ALLES ANDERS ODER NICHT? - AUSGABE 11.05.2020 03 - Unsere Alltagsmobilität in der Zeit von Ausgangsbeschränkung oder Quarantäne - Infas
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ERGEBNISSE AUS BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING BIS ANFANG MAI AUSGABE 11.05.2020 03 ALLES ANDERS ODER NICHT? Unsere Alltagsmobilität in der Zeit von Ausgangsbeschränkung oder Quarantäne
2 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 Seit Anfang Mai gibt es nach vielen Wochen der Geduld wieder mehr Anlässe, außer Haus unterwegs zu sein. Geschäfte öffnen und Friseure stehen Kundinnen und Kunden mit dem Bedürfnis nach mehr Ordnung auf dem Kopf wieder offen. Noch jedoch bleibt das Homeoffice, Schulen starten zaghaft und unterschiedlich, Kindergar- tentüren sind in der Regel weiterhin geschlossen. Eine halbe Mobi- lität, so lässt sich vermuten. Unsere Tracking-Ergebnisse bestätigen dies. Schon vor den genannten Lockerungen ist das Mobilitätsniveau wieder gestiegen. Aktuell zeigt unsere bis zum 6. Mai reichende Zeit- reihe fast wieder normale Verhältnisse – wenn berücksichtigt wird, dass zeit- und kilometerintensive längere Wege nach wie vor kaum in Betracht kommen. Bewegungsdrang und Aktivitätsbedürfnis füh- ren schneller als gedacht zurück in Richtung der seit Anfang März verlorenen Normalität.
3 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 WORUM ES GEHT Smartphone-App. Allerdings erschöpfen sich sol- che Anwendungen in der Regel darin, Unterwegs- Noch vor wenigen Wochen war das Stichwort zeiten und zurückgelegte Strecken zu messen, „Tracking“ für die meisten von uns kaum mit In- geben jedoch keine Auskunft etwa über die ge- halt gefüllt. Irgendetwas mit dem Verfolgen von nutzten Verkehrsmittel. Spuren? Neue Blickwinkel und eine enorme Dyna- mik in der Covid-19-Pandemie haben dies deut- Wir tauchen für Deutschland nun zum dritten lich verändert. Die relativ unscharfe funkzellen- Mal tiefer ein und beziehen Tagesstrecken und basierte „Handyortung“ war das erste Stichwort Verkehrsmittelnutzung mit ein. Für diese weiter- aus dieser Richtung, das schnell Aufmerksamkeit gehenden Fragestellungen hat MOTIONTAG in erlangt hat. Dies war ein erster hilfreicher Beitrag. den letzten Jahren eine Anwendung entwickelt, Der zweite Komplex ist das mittlerweile viel dis- die diesen Tauchgang nahezu in Echtzeit und au- kutierte Verfolgen infizierter Personen als ein In- tomatisch zuverlässig leistet. Werden diese Be- strument bei der direkten Bewältigung der Pan- funde mit Basisinformationen zu den Mobilitäts- demie. Stand heute wird es jedoch bis mindestens mustern „vor Corona“ verknüpft, ergibt sich im Anfang Juni auf sich warten lassen. Schließlich Zeitverlauf und mit Blick auf die Entwicklungen, haben sich neben Anbietern von Navigationssys- die uns auf dem Weg zurück in den Alltag noch temen Google und Apple entschlossen, einen klei- bevorstehen, ein aufschlussreiches Bild. Im ak- nen Einblick in ihre im Hintergrund gesammelten tuellen Report umfasst dies eine Zeitspanne, die Daten zu geben. über die ersten Monate des Jahres 2020 bis An- fang Mai reicht. Er ist als Eigenprojekt entstanden Eine ähnliche Anwendung in einem Forschungs- und basiert auf rund 1.000 Tracking-Teilnehmern. umfeld – und um diese geht es in unserer Report- Diese Stichprobe erhebt keinen Repräsentativi- Reihe – ist das freiwillige, GPS-basierte Tracking tätsanspruch. Eine externe Validierung ihrer Er- individueller Bewegungsverläufe mit Hilfe einer gebnisse für die Zeit vor Corona anhand bekann- 35% der Erwerbstätigen arbeiten zurzeit im Homeoffice.
4 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 ter Mobilitätseckwerte zeigt jedoch eine gute wird. Dies erfolgt angelehnt an das MiD-Design. Übereinstimmung mit diesen Parametern. Als Innovation hinzu kommt der beschriebene Tracking-Ansatz. Mit diesem Instrument können Für eine bessere Einordnung verknüpfen wir die die Studienteilnehmerinnen und Teilnehmer auf Ergebnisse mit Referenzergebnissen für einen freiwilliger Basis in unkomplizierter Form Tag für normalen „Mobilitätsdurchschnitt“. Derartige Tag über ihre Mobilität berichten. Ergebnisse liegen uns auf Grundlage der Studie „Mobilität in Deutschland“ (MiD) vor, die infas Doch nun, nach diesem Ausblick auf die anstehen- 2002, 2008 und 2017 zusammen mit Partnern für de umfassende Erweiterung unserer Beobach- das Bundesministerium für Verkehr und digitale tungen, zurück zu der aktuellen Situation im April Infrastruktur (BMVI) und weitere regionale Auf- und Mai 2020. Dabei greifen wir in dieser Aus- traggeber durchgeführt hat. gabe nicht allein auf die Tracking-Ergebnisse zu- rück, sondern erweitern die Perspektive um einige Darüber hinaus beginnen wir zusammen mit dem ausgewählte Resultate aus einer repräsentativen Wissenschaftszentrum Berlin WZB (Forschungs- telefonischen Befragung von 1.000 Personen. Die- gruppe digitale Mobilität) im Auftrag des Bundes- se Befragung hat infas im eigenen Auftrag durch- ministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geführt. Sie bildet einen „Corona-Schwerpunkt“ sowie einiger Bundesländer weitere Analysen. innerhalb der von uns seit vielen Jahren in Eigen- Dazu haben wir den Aufbau des Panels MOBI- regie durchgeführten Reihe rund um den infas- COR gestartet, in dessen Rahmen eine elaboriert Lebenslagenindex ilex, regelmäßig veröffentlicht gewonnene repräsentative Stichprobe aus meh- in der Institutszeitschrift „Lagemaß“. reren Tausend Personen im Längsschnitt befragt 85% beträgt die übliche Außer- Haus-Quote. Sie wird Anfang Mai schon wieder erreicht.
5 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 EIN KLEINER BLICK AUF NEUE ROUTINEN Im Corona-April ist dieser Anteil auf ein Drittel ge- stiegen. Dies allerdings nicht gleichermaßen. Be- In dieser gerade abgeschlossenen Befragung ha- schäftige, die der unteren Lebenslagenguppe an- ben wir umfassende Fragen zur aktuellen Lebens- gehören (gebildet nach dem mehrdimensionalen situation und den empfundenen Auswirkungen infas-Lebenslagenindex), berichten nur zu einem und Perspektiven gestellt. Die detaillierten Er- Fünftel davon. In den beiden höheren Lebensla- gebnisse veröffentlicht infas zeitgleich, allerdings gen beträgt dagegen der Homeoffice-Anteil mehr unabhängig von diesem dritten Tracking-Report. als ein Drittel. Es bestehen also längst nicht über- Doch sollen zwei Aspekte herausgegriffen und all Beschäftigungsverhältnisse, die diese Möglich- den Tracking-Analysen vorangestellt werden. keit zulassen. Eine prägende Erfahrung für viele Arbeitneh- Noch deutlicher fallen die Unterschiede aus, merinnen und Arbeitnehmer war der plötzliche wenn nach dem Stichwort „Kurzarbeit“ gefragt Einstieg in die Homeoffice-Situation. Oft be- wird. Diese Erfahrung ist in den beiden oberen Le- schworen als möglicher Lösungsbeitrag für un- benslagengruppen mit 13 bzw. fünf Prozent eine sere täglichen Verkehrsprobleme, wurde es nun seltene Ausnahme. Im unteren Lebenslagenseg- fast über Nacht zur neuen Lebenswirklichkeit. Im ment beträgt der Anteil dagegen mit 21 Prozent „Normaljahr“ 2017 berichteten im MiD-Interview mehr als ein Fünftel. Die Arbeitssituation, ihre nur etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen, dass Beschränkung und damit auch die Auswirkungen sie über eine Homeoffice-Möglichkeit verfügen auf die Alltagsmobilität fallen somit unterschied- würden, und dies in der Regel nur für einzelne lich aus. Nur ein Teil der Erwerbstätigen kann sich Tage und nicht dauerhaft. in die verhältnismäßig kommode Situation des Heimarbeitsplatzes zurückziehen. Anteile Homeoffice und Kurzarbeit Verstärkter Online-Einkauf und Warenlieferung nach Hause Angaben in Prozent Angaben in Prozent 20 10 7 Niedrige Lebenslage 21 Mittlere 36 Lebenslage 13 90 93 Hohe 36 Lebenslage Online-Einkauf Warenlieferung 5 Homeoffice Kurzarbeit ja nein nur Erwerbstätige – einschließlich Selbsständige und Beamte Telefonische Erhebung: 1.000 Interviews im April
6 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 Andere Auswirkungen haben Nöte in Sachen Ein- markt erzwungene – und manchmal vielleicht kauf und Besorgung. Gefragt nach häufigeren auch willkommene – Notwendigkeit. Ein weiterer Online-Einkäufen, geben nur 10 Prozent an, dies Grund dafür, warum auch in der Phase der Aus- während des Lockdowns häufiger zu tun als bis- gangsbeschränkungen ein beachtliches Mindest- her. Hier sind also Veränderungen spürbar, aber niveau unserer Alltagsmobilität erhalten bleibt. vermutlich erschließt sich der Online-Handel Doch mehr dazu in den folgenden Abschnitten kaum neue Kunden, sondern intensiviert eher den dieses Reports No. 3 – sowie in den beiden voran- Umsatz mit bisherigen Käuferinnen und Käufern. gegangenen, weiter verfügbaren Ausgaben, auf Noch geringer als das Online-Plus fällt der An- die hier noch einmal verwiesen werden soll. teil derjenigen aus, die nun Lieferdienste der Ge- schäfte vor Ort in Anspruch nehmen. Dies dürfte SCHON WIEDER UNTERWEGS sich auf den Lebensmittelhandel und wenige Ad- hoc-Angebote von Geschäften oder Gaststätten Die vielleicht überraschendste Erkenntnis An- beschränken, die hier Brückenangebote geschaf- fang Mai: es geht schnell wieder aufwärts. Nach fen haben. Und auch dies ist keine Erfahrung, die einem Tiefpunkt vor Ostern gewinnt unsere All- viele teilen. Eher bleibt der Gang in den Super- tagsmobilität mehr und mehr ihr altes Niveau Unterwegszeit pro Tag und Person Wegeabschnitte pro Tag und Person nach Verkehrsmittel Angaben in Stunden Angaben in Mittelwerten 04.05. 04.05. deutliche deutliche Reduzierung Reduzierung Shutdown Shutdown 11.04. 11.04. Ostersamstag Ostersamstag 16.03. 16.03. Beginn Beginn Shutdown Shutdown 1,6 8,0 1,4 7,0 Wegabschnitte pro Person pro Tag 1,2 6,0 Stunden pro Person und Tag 1,0 5,0 0,8 4,0 0,6 3,0 0,4 2,0 0,2 1,0 0,0 0,0 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto Fußabschnitte auf Wegen einzeln ausgewiesen, etwa der Fußweg zur Haltestelle MiD-Baseline
7 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 zurück. Noch sind die Kurvenverläufe nicht zuletzt gen, dass viele Wege zu weiter entfernten Zielen aufgrund verschiedener Feiertage ein wenig flat- im Moment kaum möglich sind, muss auch die terhaft, aber ein Zurück in Richtung alter Muster schon wieder erreichte Kilometerzahl ein wenig ist eindeutig erkennbar. Dies gilt für die tägliche erstaunen. Eine Ahnung davon vermittelte etwa Unterwegszeit und die individuellen mittleren der Ostersamstag, der mit vielen Einkaufs- und Kilometersummen – also sowohl die Zeit, die wir Freizeitwegen eine eindrucksvolle Spitze inner- täglich unterwegs verbringen als auch die Stre- halb des Lockdowns darstellt. cken, die wir dabei zurücklegen. Noch eindeuti- ger verhält es sich bei der Außer-Haus-Quote und ERZWUNGENE NAHMOBILITÄT (UND SCHÖNES damit dem durchschnittlichen Anteil der Bürge- WETTER) BEGÜNSTIGEN DAS ZUFUSSGEHEN rinnen und Bürger, die sich wieder nach draußen UND FAHRRADFAHREN wagen. Während dieser Anteil noch mehr als die unterwegs verbrachte Zeit bereits fast wieder das Ähnliche Aufmerksamkeit verlangt der sich erge- verlorene Normalmaß erreicht hat, hinken die bende Verkehrsmittelmix. In einer mittelfristigen mittleren Tagesstrecken noch ein wenig hinter- Perspektive ist er vielleicht sogar bedeutsamer als her. Wird bei der Bewertung allerdings einbezo- die schnelle – und mit Blick auf nicht gewisse aus- Anteil der pro Person zurückgelegten Tageskilometer Verteilung der Wegeabschnitte pro Tag und Person Angaben in Prozent Angaben in Prozent 04.05. 04.05. deutliche deutliche Reduzierung Reduzierung Shutdown Shutdown 11.04. 11.04. Ostersamstag Ostersamstag 16.03. 16.03. Beginn Beginn Shutdown Shutdown 100 100 90 90 80 80 Anteil der zurückgelegten Kilometer 70 70 Wegabschnitte in Prozent 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 0 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto Fußabschnitte auf Wegen einzeln ausgewiesen, etwa der Fußweg zur Haltestelle
8 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 stehende Entwicklungen vielleicht noch trügeri- BALD ALLES WIE IMMER –- ODER PLATZ IN sche – Erholung. Die Verkehrsmittelanteile zeigen BUSSEN UND BAHNEN? weiterhin dreierlei: eine durch die zwangsläufige Konzentration auf die Mobilität im nahen Umfeld Von der sich abzeichnenden Erholung profitiert steigende Bedeutung des Fußverkehrs, ein Plus auch der öffentliche Verkehr. Nicht nur die Straßen im Radverkehr und eine extreme Reduktion im öf- füllen sich wieder, sondern auch Bahnhöfe, Halte- fentlichen Verkehr. Das Auto wiederum steht rela- stellen, Straßenbahnen, U-Bahnen und Busse. Der tiv gesehen recht unbeschadet da. Autoverkehr wird sich vermutlich die Freiräume, die er vorübergehend dem Radverkehr überlassen Allerdings ist bei all diesen Effekten zu berücksich- hat, ganz überwiegend wieder zurückholen. Eine tigen, dass das Mobilitätsniveau insgesamt redu- Ausnahme bilden möglicherweise wenige städti- ziert ist, entstanden durch mehr Zeiten zu Hause sche Strecken – sofern die Verkehrslenker vor Ort und die oft nicht freiwillige Beschränkung auf kur- ihr zwischenzeitlicher Mut, dem Fahrrad neue ze Wege, wenn das Haus verlassen wird. Jedoch Räume behelfsgestalterisch einzuräumen, nicht bleibt hervorzuheben, dass während der gesam- wieder verlässt. Ähnlich oder sogar noch ärger ten verschärften Lockdown-Phase eine Grundmo- ergeht es vermutlich dem Zwischenhoch, das der bilität erhalten geblieben ist. Dies drückte sich in Fußverkehr verzeichnen konnte. Und schlechteres weiterhin relativ hohen mittleren Unterwegszei- Wetter als im Corona-April wird ein Übriges tun. ten aus. Sie liegen Anfang Mai mit knapp einer Stunde nicht erheblich unten den sonst üblichen Doch wie steht es um die Perspektiven für Bus 80 Minuten. Zeit, die für lange Wege gespart wur- und Bahn? Die aktuellen Zahlen legen eine ein- de, wurde offenbar oft für Ausgänge zu Fuß oder setzende Erholung nahe. Allerdings kann dieses mit dem Fahrrad umgewidmet. Verkehrssegment bisher weder sein altes Niveau noch seine Anteile wieder erreichen. Masken- Außer-Haus-Quoten im März und April 2020 Tageskilometer pro Person Angaben in Prozent Angaben in Mittelwerten 100 60 16.03. Beginn Shutdown 80 50 Kilometer pro Person und Tag 40 60 30 40 20 20 10 0 0 01.03. 01.04 01.05.2020 01.01 01.02 01.03 01.04. 01.05.2020 nicht unterwegs unterwegs Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto MiD-Baseline
9 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 pflicht und das oft noch eingeschränkte Ange- allein schon deshalb, weil die mittlere Reiseweite bot machen den ÖPNV noch weniger zu einem im ÖPNV unsere Bereitschaft, diese per Fuß oder Vergnügen, als er es für manche seiner Fahrgäs- Rad zu bewältigen, überstrapaziert. te schon zu normalen Zeiten gewesen ist. Auch wenn die hergebrachte Bedienungshäufigkeit Allerdings wäre es für die Branche fahrlässig, sich wieder verfügbar sein wird, bleiben aller Voraus- auf derartige Notwendigkeiten oder das Captive- sicht nach gefühlte Beeinträchtigungen beste- bzw. Zwangskundendasein vieler Fahrgäste zu hen. Einerseits. Andererseits darf nicht übersehen verlassen. Notwendig sind vielmehr Initiativen in werden, dass viele ÖPNV-Nutzerinnen und Nutzer Richtung Schutz, Rücksicht, Abstand – und damit auf dieses Verkehrsmittel angewiesen sind. alles in allem Investitionen in die Aufenthalts- qualität. Diese war bisher nicht unbedingt eine Ein Blick in die MiD zeigt, dass rund zwei Drittel Stärke, von Ausnahmen abgesehen, wird aber in der ÖPNV-Wege von Personen zurückgelegt wer- den nächsten Monaten und vielleicht sogar darü- den, in deren Haushalt kein Auto zur Verfügung ber hinaus an Bedeutung gewinnen. So verändert steht oder bewusst auf dieses verzichtet wird. der Corona-Einschnitt im besten Fall die ÖPNV- Wenn Wege wieder länger werden, Arbeits-, Frei- Landschaft auf bisher kaum gedachte Weise. Die zeit- und Versorgungsweg erneut oder weiter- Antwort auf die Frage, warum viele Fahrgäste hin anstehen, ist diese Mehrheit zunächst auf bisher dessen Produkte genutzt haben, ist mög- die Beförderung per Bus oder Bahn angewiesen. licherweise richtungsweisender als die übliche Manche der ehemaligen Fahrgäste werden nach Frage nach den Gründen der Nicht-Nutzung. Die Möglichkeiten suchen, dies zu vermeiden und Erkenntnis, dass die Entscheidung für eine Fahrt sich stattdessen für das Rad oder vermutlich eher im ÖPNV mitunter nur Notwendigkeit ist, könnte für das eigene Auto entscheiden. Aber vielen wird Denkräume eröffnen, wie dies zukünftig anders diese Möglichkeit nicht offenstehen – und dies werden könnte.
10 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 11% aller Wege wurden 2017 mit dem Fahrrad zurückgelegt. Wie wird sich dies entwickeln?
11 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 WÄHREND UND NACH CORONA sam mit unseren Auftraggebern auf Bundes- und Landesebene sowie unserem Forschungspartner Ehrlich gesagt ist es schwer zu sagen: wird die WZB in einem auch darüber hinausreichenden Corona-Krise das Verkehrsgeschehen länger als Netzwerk. nur in einer – ja noch nicht ausgestandenen – heißen Phase verändern? Muss damit die kaum In dem neuen Projekt MOBICOR stehen verschie- begonnene Mobilitätswende von vorne beginnen dene Fragestellungen im Vordergrund. Wie kön- und neuen Anlauf nehmen? Geraten die außer- nen wir den Mobilitätsweg in der Abfolge vor, halb und – nüchtern betrachtet – selbst innerhalb während und nach Corona beschreiben und was der Städte zarten Pflänzchen der neuen Sharing- zeigt die sozialwissenschaftliche Messung? Wie Kulturen ganz besonders in Mitleidenschaft? Ist unterscheiden sich die Mobilitätswirklichkeiten der öffentliche Verkehr als ihr wichtigster Träger von ärmeren und reicheren Bürgerinnen und Bür- so stark gebeutelt, dass die Erholungsphase lang gern, wie die in Familien mit Kindern von denen in sein wird? Oder ist die Kraft bewährter Routinen anderen Lebenssituationen? Wie zwischen Stadt und manch unabweisbaren Notwendigkeiten so und Land? Wie zwischen Jung und Alt? Wird das groß, dass der Trend zurück zu einer noch im Fe- Auto tatsächlich zum Krisengewinnler und wie bruar 2020 so sicher geglaubten Normalität sich ergeht es dem ÖPNV? War das Fahrrad- und Fuß- von ganz allein ergibt, und dies viel schneller als gängerhoch nur der besonderen Situation und während der Krise unterstellt? den glücklichen Wetterumständen geschuldet oder gibt es der Verkehrsplanung neue Impulse? Doch auch dann bliebe für die Verkehrswende Hat es Bürgerinnen und Bürgern Appetit auf mehr viel Arbeit. In jedem Fall – so unsere Vermutung – gemacht? Oder wird im Februar 2021 (2022?) werden ihr die Erfahrungen während der Corona- fast alles wieder so sein wie zu Beginn des Jahres Phase nur helfen, wenn sich daraus neue Ange- 2020? Werden Carsharing, Ridepooling, Scooter botsstrukturen ergeben: mehr Platz und praktisch & Co überleben, vielleicht sogar wachsen? Oder umgesetzte Wertschätzung für den Fuß- und verhilft eine mögliche Autoprämie dem Verkehrs- Radverkehr, neue Sorgfalt, Ideen und Kundenori- träger No. 1 zu noch mehr Rückenwind? Werden entierung im öffentlichen Verkehr sowie ein be- die Homeoffice-Rechner wieder abgebaut? Wie wussterer Umgang mit der Autonutzung. wirken sich die vorherzusehenden erheblichen wirtschaftlichen Einschränkungen aus? Und last Was bleiben wird und nicht einzuhegen ist, sind not least: wie sollte dies alles gestaltet werden? unsere Mobilitätsbedürfnisse. Auch dies lehrt die Krise. Wie eine in Deutschland oft nur partielle Gute Forschung ist also gerade in der Krise ange- Ausgangssperre offenbar schnell an ihre Grenzen bracht. Im Sommer 2020 werden nach dem ge- stößt, wenn ihr Anlass vermeintlich verschwindet rade erfolgenden Start des MOBICOR-Panels und oder weniger offensichtlich ist, so wird auch un- erste Ergebnisse vorliegen. Danach wird es zu- sere Mobilität im Alltag einer Wohlstandsgesell- nächst mit zwei weiteren Erhebungswellen fort- schaft kaum oder nicht reduzierbar sein. gesetzt. Parallel dazu werden wir eine noch grö- ßere Tracking-Teilnehmerschaft aufbauen. Und WISSEN TUT NOT wir werden berichten. Bleiben Sie uns also treu. Wie ausgeführt ist der Weg aus heutiger Sicht nicht einfach vorherzusagen. Umso mehr kommt es nach unserer Überzeugung auf eine gute Da- tenlage an. Darum bemühen wir uns gemein-
12 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 Zur Methode ten Eckwerte wie etwa Aktivitätsquoten oder Tagesstrecken entsprechen in ihrer Ausprägung Die Ergebnisse beruhen auf Messungen, die die bekannten Parametern aus repräsentativen Unternehmen MotionTag GmbH aus Berlin und Studien. Die so erfolgte externe Validierung über infas, das Institut für angewandte Sozialwissen- die aus der MiD abgeleiteten Erwartungswerte schaft GmbH in Bonn, mit Hilfe einer Tracking- zu „Normalzeiten“ sprechen für die Nutzugsmög- App erstellen. Denn das, was derzeit überall lichkeit der Tracking-Ergebnisse. Wichtige Grund- diskutiert wird und anscheinend noch aufwändig prinzipen sind dabei transparente Information, entwickelt werden muss, ist in einer noch um- Freiwilligkeit und eine Auswertung nach den fassenderen Form bereits seit einigen Jahren als gültigen Datenschutzkriterien, um die Identifika- Motiontag-Anwendung in den App-Stores zum tion von Einzelfällen auszuschließen. Testen und im Rahmen von Forschungsprojekten verfügbar. Das Team Die App MotionTag wertet diese Daten aus. infas ordnet die Ergebnisse ein und vergleicht sie mit ande- Die von MotionTag entwickelte App zeichnet ren Untersuchungen. Dazu zählt vor allem die Smartphone-basiert Bewegungsdaten auf. größte deutschen Verkehrserhebung „Mobilität Gleichzeitig errechnet sie anhand stetig wei- in Deutschland“ (MiD) von 2017, die infas im terentwickelter Algorithmen weitgehend auto- Auftrag des BMVI federführend zum dritten Mal matisch und in Echtzeit die genutzten Ver- nach 2002 und 2008 durchgeführt hat. Durch die kehrsmittel. Dabei werden zehn Verkehrsmittel Kombination beider Datenquellen ergibt sich ein unterschieden. Es wird die zurückgelegte Ent- genauer Einblick und es wird erkennbar, was sich fernung bestimmt sowie die Zeit, die man dafür tatsächlich verändert und wie die Menschen sich benötigt hat. in der Krise bewegen. Das Sample Wie wir fortfahren Aktuell sind rund 1.000 Menschen auf der Platt- In weiteren Schritten werden wir die begonne- form aktiv und stellen ihre Daten für wissen- nen Analysen vertiefen. Vor allem aber bemühen schaftliche Zwecke zur Verfügung. Dieses Sample wir uns um eine Erweiterung der Beobachtungs- erhebt – ähnlich wie etwa die Google-Ergebnisse bausteine anhand zusätzlicher Befragungen im – keinen Repräsentativitätsanspruch, liefert aber Zeitverlauf. Und dies natürlich auf elaborierter einen guten Eindruck zu den aktuellen zeitlichen methodischer Grundlage. Verläufen. Die auf dieser Grundlage ermittel-
13 BEOBACHTUNGEN PER MOBILITÄTSTRACKING AUSGABE 11.05.2020 WER WIR SIND Die infas Institut für angewandte Sozialwissen- schaft GmbH ist ein selbstständiges und unab- Das verantwortliche Expertenteam ist interdiszip- hängiges Institut. infas ist als eines der ersten linär. Es bündelt alle erforderlichen Kompetenzen. Forschungsinstitute in Deutschland nach der in- Seine Zusammenarbeit ist durch zahlreiche ge- ternationalen Norm ISO 20252:2012 für Markt-, meinsame Projekte etabliert. Meinungs- und Sozialforschung zertifiziert. Das MOTIONTAG ist ein in Potsdam ansässiges Unter- Institut hat sich auf die Erhebung von Primär- nehmen, welches Verkehrsunternehmen, Markt- daten mittels Methoden der empirischen Sozi- forschungsunternehmen, wie auch Mobilfunkan- alforschung spezialisiert – insbesondere in den bietern dabei hilft, Verkehrsströme mittels Smart- Bereichen Sozialforschung, Gesundheits- und phone Apps zu analysieren und zu verstehen. Wir Mobilitätsforschung. Es führt Studien mittels al- arbeiten beispielsweise mit der BVG, der Deut- ler eingeführten Forschungsmethoden durch. Da- schen Bahn, den Schweizerischen Bundesbahnen zu gehören zahlreiche methodisch anspruchsvol- wie auch der Swisscom zusammen und werden le sozialwissenschaftliche Panels und mit der Stu- unter anderem vom Land Brandenburg gefördert. die “Mobilität in Deutschland” eine der größten Mobilitätsstudien weltweit.
Kontakt Robert Follmer Bereichsleiter Verkehrs- und Regionalforschung, infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH Tel. +49 (0)228 3822-419 Mobil: +49 (0)171 587 55 83 E-Mail: r.follmer@infas.de Stephan Leppler CEO, MotionTag GmbH Tel.: +49 (0)159 0434 84 13 E-Mail: stephan.leppler@motion-tag.com
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