Alterssicherung, Gesundheit und Pflege in Europa - Heute und in Zukunft - Juli 2021 - Deutsche ...
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Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege Liebe Leserinnen und Leser, Alterssicherung, Gesundheit und Pflege sind fundamentale Kernthemen jeder Gesellschaft. Diese drei großen sozialen Themen resultieren aus den Werten und Normen des gesellschaftlichen Miteinanders und prägen dieses. In ihrer Aus- gestaltung werden sie von zur Verfügung stehenden Ressourcen bestimmt und unterliegen stetig höchst dynamischen Veränderungsprozessen. Auch die Länder Europas stehen bei Alterssicherung, Gesundheit und Pflege vor großen Herausforderungen, wenn auch sicherlich mit unterschiedlicher Nuancierung. Doch die Ausgangsbedingungen und Entwicklungsstränge bei den drei Sicherungssystemen lassen sich in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nachzeichnen. Die europäischen Gesellschaften unterliegen einem demo- grafischen Wandel, der alle drei Systeme hochgradig beeinflusst: Die Menschen werden immer älter. Somit haben sie einen längeren Anspruch auf Alterssiche rung, bedürfen einer umfassenden gesundheitlichen Versorgung und sind auch häufiger auf Pflege angewiesen. Darüber hinaus wirken zahlreiche andere Entwicklungen stetig auf die Sicherungssysteme, etwa sich verändernde Arbeits- märkte und ungleichförmige Erwerbsleben, was wiederum Implikationen auf die Rentensysteme hat. Innovationen im Gesundheitswesen erhöhen die Leistungsansprüche, können aber auch zu Kostentreibern werden, die aufgefangen werden müssen. Die Pflege steht per se im Spannungsfeld zwischen professioneller und informeller Unterstützung. Ob als häusliche Pflege oder in einer stationären Einrichtung, unter Nutzung von Sachleistungen, Geldleistungen oder in Kombinationen von beidem – alles steht unter der Prämisse ausreichender finanzieller Mittel. Die Europäische Kommission wirft in regelmäßigen Abständen in Form von Berichten einen Blick auf die Entwicklungslinien dieser drei Sicherungssysteme in ihren Mitgliedstaaten. Diese Untersuchungen ermöglichen vorsichtige Prog- nosen. Drei dieser Studien, der Angemessenheitsbericht, der Altersbericht sowie der Langzeitpflegebericht, wollen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, in der aktuellen Ausgabe des Themenletters ed* vorstellen und gemeinsam mit Ihnen einen Blick auf mögliche Entwicklungen der drei sozialen Sicherungssysteme werfen. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre! Ihre Ilka Wölfle 2
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege Der demografische Wandel hinterlässt Spuren Alterssicherung, Gesundheit und Pflege sind drei der tief- Turnusgemäß hat die Europäische Kommission in greifendsten gesellschaftlichen Themen, die in Deutsch- diesem Jahr erneut ihre Berichte vorgelegt. Im Mai land diskutiert werden. Mit ihnen beschäftigt man sich den „2021 Ageing Report“,1 und im Juni den „2021 intensiv auch auf europäischer Ebene. So werden alle drei Rentenangemessenheitsbericht“ 2 sowie – außerhalb des Jahre umfangreiche Berichte hierzu herausgegeben, die Zyklus – den „Langzeitpflegebericht“.3 einen tiefen Blick in die Zukunft wagen. Es geht immerhin um einen Zeitraum von bis zu einem halben Jahrhundert: 1 2021 Ageing Report https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/economy-finance/ Lassen sich die Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat erfül- ip148_en_0.pdf 2 Bd. 1: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9145-2021-ADD-1/en/pdf len? Lässt er sich finanzieren? Derartige Untersuchungen Bd. 2 (Länderprofile): https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9145-2021- sind mit großen Unsicherheiten verbunden – man spricht ADD-2/en/pdf daher auch lieber von „Projektionen“ als von „Prognosen“. 3 Bd. 1: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9144-2021-ADD-1/en/pdf Bd. 2 (Länderprofile): https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9144-2021- ADD-2/en/pdf Lassen sich die Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat in Zukunft noch erfüllen? 3
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege Demografische Trends gen Alter. Das bedeutet im Klartext: Während heute Während heute4 circa drei Personen drei Personen im Der Altersbericht 2021 geht davon aus, dass die Bevölkerung Europas im aktiven Alter auf eine Person über 65 Jahre kommen, könnten es im Jahr aktiven Alter auf bis zum Jahr 2070 um fünf Prozent 2070 nur noch zwei sein. Aber auch schrumpfen und sich im Aufbau die Alters-Zusammensetzung der Ren- eine Person über ändern wird. Der Anteil der Bevöl- tenkohorten wird sich ändern. Derzeit 65 Jahre kommen, kerung im erwerbsfähigen Alter (20 - 64 Jahre) werde von 265 Mil- sind vier von zehn Rentnerinnen und Rentnern älter als 75 Jahre. Im Jahr könnten es im Jahr lionen auf 217 Millionen Menschen 2070 werden es sechs sein. abnehmen. Das bedeute – trotz des 2070 nur noch zwei erwarteten Anstiegs der Erwerbs- Die Ausgaben-Entwicklungen im sein. beteiligungsquote – ein Sinken des Arbeitsangebots um 15,5 Prozent. Überblick Diese demografischen sowie eine Gleichzeitig erhöhe sich die Lebenser- Reihe weiterer Annahmen, auf die wartung für Männer um 7,4 Jahre und hier nicht eingegangen werden kann, für Frauen um 6,1 Jahre, was auf eine bilden die Grundlage eines „Basis“- gewisse Annäherung hinauslaufen oder auch „Referenzszenarios“ der würde. Die so genannte „Altersabhän- „Ageing Working Group5“, der Arbeits- gigkeitsrate“ werde sich im Projek gruppe „Altern“ des Wirtschaftspoliti- tionszeitraum um fast 25 Prozent- punkte erhöhen. Diese Rate beschreibt 4 Gemeint ist jeweils das Jahr 2019. das Verhältnis der über 65-Jährigen AWG Working Group on Ageing Populations and Sus- 5 tainability https://europa.eu/epc/working-groups-epc/ zur Bevölkerung im erwerbsfähi- working-group-ageing-populations-and-sustainability_de Der Anteil der europäischen Bevölkerung im erwerbsf ähigen Alter (20 - 64 Jahre) wird von 265 Millionen auf 217 Millionen Menschen abnehmen. 4
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege Prognostizierte Veränderung der altersbedingten Ausgaben (2019-70) nach Ausgabenkomponente, Prozent des BIP 12 12 10 10 8 8 6 6 4 4 2 2 0 0 -2 -2 -4 -4 -6 -6 EL EE PT FR LV ES HR IT DK LT CY BG SE DE FI AT PL RO NL BE HU CZ IE NO MT SI LU SK EA EU Rente Gesundheit Langzeitpflege Bildung CoA gesamt Quelle: Commission services, EPC. schen Ausschusses des Rates. Dieses Szenario ist auch Allerdings stellt sich im Fall Deutschlands die Zusam- maßgeblich für die fiskalische Überwachung der Mitglied mensetzung der „Kostentreiber“ etwas anders dar. Den staaten. Hauptanteil werden mit 2,1 Prozentpunkten die Renten ausmachen, während die Kosten für Gesundheit und Auf der Grundlage dieses Szenarios projiziert der Alters- Langzeitpflege nur mit einem Zuwachs von 0,4 respektive bericht einen Gesamtanstieg der altersbedingten Kosten 0,2 Prozentpunkten zu Buche schlagen werden. von heute 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf 25,9 Prozent über alle Ausgabenfelder hinweg. Hierbei Renten – wo stehen wir heute? weisen die Mitgliedstaaten allerdings erhebliche Unter- schiede auf. Deutschland gehört zu den 15 Ländern, in Der Rentenangemessenheitsbericht wendet sich zwei denen der Anstieg am signifikantesten ist. zentralen Fragen zu: Reichen die Renten – heute und in Zukunft – zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards, Aufschlussreich ist die Einteilung des Anstiegs nach den und verhüten sie Altersarmut? einzelnen Posten. „Haupttreiber“ des Anstiegs in den Mit- gliedstaaten insgesamt werden die Ausgaben für Gesund- Nach einem Rückgang von Armut und sozialer Aus- heit (+ 0,9 Prozentpunkte) und Langzeitpflege (+ 1,1 Pro- grenzung Älterer (im Sinne eines fehlenden Zugangs zu zentpunkte) sein, während der Beitrag der Rentenkosten elementaren Gütern) ist ein leichter Anstieg der Werte in nach einem vorübergehenden Anstieg wieder auf das den letzten drei Jahren (bis 2019) EU-weit auf 18,5 Pro- Niveau des Ausgangsjahres zurückfallen wird. Dagegen zent zu verzeichnen. Deutschland liegt leicht darüber. sollen die Ausgaben für Erziehung und Bildung leicht Gleichzeitig ist das Einkommensniveau (Medianeinkom- sinken. men) der Älteren im Verhältnis zu dem der Jüngeren seit 5
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege Niedrige Altersein- 2016 leicht gesunken. Im Jahr 2019 betrug es 89 Prozent. Betrachtet um 2,8 Prozentpunkte gesunken, und auch in Deutschland hat sie sich künfte sind oft das man die so genannte „aggregierte verringert. Modellrechnungen für vier Lohnersatzrate“6, so beträgt diese Länder zeigen, dass sich aufgrund Ergebnis niedriger im EU-Durchschnitt nur 57 Prozent. geänderter Erwerbskarrieren die Ren- Erwerbseinkünfte Deutschland liegt hier mit 44 Prozent sogar noch deutlich niedriger. tenschere bis zum Jahr 2050 weiter verringern wird. und unterbrochener Niedrige Alterseinkünfte sind oft das Interessant ist auch, dass sich in Erwerbskarrieren. Ergebnis niedriger Erwerbseinkünfte vielen Ländern die Dauer des Ruhe- und unterbrochener Erwerbskarrieren. stands verkürzt hat: Das Rentenalter Hier können, so der Bericht, Mindest- steigt schneller als die Lebenser- und Grundsicherungsleistungen einen wartung. Im Lebenszyklus werden wichtigen Beitrag zur Angemessenheit nunmehr im Schnitt 40 Jahre aktiv leisten. Tatsächlich haben bereits und 20 Jahre im Ruhestand verbracht. einige Mitgliedstaaten in den letzten Jahren diese Elemente ausgebaut. Renten – der Blick in die Zukunft Altersarmut ist oft auch weiblich. Die Der Blick in die Zukunft verheißt wenig geschlechtsbezogene „Rentenschere“ Erfreuliches, jedenfalls was die Leis- beträgt immer noch 29,5 Prozent tungsseite angeht. Der Angemessen- (2019). Sie ist aber immerhin seit 2016 heitsbericht warnt unzweideutig vor einem Absinken des Rentenniveaus. Wer im Jahr 2059 in Rente geht, wird 6 Sie vergleicht 10-Jahres-Kohorten vor (Arbeitseinkom- men) und nach (Renten) dem Eintritt in den Ruhestand. im Verhältnis zu seinem Erwerbsein- Altersarmut ist oft weiblich. Die geschlechtsbezogene „Rentenschere“ beträgt immer noch 29,5 Prozent. 6
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege kommen eine niedrigere Rente haben Der Blick in die Zukunft verheißt wenig Erfreuliches, als ein Neurentner im Jahr 2019 – bei jedenfalls was die Leistungsseite angeht. gleicher Erwerbskarriere. Zwar geht der Bericht von künftig längeren Erwerbsverläufen aus, diese blieben aber hinter dem Anstieg des gesetzli- chen Rentenalters zurück. Methodisch fußt diese Aussage auf einem Ver- gleich der theoretischen Ersatzraten7. Heute (2019) liegt die Netto-Ersatzrate (unter Berücksichtigung der Steuern) im Fall Deutschlands bei 57,8 Prozent und damit im unteren Bereich, gegen- über dem Spitzenreiter Niederlande mit über 100 Prozent. In Zukunft – bis zum Jahr 2059 – soll das Niveau in vielen Mitgliedstaaten drastisch absinken, während es in Deutschland leicht steigen soll. Erweitert man den Horizont bis auf das Jahr 2070 und wählt als Maßstab das Verhältnis der Wer im Jahr 2059 in Rente geht, wird Durchschnittsrenten zu den Durch- schnittslöhnen, so ergibt sich in fast im Verhältnis zu seinem Erwerbsein- allen Mitgliedstaaten ein Rückgang, und zwar um durchschnittlich circa kommen eine niedrigere Rente haben 9,5 Prozentpunkte. als ein Neurentner im Jahr 2019. Große Aufmerksamkeit widmet der Bericht der Kluft zwischen dem gesetzlichen und dem tatsächlichen Renteneintrittsalter. Sie soll sich im EU-Durchschnitt verdoppeln, von Blickt man nun auf das Alter, in dem punkt, gemessen am BIP. Dies wird heute einem auf zwei Jahre. Davon zu die Menschen tatsächlich ihr Arbeits- damit erklärt, dass in vielen Ländern unterscheiden ist die Kluft zwischen leben beenden, ergibt sich folgendes Minimumrenten zusammenfallen mit dem tatsächlichen Renteneintrittsalter Bild: Im EU-Durchschnitt sind dies allgemeinen Sozialhilfeleistungen, die und dem tatsächlichen Ausscheiden heute 63,8 Jahre für Männer und ihrerseits nicht in den Projektionen aus dem Arbeitsmarkt. Nimmt man 63,0 Jahre für Frauen. Die Projek enthalten sind. beide Effekte zusammen, vergrößert tionen für das Jahr 2070 gehen von sich die Differenz um ein knappes einem Anstieg auf 65,4 respektive Auf der Kostenseite wird der Blick weiteres Jahr. 64,8 Jahre aus. Besondere Aufmerk- vor allem auf die Entwicklung des samkeit widmet der Altersbericht dem Anteils der öffentlichen Rentenausga- 7 „Theoretisch“, weil er auf Musterfällen beruht. Und Thema der Mindest- und Grundrenten ben im Verhältnis zum BIP geworfen. „Ersatz“, indem die Höhe der ersten Rentenzahlung einschließlich gezielter Leistungen Dem liegt ein recht weites Verständ- mit dem Niveau des letzten Lohns vor Eintritt in den Ruhestand verglichen wird. Hierbei wird von einer zum Schutz vor Altersarmut. Die Aus- nis „öffentlicher Rentenausgaben“ ununterbrochenen Erwerbskarriere von 40 Jahren bei gaben hierfür bewegen sich allerdings zugrunde. In Übereinstimmung mit nationalem Durchschnittsverdienst ausgegangen. Nicht zu verwechseln mit der oben erwähnten „aggregierten mit wenigen Ausnahmen in einem den Regeln der volkswirtschaftlichen Lohnersatzrate“. Bereich deutlich unter einem Prozent- Gesamtrechnung fallen alle Systeme 7
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege hierunter, für die der Staat die finan- Anstieg bis zum Jahr 2070 wieder auf Gesundheit zielle Letztverantwortung übernimmt. das heutige Niveau zurückfallen. Kon- Einbezogen sind daher auch Min- kret: Die Ausgaben sollen gemessen Die Gesundheitsausgaben8 schlu- dest- und Grundrenten für diejenigen, am BIP im Durchschnitt von 11,6 Pro- gen gemessen am BIP im Jahr 2018 die nicht genügend einkommensbe- zent auf 11,7 Prozent leicht steigen. Im im europäischen Durchschnitt mit zogene Anwartschaften erworben Fall Deutschlands wäre der Anstieg mit circa zehn Prozent zu Buche. Davon haben, nicht aber Leistungen aus zwei Prozentpunkten deutlich stärker. sind 7,8 Prozentpunkte öffentliche den allgemeinen Sozialhilfesystemen. Dabei handelt es sich allerdings um Ausgaben; in Deutschland sind es Auch Sondersysteme wie die für Bruttoausgaben. Berücksichtigt man, 8,9 Prozent. Die Gesundheitskosten Beamte fallen hierunter sowie vorge- dass auf Renten oft Steuern und Sozi- steigen ab dem Alter von 55 Jahren zogene Renten, Hinterbliebenen- und alabgaben erhoben werden, so erhält (Männer) bzw. 60 Jahren (Frauen) Erwerbsminderungsrenten. man die Nettoausgaben. Diese sind an. Der demografische Wandel kann im europäischen Schnitt 1,5 Prozent- zu einem Kostentreiber bei den Ge Wie oben dargestellt, würde nach der punkte niedriger. Deutschland gehört sundheitsausgaben werden, wenn Projektion der Anteil der Rentenaus- zu den Ländern, in denen der Steuer- es nicht gelingt, gegenzusteuern und gaben nach einem vorübergehenden anteil am stärksten ansteigen wird. den Menschen mehr gesunde Jahre zu bescheren. Einen weit größeren Einfluss als demografische F aktoren hatte in der Vergangenheit der medi- zinische Fortschritt. Hier setzt das Der demografische Wandel könnte Engagement der Sozialkassen zur die Gesundheitsausgaben in die Höhe Gestaltung einer effizienten Gesund- heitsversorgung und der Stärkung der treiben. Prävention an. Im europäischen Durchschnitt wird ein Kostenanstieg von 0,9 Prozentpunk- ten errechnet – von 6,6 Prozent auf 7,5 Prozent des BIP. Für Deutschland Die Gesundheitskosten steigen ab dem Alter von sind es dagegen nur 0,4 Prozent- 55 Jahren (Männer) bzw. 60 Jahren (Frauen) an. punkte – fast am untersten Ende der Vergleichsskala – von 7,4 Prozent auf 7,8 Prozent des BIP. Dies mag unter anderem auch mit dem relativ hohen Anteil Privatversicherter zusammen- hängen. Es wird davon ausgegangen, dass die Versichertenkollektive der Privatversicherung schneller altern als die der gesetzlichen Krankenkassen – nicht zuletzt wegen des erschwerten Zugangs zur Privatversicherung. Dies entlastet, wie der Altersbericht aus- drücklich hervorhebt, den öffentlichen Sektor. 8 Nur in diesem Zusammenhang einschließlich Lang- zeitpflege. Der Altersbericht verwendet hier den Begriff „long term nursing care“, S. 104. 8
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege Voraussichtlicher Anstieg der öffentlichen Gesundheitsausgaben aufgrund des demografischen Wandels im Zeitraum 2019-2070 in % des BIP 10 9 1,3 8 0,7 0,9 1,4 7 1,4 1,1 1,0 1,2 1,2 1,2 6 1,6 1,0 1,4 2,9 1,5 1,0 1,9 1,0 1,2 2,9 5 2,8 1,8 0,8 1,2 0,4 0,9 0,9 0,7 1,7 4 1,0 1,3 3 0,3 2 1 5,7 5,7 5,7 5,7 5,7 8,4 2,9 3,6 3,9 4,1 4,2 4,4 4,6 4,6 4,8 4,9 4,9 4,9 5,6 6,6 6,7 6,7 6,8 6,9 7,2 7,4 5,4 5,9 5,9 5,9 6,1 7,0 0 CY LU RO IE LT EL BG LV HU PL NMS EE MT CZ PT NL ES BE SK HR IT SI FI EU DK EA EU14 AT NO SE DE FR 2019 Anstieg 2019 - 2070 Anmerkungen: Die EU-, EA-, EU14- und NMS-Durchschnitte in allen Ergebnistabellen sind nach dem BIP gewichtet. Die Höhe der öffentlichen Ausgaben 2019 ist das erste Jahr der prognostizierten Ausgaben auf Quelle: Commission services, EPC. der Grundlage der neuesten verfügbaren Daten. Gesundheitsausgaben schließen langfristige Pflege aus. Wie bereits angedeutet – einen großen Einfluss auf das Langzeitpflege – wo stehen wir heute? Ergebnis haben Annahmen dazu, ob zusätzlich gewon- nene Lebensjahre in guter oder schlechter Gesundheit ver- Langzeitpflege umfasst ein breites Spektrum von Dienst- bracht werden. Sollte es bei guter Gesundheit sein, fallen leistungen und kann – wie beispielsweise in Deutschland – die Projektionen deutlich günstiger aus; im Fall Deutsch- sowohl als Sachleistung, als Geldleistung oder in Kom- lands sollen die öffentlichen Gesundheitsausgaben (im bination zur Verfügung gestellt werden. Die Projektionen Verhältnis zum BIP) sogar sinken. Werden dagegen denk- beschränken sich auf öffentliche Ausgaben. bare nicht-demografische Kostentreiber betrachtet, wie Innovationen im Gesundheitssektor oder ein verändertes Hinzu tritt ein nicht unbeträchtlicher privat finanzierter Nachfrageverhalten, so ergeben sich gegenüber den rein Anteil. Derzeit werden im europäischen Durchschnitt circa demografischen Ausgangsszenarien deutlich schlechtere 20 Prozent der Pflegekosten privat finanziert, in der Regel Werte. Im europäischen Durchschnitt würde der Zuwachs als Zuzahlung („out of pocket“). In Deutschland sind es fast 3,1 Prozentpunkte betragen, für Deutschland wären es 30 Prozent, auch weil die Langzeitpflege nach dem „Teil- immerhin 2,5 Prozentpunkte. kaskoprinzip“ gestaltet und keine Vollversicherung ist. Der Bericht schließt an dieser Stelle mit den Worten, dass Es liegt daher nahe, dass sich der Langzeitpflege-Bericht demografische und nicht-demografische Faktoren nach ausführlich mit der Bezahlbarkeit von Pflegeleistungen wie vor einen hohen Druck auf die Nachhaltigkeit öffentlich befasst. Der angemessene Zugang wird durch viele finanzierter Gesundheitsausgaben ausüben. Der öffent- Faktoren eingeschränkt, nicht zuletzt durch finanzielle liche Sektor werde auch in Zukunft den Hauptanteil der Hürden. In den meisten Systemen müssen die Pflege- Gesundheitskosten zu tragen haben. bedürftigen hohe Eigenanteile leisten, oft ergänzt durch 9
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege In den meisten Informelle, nicht entlohnte Pflege, wird typischerweise im Familien- oder Freundeskontext verrichtet. Systemen müssen die Pflegebedürf- tigen hohe Eigen- anteile leisten, oft ergänzt durch unbe- zahlte informelle Pflegetätigkeit. unbezahlte informelle Pflegetätigkeit. der Befragten an, dass ihr Job einen wird. Immerhin wird aktuell die Anzahl Eine OECD-Modellstudie ist zu dem negativen Einfluss auf ihre Gesundheit informeller Pflegepersonen EU-weit Ergebnis gekommen, dass in vielen hat – im Vergleich zu 25 Prozent in auf 53 Millionen Menschen geschätzt. der untersuchten Länder im Fall eines anderen Berufen. Die Konsequenz, so In den meisten Fällen verfügen die moderaten Pflegebedarfs nicht einmal eine Studie der Europäischen Stiftung Pflegepersonen über keine entspre- 40 Prozent der Betreuungskosten zur Verbesserung der Lebens- und chende Ausbildung und stehen nicht durch öffentliche Sozialschutzsysteme Arbeitsbedingungen (Eurofound) aus in einem Arbeitsverhältnis mit der zu abgedeckt werden, wobei allerdings dem Jahr 2020: 38 Prozent glauben pflegenden Person. Doch die meisten die Einkommens- und Vermögensver- nicht, dass sie ihren Job bis zum Alter Mitgliedstaaten versorgen informelle hältnisse der Betroffenen eine große 60 durchhalten. Das sind beunruhi- Pflegepersonen mit Rentenanwart- Rolle spielen. Aber auch bei hohem gende Aussichten, denkt man an die schaften, ähnlich wie in Deutschland. Pflegebedarf kann der Eigenanteil bereits beschlossenen oder geplanten Auch sind Geldleistungen an infor- schnell an ein Median-Einkommen Anhebungen des gesetzlichen Ren- melle Pflegepersonen nicht unüblich, heranreichen oder es sogar deutlich tenalters weit über das 65. Lebensjahr entweder direkt (neun Mitgliedstaaten) überschreiten. Eine große Heraus- hinaus. Auch wenn die besonderen oder wie in Deutschland indirekt über forderung besteht daher darin, den Belastungen berufstypisch seien, Geldleistungen an die zu pflegende Eigenanteil für diejenigen zu reduzie- ließen sie sich doch immerhin durch Person (elf Mitgliedstaaten). Die unmit- ren, die ihn sich nicht leisten können. gezielte Maßnahmen abmildern, telbaren Kosten staatlicher Zuwendun- Dieses Problem ist umso drängender, etwa durch eine bessere personelle gen an diesen Personenkreis werden da offenbar gerade Menschen in Ausstattung, so der Langzeitpflege- europaweit auf 0,2 Prozent des BIP niedrigen Einkommensgruppen einen Bericht. geschätzt. In Deutschland ist es dop- höheren Pflegebedarf haben. pelt so viel. Der Pflege-Bericht endet Schon angesprochen wurde die infor- an dieser Stelle mit dem Appell, für Viel Raum nehmen auch die Arbeits- mell erbrachte, nicht entlohnte Pflege, informelle Pflegepersonen zwar mehr bedingungen von Pflegekräften ein, die typischerweise im Familien- oder soziale Absicherungen und sonstige nicht zuletzt wegen der gesundheit- Freundeskontext verrichtet wird. Dies Hilfestellungen zur Verfügung zu stel- lichen Belastungen. Bei einer Erhe- ist eine Realität, die mit Blick auf die len – dies aber nicht auf Kosten des bung im Jahr 2015 gaben 37 Prozent Folgekosten sehr kritisch bewertet Ausbaus der professionellen Pflege. 10
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege Die öffentlichen Ausgaben für Langzeitpflege – h eute und Politikempfehlungen Die Berichte morgen Die Berichte beschränken sich nicht beschränken auf die Darstellung von Fakten und Die öffentlichen Ausgaben für Lang- Projektionen, sondern enthalten auch sich nicht auf die zeitpflege betragen im EU-Durchschnitt zurzeit 1,7 Prozent des BIP. Projiziert immer wieder Politikempfehlungen. Hierzu gehört vor allem der (nicht Darstellung von wird im AWG-Standard-Szenario ein neue) Rat, in einem sich wandelnden Fakten und Pro- Anstieg auf 2,8 Prozent im Jahr 2070. Wirtschafts- und Arbeitsmarktumfeld Im Fall Deutschlands wäre der Anstieg und vor dem Hintergrund des demo- jektionen, son- deutlich niedriger, und zwar von heute 1,6 Prozent auf 1,8 Prozent. Auch hier grafischen Wandels die Alterssiche- rung auf eine breitere Finanzierungs- dern e nthalten spielt es eine Rolle, dass sich vor allem im Sektor der privat finanzierten basis zu stellen, vor allem durch eine progressive Gestaltung der Abgaben. auch immer Ausgaben (durch die substituierende Auch sollen lohnbezogene Beiträge wieder Politik Pflegeversicherung) die demografi- stärker durch andere, weniger das sche Entwicklung stärker bemerkbar Arbeitseinkommen belastende Quellen empfehlungen. macht, was den öffentlichen Sektor ergänzt werden wie beispielsweise relativ entlastet. Kapitalerträge oder Vermögen. In Deutschland wird dies für die Kranken- Die künftigen Kostenentwicklungen und Pflegeversicherung seit vielen werden vor allem von zwei Treibern Jahren unter dem Stichwort „Bür- beeinflusst: dem demografischen gerversicherung“ politisch diskutiert. Wandel, aber auch nicht demografie- Als Beispiel für eine Diversifizierung bedingte Faktoren wie zum Beispiel der Finanzierungsgrundlage wird im der abnehmenden Verfügbarkeit infor- Bericht ausdrücklich die französi- meller Pflege aufgrund des gesell- sche Solidarsteuer (CSG) genannt, schaftlichen Wandels. deren Erträge gezielt den Sozial Die Kostenentwicklungen werden vom demografischen Wandel, aber auch von nicht demografiebedingten Faktoren beeinflusst. 11
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Juli 2021 Alterssicherung, Gesundheit und Pflege schutzsystemen zugutekommen. Der mögliche Beitrag von Verbrauchs- und insbesondere Umweltsteuern wird dage- Kontakt gen vorsichtig diskutiert. Ferner werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, mehr zur Beseitigung der Geschlechterun- Deutsche Sozialversicherung gleichheit zu unternehmen, etwa durch einen Ausbau von Europavertretung Gutschriften für betreuungsbedingte Unterbrechungen der Erwerbskarriere. Generell seien a typische und selbstän- Rue d’Arlon 50 dige Erwerbsarbeit besser zu schützen. 1000 Brüssel Fon: +32 (2) 282 05 50 Zum Gesundheits- und Pflegesektor enthalten die Berichte E-Mail: info@dsv-europa.de Passagen, die sich im Sinne einer vorsichtigen Privatisie- www.dsv-europa.de rung der Kostenlast verstehen lassen. Dies beginnt mit der Einschätzung, bei nicht lebensrettenden Behandlungen werde der private Anteil möglicherweise steigen. Spätes- tens aber im Pflegebereich wird explizit dargelegt, wie sich der Kostenanstieg bremsen lässt – unter anderem Impressum durch eine Konzentration öffentlicher Ausgaben auf die Menschen, die Pflege am dringendsten benötigen und sie Verantwortlich für den Inhalt: sich am wenigsten leisten können. Dies widerspräche dem Deutsche Sozialversicherung in Deutschland, aber auch in anderen Ländern geltenden Europavertretung im Auftrag Ansatz, Pflegeleistungen im Grundsatz nicht von einer der Spitzenverbände der Deutschen materiellen Bedürftigkeit abhängig zu machen. Sozialversicherung Direktorin: Ilka Wölfle, LL.M. Zusammenfassung Redaktion: Ilka Wölfle, Es ist schwer, den vielen hundert Seiten sorgfältiger Analy- Ulrich Mohr, sen in wenigen abschließenden Sätzen gerecht zu werden. Isolde Fastner, Möchte man einige Kernbotschaften mitnehmen, so wären Dr. Wolfgang Schulz-Weidner, es vielleicht diese: Stefani Wolfgarten, Iris Kampf, • Die Ausgaben für die Alterssicherung entwickeln sich Katja Lippock langfristig stabil. Das mag zunächst überraschen, wird aber hart erkauft – durch einen späteren Renteneintritt Produktion: mails and more – und einen substanziellen Rückgang der Lohnersatzrate. Service für Dialogmarketing GmbH • Kostenanstiege drohen langfristig bei den Ausgaben Grafik/Layout: Naumilkat – Agentur für Gesundheit und Langzeitpflege. Doch es ist nicht in für Kommunikation und Design erster Linie der demografische Wandel, der Anlass zur Sorge bereitet. Bildnachweis: Adobe Stock / Coloures-Pic und • Einen wesentlichen Beitrag zum Anstieg altersbedingter iStockphoto / richterfoto (S. 1), öffentlicher Ausgaben leisten aber auch die Kosten für Adobe Stock / magele-picture Langzeitpflege. Druck entsteht auch wegen der tenden- (S. 3), iStockphoto / olaser (S. 4), ziell abnehmenden Verfügbarkeit informeller Pflege. iStockphoto / kasto80 (S. 6), iStockphoto/martinwimmer (S. 7), iStockphoto / ipopba (S. 8), Adobe Stock / Photographee.eu (S. 10), iStockphoto / smshoot (S. 11) 12
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