Gustav Mahler Sinfonie Nr.6 a-Moll (Tragische) - Handreichung zu
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Handreichung zu Gustav Mahler Sinfonie Nr.6 a-Moll (Tragische) von Christoph Wagner Konzerte am Do 24./Fr 25. Oktober 2013 Liederhalle Stuttgart, Beethovensaal 20 Uhr Beginn 19 Uhr Einführung (Björn Gottstein) Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Dirigent: Stéphane Denève Empfohlen ab Klasse 8
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 a-Moll Hinweise zu den Materialien: Die Materialien bieten in Bild, Text und Notenbeispielen einen Eindruck über die 6. Sinfonie von Gustav Mahler ohne einem konkreten Unterrichtsgang zu folgen. Sie sind von daher flexibel einsetzbar, um - vor allem im Oberstufenunterricht - den Schülerinnen und Schülern eine Einführung in dieses Werk zu vermitteln. Ein erster Kontakt mit Mahler und der „Tragischen Symponie“ kann mittels der Karikatur erfolgen, die Mutmaßungen evoziert, wie der Zeichner zu dieser Darstellung kommt. Die Überschrift „Tragische Sinfonie“ lässt die SuS außerdem Vermutungen anstellen, wie es zu diesem Titel kommt und welche Elemente die Musik haben muss, um dem Titel gerecht zu werden. Ein erster Höreindruck könnte die Frage aufwerfen worin die Tragik besteht. Nachfolgend sollten die Texte erarbeitet werden, die sowohl durch das Werk führen als auch den biografischen Hintergrund liefern, der die Frage der Tragik nochmals thematisiert. Die Notenbeispiele sollen helfen die wichtigsten Themen und Motive kennenzulernen. Dies kann entweder lesend erfolgen oder noch besser: indem sie von den SuS selbst gespielt bzw. vom Lehrer bzw. der Leherin vorgespielt und auf ihre Wirkung hin untersucht werden. Bei so einem komplexen Werk, wie dem vorliegenden, versteht es sich natürlich von selbst, dass die Fülle des motivisch-thematischen Materials nur in äußerst bescheidenem Umfang im Unterricht vorgestellt werden kann. Die Komplexität des Werkes könnte auch durch einen Einblick in die umfangreiche Partitur1 deutlich werden. Auf eine im Internet leicht abrufbare Überblicksbeschreibung des Werkes wurde in dieser Handreichung bewusst verzichtet. Hier sei neben dem entsprechenden Wikipedia-Artikel zur Biografie (http://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Mahler) und Werk (http://de.wikipedia.org/wiki/6._Sinfonie_(Mahler)) auch auf folgende Ausführung hingewiesen: http://www.la-belle-epoque.de/mahler/sinf06_d.htm Christoph Wagner 1 Die vollständige Partitur kann man als pdf-Datei bei der Petrucci-Musikbibliothek herunterladen. Folgender Link führt direkt zur 6. Sinfonie von Mahler: http://imslp.org/wiki/Symphony_No.6_(Mahler,_Gustav)
M 1: Mahler-Karikatur zur Wiener Aufführung der sechsten Symphonie „Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe! Jetzt kann ich n o c h eine Sinfonie schreiben.“
M 2: Entstehung und Besetzung Entstehungszeit: 1903-1904 Uraufführung: 27. Mai 1906 zum 42. Tonkünstlerfest in Essen unter der Leitung des Komponisten Besetzung: Piccoloflöte, vier Flöten (3. und 4. auch Piccoloflöte), vier Oboen (3. und 4. auch Englischhorn), Englischhorn, Klarinette in D und Es, drei Klarinetten in A und B, Bassklarinette, vier Fagotte, Kontrafagott, acht Hörner, sechs Trompeten, drei Posaunen, Bassposaune, Basstuba, Schlagzeug (Pauken, Glockenspiel, Herdenglocken, tiefen Glocken, Rute und Hammer), Xylophon, zwei Harfen, Celesta und Streicher Satzbezeichnungen: 1. Allegro energico, ma non troppo - Heftig, aber markig; 2. Scherzo. Wuchtig-Trio. Altvaterisch, grazioso; 3. Andante moderato; 4. Finale. Allegro moderato M 3: Aus einem CD-Booklet zur 6. Sinfonie2 Prinzipielle Relevanz sowohl für die Konstruktion der Sechsten als auch für die Erkenntnis der programmatischen Intentionen Mahlers besitzt das sogenannte Motto: eine ungemein einprägsame Gestalt, die aus einem Leitklang (der Akkordfolge Dur - Moll) und einem charakteristischen Leitrhythmus besteht und mit der Funktion eines »Leitmotivs« häufig wiederkehrt, den Kopfsatz, das Scherzo und das Finale wie eine eiserne Klammer haltend. (Die beiden Elemente des Mottos kommen auch isoliert vor.) Kein Zweifel, dass das Motto die Semantik eines Schicksalsspruches hat, und gleichfalls kein Zweifel, dass die Sechste Mahlers - wie die Fünfte Beethovens und wie die Vierte und die Fünfte Tschaikowskys - eine Schicksalssymphonie ist. Zum ersten Mal intoniert wird das Motto von Trompeten und Pauken im Anschluss an das ungemein energische marschartige Hauptthema des Kopfsatzes Es folgen ein choralartiges Thema, das die Überleitungspartie vertritt, und ein »schwungvolles« Seitenthema, das als Porträt Almas gedacht war. Die Dynamik des konzisen3 Satzes (er ist regelmäßig nach dem Schema der Sonatenform gebaut) resultiert aus der Gegenüberstellung und Verarbeitung dieser drei kontrastierenden Themen. Zu den originellsten Partien des Satzes gehören drei Stellen in der Durchführung (Z. 21 -25), in der Reprise (Z. 33-35) und unmittelbar vor der Coda (Z. 41), in denen die Musik so klingt, als käme sie aus weitester Ferne Die an der ersten Stelle erklingenden Herdenglocken interpretierte Mahler als Symbol »weltfremder Einsamkeit«. Mahlers Äußerungen über das musikalische Porträt seiner Frau im Seitensatz werden verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass in Richard Strauss' 1898 vollendeter Tondichtung Ein Heldenleben ein Abschnitt ursprünglich mit dem Titel Des Helden Gefährtin überschrieben war. Mahler verfolgte das symphonische Schaffen seines Freundes und 2 Constantin Floros: Mahler: Sechste Symphonie. In: 3 kurz, gedrängt
Rivalen Strauss mit größter Aufmerksamkeit, und vieles spricht dafür, dass er bei der Konzeption seiner Sechsten von Strauss' autobiographischen Tondichtungen manche Anregung empfing. Mahler war sich lange Zeit über die Platzierung des Scherzos und des Andantes unschlüssig. Nach der ursprünglichen Konzeption folgte das Scherzo auf den Kopfsatz und das Andante stand vor dem Finale. In dieser Reihenfolge wurden die Sätze in Essen uraufgeführt. Nach einem Bericht Klaus Pringsheims war sich Mahler jedoch noch nach der Generalprobe nicht im klaren darüber, ob er die mittleren Sätze nicht lieber vertauschen sollte. Der zweite Satz ist zweifelsohne eines der dämonischsten Scherzi, die Mahler geschrieben hat. In fünf Teilen (nach dem Muster Hauptsatz - Trio - Hauptsatz - Trio - Hauptsatz) angelegt, ist der Satz aus wenigen Motiven ökonomisch entwickelt Die Vortragsbezeichnung »wuchtig« und die Spielanweisung »wie gepeitscht« geben eine Vorstellung von dem Charakter der Hauptteile, die im Schauerlichen beheimatet sind. Die Thematik der Trioteile (Mahler überschreibt sie mit »altväterisch«) mutet dagegen stellenweise kinderliedartig an. Übrigens ist der so hervorstechende Takt- und Tempowechsel in den Trioteilen programmatisch bedingt - Mahler sprach von dem »arhythmischen Spielen« der beiden kleinen Kinder. Dem Andante moderato liegen zwei kontrastierende Themenkomplexe zugrunde, die rondohaft nach dem Schema ABABA alternieren und wiederkehrend durchgeführt werden. Das erste Thema, zwischen Dur und Moll changierend, ist im Ton dem vierten der Kindertotenlieder (Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen) ähnlich. Der zweite Themenkomplex, aus einer »traurigen« Weise entwickelt, erfährt großartige Steigerungen. Die glanzvoll instrumentierte E-Dur-Stelle (Z. 53), an der wieder die Herdenglocken erklingen, weist typische Züge des Pastorale auf. Das Finale (das längste Mahlers) ist nach dem Muster der Sonatenform gebaut. Die Besonderheit der Anlage macht es aus, dass Exposition, Durchführung, Reprise und Coda mit einer Introduktion eröffnet werden. Überwältigend ist in diesem Satz der Reichtum an Ausdruckscharakteren. Visionäres, Choralartiges, Marschähnliches, Überschwängliches, dramatisch Bewegtes, Musik aus weiter Ferne, Hymnisches - die verschiedensten Charaktere folgen in raschem Wechsel aufeinander. Besondere Bedeutung besitzen die Hammerschläge, die (in der ersten Fassung) an drei Stellen fallen: zu Beginn des zweiten und des vierten Durchführungsteiles (Z. 129 und Z. 1 40) und in der Coda (Takt 783). Mahler hat bei einer späteren weitgehenden Veränderung der Instrumentation den dritten Hammerschlag gestrichen, denn er hätte wie Erwin Ratz mutmaßt - »das Gefühl des absoluten Endes zu sehr verstärkt, das in Wahrheit kein Ende ist«. Wie kam aber Mahler auf den Einfall, in der Sechsten den Hammer zu verwenden? Mehreres spricht dafür, dass er die Anregung hierzu von dem Gedicht Alexander Ritters zu Strauss' Tod und Verklärung erhielt. Dort stehen nämlich die Verse Da erdröhnt der letzte Schlag Von des Todes Eisenhammer, Bricht den Erdenleib entzwei, Deckt mit Todesnacht das Auge. Mahlers Sechste gibt sich - so können wir zusammenfassend sagen - als Gegenstück und zugleich als Gegenpol zu Strauss' Ein Heldenleben zu erkennen. Richard Strauss, dem Jünger Friedrich Nietzsches, dem Gegner des Christentums, wäre es sicherlich nie in den Sinn
gekommen, in einem symphonischen Werk seinen eigenen Untergang zu schildern Bezeichnenderweise äußerte er nach der Uraufführung der Sechsten zu Alma: »Warum sich der Mahler im letzten Satz die größte Wirkung wegnimmt, indem er gleich zu Anfang die stärkste Stärke gibt und dann immer schwächer wird, das versteh' ich nicht« Alma aber, die viele Ressentiments gegen Strauss hatte, kommentierte diese Äußerung zu Recht so »Er [Strauss] hat ihn [Mahler] nie verstanden. Hier und immer sprach der Theatermensch. Dass Mahler den ersten Schlag am stärksten, den zweiten schwächer und den dritten, den Todesschlag des verendenden Helden, am schwächsten machen musste, ist jedem klar, der die Symphonie nur einigermaßen begriffen hat. Vielleicht wäre die Augenblickswirkung in umgekehrter Dynamik stärker gewesen. Aber um die ging’s ihm nicht. M 4: Hans Heinrich Eggebrecht4 In der sechsten Symphonie (1903/04) ist die Vergeblichkeit zur alles beherrschenden Aussage erhoben - bis hin zum Schluss. Wieder im ersten Satz marschiert die Musik, und alsbald ertönt erstmals jenes aus vier Takten bestehende prägnante Ereignis, das als Motto dieser Symphonie bezeichnet werden kann. Es besteht aus drei Substanzen: einem zu knallender Härte verdichteten Marschrhythmus in den Pauken; einem in diese Schläge von den Trompeten fortissimo hinein geschmetterten Durdreiklang, piano gefärbt von den Oboen; und dem Wechsel dieses Dur- zum Molldreiklang, wobei im Augenblick des Wechsels der Trompetenklang ins Pianissimo zurückgetreten und der traurig-elegische Oboenton zum Fortissimo angewachsen ist. Die Bezeichnung dieses Mottos als »Schicksalspruch« verdeckt und ebnet ins Bekannte ein, was hier gemeint ist: Gegen die Unerbittlichkeit der Paukenschläge, die als äußere Setzung das Schreiten diktieren, rebelliert das Subjekt im Ausbruch des Dur, das - Zeichen des Unterliegens - ins Moll umkippt. In seiner Aussage und Wiederkehr an den formal exponierten Stellen des ersten und letzten Satzes ist dieses Motto der unverrückbare Bezugspunkt der Symphonie. Alles, was - zunächst im ersten Satz - sonst noch vorkommt, bleibt dagegen machtlos, auch das Choralidiom, auch das emphatisch »schwungvolle« zweite Thema und in der Durchführung dann die Episode mit dem Getön der Herdenglocken, dem in die Symphonie verpflanzten realen Naturlaut, der als Inbegriff der Erdenferne den Durdreiklang des Mottos, das Opponieren, am extremsten motiviert. Die beiden Mittelsätze sind Einschübe: Sie kommentieren die um das Motto kreisende Aussage der Ecksätze. Der zweite Satz, das quasi Scherzo, ist nach außen gerichtet. In seinem Wechsel zwischen verzerrter Musik und - im Trioteil - einem hämischen Hinzeigen aufs »altväterliche« Gehabe ist er ein Abbild der Außenwelt in ihrer Negativität: Er weist auf die destruktiven Kräfte, die im Motto die Vergeblichkeit des Opponierens, das Umkippen von Dur nach Moll, verursachen, und er schließt selbst mit einem siebenmaligen Dur-Moll- Wechsel in den gedämpften Bläsern, der in einen angehaltenen Molldreiklang der Posaunen einmündet. - Das Andante moderato dagegen ist nach innen gerichtet, Abkapselung von der Außenwelt, Bild der Seele, Versunkenheit ins Schöne und Traurige in eins; zart und ausdrucksvoll - Misterioso - mit bewegter Empfindung - morendo heißt es in der Partitur. Musik jenseits des Mottos und doch ebenfalls von ihm verursacht. 4 aus: Musik im Abendland. München 1991. S. 616f.
Zur Wiederkehr des Mottos und zur Welt, in der es als Kurzformel fungiert, treten im Finale (am Ende jeweils des ersten und dritten Durchführungsteils, Ziffer 129 und 140, sowie ursprünglich auch zu Beginn der Coda, elf Takte nach Ziffer 164) als auffälligstes Ereignis die Schläge des Hammers hinzu. Sie konzentrieren den Paukenrhythmus je auf einen einzigen Schlag, der - nach Mahlers Anweisung in der Partitur - kurz, mächtig, aber dumpf hallen soll, »wie ein Axthieb«. Sie sind in ihrem Krach die in die Musik hineingenommene Antimusik. das Zerschlagen des Subjekts - woher auch immer die Schläge kommen mögen. Später hat Mahler den letzten Hammerschlag gestrichen und damit - als dürfte es nicht sein - der Symphonie die Endgültigkeit der Niederwerfung nehmen wollen - aber nicht mehr nehmen können: An ihrem Ende, in den letzten drei Takten, hat das Motto das letzte Wort, und zwar derart, dass über dem Marschrhythmus der Pauken statt des Dur-Moll-Wechsels nur noch der aus dem Fortissimo heraus ersterbende Molldreiklang ertönt. Was mit der sechsten Symphonie und ihrem Motto konkret gemeint ist, lässt die Musik offen, und jede Zeit, jeder Hörer wird es zu sich hin verstehen. Ich glaube aber fest, dass es nicht bestimmte Ereignisse und persönliche Erlebnisse waren, die diese Musik veranlasst haben. Sondern für Mahler war die Welt schon im Entwurf ihrer Schöpfung grausam und vollends in der geschichtlichen und gegenwärtigen Entfaltung dieses Entwurfs eine Negativität schlechthin, unheilbar verdorben, kaputt. Und gereift war in ihm die Einsicht, dass der Widerstreit zwischen dieser Welt und einer anderen weder durchs Anzünden apotheotischer Lichter noch durch »Humor« zu lösen ist und dass gegenüber den negativen Kräften dieser Welt das Prinzip Opposition unterliegt. M 5: Gustav Mahler an seinen Biografen Richard Specht (1904) Meine 6. [Sinfonie] wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat. M 6: Alma Mahler über den Eindruck, den sie hatte, als ihr Mann ihr die vollendete Skizze des ganzen Werkes erstmals vorspielte „Nachdem er den ersten Satz entworfen hatte, war Mahler aus dem Walde herunter gekommen und hatte gesagt »Ich habe versucht, dich in einem Thema fest zuhalten - ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht. Du musst dirs schon gefallen lassen « Es ist das große, schwungvolle Thema des 1. Satzes der VI. Symphonie. Im dritten Satz [gemeint ist das Scherzo] schildert er das arhythmische Spielen der beiden kleinen Kinder, die torkelnd durch den Sand laufen. Schauerlich - diese Kinderstimmen werden immer tragischer, und zum Schluss wimmert ein verlöschendes Stimmchen. Im letzten Satz beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden »Der Held, der drei Schicksalsschläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie einen Baum.« Dies Mahlers Worte. Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorahnend verriet. Die Sechste ist sein allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein. Er hat sowohl mit den Kindertotenliedern wie auch mit der Sechsten sein Leben »anticipando musiziert«. Auch er
bekam drei Schicksalsschläge, und der dritte fällte ihn. Damals aber war er heiter, seines großen Werkes bewusst und seine Zweige grünten und blühten5 M 7: Max Hehemann in: Neue Zeitschrift für Musik vom 6. Juni 1906 Wie Mahler diatonisch-klare, plastische Themen liebt, die in jeglicher polyphoner Verflechtung deutlich erkennbar bleiben, so ist auch seine ganze Orchesterbehandlung auf Klarheit und Übersichtlichkeit angelegt. Ich möchte seine Instrumentation mit einem vielleicht etwas zu kühnen Wort als eine diatonische im Gegensatz zu der chromatischen Mischfarbenweise von Richard Strauss bezeichnen. Es ist zweifellos, dass die letztere Art mehr Nuancierungsmöglichkeiten bietet, als die andere; ebenso zweifellos, dass ein Gustav Mahler dazu gehört, innerhalb der wenigen von ihm benutzten Grundfarben stets wieder Neues zu erfinden. Vielleicht hat seine Art schon etwas Artistisches, dem Strauss, da er sein Orchester den feinsten psychologischen Regungen dienstbar zu machen sucht, mit mehr Glück und Sicherheit aus dem Weg zu gehen vermag. Es scheint manchmal die Freude am Klang als solchem Mahlers Notenfeder geführt zu haben. Was er darin ersonnen, ist allerdings der Mühe wert. Tausend Sprühteufelchen blitzen auf in dieser Partitur, das Schlagzeug spielt eine im Symphonie-Orchester nie geahnte Rolle, wenn sie auch bis zur Aufführung in mancher Hinsicht reduziert wurde und die Hammerschläge auf die viereckige Riesentrommel ganz weggefallen sind. Entzückende, ganz neue Klangwirkungen hat Mahler der Einführung der Celesta abgewonnen, und die Glockentöne hinter der Szene gehören zu den feinsten Reizen, die wir dem modernen Orchester verdanken. In die Mittelsätze namentlich hat Mahler eine Fülle zartester Klangschönheiten gebannt, während er in den Ecksätzen seiner Freude an der gelben Orchesterfarbe, die er mit einem Massenkontingent von Blechbläsern auftrug, keinen Zwang antat. M 8: Signale für die musikalische Welt6 (1907) Kuhglocken und Celesta! Paradies auf Erden und elysäische Gefilde dort oben! Es wäre recht einfach, wenn sich Mahlers Sinfonie nur zwischen diesen beiden schönen Dingen abspielte. Aber dazwischen gähnt ein tiefer Riss, ein unbefriedigtes sich Sehnen, ein Verzweifeln, ein sich Abmühen des vollen Orchesters namentlich im letzten Satz, wo das starkbesetzte Blechkorps fast keinen Augenblick zur Ruhe gelangt, ein Stöhnen und Ächzen und ein Schreien und Brüllen, und das ist es, was der Sinfonie die Tragik verleiht, die ihr der obenhin Urteilende wohl abstreitet, die sie bei näherem Aufhorchen dennoch besitzt und mehr besitzt als die frühern Schöpfungen Mahlers. 5 Almas Andeutung ist klar. Die tragische Botschaft der Symphonie, wie die Totenklage der Rückertlieder antizipieren beide den Katastrophensommer 1907, als Mahlers älteres Töchterchen starb, als seine schwere Herzkrankheit erstmals ärztlich erkannt wurde, und als er schließlich - unter dem Druck lokaler Intrigen - von seiner machtvollen Stellung an der Wiener Oper zurücktreten musste. Alma bezieht sich ausdrücklich auf die drei Hammerschläge des Finale, die sie als drei Schicksalsschläge bezeichnet, von denen der dritte tödlich sein sollte. In diesem Sinne ist die VI. Symphonie zweifellos ein autobiographisch konzipiertes Werk, dessen Held (ein Ausdruck, den Alma stets gebraucht, wenn sie der VI. gedenkt) als „ideales" Selbstbildnis des Komponisten gelten kann. In: Hans F. Redlich (Hg.) Vorwort zu Eulenburg Taschenpartitur der Sinf. Nr. 6 von G. Mahler. Mainz 1968. S. IV. 6 5 Aus: Renate Ulm, Gustav Mahlers Symphonien. München 2010. S. 184f.
M 9: Alma Mahler, in: Erinnerungen (1949)7 „Ein Tempo ist richtig, wenn alles noch klingen kann. Wenn eine Figur nicht mehr erfasst werden kann, weil die Töne ineinander gleiten, dann ist das Tempo zu schnell. Bei einem Presto ist die äußerste Distinctgrenze das richtige Tempo, darüber hinaus verliert es die Wirkung.“ Mahler sagte, wenn ihm ein Adagio wirkungslos auf das Publikum erscheine, so verlangsame er das Tempo und beschleunige es nicht, wie es gemeiniglich gemacht wird.« M 10: Klaus Pringsheim, Erinnerungen an Gustav Mahler 8 (1960) Dem Dirigenten Mahler, und hier also dem Dirigenten seines eigenen Werks, war es vor allem immer um die Erzielung maximaler Deutlichkeit zu tun; sie war ihm wichtiger als Kolorit und Klangreiz. Während einer Probe zur Sechsten Symphonie, an einer Stelle im Finale, klopfte er ab und rief den Trompeten zu: >Können Sie das nicht noch stärker blasen?< Im leeren Saal hörte sich's schon an wie unbeherrschter Lärm, aber: die Trompeten noch stärker? Er unterbrach ein zweites Mal, und wieder zu den Trompeten gewandt, jetzt mit einer Geste der linken Hand, deren Befehlsgewalt unwiderstehlich war: >Können Sie das nicht noch stärker blasen?!< Sie bliesen noch stärker, alles andere übertönend, und was eben noch bloßer Lärm schien, gewann jetzt - jetzt erst den musikalischen Sinn, den er verhüllte. Nach der Generalprobe bemerkte Strauss, wie obenhin, er finde die Symphonie teilweise >überinstrumentiertklingt es
Wichtige Themen und Motive: Notenbeispiel 1: 1. Satz - Haupthema (Z. 1) Notenbeispiel 2: Hauptthema (Z. 2) Notenbeispiel 3: Das „Motto“ Notenbeispiel 4: Der „Choral“
Der Choral als Klaviersatz: Notenbeispiel 5: 2. Thema Notenbeispiel 6: 2. Satz - Hauptthema
Notenbeispiel 7: 2. Satz - Trio (Z. 56) Notenbeispiel 8: 3. Satz - Hauptthema Notenbeispiel 9: 3. Satz - Seitenthema
Notenbeispiel 10: 4. Satz - 1. Themengruppe Notenbeispiel 11: 4. Satz - 1. Themengruppe (Klaviersatz)
Literaturverzeichnis: Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland. München 1991. Vor allem sei hier auf den Artikel „Wo die schönen Trompeten blasen - Über die Musik Gustav Mahlers“ verwiesen (s. 724-740) Renate Ulm (Hg.), Gustav Mahlers Symphonien (Reihe: Bärenreiter Werkeinführungen). München 52010. Insbesondere: Werkbetrachtung und Essay zur 6. Symphonie von Peter Gülke (S. 174-200) Hans Redlich in: Vorwort zur Taschenpartitur (Eulenburg). Mainz 1968. Entstehung und sehr ausführliche Analyse mit Notenbeispielen. Constantin Floros: Mahler: Sechste Symphonie. Booklet zur CD Gustav Mahler Symphonie Nr. 6 - Kindertotenlieder. Wiener Philharmoniker, Ltg.: Leonard Bernstein. Deutsche Grammophon 1989. Karl-Josef Müller: Mahler. Leben, Werke, Dokumente. Mainz 1988. Vor allem: „Vollendung der Sechsten“ (S. 275f) und „Uraufführung der Sechsten“ (S. 324) Wolfgang Schreiber: Mahler. Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo-Reihe).
Sie können auch lesen