanie Majerus Kann man sich die ersten aufrechtgehenden Homi- und Wäldern. Zudem demokratisiert sich das Wan- niden beim Spaziergang vorstellen? Nicht wirklich. dern und Spazieren. In Luxemburg bilden sich in Es ist eine kulturgeschichtlich noch junge Idee, den 1960er Jahren erste Wandergruppen innerhalb zum Zwecke der Erholung oder Erheiterung, gar von bestehenden Vereinen, wie zum Beispiel bei den aus Gründen des Zeitvertreibs spazieren zu gehen. Feuerwehrleuten von Hamm und Ehlerange. 1971 Erst mit dem Aufkommen von angelegten Parks, gründet sich die FLMP (Fédération luxembour- Promenaden und Stadtgärten begannen zunächst geoise de marche populaire), die die Wanderungen Aristokraten sich dem „Lustwandeln“ zu widmen. des Internationalen Volkssportverbandes koordi- Ab dem 18. Jahrhundert dann gewann das zwecklos niert. 70 Wanderungen pro Jahr werden organisiert, scheinende Rumflanieren zunehmend auch im Bür- an denen im Schnitt 1.000 Personen teilnehmen; gertum an Beliebtheit. Vor allem Anlagen wie die demnach werden insgesamt knapp mehr als 70.000 englischen Gärten wurden geschätzt: Sie imitierten Teilnahmen im Jahr gezählt. Laut dem Präsidenten die Natur mit ihren unumwundenen Formen und Romain Buschmann nahm die Teilnehmerzahl in waren trotzdem ganz auf die Bedürfnisse der Spa- den letzten Jahren stetig zu, vor allem weil sich auch ziergänger ausgerichtet. Die sich allmählich ausbrei- nicht vereinsgebundene Personen anmeldeten. Das tende Tourismuskultur orientierte sich ebenfalls an allerdings beschleunigte das Vereinssterben in einer dieser neuzeitlichen Mode. Es entstanden Rundwege Gesellschaft, die von Individualisierungs- und Plura- in der Nähe von Kurorten, und es wurden Küsten- lisierungsdynamiken geprägt ist. promenaden angelegt, wie die Promenade des Anglais in Nizza. Für das Bürgertum war das Spazierengehen Die neuen Wanderbegeisterten sind jung, manche eine willkommene kulturelle Erneuerung, mit der sogar sehr jung. Man rücke zusehends vom Image sich die feinen Unterschiede markieren ließen: Wer der „Senioren-Aktivität“ ab, meint der Präsident. spaziert, wird öffentlich als Nicht-Arbeitender iden- Und tatsächlich hat sich die Zahl der unter 15-Jäh- tifiziert, ohne als Faulenzer zu gelten. rigen über die letzten sieben Jahre verdoppelt. Den- noch liegt das Durchschnittsalter der Teilnehmer bei Vom Vereinsleben zum Vereinssterben 46 Jahren. Die jungen Menschen, häufig Eltern mit Kindern, erreiche die FLMP heute über die sozialen Vom Bürgertum ausgehend, verbreitet sich der Medien. Doch die jungen Wandereinsteiger wollen Zeitvertreib im Laufe des 20. Jahrhunderts in die Dienstleistungsgesellschaft und das Vereinsleben Die Autorin lebt in der Schweiz, wo sie an der Universität Fribourg hinein. Und er wird sportlicher: Ab dem frühen 20. arbeitet, in den Voralpen wandern geht und im Senseland mit dem Jahrhundert suchen die Wandervögel im deutsch- Rad fährt. Manchmal ist sie auch in Luxemburg und schlendert dort sprachigen Europa den Wanderrausch in Bergen wohnortbedingt im Kornkammer-Kanton herum.
Foto via Shutterstock flexible Angebote und Herausforderungen: Dies beginnen und enden an einem Parkplatz, wie es die bedeutet einen Mehraufwand für die 335 Ehrenamt- luxemburgische Begriffsneuschöpfung „Auto-Péde- lichen der Vereine. „Immer ältere Vorstandsmitglie- stres“ nahelegt. Insgesamt zählt Luxemburg derzeit der müssen ein Angebot für immer jüngere Wande- 8.000 Kilometer beschilderte Wege. rer erstellen“, fasst die FLMP die Belastungsprobe im Jahresbericht 2019 zusammen. Den Wander- Nicht nur die Wege multiplizieren sich, sondern Enthusiasmus schnappen die Jüngeren den Älteren auch der Ausstattungsbedarf: Noch der kleinste dennoch nicht weg. Im Jahresbericht weisen vor Rundgang wird zu einer Kleidungsfrage hochstili- allem die Pensionierten Höchstleistungen auf: Zwei siert. Das „Outdoor Apparel“-Segment diversifiziert Vielgeher, das Ehepaar Edmond und Lily Zahlen, sich zusehends; atmungsaktive und wasserdichte die beide über 76 sind, liefen im vergangenen Jahr Kleidung wird für dreistellige Summen verkauft. jeweils 1.700 Kilometer. Darüber hinaus lässt einen das Phänomen des Nor- dic Walking einstweilen daran zweifeln, ob es noch Auto-Pédestres, Nordic Walking, Waldbaden schick ist, einfach ohne Schnickschnack draußen herumzuspazieren. Die Gehstöcke wurden vom fin- In den 1960er Jahren wurden nicht nur die ersten nischen Hersteller Exel produziert und 1999 unter Wandervereine gegründet. Das Tourismusminis- dem Fachausdruck Nordic Walking international terium legte auch die ersten 20 Auto-Pédestres an. bekannt. Personen mit Rückenproblemen geben an, Mittlerweile zählt Luxemburg 201 Rundwander- dass die Gehstöcke ihre Rückenmuskulatur stärken. wege, und blickt man auf die Verkaufszahlen des Angesichts seines Nutzens kann man das Nordic 2018 publizierten Karten-Ordners, scheint das Walking nicht gänzlich als rein unnötigen kommer- Interesse am Fußgängertum gestiegen zu sein: Fast ziellen Gag eines Skizubehörproduzenten abtun, der 10.000 Exemplare wurden bisher verkauft. Hinzu- einfach im Sommer Geschäfte machen wollte. gesellt haben sich für Tagestouren die 26 nationalen Wanderstrecken sowie die Streckenabschnitte der Auto-Pédestre-Rundwege und Nordic Walking sind CFL-Wanderwege, die an Bahnhöfen beginnen und allerdings nicht die einzigen Neuerungen, die das enden. Für die Auto-Pédestres gilt dies nicht: Diese Spaziergehen in diverse Spielarten auffächern. Vor
Foto via Shutterstock Wegweiser auf dem Müllerthal-Trail bei Consdorf (Müllerthal) ein paar Jahren hat auch das Waldbaden seinen #Vakanzdoheem Siegeszug in Europa angetreten. Das Phänomen schwappte von Japan, wo man einen gemütlichen Aber auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Spaziergang im Wald als „Shinrinyoku“, also „Wald- das Spaziergehen nicht als rein passiver Zeitvertreib baden“, bezeichnet, zu uns herüber. Aber dabei soll angesehen: Der Spaziergänger aus gehobenen Krei- es um mehr gehen als nur um passives Rumspazie- sen wurde dazu animiert, sich aktiv einzubringen ren, wie eine Waldbaden-Kursleiterin behauptet. und die Gärten als Gemäldegalerie wahrzunehmen; „Manche mögen es, den Baum zu umarmen oder man sprach gar von „poetischen Bilderjagden“.3 sich wie ein Bär daran zu reiben“.1 Auf poetische Bilderjagden schickte das Luxem- Der Professor für Umweltimmunologie Qing Li ist ein burger Tourismusministerium die Einwohner des Popularisierungsvektor dieser rezenten Spaziermode. 2.600 Kilometer kleinen Landes unter dem Hash- In Büchern wie Forest Bathing vertritt er die Ansicht, tag #Vakanzdoheem. Das Großherzogtum wies im bereits nach einer Stunde im Wald sänken Blutdruck, Sommer 2020 hohe Corona-Fallzahlen auf, und so Kortisol und Puls, und das Immunsystem verbessere manch ein Land stufte das Gebiet ohne Meerzugang sich. Mittlerweile öffnete in Japan das erste Zentrum als Risikogebiet ein – da bleibt mal lieber hier, ver- für „Waldtherapie“, und japanische Universitäten mittelte die Regierung. Drückte den Volljährigen begannen eine fachärztliche Spezialisierung in „Wald- einen Gutschein von 50 Euro in die Hand und rief medizin“ anzubieten. Europa zieht nach: Am Berliner sie auf, schräge (wie die Mushrooms in Useldange) Wannsee plant das zur Charité gehörende Immanuel- oder luxuriöse Unterkünfte des Landes zu buchen. Krankenhaus einen Waldbadepfad – und bietet damit RTL half nach, Ortschaften und Rundwanderwege prompt ein Update der Kurort-Promenaden-Tradition schmackhaft zu machen: So organisierte Romain an. Auch hierzulande fasst der Trend Fuß: Die Erzie- Buschmann diesen Sommer keine groß angelegten herin Karen Decker bietet das Bëschcoaching an. Nach Wanderungen, sondern saß an der Buurschter Plage einem Burn-out wurde der Wald zu ihrem Thera- vor der RTL-Kamera und erklärte den Zuschauern peuten; heute möchte sie andere Gestresste an diese unter dem Episoden-Titel 100 % Natur a Freed belaubten Gefährten heranführen.2 fir Wanderer, dass das Ösling ein anspruchsvolles
Freizeit September 2020 71 Wandergebiet ist. forum-Mitherausgeber Michel umstandslos tun. Das digitale Zeitalter hat natür- Pauly kam dieser Werbeaktion allerdings zuvor und lich auch hierfür ein Angebot parat: Mit der App publizierte Ende Juli ein Twitter-Quiz: Auf einem adidas running kann der Fußgänger seine Schritt- Foto steht ein sommerlich gekleideter Pauly neben geschwindigkeit berechnen und laut App-Betreiber einer Auto-Pédestres-Beschilderung; hinter ihm sind seine „Erfolge mit einer globalen Community“ tei- lauschige Mischwälder, ein Tal, ein braunsuppiger len. Wer nicht mit anderen konkurrieren will, kann Fluß. „Wo bin ich?“, steht über dem Foto. Eine Fol- sich selbst „motivierenden Challenges“ stellen und lowerin rät richtig: im Ourtal bei Roder. sich beispielsweise die Bewältigung von 1.000 Kilo- metern im Jahr zum Ziel setzen. Die App berechnet Mitte August informierte Tourismusminister Lex jede Woche die Leistung des Nutzers und schickt Delles (DP) die Öffentlichkeit übrigens darüber, ihm motivationssteigernde Sprüche. dass bisher 17.000 von 730.000 ausgegebenen Bons eingelöst worden seien. Der Herbst steht an und die Wandersaison neigt sich dem Ende zu. Wer kein E-Bike hat und keine Geheimniskrämerei in Parks Lust mehr auf Autostau, kann den Gebrauch sei- ner Füße als Verkehrsmittel in den Alltag einbauen. Wer nicht im Wald baden möchte, kann durch Falls die Fußgängerin dabei nicht auf Gesundheits- Städte spazieren. Es ist zumindest eine wunderbare vorzüge verzichten will, empfiehlt O’Mara, nicht Art, diese kennenzulernen: ihren Rhythmus, ihre langsamer als 5 km/h zu gehen und dies mindes- toten Winkel, ihre prächtigsten Bauten – all das ent- tens an vier Tagen pro Woche, jeweils 30 Minuten geht dem durchrasenden Autofahrer. Kneipen, Res- lang. Laut O’Mara kommen einem dann ein paar taurants und Fußgängern sollte man ohnehin mehr Annehmlichkeiten entgegenspaziert: körperliche Raum geben in Zeiten von Corona-Abstandsregeln Gesundheit, Kreativität, gute Laune und unver- – und hierfür Straßen sperren. In Italien hat die klemmtes Denken. Stadteroberung insbesondere durch Abendspazier- gänger schon länger Tradition. Die passeggiata, das gesellige Spazierengehen, dient dazu, mit Freunden und Nachbarn zu plaudern und sich bei Gelegenheit ein gelato an einer Theke zu kaufen. Beim geselligen Straßenspaziergang denkt man nicht an Geheimniskrämerei. Aber auch der geheimnis- umwobene Spaziergang kann in Städten vorkom- men; in Parks beispielsweise, in denen gedealt wird, oder in Hollywoodfilmen, in denen Spioninnen diese Grünanlagen zum Informationsaustausch bevorzugen, um verwanzten Räumen zu entgehen. Wer nicht Dealerin oder Hollywoodstar ist, kennt zumindest die Aufforderung der besten Freundin: „Lass uns mal spazieren gehen“, ganz klar eine Ankündigung, dass Persönliches und Geheimes aus- getauscht werden sollen. Wache Verträumtheit und der Wettbewerb im Gehen Wer grade keine Freunde zur Hand hat, kann den einsamen Spaziergang genießen. Der Neurowis- 1 https://www.spiegel.de/politik/waldbaden- senschaftler Shane O’Mara, Autor des Buches Das manche-moegen-es-den-baum-zu-umarme Glück des Gehens, schwört auf ihn4: Er ermögliche n-a-00000000-0002-0001-0000-000164302396 (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden es, in Dialog mit sich selbst zu kommen, und Auf- zuletzt am 21. August 2020 aufgerufen). gestautes oder Anstehendes zu durchdenken. Der 2 http://www.land.lu/page/article/818/335818/DEU/index.html einsame Spaziergänger verweilt häufig in einem Zeit- 3 Barbara Piatti, Von der Kunst spazieren zu gehen, in: fenster der wachen Verträumtheit. Heimatschutz/Patrimoine 2010, 2, S. 8-11, hier S.9 4 Shane O’Mara, Das Glück des Gehens. Was die Wissenschaft Wer alleine spazieren gehen will, aber trotzdem darüber weiß und warum es uns so guttut, Reinbek, Rowohlt, mit anderen in einen Wettkampf treten, kann das 2020.
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