Zukunft@BPhil Das Education-Programm der Berliner Philharmoniker - Gustav Mahler: 1. Symphonie
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Zukunft@BPhil Das Education-Programm der Berliner Philharmoniker Gustav Mahler: 1. Symphonie Unterrichtsmaterial zur Generalprobe der Berliner Philharmoniker am 10. Mai 2007 von Tobias Bleek
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Vorbemerkung Im Mai 2007 spielten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Mariss Jansons Gustav Mahlers 1. Symphonie in einer Konzertserie. Das vorliegende Unterrichtsmaterial, das in diesem Zusammenhang im Auftrag der Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker entstand, ist für LehrerInnen und SchülerInnen der gymnasialen Oberstufe konzipiert worden. Es umfasst vier Teile: 1. Lehrerinformation: Zur Rezeption von Mahlers Symphonik und zur 1. Symphonie 2. Informationsblatt 1–3 für Schüler zur Verwendung im Unterricht 3. Arbeitsblatt 1 und 2 4. Quellen- und Literaturverzeichnis Eine wichtige Grundlage für die Verwendung der vorliegenden Materialien ist die Partitur der 1. Symphonie (Taschenpartitur erhältlich bei Universal Edition). Da der Abdruck von Notenbeispielen aus urheberrechtlichen Gründen nicht möglich ist, gibt es im Text Verweise auf die diskutierten Partiturausschnitte. 2
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil 1. Lehrerinformation A) Zwischen begeisterter Zustimmung und heftiger Ablehnung: Zur kontroversen Rezeption von Gustav Mahlers Symphonik Am 18. November 1900 dirigierte Gustav Mahler seine 1. Symphonie im Rahmen eines philharmonischen Konzerts erstmals in Wien. Die Mahler-Vertraute Natalie Bauer-Lechner berichtet in ihren Erinnerungen über dieses öffentlichkeitswirksame Ereignis: „Vom ersten Augenblick an, da Mahlers schwirrendes Flageolett-A den Saal erfüllte, war das Publikum unruhig, gelangweilt, erschreckt, hustete und räusperte sich, ja lachte vor Befremden und Nichtverstehen […]. Schon nach dem ersten Satz mischte sich in den Applaus Zischen. […] Da nach dem dritten Satz keine Pause ist, dies allein verhütete, glaube ich, eine Massenflucht vor den ‚Schrecken’ des letzten Satzes, welcher gleichwohl nach dem vorherigen Satz, der sie vor Verwunderung und Entsetzen ganz aus dem Häuschen gebracht hatte, fast beruhigend auf die Gemüter wirkte. Dennoch brach nach dem Schluss der größte Tumult los, in dem die Klatscher und Zischer sich gegenseitig ausdauern zu wollen schienen.“1 Dass die 1. Symphonie des gefeierten Wiener Hofoperndirektors elf Jahre nach der Budapester Uraufführung noch solch heftige Reaktionen beim Konzertpublikum auslöste, bezeugt auf eindrückliche Weise den Modernitätsgehalt und die polarisierende Kraft der Mahlerschen Musik. Seine Symphonien spalteten das zeitgenössische Publikum „mit einer Heftigkeit, die das bei anderen Komponisten übliche Maß überstieg“.2 Obwohl bedeutende Dirigenten wie Wilhelm Mengelberg oder Bruno Walther sich bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vehement für Mahlers Werke einsetzten, wurden die neun vollendeten Symphonien erst mehr als 50 Jahre nach dem Tod des Komponisten, der 1911 in Wien verstarb, zu einem Kernstück des symphonischen Repertoires. Befördert durch das wirkungsmächtige Mahler-Buch des Philosophen und Musikdenkers Theodor W. Adorno, das 1960 unter dem Titel Gustav Mahler. Eine musikalische Physiognomik erstmals erschien, begannen sich seit den 1960er Jahren zugleich Vertreter der musikalischen Avantgarde wie Luciano Berio oder György Ligeti für Mahlers vielschichtige Musik zu interessieren (vgl. hierzu Informationsblatt 2). Wie der bedeutende Mahler-Exeget Paul Bekker einmal treffend formuliert hat, ist die 1. Symphonie „ein Erstlings-, aber kein Anfangswerk“. 3 Der spezifische Mahlersche Ton und die Eigenheiten seiner künstlerischen Physiognomie sind hier bereits in charakteristischer 1 Vgl. Bauer-Lechner/Killian 1984, S. 177. 2 Danuser 2004, Sp. 844. 3 Bekker 1921, S. 37. 3
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Weise ausgeprägt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Annäherung von Symphonie und Lied, die Arbeit mit ganz unterschiedlichen musikalischen Idiomen in ein und demselben Werk, die extreme Intensität und ungeheure Vielfalt des Ausdrucks und die diskontinuierliche Gestaltung der musikalischen Form. Das Zusammenspiel dieser Aspekte begründet die Neuartigkeit der Mahlerschen Symphonik und erklärt zugleich die Irritationen, die seine Musik nicht nur bei den Zeitgenossen auslöste. B) Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte der 1. Symphonie Die 1. Symphonie ist eine Schöpfung des 28-jährigen Komponisten. Das Werk, das in seiner Erstfassung nicht nur vier, sondern fünf Sätze umfasste, entstand zu wesentlichen Teilen im Zuge eines rauschhaften Arbeitsprozesses im Frühjahr 1888. Mahler, der seit 1880 eine Doppelexistenz als Dirigent und Komponist führte und bis zur Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit eher als „komponierender Dirigent“ denn als „dirigierender Komponist“ wahrgenommen wurde, wirkte zu dieser Zeit als Kapellmeister am Stadttheater Leipzig. Nach dem Bericht Nathalie-Bauer-Lechners komponierte Mahler das Werk „binnen sechs Wochen neben fortwährendem Dirigieren und Einstudieren; er arbeitete vom Aufstehen bis 10 Uhr vormittags und die Abende, wenn er frei war“.4 Gelingen konnte diese schöpferische „tour de force“ vermutlich nur deswegen, weil der Komponist an bereits vorhandenes musikalisches Material anknüpfte. So basieren wesentliche Teile des ersten und dritten Satzes auf den Liedern „Ging heut’ morgen über’s Feld“ und „Die zwei blauen Augen“ aus den Liedern eines fahrenden Gesellen (1884/85), während das an zweiter Stelle stehende Ländler-Scherzo thematisches Material aus dem frühen Lied „Hans und Grethe“ (1880) aufgreift. Dem später gestrichene so genannte „Blumine-Satz“, der in der Erstfassung des Werkes auf den Eröffnungssatz folgte, lag die 1884 komponierte Begleitmusik zum Trompeter von Säkkingen zugrunde. Dass sich Mahler der Neuartigkeit seiner ersten symphonischen Komposition durchaus bewusst war und sich intensiv darum bemühte, sie für das Publikum zugänglich zu machen, bezeugen die zahlreichen Änderungen und Umgestaltungen des Werkes nach der Uraufführung. So entschied er sich im Laufe der 1890er Jahre zur Streichung des ursprünglich an zweiter Stelle platzierten Andante-Satzes, nahm zahlreiche Instrumentationsretuschen vor und griff auch in die musikalische Struktur des ausdrucksgeladenen Final-Satzes ein. Zugleich versah er die Komposition bei den ersten Aufführungen mit programmatischen Werk- und Satztiteln, die den Zuhörern als „Wegtafeln und Meilenzeiger“ dienen sollten. Während das Werk 1889 in Budapest als Symphonische Dichtung in zwei Abtheilungen uraufgeführt wurde, erschien es bei seiner zweiten Aufführung 4 Bauer-Lechner/Killian 1984, S. 175. 4
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil im Jahr 1893 in Hamburg unter dem möglicherweise auf Jean Paul Bezug nehmenden Titel Titan, eine Tondichtung in Symphonieform. Bei der Berliner Erstaufführung, die am 16. März 1896 von den Berliner Philharmonikern unter Leitung des Komponisten erfolgte, verzichtete Mahler dann allerdings auf alle programmatischen Erläuterungen. Von nun ab erklang das Werk unter der Gattungsbezeichnung „Symphonie“ ohne programmatische Satztitel und zusätzliche Erläuterungen des Komponisten (vgl. hierzu Informationsblatt 1). Unterrichtsvorschlag vgl. Informationsblatt 1 C) Sinfonia ironica? – Zum 3. Satz der 1. Symphonie Der Satz, der von den Zeitgenossen „am meisten missverstanden und geschmäht wurde“ (Bauer-Lechner) ist der an dritter Stelle stehende „Todtenmarsch“. Hier zeigt sich die irritierende Originalität des Mahlerschen Komponierens vielleicht am eindrücklichsten. Gegenstand der beiden Rahmenteile des Satzes ist der Kanon „Bruder Jakob“, eine populäre Melodie einfachster Bauart, die wohl kein zeitgenössischer Hörer aus eigenen Stücken mit symphonischem Komponieren in Verbindung gebracht hätte. Mahler, der die Kanonmelodie anscheinend schon im Kindesalter als „tief tragisch“ empfand, entwickelt den Kanon in seiner Symphonie nicht als unbeschwertes Studentenlied in Dur, sondern als bizarren Trauermarsch in Moll. Wesentliches Mittel der ironischen Brechung sind dabei Instrumentation und Phrasierung. Über einem dumpfen Quartenpendel in der Pauke erklingt die Kanon-Melodie zunächst im gedämpften Solo-Kontrabass in gequälter hoher Lage und durch taktweise Zäsuren in seine melodischen Bestandteile aufgespalten. Es folgen Fagott, Celli und die Basstuba, wobei der Tubist die Melodie gleichsam gegen die Natur des Instrumentes im pianissimo intonieren muss. Unterrichtsvorschläge vgl. Arbeitsblatt 1 5
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil 2. Informationsblätter Vorbemerkung Zielgruppe Die Arbeitsblätter richten sich in erster Linie an SchülerInnen der gymnasialen Oberstufe (Leistungskurs und Grundkurs). Durch eine Reformulierung der Fragen und Aufgabenstellungen lassen sie sich aber sicherlich auch für andere Zielgruppen adaptieren. Zu Informationsblatt 1 Diskussion der Quellen auf Informationsblatt 1 (ev. erst nach der Auseinandersetzung mit dem 3. Satz). Mögliches Vorgehen: 1) Rekonstruktion der Argumentation (Mahler, Hanslick, Gielen) 2) Diskussion der Funktion, des ästhetischen Status und der Bedeutung von programmatischen Titeln und Erläuterungen (im historischen Kontext und aus einer heutigen Perspektive) Es könnte sich auch anbieten, den Schülern in einem ersten Schritt den 3. Satz ohne Vorab- Informationen vorzuspielen und sie nach ihren persönlichen Eindrücken hinsichtlich des Charakters und Ausdrucksgehalts der Musik sowie nach möglichen ‚inhaltlichen’ Assoziationen zu befragen, bevor Informationsblatt 1 ausgegeben und behandelt wird. Zu Arbeitsblatt 1 a) Notenbeispiele: 1) T. 1−38 2) T. 113−131 b) Mögliche praktische Ergänzungen: Der Kanon wird in seiner ‚ursprünglichen‘ Fassung sowie in der Mahlerschen Version zunächst gesungen. In einem zweiten Schritt könnten die Schüler zunächst eine eigene Instrumentation entwickeln und spielen, bevor sie sich mit Mahlers Version auseinandersetzen. Zu Arbeitsblatt 2 Notenbeispiele: T. 39−82 6
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Informationsblatt 1: Zur Genese und Programmatik der 1. Symphonie von Gustav Mahler Gustav Mahler (1860−1911) gehört zu jenen Komponisten, die auch nach der Uraufführung ihrer Werke noch an diesen weiterarbeiteten. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Mahler nicht nur ein bedeutender Komponist, sondern auch ein ausgezeichneter Dirigent war. Im Zuge der Einstudierung und Aufführung seiner Werke nahm er zahlreiche Änderungen im Bereich der Instrumentation, der Dynamik und der Vortragsbezeichnung vor. Im Falle der 1. Symphonie beschränkte sich Mahler allerdings nicht auf Instrumentationsretuschen und die Präzisierung der dynamischen Angaben. Zum einen entschied er sich vor der Drucklegung, einen kompletten Satz zu streichen. Zum anderen versah er die Komposition bei ihren ersten Aufführungen mit unterschiedlichen programmatischen Titeln und Erläuterungen, die in der Druckfassung aus dem Jahr 1899 nicht mehr erscheinen (siehe unten). Die verschiedenen Fassungen des Werktitels (Auswahl) 1889 UA Budapest Symphonische Dichtung in 2 Theilen 1893 Autographe Partitur Symphonie („Titan“) in 5 Sätzen (2 Abtheilungen) 1893 EA Hamburg Titan, eine Tondichtung in Symphonieform 1896 EA Berlin Symphonie in D-Dur Programmatische Titel des 3. Satzes (Auswahl) Für den 3. Satz, der den zeitgenössischen Hörern offensichtlich die größten Verständnisschwierigkeiten bereitete, sind zahlreiche Formulierungen des Titels überliefert: 1889 UA Budapest A la pompe[s] funèbres 1893 Autographe Partitur Todtenmarsch in „Callots Manier“ Ein Intermezzo à la Pompe[s] fun[è]bre[s] 1893 EA Hamburg Gestrandet! (ein Todtenmarsch in „Callot’s Manier“) 1894 EA Weimar Gestandet. Des Jägers Leichenbegräbnis 1896 EA Berlin Alla marcia funebre 1899 Druckfassung Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen 7
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Programmatische Erläuterungen zum 3. Satz (Auswahl) In Mahlers programmatischen Erläuterungen zur Hamburger Aufführung, die am 27. Oktober 1893 stattfand, heißt es über den 3. Satz: „Gestrandet!“ (ein Todtenmarsch in „Callot’s Manier“) Zur Erklärung dieses Satzes diene Folgendes: Die äußere Anregung zu diesem Musikstück erhielt der Autor durch das in Österreich allen Kindern wohlbekannte, parodistische Bild: Des Jägers Leichenbegängniß, aus einem alten Kindermädchenbuch: Die Thiere des Waldes geleiten den Sarg des gestorbenen Jägers zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musicirenden Katzen, Unken, Krähen etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Thiere des Waldes geleiten in possirlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als Ausdruck einer bald ironisch lustigen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht […] 5 Anmerkungen: 1) Moritz von Schwinds Bild „Des Jägers Leichenbegängnis“, auf das Mahler vermutlich anspielt, ist auf dem Beiblatt abgedruckt. 2) Mit der Formulierung in „Callot’s Manier“ bezieht sich Mahler auf den französischen Zeichner Jacques Callot (1592−1635) und/oder auf E. T. A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callots Manier (1814/15). Äußerungen Mahlers zum ästhetischen Stellenwert und zur Funktion von programmatischen Erläuterungen Bei der Berliner Erstaufführung, die am 16. März 1896 von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung des Komponisten bestritten wurde, erklang die 1. Symphonie erstmals unter ihrem heutigen Titel ohne programmatische Satztitel und Erläuterungen. Im Briefwechsel mit Max Marschalk erläutert Mahler seine Beweggründe für diese Entscheidung und äußert sich zugleich in allgemeiner Weise über programmatische Erläuterungen: „[…] Seinerzeit bewogen mich meine Freunde, um das Verständnis der D-dur zu erleichtern, eine Art Programm hierzu zu liefern. Ich hatte also nachträglich mir diese Titel und Erklärungen ausgesonnen. Dass ich sie diesmal wegließ, hat nicht nur darin seinen Grund, dass ich sie dadurch für durchaus nicht erschöpfend – ja nicht einmal zutreffend charakterisiert glaube, sondern, weil ich erlebt habe, auf welch falsche Wege hierdurch das Publikum geriet. So ist es aber mit jedem Programm! […] Beim 3. Satz (Marcia funèbre) verhält es sich allerdings so, dass ich die äußere Anregung dazu durch das bekannte Kinderbild erhielt („des Jägers Leichenbegängnis“). − 5 Zit. nach Ulm 2002, S. 69. 8
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil An dieser Stelle ist es aber irrelevant, was dargestellt wird − es kommt nur auf die Stimmung an, welche zum Ausdruck gebracht werden soll […].“ (Brief von GM an MM, Hamburg, 20.3.1896)6 „[…] Gut ist es deshalb immerhin, wenn für die erste Zeit, als meine Art noch befremdet, der Zuhörer einige Wegtafeln und Meilenzeiger auf die Reise miterhält – oder sagen wir: eine Sternkarte, um den Nachthimmel mit seinen leuchtenden Welten zu erfassen. – Aber mehr kann so eine Darlegung nicht bieten.“ (Brief von GM an MM, Hamburg, 26.3.1896)7 Stellungnahmen zu Mahlers programmatischen Erläuterungen Die Diskussion über die Funktion, die Bedeutung und den Status von Mahlers programmatischen Werk- und Satztiteln sowie seinen programmatischen Erläuterungen hat nicht nur die Zeitgenossen beschäftigt, sondern setzt sich bis heute fort. Im Hintergrund steht dabei die ästhetische Debatte über „absolute Musik“ und „Programmmusik“. Der berühmte Wiener Konzertkritiker Eduard Hanslick, der als einer der einflussreichsten Befürworter der absoluten, d. h. nicht auf ein konkretes Programm bezogenen Musik galt, bedauerte in seiner Besprechung der Wiener Erstaufführung von Mahlers 1. Symphonie interessanterweise die fehlenden Hinweise auf das ursprüngliche Programm der Symphonie: „Vielleicht hätte ich doch ein näheres Verhältnis (wenn auch kein Liebesverhältniß) zu ihr gewonnen, wären uns ihre Herkunft und Bedeutung nicht verheimlicht worden. […] In Weimar hieß die Symphonie ‚Titan’ und war von einem ausführlichen Programm begleitet. Die Kritiker fanden es ‚abstrus’ und so tilgte der Componist sowohl die Titel als die Erklärungen. Im Allgemeinen sind dergleichen poetische Gebrauchsanweisungen theils lästig, theils verdächtig. […] Schwerlich hätte auch Mahler’s Symphonie uns mehr erfreut mit einem Programm, als ohne solches. Aber gleichgiltig war es uns nicht, zu erfahren, was ein geistreicher Mann wie Mahler sich bei jedem dieser Sätze vorgestellt und wie er ihren uns rätselhaften Zusammenhang erklärt hätte. Und so fehlte uns doch ein Führer, der in diesem Dunkel den rechten Weg weisen könnte. Was hat dieses plötzliche Weltungergangs-Finale zu bedeuten, was der Trauermarsch mit dem alten Studentencanon ‚Bruder Martin’, was die mit ‚Parodie’ bezeichnete Unterbrechung desselben? Die Musik selbst hätte mit einem Programm an Reiz weder gewonnen noch verloren, gewiß, aber die Absichten des Componisten wären uns deutlicher und damit das Werk verständlicher geworden.“ (Neue Freie Presse, 20.11.1900, S. 7f.) 6 Mahler 1981, S. 149. 7 Mahler 1981, S. 151f. 9
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Der Dirigent und Komponist Michael Gielen (geb. 1927) betont im Gespräch mit Paul Fiebig eher den problematischen Charakter programmatischer Titel und Erläuterungen: „Natürlich, wenn Sätze einer Symphonie Titel haben, ist das sicher als Hilfe für den Hörer gedacht, lädt aber eben auch zu Missverständnissen ein. In der Regel lenken solche Titel die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung und verhindern Phantasie beim Zuhören. […] Um ein Extrem zu nennen: ein Stück wie die ‚Sinfonia domestica’ von Richard Strauss kann ich ganz gut hören, aber wenn ich an das Programm denke, muss ich abdrehen, das hält man nicht aus.“8 8 Gielen/Fiebig 2002, S. 30. 10
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Anlage zu Informationsblatt 1 11
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Informationsblatt 2: Zur Collagetechnik bei Mahler Ab den 1960er Jahren begannen sich Komponisten aus dem Umfeld der musikalischen Avantgarde für Gustav Mahler zu interessieren. Sie waren fasziniert von der stilistischen Vielschichtigkeit und Heterogenität seiner Musik sowie von Mahlers Zitat-Technik. 1971 hat der bedeutende Komponist György Ligeti (1923–2006) im Gespräch mit Clytus Gottwald Überlegungen zu Mahlers Collage-Technik angestellt. Im Folgenden sind einige Auszüge aus diesem Gespräch aufgeführt.9 Arbeit mit „Abfallmaterial des 19. Jahrhunderts“ „Mahler arbeitet oft mit Abfallmaterial des 19. Jahrhunderts, das er in seine Musik ganz im Stil einer Collage hineinklebt. […] Schon beim frühen Mahler, im dritten Satz der Ersten Symphonie, findet sich diese Collagetechnik voll ausgebildet. Wesentlich ist dabei, worauf bereits Adorno in seinem Mahler-Buch hingewiesen hat, dass es sich bei dem collagierten Material um sogenanntes abgesunkenes Kulturgut handelt, das wieder zurückgehoben und ein bißchen gereinigt, in einen anderen Zusammenhang hineingesetzt wird.“ (S. 285) Zum Collage-Begriff in der bildenden Kunst „Wenn man von Collage spricht, muss man freilich etwas weiter ausholen. Der Terminus wurde natürlich aus der bildenden Kunst, der Malerei übernommen, wobei ich zögere von Malerei zu sprechen, hat doch die Klebetechnik mit der Technik der Malerei so gut wie nichts mehr zu tun. Die Technik taucht um 1910 bei Braque auf. Er hat zum ersten Mal bestimmte Papierarten, etwa Packpapier oder Schmirgelpapier, in Bilder hineingeklebt, und eines dieser Werke trägt den Titel ‚Papiers collés’. Picasso, der damals mit Braque befreundet war, hat ähnliches gemacht. Doch historisch ist der Begriff untrennbar mit dem Namen Kurt Schwitters verbunden. Bei Schwitters finden sich die beiden Hauptkriterien der Collage besonders deutlich ausgeprägt. Das ist zum einen der Charakter des Abrupten, des unvermittelten Übergangs also. Das plötzliche Überspringen, der schnittartige Wechsel von Materialzuständen assoziiert die Schere. Und tatsächlich gehörte die Schere zu Schwitters‘ Arbeitsgeräten. Er hat damit alte Eisenbahnfahrkarten oder norwegische Briefmarken zerschnitten, um sie dann anders zusammenzusetzen. Dabei stoßen wir sogleich auch auf das andere Kriterium. Nehmen wir etwa die Fahrkarte Hannover-Berlin, einfach (Schwitters hatte nie genug Geld, um eine Rückfahrkarte zu lösen): Sie funktioniert zwar im Zusammenhang als Fahrkarte, aber als etwas, das schon verbraucht, abgelaufen ist. Die Elemente der Collage stammen aus dem Mülleimer. 9 „Zur Collagetechnik bei Mahler und Ives“, in: Ligeti 2007, S. 285−290. 12
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Diese beiden Kriterien, das Verbrauchte, aus anderen historischen Schichten Stammende des Materials und seine Unvermitteltheit zum Kontext, lassen sich sehr oft bei Mahler und – von ihm sicher ganz unabhängig – auch bei Charles Ives nachweisen.“ (S. 285f.) Collage bei Mahler „Ich glaube kaum, dass Ives oder Mahler den Begriff Collage gekannt haben, war dieser Begriff doch ein Terminus technicus, der, wie schon gesagt, erst bei Braque und Picasso gebräuchlich wurde. Ich glaube auch nicht, dass Mahler daran dachte, Musikzitate mit der Schere zu zerschneiden und wieder falsch zusammenzusetzen. Eher handelt es sich um akustische Erlebnisse, die man auf einem Jahrmarkt oder auf dem Oktoberfest sammeln kann. Wenn man in Venedig auf dem Markusplatz steht, kann man ähnliche Erfahrungen machen. Um den Platz herum verteilt gibt es drei Kaffeehäuser, aus denen Salonmusik zu hören ist, die Kapellen spielen sogar draußen im Freien. So ertönen oft drei verschiedene Musikstücke gleichzeitig, drei verschiedene Tempi und Tonalitäten. Die Musiker hören sich gegenseitig nicht. Man muss, um alle gleichzeitig zu hören, in der Mitte des Platzes stehen.“ (S. 286) Ironie „Das Spielen mit Verbrauchtem hat selbstverständlich auch einen ironischen Aspekt, und ich glaube, dass selbst bei Mahler solche Ironie mit im Spiel ist.“ (S. 287) „Sukzessions-Collage“ „Mahler hat nie, um beim Sprachgebrauch der Malerei zu bleiben, seine Papiers collés übereinandergeklebt. Im 1. Satz der 3. Symphonie werden die Militärmärsche eher zu einer Sukzessions-Collage zusammengeschnitten. Die Märsche beginnen und enden abrupt, du wo sie sich einmal überlappen, geschieht dies nach den Regeln von Tonsatz und Harmonielehre.“ (S. 287) Schnitt statt kontinuierliche Entwicklung „Wesentlich bei Mahler war, dass er das der Sphäre der Unterhaltung zugehörige Potpourri in die Kunstmusik überführte. Dabei scheint ihn am Potpourri die Möglichkeit interessiert zu haben, unvermittelt von einem Thema zum anderen überzuspringen. Er setzte sich damit in Widerspruch zur Tradition der Wiener Klassik, deren Idee der Durchführung auf die Beibehaltung eines oder zweier Themen für einen Satz beruhte. Gleichwohl blieb das Potpourri immer noch durch eine übergeordnete ‚Werkidee’ zusammengehalten […].“ (S. 288) 13
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Informationsblatt 3: Zwei Quellen zur Wiener Erstaufführung der 1. Symphonie am 18.11.1900 14
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil 3. Arbeitsblätter Arbeitsblatt 1 Der 3. Satz der 1. Symphonie gehört sicherlich zu den außergewöhnlichsten symphonischen Sätzen, die Mahler komponiert hat. Den beiden Rahmenteilen liegt die Melodie des bekannten Studentenkanons „Bruder Jakob“ zugrunde. Von ganz besonderer Wirkung ist dabei die Instrumentation der Kanon-Melodie. Hierüber berichtet die Mahler-Vertraute Natalie Bauer Lechner: „Ich sagte Mahler, welche unglaubliche Klangwirkung jedes Mal der erste und besonders der ‚Bruder Martin’-Satz auf mich übe. Das muß er auch, entgegnete Mahler, es liegt in der Art, wie ich die Instrumente verwende, die im ersten Satz ganz hinter einem Strahlenmeer von Tönen verschwinden […] Im dritten Satz sind die Instrumente wieder auf andere Weise verkappt und gehen wie in fremder Erscheinung um: alles soll dumpf und stumpf klingen, wie Schatten an uns vorüberziehen. Daß in dem Kanon der neue Einsatz immer deutlich, in der Klangfarbe überraschend – gewissermaßen auf sich aufmerksam machend – eintrete, hat mir bei der Instrumentation viel Kopfzerbrechen gemacht, bis ich es so zum Ausdruck brachte, wie es auf dich jene seltsame, befremdend-unheimliche Wirkung ausübt. Und es ist, glaube ich, in der Tat noch niemandem eingefallen, wie ich das erreiche. Wenn ich einen leisen, verhaltenen Ton hervorbringen will, lasse ich ihn nicht ein Instrument spielen, das ihn leicht hergibt, sondern lege ihn in jenes, welches ihn nur mit Anstrengung und gezwungen, ja oft mit Überanstrengung und Überschreitung seiner natürlichen Grenzen zu geben vermag. So müssen die Bässe und Fagott oft in den höchsten Tönen quieken, die Flöte tief unten pusten.“10 Aufgaben 1. Höranalyse a) Hören Sie den Beginn des 3. Satzes (T. 1−10) ohne Partitur und notieren Sie die Kanon- Melodie in der Mahlerschen Fassung. b) Hören Sie die Anfangspassage des 3. Satzes (T. 1−23) ohne Partitur und versuchen Sie herauszufinden, an welchen Stellen eine neue Kanon-Stimme einsetzt und von welchem Instrument bzw. welchen Instrumenten sie gespielt wird. 10 Bauer-Lechner/Killian 1984, S. 175f. 15
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil 2. Analyse anhand der Partitur a) Vertiefen Sie anhand der Partitur die Ergebnisse Ihrer Höranalyse und untersuchen Sie die Anfangspassage (T. 1−38) sowie den Beginn der Wiederkehr des Kanons (T. 113ff.). Berücksichtigen Sie dabei insbesondere die Instrumentation und Phrasierung sowie den Entwicklungsverlauf des Kanons. (Machen Sie sich ggf. zunächst mit den transponierenden Instrumenten vertraut.) b) Vergleichen Sie beide Abschnitte miteinander. 3. Interpretation Gegenüber Nathalie Bauer-Lechner hat Mahler einmal geäußert, dass ihm der „Bruder Martin“ schon als Kind „nicht heiter, wie er immer gesungen wurde, sondern tief tragisch erschienen“ sei. 11 Als Reaktion auf eine Kritik der 1. Symphonie schreibt Mahler an den Verleger Bernhard Schuster „[…] der Satz, den er [gemeint ist der Kritiker Schiedermair] so übermütig lustig findet, ist herzzereißende, tragische Ironie.“12 Diskutieren Sie Mahlers Bemerkungen vor dem Hintergrund Ihrer Analyse. Was meint Mahler mit „herzzereißende, tragische Ironie“? Beziehen Sie ggf. auch Mahlers programmatische Titel und Erläuterungen in Ihre Diskussion mit ein (vgl. Informationsblatt 1). 11 Ebd., S. 173. 12 Zit. nach Sponheuer 1992., S. 175. 16
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Arbeitsblatt 2 Im Anschluss an die kanonische Anfangspassage des 3. Satzes folgt ein Formabschnitt, in dem verschiedene ‚Musiken’ collage-artig aneinandergereiht sind (T. 39ff.). Aufgaben 1. Höranalyse Hören Sie die Takte 39ff. zunächst mehrmals ohne Partitur. Mögliche Leitfragen: • Wie viele unterschiedliche ‚Musiken’ hören Sie? • Wie lassen sie sich charakterisieren (Klang- und Ausdruckscharakter, Instrumentalfarben etc.)? • Auf welche Art und Weise folgen die verschiedenen ‚Musiken’ aufeinander (Überleitungen, unvermittelte Brüche etc.)? 2. Analyse anhand der Partitur a) Vertiefen Sie die Ergebnisse Ihrer Höranalyse und untersuchen Sie die Takte 39ff. anhand der Partitur. Beziehen Sie auch die Länge der verschiedenen Unterabschnitte und die metrischen Verhältnisse in Ihre Untersuchung mit ein. (Liegen die Akzente jeweils auf der ersten Taktzählzeit oder kommt es zu Akzentverschiebungen?) 3. Interpretation a) Diskutieren Sie die Ergebnisse Ihrer Analyse vor dem Hintergrund von György Ligetis Überlegungen zu Mahlers Collagetechnik (vgl. Informationsblatt 2). Welche Wirkungen erzeugt diese Kompositionsweise und welche Motive stehen möglicherweise dahinter? 17
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil 4. Quellen- und Literaturverzeichnis Musikdrucke Gustav Mahler, Symphonie Nr. 1, Partitur, rev. Ausgabe, 1967 (= Gustav Mahler, Sämtliche Werke, Bd. 1). Literatur Adorno 1960 Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a. M. 1960. Bauer-Lechner/Killian 1984 Herbert Kilian (Hrsg.), Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984. Bekker 1921 Paul Bekker, Gustav Mahlers Symphonien, Berlin 1921, Nachdruck Tutzing 1969. Danuser 2004 Hermann Danuser, Artikel Gustav Mahler, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearbeitete Auflage, Personenteil, Bd. 11, Kassel u. a. 2004, Sp. 813–845. Eggebrecht 1992 3 Hans Heinrich Eggebrecht, Die Musik Gustav Mahlers, München 1992. Gielen/Fiebig 2002 Michael Gielen und Paul Fiebig, Mahler im Gespräch. Die zehn Symphonien, Stuttgart und Weimar 2002. Ligeti 2007 György Ligeti, Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz u. a. 2007 (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10,1). Mahler 1981 Gustav Mahler, Briefe, hrsg. von Mathias Hansen, Leipzig 1981. Sponheuer 1992 Bernd Sponheuer, Dissonante Stimmigkeit. Eine rezeptionsgeschichtliche Studie zum dritten Satz der Mahlerschen Ersten, in: Hermann Danuser (Hrsg.), Gustav Mahler, Darmstadt 1992, S. 159−190. Ulm 2002 18
© Unterrichtsmaterial Gustav Mahler: 1. Symphonie Tobias Bleek für Zukunft@BPhil Renate Ulm (Hrsg.), Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung, Deutung, Wirkung, Kassel u. a. 2002. 19
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