Zukunft@BPhil Das Education-Programm der Berliner Philharmoniker - Gustav Mahler: 1. Symphonie

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Zukunft@BPhil
Das Education-Programm der Berliner Philharmoniker

               Gustav Mahler: 1. Symphonie

Unterrichtsmaterial zur Generalprobe der Berliner Philharmoniker
                        am 10. Mai 2007

                       von Tobias Bleek
© Unterrichtsmaterial                                            Gustav Mahler: 1. Symphonie
Tobias Bleek für Zukunft@BPhil

Vorbemerkung

Im Mai 2007 spielten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Mariss Jansons
Gustav Mahlers 1. Symphonie in einer Konzertserie. Das vorliegende Unterrichtsmaterial,
das   in   diesem   Zusammenhang       im   Auftrag   der   Education-Abteilung   der   Berliner
Philharmoniker entstand, ist für LehrerInnen und SchülerInnen der gymnasialen Oberstufe
konzipiert worden. Es umfasst vier Teile:

1. Lehrerinformation: Zur Rezeption von Mahlers Symphonik und zur 1. Symphonie
2. Informationsblatt 1–3 für Schüler zur Verwendung im Unterricht
3. Arbeitsblatt 1 und 2
4. Quellen- und Literaturverzeichnis

Eine wichtige Grundlage für die Verwendung der vorliegenden Materialien ist die Partitur der
1. Symphonie (Taschenpartitur erhältlich bei Universal Edition). Da der Abdruck von
Notenbeispielen aus urheberrechtlichen Gründen nicht möglich ist, gibt es im Text Verweise
auf die diskutierten Partiturausschnitte.

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1. Lehrerinformation

A) Zwischen begeisterter Zustimmung und heftiger Ablehnung:
Zur kontroversen Rezeption von Gustav Mahlers Symphonik
Am 18. November 1900 dirigierte Gustav Mahler seine 1. Symphonie im Rahmen eines
philharmonischen Konzerts erstmals in Wien. Die Mahler-Vertraute Natalie Bauer-Lechner
berichtet in ihren Erinnerungen über dieses öffentlichkeitswirksame Ereignis:
„Vom ersten Augenblick an, da Mahlers schwirrendes Flageolett-A den Saal erfüllte, war das
Publikum unruhig, gelangweilt, erschreckt, hustete und räusperte sich, ja lachte vor
Befremden und Nichtverstehen […]. Schon nach dem ersten Satz mischte sich in den
Applaus Zischen. […] Da nach dem dritten Satz keine Pause ist, dies allein verhütete, glaube
ich, eine Massenflucht vor den ‚Schrecken’ des letzten Satzes, welcher gleichwohl nach dem
vorherigen Satz, der sie vor Verwunderung und Entsetzen ganz aus dem Häuschen gebracht
hatte, fast beruhigend auf die Gemüter wirkte. Dennoch brach nach dem Schluss der größte
Tumult los, in dem die Klatscher und Zischer sich gegenseitig ausdauern zu wollen
schienen.“1
Dass die 1. Symphonie des gefeierten Wiener Hofoperndirektors elf Jahre nach der
Budapester Uraufführung noch solch heftige Reaktionen beim Konzertpublikum auslöste,
bezeugt auf eindrückliche Weise den Modernitätsgehalt und die polarisierende Kraft der
Mahlerschen Musik. Seine Symphonien spalteten das zeitgenössische Publikum „mit einer
Heftigkeit, die das bei anderen Komponisten übliche Maß überstieg“.2 Obwohl bedeutende
Dirigenten wie Wilhelm Mengelberg oder Bruno Walther sich bereits in den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vehement für Mahlers Werke einsetzten, wurden die neun
vollendeten Symphonien erst mehr als 50 Jahre nach dem Tod des Komponisten, der 1911
in Wien verstarb, zu einem Kernstück des symphonischen Repertoires. Befördert durch das
wirkungsmächtige Mahler-Buch des Philosophen und Musikdenkers Theodor W. Adorno, das
1960 unter dem Titel Gustav Mahler. Eine musikalische Physiognomik erstmals erschien,
begannen sich seit den 1960er Jahren zugleich Vertreter der musikalischen Avantgarde wie
Luciano Berio oder György Ligeti für Mahlers vielschichtige Musik zu interessieren (vgl.
hierzu Informationsblatt 2).

Wie der bedeutende Mahler-Exeget Paul Bekker einmal treffend formuliert hat, ist die
1. Symphonie „ein Erstlings-, aber kein Anfangswerk“. 3 Der spezifische Mahlersche Ton und
die Eigenheiten seiner künstlerischen Physiognomie sind hier bereits in charakteristischer

1
  Vgl. Bauer-Lechner/Killian 1984, S. 177.
2
  Danuser 2004, Sp. 844.
3
  Bekker 1921, S. 37.
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Weise ausgeprägt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Annäherung
von Symphonie und Lied, die Arbeit mit ganz unterschiedlichen musikalischen Idiomen in ein
und demselben Werk, die extreme Intensität und ungeheure Vielfalt des Ausdrucks und die
diskontinuierliche Gestaltung der musikalischen Form. Das Zusammenspiel dieser Aspekte
begründet die Neuartigkeit der Mahlerschen Symphonik und erklärt zugleich die Irritationen,
die seine Musik nicht nur bei den Zeitgenossen auslöste.

B) Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte der 1. Symphonie
Die 1. Symphonie ist eine Schöpfung des 28-jährigen Komponisten. Das Werk, das in seiner
Erstfassung nicht nur vier, sondern fünf Sätze umfasste, entstand zu wesentlichen Teilen im
Zuge eines rauschhaften Arbeitsprozesses im Frühjahr 1888. Mahler, der seit 1880 eine
Doppelexistenz als Dirigent und Komponist führte und bis zur Jahrhundertwende in der
Öffentlichkeit eher als „komponierender Dirigent“ denn als „dirigierender Komponist“
wahrgenommen wurde, wirkte zu dieser Zeit als Kapellmeister am Stadttheater Leipzig.
Nach dem Bericht Nathalie-Bauer-Lechners komponierte Mahler das Werk „binnen sechs
Wochen neben fortwährendem Dirigieren und Einstudieren; er arbeitete vom Aufstehen bis
10 Uhr vormittags und die Abende, wenn er frei war“.4 Gelingen konnte diese schöpferische
„tour de force“ vermutlich nur deswegen, weil der Komponist an bereits vorhandenes
musikalisches Material anknüpfte. So basieren wesentliche Teile des ersten und dritten
Satzes auf den Liedern „Ging heut’ morgen über’s Feld“ und „Die zwei blauen Augen“ aus
den Liedern eines fahrenden Gesellen (1884/85), während das an zweiter Stelle stehende
Ländler-Scherzo thematisches Material aus dem frühen Lied „Hans und Grethe“ (1880)
aufgreift. Dem später gestrichene so genannte „Blumine-Satz“, der in der Erstfassung des
Werkes auf den Eröffnungssatz folgte, lag die 1884 komponierte Begleitmusik zum
Trompeter von Säkkingen zugrunde.
Dass sich Mahler der Neuartigkeit seiner ersten symphonischen Komposition durchaus
bewusst war und sich intensiv darum bemühte, sie für das Publikum zugänglich zu machen,
bezeugen die zahlreichen Änderungen und Umgestaltungen des Werkes nach der
Uraufführung. So entschied er sich im Laufe der 1890er Jahre zur Streichung des
ursprünglich         an     zweiter       Stelle   platzierten    Andante-Satzes,     nahm     zahlreiche
Instrumentationsretuschen             vor    und   griff   auch   in   die   musikalische   Struktur   des
ausdrucksgeladenen Final-Satzes ein. Zugleich versah er die Komposition bei den ersten
Aufführungen mit programmatischen Werk- und Satztiteln, die den Zuhörern als „Wegtafeln
und Meilenzeiger“ dienen sollten. Während das Werk 1889 in Budapest als Symphonische
Dichtung in zwei Abtheilungen uraufgeführt wurde, erschien es bei seiner zweiten Aufführung

4
    Bauer-Lechner/Killian 1984, S. 175.
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im Jahr 1893 in Hamburg unter dem möglicherweise auf Jean Paul Bezug nehmenden Titel
Titan, eine Tondichtung in Symphonieform. Bei der Berliner Erstaufführung, die am 16. März
1896 von den Berliner Philharmonikern unter Leitung des Komponisten erfolgte, verzichtete
Mahler dann allerdings auf alle programmatischen Erläuterungen. Von nun ab erklang das
Werk unter der Gattungsbezeichnung „Symphonie“ ohne programmatische Satztitel und
zusätzliche Erläuterungen des Komponisten (vgl. hierzu Informationsblatt 1).

Unterrichtsvorschlag
vgl. Informationsblatt 1

C) Sinfonia ironica? – Zum 3. Satz der 1. Symphonie
Der Satz, der von den Zeitgenossen „am meisten missverstanden und geschmäht wurde“
(Bauer-Lechner) ist der an dritter Stelle stehende „Todtenmarsch“. Hier zeigt sich die
irritierende Originalität des Mahlerschen Komponierens vielleicht am eindrücklichsten.
Gegenstand der beiden Rahmenteile des Satzes ist der Kanon „Bruder Jakob“, eine
populäre Melodie einfachster Bauart, die wohl kein zeitgenössischer Hörer aus eigenen
Stücken mit symphonischem Komponieren in Verbindung gebracht hätte. Mahler, der die
Kanonmelodie anscheinend schon im Kindesalter als „tief tragisch“ empfand, entwickelt den
Kanon in seiner Symphonie nicht als unbeschwertes Studentenlied in Dur, sondern als
bizarren Trauermarsch in Moll. Wesentliches Mittel der ironischen Brechung sind dabei
Instrumentation und Phrasierung. Über einem dumpfen Quartenpendel in der Pauke erklingt
die Kanon-Melodie zunächst im gedämpften Solo-Kontrabass in gequälter hoher Lage und
durch taktweise Zäsuren in seine melodischen Bestandteile aufgespalten. Es folgen Fagott,
Celli und die Basstuba, wobei der Tubist die Melodie gleichsam gegen die Natur des
Instrumentes im pianissimo intonieren muss.

Unterrichtsvorschläge
vgl. Arbeitsblatt 1

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2. Informationsblätter

Vorbemerkung
Zielgruppe
Die Arbeitsblätter richten sich in erster Linie an SchülerInnen der gymnasialen Oberstufe
(Leistungskurs       und   Grundkurs).       Durch     eine    Reformulierung       der     Fragen    und
Aufgabenstellungen lassen sie sich aber sicherlich auch für andere Zielgruppen adaptieren.

Zu Informationsblatt 1
Diskussion der Quellen auf Informationsblatt 1 (ev. erst nach der Auseinandersetzung mit
dem 3. Satz).
Mögliches Vorgehen:
1) Rekonstruktion der Argumentation (Mahler, Hanslick, Gielen)
2)   Diskussion      der   Funktion,   des    ästhetischen      Status    und     der   Bedeutung     von
programmatischen Titeln und Erläuterungen (im historischen Kontext und aus einer heutigen
Perspektive)
Es könnte sich auch anbieten, den Schülern in einem ersten Schritt den 3. Satz ohne Vorab-
Informationen vorzuspielen und sie nach ihren persönlichen Eindrücken hinsichtlich des
Charakters     und    Ausdrucksgehalts       der     Musik    sowie   nach      möglichen    ‚inhaltlichen’
Assoziationen zu befragen, bevor Informationsblatt 1 ausgegeben und behandelt wird.

Zu Arbeitsblatt 1
a) Notenbeispiele:
1) T. 1−38
2) T. 113−131

b) Mögliche praktische Ergänzungen: Der Kanon wird in seiner ‚ursprünglichen‘ Fassung
sowie in der Mahlerschen Version zunächst gesungen. In einem zweiten Schritt könnten die
Schüler zunächst eine eigene Instrumentation entwickeln und spielen, bevor sie sich mit
Mahlers Version auseinandersetzen.

Zu Arbeitsblatt 2
Notenbeispiele:
T. 39−82

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Informationsblatt 1:
Zur Genese und Programmatik der 1. Symphonie von Gustav Mahler
Gustav Mahler (1860−1911) gehört zu jenen Komponisten, die auch nach der Uraufführung
ihrer Werke noch an diesen weiterarbeiteten. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem
Zusammenhang die Tatsache, dass Mahler nicht nur ein bedeutender Komponist, sondern
auch ein ausgezeichneter Dirigent war. Im Zuge der Einstudierung und Aufführung seiner
Werke nahm er zahlreiche Änderungen im Bereich der Instrumentation, der Dynamik und der
Vortragsbezeichnung vor. Im Falle der 1. Symphonie beschränkte sich Mahler allerdings
nicht auf Instrumentationsretuschen und die Präzisierung der dynamischen Angaben. Zum
einen entschied er sich vor der Drucklegung, einen kompletten Satz zu streichen. Zum
anderen versah er die Komposition bei ihren ersten Aufführungen mit unterschiedlichen
programmatischen Titeln und Erläuterungen, die in der Druckfassung aus dem Jahr 1899
nicht mehr erscheinen (siehe unten).

Die verschiedenen Fassungen des Werktitels (Auswahl)

1889     UA Budapest                  Symphonische Dichtung in 2 Theilen
1893     Autographe Partitur          Symphonie („Titan“) in 5 Sätzen (2 Abtheilungen)
1893     EA Hamburg                   Titan, eine Tondichtung in Symphonieform
1896     EA Berlin                    Symphonie in D-Dur

Programmatische Titel des 3. Satzes (Auswahl)
Für    den   3.   Satz,   der   den   zeitgenössischen   Hörern   offensichtlich   die   größten
Verständnisschwierigkeiten bereitete, sind zahlreiche Formulierungen des Titels überliefert:

1889     UA Budapest                  A la pompe[s] funèbres
1893     Autographe Partitur          Todtenmarsch in „Callots Manier“ Ein Intermezzo à la
                                      Pompe[s] fun[è]bre[s]
1893     EA Hamburg                   Gestrandet! (ein Todtenmarsch in „Callot’s Manier“)
1894     EA Weimar                    Gestandet. Des Jägers Leichenbegräbnis
1896     EA Berlin                    Alla marcia funebre
1899     Druckfassung                 Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen

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Programmatische Erläuterungen zum 3. Satz (Auswahl)
In Mahlers programmatischen Erläuterungen zur Hamburger Aufführung, die am 27. Oktober
1893 stattfand, heißt es über den 3. Satz:
„Gestrandet!“ (ein Todtenmarsch in „Callot’s Manier“)
Zur Erklärung dieses Satzes diene Folgendes: Die äußere Anregung zu diesem Musikstück
erhielt der Autor durch das in Österreich allen Kindern wohlbekannte, parodistische Bild: Des
Jägers Leichenbegängniß, aus einem alten Kindermädchenbuch: Die Thiere des Waldes
geleiten den Sarg des gestorbenen Jägers zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine
Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musicirenden Katzen, Unken, Krähen
etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Thiere des Waldes
geleiten in possirlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als Ausdruck
einer bald ironisch lustigen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht […] 5

Anmerkungen:
1) Moritz von Schwinds Bild „Des Jägers Leichenbegängnis“, auf das Mahler vermutlich
anspielt, ist auf dem Beiblatt abgedruckt.
2) Mit der Formulierung in „Callot’s Manier“ bezieht sich Mahler auf den französischen
Zeichner Jacques Callot (1592−1635) und/oder auf E. T. A. Hoffmanns Fantasiestücke in
Callots Manier (1814/15).

Äußerungen Mahlers zum ästhetischen Stellenwert und
zur Funktion von programmatischen Erläuterungen
Bei der Berliner Erstaufführung, die am 16. März 1896 von den Berliner Philharmonikern
unter der Leitung des Komponisten bestritten wurde, erklang die 1. Symphonie erstmals
unter ihrem heutigen Titel ohne programmatische Satztitel und Erläuterungen. Im
Briefwechsel mit Max Marschalk erläutert Mahler seine Beweggründe für diese Entscheidung
und äußert sich zugleich in allgemeiner Weise über programmatische Erläuterungen:
„[…] Seinerzeit bewogen mich meine Freunde, um das Verständnis der D-dur zu erleichtern,
eine Art Programm hierzu zu liefern. Ich hatte also nachträglich mir diese Titel und
Erklärungen ausgesonnen. Dass ich sie diesmal wegließ, hat nicht nur darin seinen Grund,
dass ich sie dadurch für durchaus nicht erschöpfend – ja nicht einmal zutreffend
charakterisiert glaube, sondern, weil ich erlebt habe, auf welch falsche Wege hierdurch das
Publikum geriet. So ist es aber mit jedem Programm! […]
Beim 3. Satz (Marcia funèbre) verhält es sich allerdings so, dass ich die äußere Anregung
dazu durch das bekannte Kinderbild erhielt („des Jägers Leichenbegängnis“). −

5
    Zit. nach Ulm 2002, S. 69.
                                                                                           8
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An dieser Stelle ist es aber irrelevant, was dargestellt wird − es kommt nur auf die Stimmung
an, welche zum Ausdruck gebracht werden soll […].“
(Brief von GM an MM, Hamburg, 20.3.1896)6

„[…] Gut ist es deshalb immerhin, wenn für die erste Zeit, als meine Art noch befremdet, der
Zuhörer einige Wegtafeln und Meilenzeiger auf die Reise miterhält – oder sagen wir: eine
Sternkarte, um den Nachthimmel mit seinen leuchtenden Welten zu erfassen. – Aber mehr
kann so eine Darlegung nicht bieten.“ (Brief von GM an MM, Hamburg, 26.3.1896)7

Stellungnahmen zu Mahlers programmatischen Erläuterungen
Die Diskussion über die Funktion, die Bedeutung und den Status von Mahlers
programmatischen Werk- und Satztiteln sowie seinen programmatischen Erläuterungen hat
nicht nur die Zeitgenossen beschäftigt, sondern setzt sich bis heute fort. Im Hintergrund steht
dabei die ästhetische Debatte über „absolute Musik“ und „Programmmusik“.
Der berühmte Wiener Konzertkritiker Eduard Hanslick, der als einer der einflussreichsten
Befürworter der absoluten, d. h. nicht auf ein konkretes Programm bezogenen Musik galt,
bedauerte in seiner Besprechung der Wiener Erstaufführung von Mahlers 1. Symphonie
interessanterweise die fehlenden Hinweise auf das ursprüngliche Programm der Symphonie:
„Vielleicht hätte ich doch ein näheres Verhältnis (wenn auch kein Liebesverhältniß) zu ihr
gewonnen, wären uns ihre Herkunft und Bedeutung nicht verheimlicht worden. […] In
Weimar hieß die Symphonie ‚Titan’ und war von einem ausführlichen Programm begleitet.
Die Kritiker fanden es ‚abstrus’ und so tilgte der Componist sowohl die Titel als die
Erklärungen. Im Allgemeinen sind dergleichen poetische Gebrauchsanweisungen theils
lästig, theils verdächtig. […] Schwerlich hätte auch Mahler’s Symphonie uns mehr erfreut mit
einem Programm, als ohne solches. Aber gleichgiltig war es uns nicht, zu erfahren, was ein
geistreicher Mann wie Mahler sich bei jedem dieser Sätze vorgestellt und wie er ihren uns
rätselhaften Zusammenhang erklärt hätte. Und so fehlte uns doch ein Führer, der in diesem
Dunkel den rechten Weg weisen könnte. Was hat dieses plötzliche Weltungergangs-Finale
zu bedeuten, was der Trauermarsch mit dem alten Studentencanon ‚Bruder Martin’, was die
mit ‚Parodie’ bezeichnete Unterbrechung desselben? Die Musik selbst hätte mit einem
Programm an Reiz weder gewonnen noch verloren, gewiß, aber die Absichten des
Componisten wären uns deutlicher und damit das Werk verständlicher geworden.“
(Neue Freie Presse, 20.11.1900, S. 7f.)

6
    Mahler 1981, S. 149.
7
    Mahler 1981, S. 151f.
                                                                                             9
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Der Dirigent und Komponist Michael Gielen (geb. 1927) betont im Gespräch mit Paul Fiebig
eher den problematischen Charakter programmatischer Titel und Erläuterungen:
„Natürlich, wenn Sätze einer Symphonie Titel haben, ist das sicher als Hilfe für den Hörer
gedacht, lädt aber eben auch zu Missverständnissen ein. In der Regel lenken solche Titel die
Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung und verhindern Phantasie beim Zuhören. […]
Um ein Extrem zu nennen: ein Stück wie die ‚Sinfonia domestica’ von Richard Strauss kann
ich ganz gut hören, aber wenn ich an das Programm denke, muss ich abdrehen, das hält
man nicht aus.“8

8
    Gielen/Fiebig 2002, S. 30.
                                                                                         10
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Anlage zu Informationsblatt 1

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Informationsblatt 2: Zur Collagetechnik bei Mahler
Ab den 1960er Jahren begannen sich Komponisten aus dem Umfeld der musikalischen
Avantgarde für Gustav Mahler zu interessieren. Sie waren fasziniert von der stilistischen
Vielschichtigkeit und Heterogenität seiner Musik sowie von Mahlers Zitat-Technik. 1971 hat
der bedeutende Komponist György Ligeti (1923–2006) im Gespräch mit Clytus Gottwald
Überlegungen zu Mahlers Collage-Technik angestellt. Im Folgenden sind einige Auszüge
aus diesem Gespräch aufgeführt.9

Arbeit mit „Abfallmaterial des 19. Jahrhunderts“
„Mahler arbeitet oft mit Abfallmaterial des 19. Jahrhunderts, das er in seine Musik ganz im
Stil einer Collage hineinklebt. […] Schon beim frühen Mahler, im dritten Satz der Ersten
Symphonie, findet sich diese Collagetechnik voll ausgebildet. Wesentlich ist dabei, worauf
bereits Adorno in seinem Mahler-Buch hingewiesen hat, dass es sich bei dem collagierten
Material um sogenanntes abgesunkenes Kulturgut handelt, das wieder zurückgehoben und
ein bißchen gereinigt, in einen anderen Zusammenhang hineingesetzt wird.“ (S. 285)

Zum Collage-Begriff in der bildenden Kunst
„Wenn man von Collage spricht, muss man freilich etwas weiter ausholen. Der Terminus
wurde natürlich aus der bildenden Kunst, der Malerei übernommen, wobei ich zögere von
Malerei zu sprechen, hat doch die Klebetechnik mit der Technik der Malerei so gut wie nichts
mehr zu tun. Die Technik taucht um 1910 bei Braque auf. Er hat zum ersten Mal bestimmte
Papierarten, etwa Packpapier oder Schmirgelpapier, in Bilder hineingeklebt, und eines dieser
Werke trägt den Titel ‚Papiers collés’. Picasso, der damals mit Braque befreundet war, hat
ähnliches gemacht. Doch historisch ist der Begriff untrennbar mit dem Namen Kurt
Schwitters verbunden. Bei Schwitters finden sich die beiden Hauptkriterien der Collage
besonders deutlich ausgeprägt.
Das ist zum einen der Charakter des Abrupten, des unvermittelten Übergangs also. Das
plötzliche Überspringen, der schnittartige Wechsel von Materialzuständen assoziiert die
Schere. Und tatsächlich gehörte die Schere zu Schwitters‘ Arbeitsgeräten. Er hat damit alte
Eisenbahnfahrkarten oder norwegische Briefmarken zerschnitten, um sie dann anders
zusammenzusetzen. Dabei stoßen wir sogleich auch auf das andere Kriterium. Nehmen wir
etwa die Fahrkarte Hannover-Berlin, einfach (Schwitters hatte nie genug Geld, um eine
Rückfahrkarte zu lösen): Sie funktioniert zwar im Zusammenhang als Fahrkarte, aber als
etwas, das schon verbraucht, abgelaufen ist. Die Elemente der Collage stammen aus dem
Mülleimer.

9
    „Zur Collagetechnik bei Mahler und Ives“, in: Ligeti 2007, S. 285−290.
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Diese beiden Kriterien, das Verbrauchte, aus anderen historischen Schichten Stammende
des Materials und seine Unvermitteltheit zum Kontext, lassen sich sehr oft bei Mahler und –
von ihm sicher ganz unabhängig – auch bei Charles Ives nachweisen.“ (S. 285f.)

Collage bei Mahler
„Ich glaube kaum, dass Ives oder Mahler den Begriff Collage gekannt haben, war dieser
Begriff doch ein Terminus technicus, der, wie schon gesagt, erst bei Braque und Picasso
gebräuchlich wurde. Ich glaube auch nicht, dass Mahler daran dachte, Musikzitate mit der
Schere zu zerschneiden und wieder falsch zusammenzusetzen. Eher handelt es sich um
akustische Erlebnisse, die man auf einem Jahrmarkt oder auf dem Oktoberfest sammeln
kann. Wenn man in Venedig auf dem Markusplatz steht, kann man ähnliche Erfahrungen
machen. Um den Platz herum verteilt gibt es drei Kaffeehäuser, aus denen Salonmusik zu
hören ist, die Kapellen spielen sogar draußen im Freien. So ertönen oft drei verschiedene
Musikstücke gleichzeitig, drei verschiedene Tempi und Tonalitäten. Die Musiker hören sich
gegenseitig nicht. Man muss, um alle gleichzeitig zu hören, in der Mitte des Platzes stehen.“
(S. 286)

Ironie
„Das Spielen mit Verbrauchtem hat selbstverständlich auch einen ironischen Aspekt, und ich
glaube, dass selbst bei Mahler solche Ironie mit im Spiel ist.“ (S. 287)

„Sukzessions-Collage“
„Mahler hat nie, um beim Sprachgebrauch der Malerei zu bleiben, seine Papiers collés
übereinandergeklebt. Im 1. Satz der 3. Symphonie werden die Militärmärsche eher zu einer
Sukzessions-Collage zusammengeschnitten. Die Märsche beginnen und enden abrupt, du
wo sie sich einmal überlappen, geschieht dies nach den Regeln von Tonsatz und
Harmonielehre.“ (S. 287)

Schnitt statt kontinuierliche Entwicklung
„Wesentlich bei Mahler war, dass er das der Sphäre der Unterhaltung zugehörige Potpourri
in die Kunstmusik überführte. Dabei scheint ihn am Potpourri die Möglichkeit interessiert zu
haben, unvermittelt von einem Thema zum anderen überzuspringen. Er setzte sich damit in
Widerspruch zur Tradition der Wiener Klassik, deren Idee der Durchführung auf die
Beibehaltung eines oder zweier Themen für einen Satz beruhte. Gleichwohl blieb das
Potpourri immer noch durch eine übergeordnete ‚Werkidee’ zusammengehalten […].“
(S. 288)

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Informationsblatt 3:
Zwei Quellen zur Wiener Erstaufführung der 1. Symphonie am 18.11.1900

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3. Arbeitsblätter

Arbeitsblatt 1
Der 3. Satz der 1. Symphonie gehört sicherlich zu den außergewöhnlichsten symphonischen
Sätzen, die Mahler komponiert hat. Den beiden Rahmenteilen liegt die Melodie des
bekannten Studentenkanons „Bruder Jakob“ zugrunde. Von ganz besonderer Wirkung ist
dabei die Instrumentation der Kanon-Melodie. Hierüber berichtet die Mahler-Vertraute
Natalie Bauer Lechner:
„Ich sagte Mahler, welche unglaubliche Klangwirkung jedes Mal der erste und besonders der
‚Bruder Martin’-Satz auf mich übe. Das muß er auch, entgegnete Mahler, es liegt in der Art,
wie ich die Instrumente verwende, die im ersten Satz ganz hinter einem Strahlenmeer von
Tönen verschwinden […] Im dritten Satz sind die Instrumente wieder auf andere Weise
verkappt und gehen wie in fremder Erscheinung um: alles soll dumpf und stumpf klingen, wie
Schatten an uns vorüberziehen. Daß in dem Kanon der neue Einsatz immer deutlich, in der
Klangfarbe überraschend – gewissermaßen auf sich aufmerksam machend – eintrete, hat
mir bei der Instrumentation viel Kopfzerbrechen gemacht, bis ich es so zum Ausdruck
brachte, wie es auf dich jene seltsame, befremdend-unheimliche Wirkung ausübt. Und es ist,
glaube ich, in der Tat noch niemandem eingefallen, wie ich das erreiche. Wenn ich einen
leisen, verhaltenen Ton hervorbringen will, lasse ich ihn nicht ein Instrument spielen, das ihn
leicht hergibt, sondern lege ihn in jenes, welches ihn nur mit Anstrengung und gezwungen, ja
oft mit Überanstrengung und Überschreitung seiner natürlichen Grenzen zu geben vermag.
So müssen die Bässe und Fagott oft in den höchsten Tönen quieken, die Flöte tief unten
pusten.“10

Aufgaben
1. Höranalyse
a) Hören Sie den Beginn des 3. Satzes (T. 1−10) ohne Partitur und notieren Sie die Kanon-
Melodie in der Mahlerschen Fassung.
b) Hören Sie die Anfangspassage des 3. Satzes (T. 1−23) ohne Partitur und versuchen Sie
herauszufinden, an welchen Stellen eine neue Kanon-Stimme einsetzt und von welchem
Instrument bzw. welchen Instrumenten sie gespielt wird.

10
     Bauer-Lechner/Killian 1984, S. 175f.
                                                                                            15
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2. Analyse anhand der Partitur
a) Vertiefen Sie anhand der Partitur die Ergebnisse Ihrer Höranalyse und untersuchen Sie
die Anfangspassage (T. 1−38) sowie den Beginn der Wiederkehr des Kanons (T. 113ff.).
Berücksichtigen Sie dabei insbesondere die Instrumentation und Phrasierung sowie den
Entwicklungsverlauf des Kanons. (Machen Sie sich ggf. zunächst mit den transponierenden
Instrumenten vertraut.)
b) Vergleichen Sie beide Abschnitte miteinander.

3. Interpretation
Gegenüber Nathalie Bauer-Lechner hat Mahler einmal geäußert, dass ihm der „Bruder
Martin“ schon als Kind „nicht heiter, wie er immer gesungen wurde, sondern tief tragisch
erschienen“ sei. 11 Als Reaktion auf eine Kritik der 1. Symphonie schreibt Mahler an den
Verleger Bernhard Schuster „[…] der Satz, den er [gemeint ist der Kritiker Schiedermair] so
übermütig lustig findet, ist herzzereißende, tragische Ironie.“12
Diskutieren Sie Mahlers Bemerkungen vor dem Hintergrund Ihrer Analyse. Was meint
Mahler       mit   „herzzereißende,       tragische   Ironie“?   Beziehen   Sie   ggf.   auch   Mahlers
programmatische Titel und Erläuterungen in Ihre Diskussion mit ein (vgl. Informationsblatt 1).

11
     Ebd., S. 173.
12
     Zit. nach Sponheuer 1992., S. 175.
                                                                                                    16
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Arbeitsblatt 2
Im Anschluss an die kanonische Anfangspassage des 3. Satzes folgt ein Formabschnitt, in
dem verschiedene ‚Musiken’ collage-artig aneinandergereiht sind (T. 39ff.).

Aufgaben
1. Höranalyse
Hören Sie die Takte 39ff. zunächst mehrmals ohne Partitur.
Mögliche Leitfragen:
   •   Wie viele unterschiedliche ‚Musiken’ hören Sie?
   •   Wie      lassen   sie   sich   charakterisieren   (Klang-     und   Ausdruckscharakter,
       Instrumentalfarben etc.)?
   •   Auf welche Art und Weise folgen die verschiedenen ‚Musiken’ aufeinander
       (Überleitungen, unvermittelte Brüche etc.)?

2. Analyse anhand der Partitur
a) Vertiefen Sie die Ergebnisse Ihrer Höranalyse und untersuchen Sie die Takte 39ff. anhand
der Partitur. Beziehen Sie auch die Länge der verschiedenen Unterabschnitte und die
metrischen Verhältnisse in Ihre Untersuchung mit ein. (Liegen die Akzente jeweils auf der
ersten Taktzählzeit oder kommt es zu Akzentverschiebungen?)

3. Interpretation
a) Diskutieren Sie die Ergebnisse Ihrer Analyse vor dem Hintergrund von György Ligetis
Überlegungen zu Mahlers Collagetechnik (vgl. Informationsblatt 2). Welche Wirkungen
erzeugt diese Kompositionsweise und welche Motive stehen möglicherweise dahinter?

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4. Quellen- und Literaturverzeichnis

Musikdrucke
Gustav Mahler, Symphonie Nr. 1, Partitur, rev. Ausgabe, 1967
(= Gustav Mahler, Sämtliche Werke, Bd. 1).

Literatur
Adorno 1960
Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a. M. 1960.

Bauer-Lechner/Killian 1984
Herbert Kilian (Hrsg.), Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg
1984.

Bekker 1921
Paul Bekker, Gustav Mahlers Symphonien, Berlin 1921, Nachdruck Tutzing 1969.

Danuser 2004
Hermann Danuser, Artikel Gustav Mahler, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2.
neubearbeitete Auflage, Personenteil, Bd. 11, Kassel u. a. 2004, Sp. 813–845.

Eggebrecht 1992
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Hans Heinrich Eggebrecht, Die Musik Gustav Mahlers, München 1992.

Gielen/Fiebig 2002
Michael Gielen und Paul Fiebig, Mahler im Gespräch. Die zehn Symphonien,
Stuttgart und Weimar 2002.

Ligeti 2007
György Ligeti, Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz u. a. 2007 (=
Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10,1).

Mahler 1981
Gustav Mahler, Briefe, hrsg. von Mathias Hansen, Leipzig 1981.

Sponheuer 1992
Bernd Sponheuer, Dissonante Stimmigkeit. Eine rezeptionsgeschichtliche Studie zum dritten Satz der
Mahlerschen Ersten, in: Hermann Danuser (Hrsg.), Gustav Mahler, Darmstadt 1992, S. 159−190.

Ulm 2002

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Renate Ulm (Hrsg.), Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung, Deutung, Wirkung, Kassel u. a. 2002.

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