126 Musiktheater - Hellerau

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126 Musiktheater - Hellerau
er Eingang der Objekte« SPECIAL Octavian Nemescu CROMOS oder »[Der Eingang der Objekte« SPECIAL Octavian Nemescu CROMOS o
                                                                                                                  P-01/2021 10,50 €

                   Musiktheater
                                                                                           126
126 Musiktheater - Hellerau
01/2021 Musiktheater
                                                                     126
        6       Impressum
        7       Editorial
        8       Checking the boxes with GRiNM

        12	Vom totalen Soundscape zur Hubba-Bubba-Oper – Gespräch mit
            Óscar Escudero, Sara Glojnarić, Marie-Anne Kohl und Richard Janssen
            von Dorte Lena Eilers und Bastian Zimmermann
        23  Theatermusik zwischen Verweisnetz und Sounddesign,
            Subtext und Gegenklang
            von Otto Paul Burkhardt
        33  Die Probenarbeit ist der Kompositionsprozess –
            Gespräch mit Tobias Schwencke
            von Robert Sollich
        40  Arbeiten in Wechselwirkung – Die kollaborative Entstehung
            eines Musiktheaterprojekts
            von Christina Lessiak
        46  Castingshows als Musiktheater
            von Marie-Anne Kohl
        52  Interkulturalität hören – die »TRX Studies« und Elnaz Seyedi
            von Insa Murawski
        61  Octavian Nemescus »Muzică Imaginară«
            von Andra Amber Nikolayi

        70      SPECIAL
                 Octavian Nemescu: CROMOS oder »[Der Eingang der Objekte«
                 Imaginäre Musik 1974–75

        114     POSITIONEN
                 Simultan, Timișoara; John Cage; Zeitschrift: Zeiltanz; Klanginstallation
                 tamtam, Berghain; Aggregate/gamut inc.; Rebecca Saunders/Musikfest
                 Berlin; Riot Ensemble; Liza Lim; Steirischer Herbst, Graz; Naomi Pinnock;
                 Dystopie Sound Art Festival Berlin – Brasilien; Brandon Farnsworth:
                 Curating Contemporary Music Festivals; Heart of Noise, Innsbruck;
                 Huddersfield Contemporary Music Festival
126 Musiktheater - Hellerau
POSITIONEN 126
                                                             6                                                IMPRESSUM

 Positionen. Texte zur aktuellen Musik                           Redaktionsadresse
 Gegründet 1988 von Gisela Nauck und Armin Köhler                Positionen GbR, Dunckerstraße 48, 10439 Berlin
 Erscheinungsweise vierteljährlich – Februar, Mai, August,       Email redaktion@positionen.berlin
 November | 34. Jahrgang                                         www.positionen.berlin
 Herausgeber + Redaktion                                         Positionen print kosten als Einzelheft 10,50 € (+ 2,00 €
 Andreas Engström & Bastian Zimmermann                           Versand), im Jahresabonnement 46 € (inkl. 8 € Versand),
 Gestaltung Studio Pandan (Ann Richter, Pia Christmann,          Studierende 38 € (inkl. 8 € Versand), Institutionen 56 €
 Vreni Knödler)                                                  (inkl. 8 € Versand), Auslandabonnement Normal 58 € &
 Anzeigen marketing@positionen.berlin                            Institution 68 € (beide inkl. 20 € Versand), Förder-
 Creative Crowd Patrick Becker-Naydenov, Lisa Benjes,            abonnement 100 €
 Fabian Czolbe, Sebastian Hanusa, Katja Heldt, Tobias Herold,    E-Abonnement Einzelheft 6 €, Jahresabonnement 22 €
 Patricia Hofmann, Christian Kesten, Irene Kletschke, Gisela
 Nauck, Michael Rosen, Antje Vowinckel.                          ISSN 0941-4711
 Korrespondent*innen Nina Noeske (Hamburg), Nina
 Polaschegg (Wien), Monika Voithofer (Graz), Christoph Haffter   Mit freundlicher Unterstützung der
 (Lausanne/Genf), Monika Pasiecznik (Warschau), Heloísa
 Amaral (Brüssel), Sven Schlijper-Karssenberg (Amsterdam),
 Tim Rutherford-Johnson (London), Anette Vandsø (Århus),
 Peter Söderberg (Stockholm), Esaias Järnegard (Göteborg),       Positionen ist Mitglied im Netzwerk
 Rūta Stanevičiūtė (Vilnius), YAN Jun (Peking), Giuliano Obici
 (Rio de Janeiro)
 Druck Zakład Poligraficzny Moś i Łuczak sp.j., Poznan

Pa
                                            11.04.– 02.05.2021
               TONLAGEN

  use
              30.Dresdner
Tage der zeitgenössi-
schen
  Musik
hellerau.org/tonlagen
126 Musiktheater - Hellerau
POSITIONEN 126
                                            7                                      EDITORIAL

                 V
                       or zwei Jahren stand einmal in Frage, ob es mit den Positionen weiter-
                       gehen wird. Ziemlich ungeachtet dessen, haben wir das Heft mit der
                       einfachen Überzeugung übernommen, dass wenn man eine Zeitschrift
                       kreiert, die wirklich im Hier und Jetzt tätig ist, die eigene, besondere
                       Interessen verfolgt und die zudem den Diskurs und Meinungsaustausch
                 nicht scheut, sie auch gelesen wird. So ist es auch geschehen, und nach zwei
                 Jahren freuen wir uns in diesem Februarheft 2021 gleich zwei tolle Dinge
                 ankündigen zu können.
                       Mit diesem Heft übernimmt das Grafikstudio Pandan, namentlich Pia
                 Christmann und Ann Richter, das Layout des Hefts. Wir freuen uns riesig
                 über die Zusammenarbeit und auf die vielen kleinen und großen Ideen, wie
                 man ein textfokussiertes Musikmagazin wie dieses weiterentwickeln und
                 auf die Höhe zeitgenössischer Kulturmagazine bringen kann. Tausendmal
                 danken möchten wir an dieser Stelle Swami Silva für das Design der zwei
                 vergangenen, sehr schönen Neustartjahrgänge!
                      Weiter freuen wir uns in diesem Heft eine Kooperation mit dem Theater-
                 magazin Theater der Zeit präsentieren zu können. Zusammen mit der TdZ-
                 Chefredakteurin Dorte Lena Eilers haben wir erdacht: Jeweils eine Autor*in
                 des Hefts schreibt für das andere Heft. Für uns ist es Otto Paul Burkhardt
                 zur Theatermusik, und für die TdZ schreibt die Positionen-Autorin Irene
                 Lehmann über die performativen Arbeiten Berliner Musikensembles. Das
                 dem Heft voranstehende Gespräch mit vier Musik- und Theaterschaffenden
                 wurde von beiden Redaktionen geführt und findet sich in beiden Heften pub-
                 liziert. Also schaut auch in TdZ-Märzausgabe rein, da gibt es noch mehr…
                 und wenn alles gut gehen sollte, dann soll es in diesem sich doch hoffentlich
                 bald zum Guten und Gesunden wandelnden Jahr 2021 ein gemeinsames
                 Podium zu den neuesten Entwicklungen im Bereich hybrider Musiktheater-
                 formen während des Tonlagen-Festivals im April geben!
                      Was gibt es noch? Robert Sollich führte ein Interview mit dem Komponis-
                 ten Tobias Schwencke zur Politik und Arbeitsweisen der Theatermusik. Einen
                 Einblick in kollaboratives Arbeiten gewährt uns Christina Lessiak anhand
                 ihrer eigenen Erfahrung in einem musiktheatralen Forschungsprojekt. Einer
                 medial vermittelten und zugleich bombastischen Form von Musiktheater
                 geht Marie-Anne Kohl nach: den internationalen Musikcastingshowformaten
                 wie The Voice und Idol, was sich auch im Cover mit Mohammed Assaf, dem
                 Gewinner von Arab Idol im Jahr 2013 niedergeschlagen hat. Was hier auf der
                 Bühne verhandelt wird, davon träumt nur jede freie Musiktheatergruppe…
                       Mit Insa Murawskis Analyse von Elnaz Seyedis Stück Fragments inside
                 startet in den Positionen eine Serie, die spannende analytische Perspekti-
                 ven aufgreift, diesmal der Inklusion subjektiver Höreindrücke. Und zu guter
                 Letzt und damit aber mächtig im Zentrum dieser Ausgabe steht das von
                 Andra Amber Nikolayi aufgearbeitete Schaffen und Wirken des rumänischen
                 und im November 2020 leider frisch verstorbenen Komponisten Octavian
                 Nemescu. Wir freuen uns sehr, dass wir im Special einen Ausschnitt seines
                 Originalmanuskripts der Muzică Imaginară abdrucken zu dürfen. Die Über-
                 setzung stammt von Eva Ruth Wemme.
                                                  Andreas Engström & Bastian Zimmermann
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      Vom totalen Soundscape zur
         Hubba-Bubba-Oper ...
       Der Komponist Óscar Escudero, die Komponistin
  Sara Glojnarić, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl
    sowie der Sounddesigner Richard Janssen im Gespräch
  über Talentshows, Opern und den Wettstreit gegen Big Data

                      DORTE LENA EILERS UND BASTIAN ZIMMERMANN

 Was heißt es, dem Menschen eine Stimme zu geben? Wie verändert sich der
       Alltagssound in Zeiten einer Pandemie? Wie klingt die Welt in der
virtuellen Realität? Und wie demokratisch sind unsere Bühnen des Gesangs?
    Komponist*innen haben sich seit jeher mit der Übertragung von Welt in
 Klang beschäftigt. Das einsame Künstler*innengenie jedoch hat dabei längst
   ausgedient. Kollaboration ist das Stichwort der Stunde. Wir haben Prota-
 gonist*innen aus den verschiedensten Bereichen der Musikproduktion an
     einen Tisch gebracht: Die Komponist*innen Sara Glojnarić und Óscar
Escudero berichten über ihre Ausbrüche aus dem Kanon der zeitgenössischen
   Musik, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl analysiert die ambi-
valente Demokratisierungsidee von Talentshows im Fernsehen und Sound-
     designer Richard Janssen erzählt von Kollaborationen aus dem Geiste
  der Popmusik und seiner Arbeit mit der Regisseurin Susanne Kennedy. Ein
   Gespräch über die Missachtung des Sounds im Stadttheater, Opern, die
 allein aus Düften bestehen, Gesang auf der virtuellen TikTok-Bühne und den
               Kampf der menschlichen Stimme gegen Big Data.

Redaktion Wir blicken auf ein Jahr extremer     Es wurde ruhiger in den Straßen. Stille trat
Lautstärkeschwankungen zurück. Mehrmals         ein. Sie alle haben beruflich mit Musik und
wurde das öffentliche Leben durch die pande-    Sound zu tun. Welchem Sound, auch im erwei-
miebedingten Lockdowns heruntergefahren.        terten Sinne, hören Sie derzeit am liebsten zu?
126 Musiktheater - Hellerau
EILERS, ZIMMERMANN
                                                  13                      VON SOUNDSCAPE ZUR OPER

Richard Janssen Mich interessiert die                   Kontakt mit den Menschen fehle, die Erotik
Räumlichkeit von Sound. Auch im Theater                 der Präsenz, das Fühlen, Riechen, Zufalls-
verwende ich eine Vielzahl an Lautsprechern,            hören, ebenso wie die Tiefe des Raumes …
um einen 3D-Sound zu generieren. Gerade                 Haben Sie nicht das Gefühl, wenn wir hier
arbeite ich mit der Regisseurin Susanne                 über den Sound der Welt, auch den Zufalls-
Kennedy und ihrem Team an einem Virtual-                sound im Alltag sprechen, in der VR in Ihrer
Reality-Projekt. Unter meinem VR-Headset                Wahrnehmung, Ihrem Sensorium, Ihren Sin-
verschließe ich mich also momentan eher                 nen reduziert zu werden?
vor der Welt. Ich entferne mich von der Reali-
tät draußen und erschaffe eine neue, die eben           RJ Natürlich. Ich verbringe ja auch nicht
auch eine neue Sound-Realität beinhaltet.               24 Stunden am Tag in der VR. Solange man
Derartige VR-Realitäten, an denen ja schon              die Wahl hat, die VR auch wieder zu verlassen,
seit Anfang der neunziger Jahre gearbeitet              ist alles gut. Es schreckt mich nicht. Auch im
wird und die als Format auch interessant                Theater gibt es viele Leute, denen die Digi-
für das Theater sind, haben sich in den ver-            talisierung Angst macht. Sie fürchten, dass
gangenen Jahren sehr stark entwickelt.                  der menschliche Faktor verloren geht. Ich
Die Corona-Krise hat einen weiteren Inno-               denke, das ist Unsinn. Die digitalen Welten
vationsschub bewirkt, auch die Leute inter-             sind Teil der realen Welt, und das schon seit
essieren sich jetzt mehr für VR.                        langem. Deshalb müssen sie auch unbedingt
                                                        im Theater stattfinden. Wenn es nichts mit
RED Wobei im Lockdown, als Theater nur                  der realen Welt zu tun haben will, was ist es
im Internet stattfand, Theatergänger*innen              dann? Das Theater muss endlich das 21. Jahr-
auch geklagt haben, dass ihnen der direkte              hundert betreten.

  Susanne Kennedys Drei Schwestern an den Münchner Kammerspielen © Judith Buss
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                                                     14                                             GESPRÄCH

   Óscar Escudero & Belenish Moreno-Gils Subnormal Europe auf der Münchner Biennale © Noa Frenkel/Armin Smailovic

Sara Glojnarić Da geht es mir in Bezug auf                 hat die Musikproduktion nach wie vor einen
die Musik ähnlich! Ich habe das Gefühl, Musik,             schweren Stand. Wenn man am Stadttheater
also die akademische, an Konservatorien                    über das Budget für Musik beziehungsweise
gelehrte, liegt in ihrer Entwicklung vierzig               Sound spricht, heißt es häufig: Wieso, das
Jahre hinter dem Theater zurück. Von der Per-              ist doch Teil des Bühnenbilds. Aber was hat
formancekunst und der bildenden Kunst ganz                 das Bühnenbild damit zu tun, etwas Audio-
zu schweigen, die seit jeher innovativer sind.             Equipment oder Instrumente zu kaufen?
Das Theater zum Beispiel beschäftigt sich                  Dieses noch sehr in der Tradition verhaftete
mit ähnlichen institutionellen Fragen wie die              Denken muss verändert werden. Wobei es sich
Musik, jedoch auch mit Themen, die meiner                  in den letzten zehn Jahren durchaus weiter-
Meinung nach oft gesellschaftspolitisch rele-              entwickelt hat, seitdem Video und Sound
vanter sind. 2016 gab es in Stuttgart den                  wirklich Teil der Inszenierungen sind. Aber
Wirklichkeiten-Kongress, wo Peter Osborne,                 auch die Fachpresse ist ein Problem: Da wird
ein führender Kunstphilosoph, beschämt                     ein Theaterstück besprochen, das neunzig
feststellte, wie ›alt‹ die zeitgenössische Musik           Minuten lang aus Video und Sound besteht,
im Vergleich zu anderen Künsten ist, und zwar              doch in der Rezension werden Video und
in fast allen Bereichen – von der Thematik                 Sound noch nicht einmal genannt. Und damit
über die Institutionen bis hin zu der Art und              meine ich nicht etwa die Namen der Verant-
Weise, wie sie produziert und kritisch disku-              wortlichen, sondern schlicht das, was zu sehen
tiert wird.                                                und zu hören war.

RJ Naja, als ich 2004 das erste Mal an einem               Óscar Escudero Ja, das Problem ist im
Stadttheater tätig war, waren zwei CD-Player               Grunde eine sehr veraltete Hierarchie, welche
das einzige, was ich dort fand. Auch wenn die              sich wiederum auf die Kunst auswirkt, die
technische Ausstattung besser geworden ist,                dadurch ermöglicht – oder eben verhindert
Susanne Kennedys Ultraworld an der Volksbühne Berlin © Julian Röder
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                                             16                                      GESPRÄCH

wird. Die Idee der Interdisziplinarität ist      abläuft. Komposition bedeutet zunehmend,
extrem wichtig! Auch für die zeitgenössische     in Dramaturgien zu denken, die sowohl die
Musikwelt. Denn erst so lassen sich ambitio-     Aufführung als auch Faktoren wie Raum und
nierte Musikprojekte entwickeln. Derzeit ist     Zeit berücksichtigen, so wie im Theater. Das
es allerdings so, dass dir, wenn du als Kom-     bedeutet aber auch, dass eine Person allein
ponist einen Auftrag für eine bestimmte          das nicht schaffen kann.
Anzahl an Performer*innen oder Musiker*in-
nen bekommst, die Kurator*innen sagen, sie       SG In diesem Sinne findet derzeit tatsäch-
hätten nur Geld für dich als Komponisten.        lich ein Paradigmenwechsel statt. Man trennt
Da ist der Handlungsspielraum natürlich          sich von der romantischen Idee des einsamen
super klein.                                     Künstler*innengenies. Im Gegensatz zu The-
   Anders war es bei unserem Auftrag für         ater und bildender Kunst fand die klassische
die Münchner Biennale 2020. Subnormal            institutionalisierte Musik bislang in einem
Europe, das ich gemeinsam mit meiner Part-       sehr fixen Set von Parametern statt: Dazu
nerin Belenish Moreno-Gil konzipiert habe,       gehört an vorderster Stelle auch die Partitur!
ist ein Stück, das nur für eine Sängerin und     Sobald du einen Auftrag für ein Ensemble
einen Tontechniker geschrieben wurde, die        erhältst, musst du deine Ideen in eine Parti-
beide durch ihre Performance die Definitio-      tur gießen. Die Notation allerdings fasst in
nen dieser Begriffe aber überschreiten. Sie      der Regel nur siebzig bis achtzig Prozent des-
agierten in einer riesigen Installation aus      sen, was man wirklich im Kopf hatte. Sie ist
mehreren Leinwänden, Lichtern und Laut-          nie eine akkurate Übersetzung. Zudem gibt
sprechern, in der live- und vorproduzierte       es Vorgaben, was den Zeitumfang betrifft.
Elemente kombiniert wurden. Von der ersten       Auch hat jedes Ensemble spezifische Voraus-
Minute an war klar, dass wir mit dem ZKM |       setzungen, ebenso wie man als Komponist*in
Zentrum für Kunst und Medientechnologie in       die technische Ausstattung bedenken muss,
Karlsruhe zusammenarbeiten würden. Eine          die das beauftragende Festival hat oder nicht
wunderbare Erfahrung, ein tolles Labor! Wir      hat. Schlussendlich müssen die Ideen, die

            »Komposition bedeutet zunehmend, in Dramaturgien
                    zu denken, die sowohl die Aufführung
            als auch Faktoren wie Raum und Zeit berücksichtigen,
                             so wie im Theater.«

waren umgeben von einem Team aus Ton-,            die Partitur ja nur unzureichend transpor-
Video- und Lichttechniker*innen, Software-        tiert, rückübersetzt werden für die Musiker*-
entwickler*innen, Schreiner*innen und sogar       innen. Es gibt so viele Reibungsverluste. Aus
Choreograph*innen, die unserer Sängerin           diesem Grund entstehen mehr und mehr Kol-
bei den Tanzeinlagen halfen. Sie waren mehr       laborationen zwischen Komponist*innen und
als nur Assistent*innen. Wir wollten, dass sie    Performer*innen. Oder die Komponist*innen
an wichtigen künstlerischen Entscheidungen        werden selbst zu Performer*innen, um die
teilhaben, die den unterschiedlichsten Wis-       eigenen Ideen konkreter umsetzen zu können.
sensgebieten untergeordnet waren. Ein wich-       Es verändert sich also etwas, und es wird inte-
tiges Thema ist, wie wir das Phänomen des         ressant sein zu sehen, wo wir in der Kompo-
Musikschaffens verstehen. In unserem Fall         nierszene in 15 bis 20 Jahren stehen.
ist es ein Prozess, der in mehreren Schritten
EILERS, ZIMMERMANN
                                             17                   VON SOUNDSCAPE ZUR OPER

Marie-Anne Kohl Das ist wirklich schön zu         Aber im Rahmen von Theaterproben klappt
hören! Ich würde mir wünschen, dass ein           das eben nur, wenn jeder gleichberechtigt
ähnlicher Paradigmenwechsel auch in der           am Probenprozess beteiligt ist. Und das von
Wissenschaft stattfindet. Denn leider ist die     Anfang an. Ich höre im Theater mitunter
Musikwissenschaft in diesem Punkt ähnlich         wirklich beeindruckende Musik, aber ich höre
weit hinter die Theaterwissenschaft zurück-       auch, dass sie an irgendeinem Punkt, meis-
gefallen wie die institutionalisierte Musik       tens in der Endprobe, einfach hineingeworfen
im Vergleich zum Theater. Seit über vierzig       wurde.

             »Fragen nach race und gender, nach Privilegien,
        Nationalität, Autorität und Hierarchien gehören zu unserer
                          künstlerischen Praxis.«

Jahren sprechen wir über den ›Tod des Autors‹,     AK Ich stimme dem zu. Natürlich funktio-
aber in der Musik spielt für viele Musik-         niert Kollaboration am besten, wenn jede*r
wissenschaftler*innen nach wie vor der*die        gleichberechtigt ist. Aber da kommt mein
Komponist*in eine zentrale Rolle, Aspekte         feministisch-postkolonialer Background ins
der Aufführung, des Prozesshaften, des Per-       Spiel und ich muss fragen: Wie erreichen wir
formativen fallen da häufig gar nicht ins         das denn? Das klingt wie eine Utopie: Jede*r
Gewicht beziehungsweise gar nicht auf,            sitzt dort mit den gleichen Rechten, bringt
wenn ganz natürlich die Partitur im Fokus         die gleichen Energien ein. Aber das ist meist
bleibt – damit man sie analysieren kann.          nicht der Fall. Oftmals findet eine Dynamik
Wenn ein*e Komponist*in sagt, er oder sie         statt, die auch etwas mit dem gesellschaft-
arbeite eher aus einer performativen Pers-        lichen und persönlichen Hintergrund zusam-
pektive, wird man schon schief angeschaut.        menhängt, den jede*r mitbringt.
Aber wie sieht denn unsere Musikpraxis
heutzutage aus? Da bedarf es mitunter gar         RJ Es fängt mit dem Regisseur an und der
keiner Partitur. Ich würde mir wünschen, dass     Frage: Arbeitest du mit Leuten, die etwas für
Wissenschaftler*innen viel mehr in den Pro-       dich produzieren oder mit dir? Ich komme
ben sitzen, um zu verstehen, was da wirklich      ja aus der Popmusik. David Bowie beispiels-
passiert.                                         weise hat immer mit Leuten gearbeitet, die
                                                  auch allein ein Album hätten rausbringen
RJ Du bist herzlich eingeladen! Ich habe          können, die also selbst Künstler*innen sind.
für mich und meine Arbeit sechs Fragen for-       Er hätte alle Studiomusiker*innen dieser
muliert, ich nenne sie die sechs W’s: Warum       Welt bekommen können, aber er hat sich
brauche ich Sound? Das ist die wichtigste.        genau diese Leute ausgesucht und sie dann
Welchen Sound brauche ich? Wann setzt er          ihr Ding machen lassen.
ein? Wie lange dauert er? Wie laut ist er?
Und welche Lautsprecher benötige ich? Wenn        AK Ich plädiere nur für Transparenz. Eben
ich diese sechs Fragen beantworten kann, weiß     nicht vorzugeben, dass wir alle gleich sind,
ich, ich bin auf einem guten Weg. Die Frage,      sondern im Zweifelsfall ehrlich zu sagen:
wann der Sound einsetzt, ist für mich dabei       Okay, wir haben hier eine Regisseurin, die
gleichberechtigt mit der Überlegung, welchen      verantwortlich ist, sich aber bemüht, allen
Sound ich kreieren will. Das sind für Kom-        die größtmögliche Freiheit zu geben.
ponist*innen natürlich keine neuen Fragen.
POSITIONEN 126
                                               18                                     GESPRÄCH

SG Eine wirklich gleichberechtigte Situa-           Es gibt aber noch viele andere Faktoren, die
tion zu kreieren, ist in vielerlei Hinsicht uto-    sich auf die künstlerische Arbeit auswirken.
pisch. Wir alle haben unsere Vorurteile und         Belenish und ich sprechen beispielsweise
Privilegien, selbst in einer quasi gleichberech-    auch viel über Big Data. Es ist klar: Musik
tigten Situation gibt es Hierarchien. Um wirk-      braucht Zeit und Raum. Aber in der virtuel-
lich produktiv zu werden, ist Zeit ein entschei-    len Realität verändern sich die Parameter.
dender Faktor, das heißt, je länger ein Kollek-     Diesen Effekt haben wir in der Pandemie
tiv zusammenarbeitet, desto besser. Auch            beobachten können. Und er wird in der Post-
sollten die Privilegien offen diskutiert werden.    Covid-Welt vermutlich weiter bestehen blei-
Ich bin sehr glücklich, Mitglied eines Kollek-      ben. Kunst verändert sich, wenn sie auch
tivs zu sein, den Apokalyptischen Tänzer*in-        online rezipiert werden soll.
nen, wo diese Fragen Teil der Konversation
sind. Fragen nach race und gender, nach Pri-       RED Richard Janssen, Sie sprachen gerade
vilegien, Nationalität, Autorität und Hier-        von den sechs Fragen des Soundkünstlers.
archien gehören zu unserer künstlerischen          Fangen wir doch einmal bei der ersten an:
Praxis. Für mich als Komponistin, die aus          Warum brauchen wir Musik? Warum brau-
diesem superkonservativen Bereich der klas-        chen wir die singende Stimme? Sie haben in
sischen Musik kommt, war es eine Offen-            den Inszenierungen von Susanne Kennedy
barung, interdisziplinär, offen und ehrlich        den Schauspieler*innen auf sehr radikale
miteinander arbeiten zu können.                    Weise ihren unique selling point gestohlen:
                                                   Die live sprechende Stimme. Bei Ihnen kom-
RJ Es ist sehr wichtig, die Kunstformen nicht      men die Stimmen von Band – als Playback-
mit den Künstler*innen zu verwechseln. Es          theater.
ist nicht so sehr die Frage, ob jede Person im
Probeprozess gleichberechtigt ist (am Ende         RJ Die Kritik und das Publikum waren in
entscheidet natürlich die Regisseur*in), son-      der Tat zunächst sehr geschockt und fürchte-
dern ob es die Kunstformen sind, mit denen         ten nicht nur, dass wir den Schauspieler*in-
im Probeprozess gearbeitet wird. Da gibt es        nen ihre Stimmen klauen, sondern durch die
einen Unterschied.                                 Masken auch ihre Gesichter und Emotionen.
                                                   Aber Theater ist doch nun wirklich nicht
OE Tandems mit meiner Partnerin Belenish           der Ort, wo man echte Emotionen zu sehen
Moreno-Gil wurden zum zentralen Konzept            bekommt. Wenn ich Emotionen sehen will,
eines Stückes, das wir für die Weimarer Früh-      gehe ich in eine Bar und fange eine Schlä-
lingstage für zeitgenössische Musik kompo-         gerei an. Im Theater erlebt man doch bloß
niert haben. Autotune for the People, das leider   die Reproduktion von Emotionen. Alles im
aus gesundheitlichen Gründen nicht urauf-          Theater ist artifiziell, das Licht, die Bühne …
geführt werden konnte, war eine Zusammen-          Warum müssen Emotionen im Theater immer
arbeit von drei Ensembles, dem Ensemble            ›real‹ sein? Ich finde das seltsam. Man könnte
Adapter, MIET+ und Via Nova. Belenish ist          doch auch sagen: Wir nehmen nicht etwas
Musikwissenschaftlerin, Sängerin und Perfor-       weg, sondern geben ein neues Gesicht und
merin, was für Verwirrung sorgte, weil sie von     eine neue Stimme. Neue Tools, mit denen man
einigen Zuhörer*innen oder Journalist*innen        arbeiten und spielen kann.
gar nicht als Komponistin betrachtet wurde.
Was sie in unserer Zusammenarbeit aber ist!         RED   Wie komponieren Sie?
Wenn man die Hälfte des kreativen Teams
jedoch unsichtbar macht, hat das musikali-          RJ Wir arbeiten zwar im deutschen Sprech-
sche, soziale und ökonomische Konsequenzen.         theater, bezeichnen unsere Inszenierungen
EILERS, ZIMMERMANN
                                                   19                        VON SOUNDSCAPE ZUR OPER

aber dezidiert als Sprachtheater. Wir tau-                RED Ein ähnlich totales Sound- und Video-
chen ab in die Sprache. Wir wählen Leute aus,             setting haben Sie, Óscar Escudero, in Ihrem
Amateur*innen, Menschen, die im Theater                   Münchener Biennale-Stück Subnormal
arbeiten, geben ihnen einen Text, den sie                 Europe geschaffen, in dem in einem irren
zuvor nicht kannten, und lassen ihn von ihnen             Tempo auf vielen Ebenen Informationen auf
lesen. So entstehen pro Produktion rund 1500              das Publikum einprasseln – allerdings mit
Sound-Files, mit denen ich anfange, die ein-              einem Unterschied: In dem Soundscape agiert
zelnen Szenen zu erarbeiten. Wenn man bei                 die schon erwähnte Belenish Moreno-Gil,
Susanne Kennedy einen Dialog auf der Bühne                die auch singt und spricht. Warum haben Sie
hört, ist eines sicher: Dieser Dialog hat nie             sich für diese Live-Komponente entschieden?
stattgefunden. Er ist aus all diesen kleinen
Sprachschnipseln komponiert. Wir nehmen                  OE Für mich kreieren all diese Elemente,
auch Elemente auf wie Räuspern oder Nie-                 das Singen, Sprechen, die Bewegung, das
sen oder ›Ähs‹ und ›Hms‹. Die Dialoge lösen              virtuelle Setting, in dem sich die Performerin
bei den Zuhörer*innen ein sehr seltsames                 bewegt, Kräfteverhältnisse. In einer Szene
Empfinden aus. Man kann es nur schwer                    zeigen wir eine große Menge an Zahlen, Zif-
beschreiben. Es ist so etwas wie eine mikrosko-          fern, Daten. Big Data! Als würden die Algo-
pierte, in die Länge gezogene Kommunika-                 rithmen die Performerin attackieren. Sie
tion, die uns zeigt, wie seltsam eigentlich              fragten vorhin, was ich momentan höre. Ich
unsere Sprache und unsere Kommunikation                  höre Daten! Überall Daten! Zahlen, Ziffern,
ist. Jeder Dialog, den Sie in einer Kennedy-             Algorithmen. Meine Sorge ist, wie wir darin
Produktion hören, ist also in Wirklichkeit               noch das Menschliche identifizieren können.
eine Sprach-Komposition.                                 Die Frage, warum jemand singt, ist in diesem

  Raimi Gbadamosi und Katharina Fink in Ghost Flower von Yassine Balbzioui im Richard–Wagner–Museum in Bayreuth
  © Jens Wagner
POSITIONEN 126
                                             20                                    GESPRÄCH

Zusammenhang radikal. Es ist immer ein            RED In der Oper werden Meyers Protago-
Kampf um die Vorherrschaft. Was hat mehr          nist*innen durch Sänger*innen repräsen-
Kraft, die Bilder? Die Daten? Der mensch-         tiert. Marie-Anne Kohl, Sie forschen gerade
liche Körper?                                     zu Talentshows im Fernsehen wie The Voice
                                                  of Germany oder Deutschland sucht den
RED Ein Kampf um Vorherrschaft existiert          Superstar. Verschaffen diese Shows Menschen
allerdings bereits auch unter Menschen. Sara      auf direkterem Weg eine öffentliche Stimme?
Glojnarić, Sie arbeiten gerade an einem großen
Musiktheaterprojekt für die Oper Halle: Im        AK Knifflige Frage. Ja und nein! Zunächst
Stein nach dem gleichnamigen Roman von            bieten diese Shows Menschen tatsächlich
Clemens Meyer, der auch das Libretto verfasst     einen Ort, an dem sie sich auf einer Bühne
hat. Meyer gibt in seinem Buch Menschen eine      zeigen können und in diesem Sinne eine Stim-
Stimme, die im öffentlichen Diskurs oftmals       me bekommen. Sie geben Menschen eine
keine haben: Hartz-VI-Empfänger*innen,            Plattform, die beispielsweise keine formale
Trinker*innen, Zuhälter*innen, Sexarbeiter*-      Ausbildung, aber trotzdem eine tolle Gesangs-
innen. Wieso braucht es Musik und Gesang,         stimme besitzen. Auch hinsichtlich migran-
um dieses große Gesellschaftspanorama, das        tischer und postmigrantischer Teilnehmer*-
gleichzeitig ein Panorama ost- und westdeut-      innen kann darüber diskutiert werden, inwie-
scher Geschichte während der Wendezeit ist,       fern hier eine Bühne bereitgestellt wird, die
auf die Bühne zu bringen?                         sie andernorts häufig nicht erhalten.
                                                     Diese Erzählung eines ›Möglichkeitsraums
SG Das ist auch für mich eine große Frage.        für alle‹ stimmt – aber eben nur bis zu einem
Ich habe den Roman auf Deutsch und Kroa-          gewissen Grad. Denn einen vollen Handlungs-
tisch gelesen, allein das verschaffte mir zwei    freiraum der Selbstrepräsentation haben die
sehr unterschiedliche Perspektiven. Clemens       Kandidat*innen natürlich nicht. Sie werden
Meyer erzählt über eine Spanne von dreißig        von Sendern und Produzent*innen in ein
Jahren, also von den späten Achtzigern bis        Skript hineininszeniert, sprechen somit nicht
ins Jahr 2010, wie sich die ökonomischen          mit ihrer ›vollen Stimme‹. Mit der Idee des
Strukturen, besonders die ›Märkte‹ in Ost-        ›Stimme bekommens‹ sollte man also nicht
deutschland, um die Wende herum verändert         zu affirmativ umgehen. Heute weiß man das
und auch globalisiert haben – und zwar aus        als Zuschauer*in aber auch. Es ist immer ein
der Sicht von Sexarbeiter*innen aus Halle,        Dazwischen. Dieses Dazwischen macht aber
Leipzig, Berlin und so weiter. Mal ist das Buch   auch, denke ich, einen Teil der Faszination
narrativ, mal eher assoziativ. Auf Deutsch        dieser Sendungen aus.
hatte ich sehr viele Fragezeichen. Die kroa-
tische Version war, weil sie viele Fußnoten       OE Unsere Gesellschaft existiert ja derzeit
enthielt, um soziokulturelle Phänomene            komplett räumlich getrennt. Alle aber ha-
zu erklären, nahezu eine kritische Ausgabe.       ben die Möglichkeit zu performen. Nehmen
Und jetzt arbeite ich mit einer sehr kompri-      wir die App TikTok, mit der sich Video- und
mierten Libretto-Fassung, die größtenteils        Musikclips aufnehmen lassen, die für alle
in Reimen verfasst ist. Es ist geradezu ver-      Nutzer*innen frei einsehbar sind. Sie funk-
rückt, das mit dem Roman vergleichen zu           tioniert ähnlich wie eine Talentshow, aber
wollen. Um ehrlich zu sein, überlege ich immer    ohne Casting. Die weitverbreitete Nutzung
noch, wie ich mit dem Text umgehen soll. Ein      solcher Anwendungen hat virtuelle Archi-
echtes work in progress. Die Lösung werde         tekturen geschaffen, die mit Theatern ver-
ich wahrscheinlich erst in fünf Jahren haben –    gleichbar sind. Die Menschen verfügen über
nachdem das Stück längst fertig ist.              Gadgets, mit denen sie die Theatralisierung
EILERS, ZIMMERMANN
                                                     21                       VON SOUNDSCAPE ZUR OPER

ihres Selbst erweitern können, indem sie                      and other stories, die im Grunde eher eine
nunmehr auch die musikalische Bühne                           Performance war. Ohne Partitur. Das Muse-
erobern. Das sogenannte Reel-Format, das                      um war voll mit Blumen und Gerüchen. Ein
auch von Instagram vor wenigen Monaten                        Künstler saß am Schlagzeug, Balbzioui selbst
übernommen wurde, bietet Tools wie Sprach-                    spielte das Theremin, zwei weitere Kolleg*-
bearbeitung, Zeitlupe oder Zeitraffer und vie-                innen tanzten und ich habe gesungen. Wir
les mehr. Ich würde die Frage »Warum singen?«                 waren alle keine Profis in dem, was wir in
daher noch erweitern zu »Was bedeutet Per-                    diesem Stück taten. Wir sind Profis in ande-
formance in unserer hybriden Welt?« Die                       ren Dingen. Ich selbst habe allerdings eine
Antwort darauf ist extrem durch die Tatsache                  Ausbildung in Operngesang, das hat Balb-
bedingt, dass ein immer größerer Teil unseres                 zioui inspiriert. Es sollte nach Operngesang
Publikums selbst jeden Tag virtuell vor einem                 klingen, aber den Text, den ich singen sollte,
großen Publikum auftritt.                                     hat er mir erst fünf Minuten vor der Vorstel-
                                                              lung gegeben. Diesen Abend nannte er Oper.
SG Singen hat eine enorme Macht. Man                          Allein ein Stück an einem solchen Ort so zu
sollte es mit Bedacht einsetzen. Wie kann ich                 betiteln, setzt Erwartungen.
als Komponistin, die aus Kroatien stammt,
lesbisch ist und in Deutschland lebt, all diese               RED Diese Ausweitung von Genrebegriffen
Einflüsse inkorporieren, um dem Publikum                      ist extrem wichtig, um auch dem zeitgenössi-
eine neue Erfahrung zu ermöglichen – und                      schen Publikum klar zu machen, dass Oper
nicht eine weitere Verdi-Oper mit schrägen                    nicht zwangsweise Plüschsitz, Orchester-
Tönen zu schreiben.                                           graben und Heldentenor bedeutet. Aber auch
                                                              der Begriff des ›Musiktheaters‹, der generell
AK Aber was heißt ›Oper‹? Der marokka-                        eher für avanciertere Formen stand, scheint
nische Künstler Yassine Balbzioui hat vor                     sich zu wandeln. Komposition bedeutet
zwei Jahren im Bayreuther Richard Wagner                      zunehmend, wie wir hier auch festgestellt
Museum eine ›Oper‹ inszeniert, Ghost Flowers                  haben, mit allen Ebenen der Darstellung zu

  Auswahl der Düfte zu Confession Box 2016 © Sara Glojnarić
POSITIONEN 126
                                             22                                       ARTIKEL

komponieren – und ganz wichtig: eine sze-        solche gibt es vielleicht nicht mal, vielmehr
nische Arbeit fernab von ästhetischen Kon-       kommen hier alle möglichen Kunstformen
ventionen zu entwerfen. Sara Glojnarić, Sie     zusammen.
haben für Ihren Bachelor-Abschluss an der           Wenn du Popmusik machst, dann machst
Hochschule für Musik und Darstellende            du natürlich Musik – aber du schreibst auch
Künste Stuttgart unter dem Titel Confession      Texte, entwirfst Plattencover und Videos,
Box eine Duftausstellung kreiert. Stellen Sie    denkst darüber nach, wie du dich auf der
sich so das Musiktheater der Zukunft vor?        Bühne präsentierst … wie im Theater. Oder
                                                 im Musiktheater. Denn erst, wenn alles gleich-
SG Ich habe damals dieses Format gewählt,        berechtigt zusammenkommt, Performance,
weil ich etwas machen wollte, in dem ich nicht   Licht, Musik, Timing, die Unmittelbarkeit
trainiert war. Zu der Zeit war ich gegenüber     des Publikums und so weiter, entsteht die

          »…aber du schreibst auch Texte, entwirfst Plattencover
        und Videos, denkst darüber nach, wie du dich auf der Bühne
          präsentierst …wie im Theater. Oder im Musiktheater.«

der Neuen-Musik-Szene sehr skeptisch. In         Magie. Dieser Moment in der Musik oder im
der Performance Art probieren Künstler*in-       Theater ist für mich als Performer, wie ich
nen einfach Dinge aus, kreieren eine Sound-      es seit über zwanzig Jahren bin, der Grund,
installation, auch wenn sie vorher in diesem     warum ich nach wie vor wirklich gerne in bei-
Format nie tätig waren. Auf diese Sponta-        den Disziplinen arbeite.
nität war ich eifersüchtig und habe mich
gefragt, wieso Komponist*innen nicht ein-        OE Ich fühle mich der Krise, die du beschrie-
fach Installationen, Malereien, Performan-       ben hast, Sara, sehr nah. Interdisziplinarität
ces entwerfen.                                   ist ein weiterer, natürlicher Schritt, um an
   Düfte lösen Erinnerung und Assoziatio-        Projekten wie unseren zu arbeiten. Im Stu-
nen aus. Das Musiktheater fand also in den       dium allerdings muss man sich Fähigkeiten
Köpfen der Leute statt. Gut möglich, dass sich   wie etwa das Programmieren autodidaktisch
in ihren Köpfen bei dem Geruch von Hubba         beibringen. Wenn ich Professor wäre, würde
Bubba-Kaugummi eine Serie von 250 Musik-         ich den Studierenden die vielen, insbeson-
theaterstücken entfaltete! Was ich sagen         dere technologischen Möglichkeiten aufzei-
will: Das Stück könnte als Musiktheater          gen wollen! Auch die Kurator*innen müssen
angesehen werden. Vielleicht ist es aber auch    mutiger werden. Ich würde gerne mehr uner-
Musiktheater, weil es von einer Komponistin      wartete künstlerische Kollaborationen sehen,
kreiert wurde.                                   die auch finanziell besser ausgestattet wer-
                                                 den. Und vor allem: Mehr Verrücktheit im
AK Aus meiner Sicht als Akademikerin             Umgang mit den Elementen! ❚
könnte Musiktheater eben genau das sein:
eine Art Denkfigur, um Phänomene auf eine
interdisziplinäre Art anschauen und beschrei-
ben zu können.

RJ Die Popmusik lebt Interdisziplinarität
doch im Grunde vor: Die Kunstform als
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