Zucht und Haltung immundefizienter Mauslinien unter SPF-Bedingungen

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Zucht und Haltung immundefizienter Mauslinien unter SPF-Bedingungen
Aus dem Labor

Ein Plädoyer für individualisierte Belastungsanalysen und
Genehmigungsverfahren

Zucht und Haltung immundefizienter
Mauslinien unter SPF-Bedingungen
Thomas Kammertoens und Thomas Schüler

    Zucht und Haltung immundefizienter Mäuse müssen gegenwärtig in Europa als Tierversuch beantragt werden.
    Das zugrunde liegende Gesetz basiert auf der Annahme, dass Immundefizienz per se zur Beeinträchtigung des
    Tierwohls führt, auch wenn die Mäuse frei von Infektionen gehalten werden. Allein die Annahme einer Infektions-
    anfälligkeit bei potentiellen Hygieneeinbrüchen ist ausschlaggebend für die Genehmigungspflicht. Aktuelle Daten
    zeigen nun, dass es für zwei schwer immundefiziente Mauslinien keine messbaren Hinweise für Belastungen unter
    SPF-Bedingungen gibt. Im vorliegenden Artikel beleuchten wir diese neuen Erkenntnisse aus immunologischer Sicht
    und diskutieren mögliche Konsequenzen für die Belastungsbeurteilung und Genehmigungsverfahren der Zucht und
    Haltung immundefizienter Mäuse.
    Schlüsselwörter: Immundefizienz, Belastungsanalyse, Tierexperiment, 3R, Infektionsrisiko

     Die Zellen des Immunsystems zeich-       schreibung einer adaptiven Immunant-          RNA-Vakzinierungsstrategien, die aktuell
nen sich durch ein großes Maß an Mobi-        wort macht deutlich, dass das Studium         bei der SARS-CoV-2- Impfung Anwen-
lität aus. Dies ermöglicht es ihnen, nahezu   des Immunsystems immer auch die sich          dung finden, in Mäusen entwickelt [1]. In
jeden Ort im Körper zu erreichen, um          zeitlich und räumlich verändernden mul-       der immunologischen Forschung wird
dort Pathogene zu bekämpfen. Erfolgrei-       tizellulären Interaktionen berücksichtigen    häufig mit genetisch veränderten Mäusen
che Immunantworten beruhen auf dem            muss, die zum Erfolg einer Immunantwort       gearbeitet, die unter spezifisch Pathogen-
komplexen Zusammenspiel zahlreicher           beitragen. Während modernste Zellkul-         freien (SPF) Bedingungen [2] gehalten
Immunzelltypen an unterschiedlichen           turtechniken und Computersimulationen         werden. Gegenwärtig wird allerdings kon-
Orten im Körper. Die Initiation adaptiver     durchaus dazu geeignet sein können,           trovers diskutiert, inwieweit solche Mäuse
Immunantworten setzt z. B. die Einwan-        zeitlich und räumlich isolierte Aspekte       in SPF-Haltungen eine Belastung erfah-
derung peripherer dendritischer Zellen in     biologischer Prozesse in vitro nachzuah-      ren. Ausgangspunkt der Kontroverse ist
sekundäre lymphatische Organe (SLO)           men, so gilt dies bisher noch nicht für das   die 2010 verabschiedete EU-Richtlinie
voraus, wo es zur Aktivierung Pathogen-       Studium von Immunantworten. Dem-              zum Schutz der für wissenschaftliche
spezifischer naiver T-Zellen kommt. Nach      nach können Immunologen auf absehba-          Zwecke verwendeten Tiere (2010/63/EU).
ihrer Aktivierung verlassen sie als Effek-    re Zeit nicht ganz auf Tiermodelle verzich-   Sie legt fest, dass die Zucht transgener
tor-T-Zellen das SLO, um am Infektions-       ten. Vor allem in der präklinischen For-      Tiere genehmigungspflichtig ist, wenn die
ort das jeweilige Pathogen zu bekämpfen.      schung spielen Tierversuche eine zentrale     genetische Veränderung Schmerzen, Lei-
Allein diese äußerst oberflächliche Be-       Rolle. So wurden beispielsweise moderne       den, Ängste oder Schäden verursacht. Die

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Zucht und Haltung immundefizienter Mauslinien unter SPF-Bedingungen
Aus dem Labor

mit der Auslegung dieser Richtlinie be-      zu halten, um reproduzierbare Ergebnisse promised immune system“) problema-
auftragte Arbeitsgruppe legte 2013 fest,     erzielen zu können. Um z. B. den Einfluss tisch. Es wird davon ausgegangen, dass
dass allein das Risiko, Schmerzen, Ängs-     eines Gens auf den Verlauf einer Immun­ Veränderungen immunologisch relevan-
te oder Schäden zu erleiden, als genehmi-    antwort bestimmen zu können, müssen ter Gene automatisch mit einem erhöhten
gungspflichtige Belastung einzustufen sei.   Geschwistertiere mit bzw. ohne Gendefekt Infektionsrisiko einhergehen. Dabei wird
Basierend auf dieser Definition wurden       verglichen werden. Definierte Haltungs- vernachlässigt, dass sowohl positive als
Zucht und Haltung von Tieren mit „ge-        bedingungen sind hierbei von entschei- auch negative Rückkopplungsmechanis-
schwächtem Immunsystem“ aufgrund             dender Bedeutung für die Interpretier- men miteinander vernetzt sein müssen,
einer vermeintlichen Infektionsgefahr        und Reproduzierbarkeit der Experimente, um eine effiziente Immunantwort zu er-
genehmigungspflichtig. Dies gilt unab-       da sie einen erheblichen Einfluss auf die möglichen. Diese komplexen regulatori-
hängig davon, ob diese Tiere in Abwesen-     Funktionsweise des Immunsystem haben. schen Netzwerke helfen dabei, eine Im-
heit definierter infektiöser Erreger unter   Nur so lassen sich Umwelteinflüsse (z. B. munantwort so zu steuern, dass Pathoge-
SPF-Bedingungen gehalten werden. In der      Infektionen) als Ursache für
Richtlinie heißt es: "Genetisch veränderte   Unterschiede zwischen den
Linien, bei denen das Risiko der Entwick-    verglichenen Mauslinien
lung eines schädlichen Phänotyps (z. B.      ausschließen und der Ein-
eine Tumor­erkrankung mit fortschreiten-     fluss des Gendefekts definie-
dem Alter; Infektionsgefahr aufgrund eines   ren. Damit hilft die SPF-
geschwächten Immunsystems) unabhängig        Haltung, die Reproduzier-
von dem angewandten Refinement (z. B.        barkeit von Experimenten zu
Barrierebedingungen, Keulung im frühen       gewährleisten, wodurch die
Alter, bevor der Tumor entsteht) bestehen    statistische Signifikanz eines
bleibt, bedürfen gemäß Artikel 1 Absatz 2    Experiments mit weniger
ihrer Züchtung einer Projektgenehmigung,     Tieren erzielt werden kann.
da die Anwendung des Refinements das         Dies ist im Sinne des Tier-
Risiko nicht beseitigt“ [3]. Diese Argu-     wohls und nach dem 3R-
mentation ist in mehrfacher Hinsicht         Prinzip (formuliert von Wil-
problematisch, was in den folgenden Ab-      liam Russell und Rex Burch
schnitten dargelegt wird.                    [4], erstellt unter der wissen-
                                                                             Bildquelle: www.biorender.com
                                             schaftlichen Anleitung des
SPF-Zuchten sind keine Refinementmaß-        Immunologen Sir Peter
nahmen, sondern gute wissenschaftliche       Medawar [5]) eine Reduktion, stellt aber ne eliminiert werden können, ohne dass
Praxis                                       für das Individuum im Experiment kein dies zu Gewebsschäden führt. Daraus
    Bei der Gleichsetzung von SPF-Barri-     Refinement im klassischen Sinne dar. ergibt sich, dass es mindestens zwei Klas-
erehaltungen mit „Refinementmaßnah-          Vielmehr handelt es sich bei der SPF- sen von immunologisch relevanten Ge-
men“ im Sinne des 3R-Konzepts [4] han-       Haltung um einen wichtigen Beitrag zur nen geben muss, nämlich solche, die
delt es sich aus immunologischer Sicht um    guten wissenschaftlichen Praxis.               Immunantworten fördern, und solche,
eine Fehleinschätzung. Vielmehr sind die                                                    die überschießende Immunantworten
standardisierte Zucht und Haltung von        Was ist ein geschwächtes Immunsystem?          verhindern. In welche der beiden Katego-
Mäusen unter SPF-Bedingungen eine            Können wir Infektionsresistenz voraus­         rien ein neu identifiziertes Gen fällt, ist
„conditio sine qua non“. Wie bei allen       sagen?                                         vorab nicht absehbar. Deshalb kann auch
naturwissenschaftlichen Experimenten              An der Auslegung der EU-Richtlinie nicht davon ausgegangen werden, dass
gilt es auch bei Tierexperimenten, die       ist vor allem auch die Definition eines die Infektanfälligkeit der entsprechenden
experimentellen Bedingungen konstant         geschwächten Immunsystems („a com- Gen-defizienten Maus erhöht sein muss.

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Genauso könnte sie verringert oder auch      fektion ist oder erkrankt und eine Belas-   [10]. Es bleibt festzuhalten, dass die Belas-
unverändert sein. Des Weiteren gilt es zu    tung erfährt.                               tungen unbehandelter immundefizienter
bedenken, dass Immunantworten in un-                                                     Mauslinien unter modernen Haltungsbe-
terschiedlichen Ausprägungen ablaufen        Zucht und Haltung immundefizienter          dingungen zwar variieren können, in den
können. Beispielsweise versterben im-        Mauslininen – ein Plädoyer für die          wenigsten Fällen jedoch messbare Belas-
munkompetente BALB/c-Mäuse an einer          individualisierte Genehmigungspflicht       tungen nachweisbar sind. Es erscheint
Infektion mit bestimmten Leishmania-             Im Jahre 2013 wurde bereits das Risi-   daher nicht mehr zeitgemäß, an der
Stämmen, da sie keine schützende TH1-        ko, Schmerzen, Ängste oder Schäden zu       pauschalen Belastungsdefinition und der
Antwort entwickeln können. Im Gegen-         erleiden, als genehmigungspflichtige Be-    Genehmigungspflicht für immundefizi-
satz dazu entwickeln immunkompetente         lastung eingestuft. Wie oben erwähnt        ente Mauslinien festzuhalten. Vielmehr
C57BL/6-Mäuse sehr effiziente TH1-Ant-       können Schäden für immundefiziente          schlagen wir individualisierte, linienspe-
worten und sind somit vor diesen Krank-      Mäuse nicht ausgeschlossen werden,          zifische Belastungsbeurteilungen [11] und
heitserregern geschützt [6]. Dies macht      wenn der jeweilige Gendefekt effiziente     Genehmigungsverfahren vor, wie sie auch
deutlich, dass selbst bei genetisch völlig   Immunantworten gegen bestimmte              bei anderen genetisch veränderten Maus-
unveränderten, voll immunkompetenten         Krankheitserreger verhindert. Aufgrund      linien Anwendung finden.
Tieren sowohl der genetische Hinter-         der hohen Hygienestandards moderner
grund als auch der Erregertyp darüber        SPF-Barrieren ist jedoch das Risiko einer   Fazit
entscheiden, ob eine produktive Immun­       ungewollten Infektion extrem gering.            Das Wohlergehen der für wissen-
antwort entstehen kann oder nicht.           Gemessen an diesem sehr geringen Risi-      schaftliche Zwecke verwendeten Tiere ist
    Wie wir am Beispiel der aktuellen        ko ist es schwer nachvollziehbar, weshalb   sowohl ethisch geboten, als auch wissen-
SARS-CoV-2-Pandemie sehr gut beob-           eine allgemeine Genehmigungspflicht für     schaftlich notwendig. Bei genetisch ver-
achten können, gibt es auch beim Men-        die Haltung und Zucht immundefizienter      änderten Mäusen mit Immundefizienz
schen große Unterschiede hinsichtlich        Mauslinien festgelegt wurde.                wird in der EU gegenwärtig pauschal eine
der Immunantworten gegen einen be-               Von einigen wenigen genetisch verän-    Belastung auf Grund eines theoretisch
stimmten Krankheitserreger. Hier sind        derten Mauslinien ist bekannt, dass sie     erhöhten Infektionsrisikos definiert. In
von asymptomatischen über milde bis          bereits ohne Behandlung Autoimmunität       modernen Tierhaltungseinrichtungen
zu schweren Verläufen die unterschied-       entwickeln. Dies ist insbesondere dann      (SPF-Haltung) besteht für immundefizi-
lichsten Krankheitsbilder beschrieben.       der Fall, wenn das inaktivierte Gen z. B.   ente Mäuse ein verschwindend geringes
Wohlgemerkt handelt es sich hierbei in       überschießende Immunantworten ver-          Risiko, mit bestimmten Pathogenen in
den allermeisten Fällen um immun-            hindert [7]. Für die übergroße Mehrzahl     Kontakt kommen. Außerdem legen aktu-
kompetente Personen, die sich aber           der unter SPF-Bedingungen gehaltenen        elle Daten nahe, dass selbst schwere Im-
hinsichtlich ihrer Genetik und Lebens-       immundefizienten Mäuse gibt es bisher       mundefizienzen unter SPF-Bedingungen
umstände unterscheiden. Diese Beispie-       aber keinerlei Hinweise auf Belastungen.    keine messbaren Auswirkungen auf das
le sollen verdeutlichen, dass selbst für     So zeigt beispielsweise der Vergleich di-   Tierwohl haben. Es erscheint daher ange-
genetisch nicht manipulierte Individuen      verser Zytokin- bzw. Immunzell-defizi-      messen, für immundefiziente Mauslinien
der Grad ihrer Immunkompetenz ge-            enter Mäuse mit genetisch unveränderten     individualisierte, linienspezifische Belas-
genüber einem bestimmten Erreger             Kontrolltieren zwar minimale Verände-       tungsbeurteilungen [11] und Genehmi-
nicht vorhersehbar ist. Im Umkehr-           rungen in der Darmflora, diese haben        gungsverfahren einzuführen, wie dies
schluss bedeutet dies für die Definition     aber keinen messbaren Einfluss auf die      auch bei anderen genetisch veränderten
eines geschwächten Immunsystems laut         Produktion pro- und anti-inflammatori-      Mauslinien bereits üblich ist.
EU-Richtlinie, dass nicht vorhergesagt       scher Zytokine [8, 9]. Außerdem konnten
werden kann, ob und unter welchen            wir kürzlich zeigen, dass selbst schwer
Bedingungen eine genetisch veränderte        immundefiziente Mäuse unter SPF-Be-
Mauslinie resistent gegenüber einer In-      dingungen keinerlei Belastungen zeigen

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Aus dem Labor

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differences in susceptibility to Leishmania major pa-                                                                    Institut für Molekulare und Klinische
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ders with early lethality in mice deficient in Ctla-4.                                                             Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Science. 1995. 270(5238):985-8.                                                                                               thomas.schueler@med.ovgu.de

                          30th Annual Meeting of the Society for Virology
                          Gesellschaft für Virologie e. V.
                          und
                          Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung
                          der Viruskrankheiten e. V.
                                                                                                                                   Digital
                                                                                                                     24–26 March 2021
                                                                                                                      www.virology-meeting.de

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