Always on - gefangen im Netz? Computerspiel- und Onlineabhängigkeit im Kinder- und Jugendalter Eine klinische Perspektive
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Always on – gefangen im Netz? Computerspiel- und Onlineabhängigkeit im Kinder- und Jugendalter Eine klinische Perspektive 17.06.2021 1
„Jetzt wird es eng. Sollte ich auf die gegnerische Maiden blinken und hoffen, dass der Basher procct? Oder lieber kurz auf dem Highground neben dem Runespot warten, bis unser Carry da ist? Wenn der Gank funktioniert, dann kann ich den BKB finishen und wir snowballen so hart, dass wir die Racks fünf Minuten später down haben, und wenn sie dann kein Buyback benutzen, dann ist ggwp.“ Chat eines Spielers von DotA 2 „Defense Of The Ancientes“ 17.06.2021 2
Epidemiologie „Kultur des gesenkten Blicks“ PINTA- Studie von 2013 („Prävalenz für Internetabhängigkeit“)* Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, N= 693 (14-16-jährige) Gesamt: 4,0% Mädchen: 4,9% [ca. ¾ soziale Netzwerke, 1/20 Onlinespiele] Jungen: 3,1% [ca. 2/3 soziale Netzwerke, 1/3 Onlinespiele] Suchtbericht der BZgA 2017 (12-17Jährige)*: 5,3 % der Jungen und 6,2% der Mädchen Suchtbericht der BZgA 2019 (12-17Jährige)*: 6,7 % der Jungen und 8,6 % der Mädchen *„Computerspiel- und Internetbezogene Störungen“ (erfüllte Abhängigkeitskriterien) 17.06.2021 3
Faszination • 2016: Keyarena Seattle, 17000 Zuschauer, 5,8 Mio TV-Zuschauer, 10 Mio $ Preisgeld • 2019: 3 Mio € Preisgeld 17.06.2021 12
Faszination Was fasziniert Jugendliche an virtuellen Welten? Zusammenspiel von: • „Oberfläche“ (Grafiken, Sounds, Animation, Setting) • „Inhalt“ (Geschichten, Spannung, Handlung, Abwechslung, (Un-)Vorhersehbares, Emotionen) • „Erlebnis“ (Herausforderung, Wettbewerb, soziales Miteinander, Erfolge, Niederlagen, Belohnung) 17.06.2021 13
Faszination Befriedigung von Bedürfnissen Spiel Realität Identität weitgehend frei wählbar, mit Fortschritt „besser“ im Sozialisationsprozess mühevoll veränderbar Bedeutsamkeit Macht, Kontrolle, Einfluss begrenzte Wirksamkeit, gesellschaftliche Strukturen, Ohnmacht Soziale Integration „ohne mich geht nichts“ in Pubertät oft das Gefühl der Verantwortung, Durchsetzungskraft, Ablehnung, Isolierung Zugehörigkeit Fertigkeiten Anforderungen frei wählbar, Stärken stärken Anforderungen werden vorgegeben, Schwächen verringern müssen Erfolg schnell, lustbetont Bemühungen oft frustrierend Rolle zu Eltern/Lehrern Ich kann was, was Eltern/Lehrer nicht können, Eltern/Lehrer bestimmen den Rahmen, Überlegenheit Unterlegenheit (Demonstration von Autonomie und Kompetenz) 17.06.2021 14
Computerspiele Wie nutzen Spieleentwickler die „Suche nach Bedürfnisbefriedigung“ am Bsp. von COC 165 Mio. registrierte Nutzer* 2,4 Mio $ Umsatz täglich* (*2013) Aufnahme in eine Gemeinschaft gleicher Interessen (Clans) Aber: Clans üben Gruppendruck aus • Zeitlich: hohe Spielzeiten werden anerkennend bewertet Belohnung bei längerer Abwesenheit (Offlinezeit) verfallen Bonuspunkte „Kampfkalender“ (nicht während der Schulzeit, meist am Abend) • Inhaltlich: erfüllt eine Rolle, man erhält Verantwortung innerhalb des Clans Ausstieg? • Sozial: keine Hürde einzusteigen, sofort Zugehörigkeitsgefühl & Kommunikation via „Teamspeak“ (schnelles Gelingen sozialer Integration) , gemeinsame Problembewältigung, Verbesserungen sind äußerlich, auch für andere sichtbar Realitätsabgleich 17.06.2021 15
Computerspiele Weitere spielfördernde Bedingungen: • Einstieg meist kostenlos (Free-to-Play) mit zunächst stark frequentierter Verstärkung (niedriges Level mit schneller und häufiger Belohnung) • Spieler macht die Erfahrung einer schnellen Machtvergrößerung („highleveln“) im Verlauf intermittierende Verstärkung (Erfolg wird nur sporadisch belohnt, man hat aber schon Zeit invenstiert) • Kostenpflichtig Verbesserungen (In-App-Käufe). Lt. JIM 13% versehentlich Käufe o. Abos abgeschlossen • Auslösung eines Flow-Erlebnisses (Erreichung des größtmöglichen Glücksgefühls bei Erfolg im Zuge einer „Nahtoterfahrung“) • Bei Misslingen kann sofort ein erneuter Versuch gestartet werden 17.06.2021 16
Computerspiele Weitere spielfördernde Bedingungen: • Entwicklung/Annehmen einer frei wählbaren Persönlichkeit (digitale Identität) in Form eines Avatars (aus dem Sanskrit „Abstieg“ = Herabsteigen einer Gottheit in irdische Sphären) 17.06.2021 17
World of Warcraft Cinematic Trailer https://youtu.be/vlVSJ0AvZe0 17.06.2021 18
Welches ist das beliebteste Spiel der 14-15 jährigen? 17.06.2021 19
Fortnite Battle Royal – Gameplay Trailer https://www.youtube.com/watch?v=2gUtfBmw86Y 17.06.2021 20
Soziale Medien Was ist so faszinierend an WhatsApp, Instagram, tiktok, facebook und Co? • Unterhaltung • Entspannung • schneller Informationsaustausch • etwas von anderen erfahren • Pflegen von sozialen Beziehungen auch mit räumlich entfernten Freunden oder Verwandten • Beziehungsaufbau und –management • Partizipation an und Austausch von zivilgesellschaftlichen Themen (Politik) • Parallelkommunikation mit Abwesenden im Beisein anderer 17.06.2021 22
Digitale Selbstdarstellung Experimentieren mit verschiedenen Formen der Selbstdarstellung und Wegen der Rückmeldung (Jugendliche verändern ständig die Art sich zu präsentieren, Profilseite als Projektionsfläche) Chancen - Kommunikationsstrukturen unbeeinflusst von Erwachsenen - Gelungene Selbstdarstellung wird mit Likes belohnt - Erlernen einer Selbsteinschätzung durch (fehlende) Anerkennung - Bildung eines Selbstkonzeptes - Möglichkeit des Teilens von erfreulichen Aspekten der eigenen Identität mit anderen - Aktive Gestaltung statt passive Nutzung 17.06.2021 23
17.06.2021 24
Risiken/(Chancen) & Folgen 17.06.2021 27
Zaubertrick mit dem Smartphone im Straßenverkehr https://youtu.be/P9UxWcZbGMQ Risiko der „Kultur des gesenkten Kopfes“ 17.06.2021 28
Digitale Selbstdarstellung • Die Wahrnehmung des eigenen Selbst, gerade bei jüngeren unsicheren Personen, hängt von der Reaktion der Community ab • Man gibt sich selbst der ganzen Welt zum Rating frei • Ohnehin altersbedingtes fragiles Selbstbild wird zusätzlich durch Reaktionen anderer angegriffen • Bewertung meist ausschließlich äußerer Merkmale • Inszenierung eines aufregenden und rundum geglückten Lebens kann/wird bei (real erlebten) weniger erfolgreichen und beliebten Jugendlichen Frustration hervorrufen • Sichtweise anderer wird als Erwartungsmuster internalisiert, woraus sich die soziale Rolle speist (aus der Gruppenzugehörigkeit erschließt sich wer man ist) • Soziale Foren suggerieren familiär-freundschaftliche Atmosphäre mit vermeintlicher Individualität. Aber! Sie besteht oft nur daraus, andere in ihrer Offenheit und Präsentation zu überbieten 17.06.2021 29
Selbstdarstellung Du bist was du postest • Öffentliches Profil • Klarname • Private Informationen • Snapchat- Nutzername • Verletzung Bildrechte • Prekäre Bilder (90 Benutzer, welche Bilder speichern und verteilen können) 17.06.2021 30
Digitale Selbstdarstellung Pubertierende sind im Rahmen ihrer Identitätssuche sehr empfänglich dafür, die Wucht der „digitalen Klebrigkeit“ durch Verteilen von Fotos oder gar Nacktfotos („Sexting“) ausgesetzt zu sein Vorbilder ? 17.06.2021 31
Sexuelle Grenzverletzungen im Netz • ungewollte Konfrontation mit sexualbezogenem Bildmaterial „unwanted exposure“ (zb „Dickpics“) • Austausch von sexualbezogenem Nachrichten in Formen von Bildern, Videos, Text „Sexting“ • Gezielte Kontaktaufnahme durch Erwachsene mit dem Ziel der Anbahnung sexueller Kontakte insbesondere zu Kindern „Grooming“ • Offline-Kontakt (durch Nötigung und Erpressung mit Text-/Bildmaterial) 32 17.06.2021
Soziale Medien (Risikofaktor FOMO) Manche haben das Gefühl, nichts verpassen zu dürfen (Always-On-Mentalität) aus Angst davor, aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden (Fomo – Fear of Missing out). Die Welt von anderen Kindern erscheint oftmals spannender als die Eigene. Der persönliche Alltag wird als trist erlebt. Trotz langweiligen Alltags und fehlender eigener sonderbaren Interessen ist Teilhabe wichtig, um nicht aus der Peer ausgeschlossen zu werden 17.06.2021 33
Soziale Medien Die Rückmeldungen auf präsentierte Inhalte geschehen meist unmittelbar in Form von Kommentaren, Likes oder Dislikes. Es wird oftmals versucht, andere in der Frequenz der Selbstmitteilung und Form der Selbstdarstellung zu überbieten. Die Möglichkeit des schnellen Austausches von Informationen übt auf manche Kinder enormen Druck aus. Posen mit und Posten von Selfies + stete vorausgesetzte Erreichbarkeit (POPC - Permanently online, permanently connectet) Stress „digitale Ungeduld“ Reaktionen oder Antworten müssen sofort gesendet werden bzw wird dies auch erwartet „digitales Hamsterrad“ 17.06.2021 34
Medien und mögliche Einflüsse auf die soziale Entwicklung gewaltbetonte Medieninhalte nach 1) Bandenmitgliedschaft, 2) defizitären Eltern-Kind-Beziehungen, 3) männlichem Geschlecht, 4) reale Gewalterfahrungen auf Platz 5 der zehn stärksten Prädiktoren für Jugenddelinquenz Enthemmung für Gewalt • Skripttheorie (Anleitung, Imitation, Idealisierung) entspricht sozial-kognitiver Lerntheorie • Desensibilisierungshypothese Gewaltdarstellungen im Internet werden als belastender empfunden als in den klassischen Medien Gründe: höhere Intensität, reale Athentizität, Kontextlosigkeit, Anonymität, allgegenwärtige Verfügbarkeit 17.06.2021 35
!! Unregulierte Aussetzung eines Kindes mit gefährdenden Medieninhalten (insbesondere im Hinblick auf frequentierte Traumatisierung, Gewalt, aber auch Pornografie, Grooming) im Rahmen der allgemeinen Verwahrlosung/ Vernachlässigung entspricht einer Kindeswohlgefährdung !! 17.06.2021 36
Digitalisierung und komorbide Störungen https://youtu.be/Ay0vh2rRG-E 17.06.2021 37
Digitalisierung und komorbide Störungen Medienkonsum als stressfreies Zeitfenster, Konfliktvermeidung, Ruhigstellung Die ADHS-Symptomatik/Problematik wird im familiären Rahmen „demaskiert“ „Nur die Schule beschwert sich. Zu Hause gibt es keine Probleme.“ Medienkonsum möglicherweise Folge von ADHS ?? 17.06.2021 38
Digitalisierung und komorbide Störungen ADHS Thesen: 1. optimales Stimulationsniveau (Aufmerksamkeitsdefizit) Versuch unangenehme Unterstimulation entgegenzuwirken durch schnelle Stimulation und Aktivierung 2. Abneigung gegen zeitliche Verzögerung (Impulsivität) schnelle Belohnung wirkt dem entgegen CAVE! Insbesondere für ADHS-Kinder ist es durch Medienkonsum gelegentlich überhaupt erst möglich, positive Erfahrungen in der sozialen Interaktion zu machen kurzfristige Linderung von Kernsymptomen durch Medienkonsum, langfristig jedoch verstärkt sie oder führt zu exzessivem Spielverhalten aufgrund der positiven Erfahrungen 17.06.2021 39
Digitalisierung und komorbide Störungen Autismus Möglichkeit der Steuerung sozialer Interaktionsprozesse Interaktionsprozesse größtenteils vorhersehbar Stimuli selbst auswählbar, Spielprozesse oder Filme können beliebig oft wiederholt oder geschaut werden, ohne dass es andere merken oder sich daran stören Sonderinteressen können nachgegangen werden vor allem Strategiespiele, da die Welt nach der Ordnung gestaltet werden kann die man selbst präferiert 17.06.2021 40
Digitalisierung und komorbide Störungen Internalisierende Störungen (Angst und Depression): Jugendliche mit internalisierenden Störungen neigen im Allgemeinen zum negativ sozialen Vergleich mit: Tendenz zur negativen Selbstbewertung, exzessiven Suche nach Feedback/Rückversicherung Furcht vor sozialer Bewertung Sehnsucht nach Aufzeigen eigener Unzulänglichkeiten (Bestätigung der Selbstabwertung) schlechte Stimmung/Gereiztheit familiäre Probleme/Konflikte Flucht in die virtuelle Welt (Finden o.g. dysfunktionaler Neigungen) soziale Isolation schlechte Stimmung wenig Bewegung Muskelabbau/Gewichtszunahme, Schlafstörungen Müdigkeit Leistungsabfall in der Schule schlechte Stimmung 17.06.2021 41
Medien in der Schule Risiken für Schüler: • Verleiten zum Kopieren und unkritisches Übernehmen von Inhalten • oberflächliche Auseinandersetzung mit Unterrichtsgegenstand • negative Wirkung auf Schreibfertigketen • reduzierte Kommunikation der Schüler untereinander • organisatorische Probleme 17.06.2021 42
Medien in der Schule Chancen für Schüler: • Steigerung der Selbstständigkeit durch Online-Tutorials (Anleitung zu lebenspraktischen Aufgaben; Youtube „Wissen2go“ alternativ https://www.funk.net/funk) • Förderung der Individualität durch zB das Erlernen von Filmzusammenstellungen • Möglichkeit der Teilhabe (geringe Schwelle) und Wecken von Interessen an: Politik, Umwelt, Menschenrechten • Adaptive Lernsysteme (Elearning) auch zur Möglichkeit systematischer Früherkennung von Lernschwierigkeiten, Tempo anhand individueller Leistungsvoraussetzungen veränderbar gesellschaftliche Partizipation (v.a. i.S. einer gelungen Inklusion) 17.06.2021 43
Folgen 17.06.2021 44
https://youtu.be/N_Rh56ypjhU 17.06.2021 45
PAUSE Vielen Dank für die Aufmerksamkeit 17.06.2021 46
Digitalisierung im Säuglingsalter Ausbildung von Interneuronen und Netzwerkstrukturen vor allem in den ersten zwölf Lebensmonaten Aufgrund der Abhängigkeit von äußeren Einflussfaktoren ist diese extrem irritabel und vulnerabel für äußere Einflüsse 17.06.2021 47
was braucht das Kind in den ersten zwölf Lebensmonaten? keine Medien! Spracherwerb und Medien In den ersten 24 Lebensmonaten Sprachvermittlung mit Medien prinzipiell möglich, aber es fehlt die Interaktion! Sprachfernsehen vor 24 Monaten Nonsens, da kein sinnvoller Wissenstransfer stattfindet (Sprachvermittlung findet hauptsächlich durch Interaktion statt) Grobmotorik Touchscreenkontakt fördert Motorik? direkte Korrelation von Fähigkeit zur „Touchscreenbewegung“ mit „Turmbau durch Bauklötzer“ Aber: Interaktion? Koordination und Handlungsplanung fördert es nicht wie im Gegensatz dazu beispielsweise Holzeisenbahnbau Durch Touchscreenkontakt folgt motorische Deprivation 17.06.2021 48
Empfehlung von pädiatrischen Berufsverbänden: kein Konsum von Bildschirmmedien unter dem dritten Lebensjahr! Physiologisch unter 18. Lebensmonat tatsächlich sinnlos da kein Wissenstransfer; Außerdem: Fähigkeit der Selbstregulation des Säuglings wird abgegeben 17.06.2021 49
Einfluss auf die körperliche Entwicklung Unsere Eltern hatten doch recht! „Vom Fernsehen bekommst du eckige Augen“ Durch ständiges Nahsehen [Fernsehen] und wenig Sonnenlicht wird wahrscheinlich dopamininduziert das Längenwachstum nicht gebremst Kurzsichtigkeit Auch: Vernachlässigung der Körperhygiene, Muskelhypotonus, Übergewicht 17.06.2021 50
Einfluss auf die kognitive Entwicklung „Digitale Demenz“ • erhebliche Störung des Schriftspracherwerbs (nicht schreiben, sondern tippen oder wischen) • redundate sprachlich-kommunikative Fähigkeiten durch hohen Fernsehkonsum (+ v.a. Bevorzugung von „language-poor“-Programmen bei weniger intelligenten Kindern) • defizitär ausgeprägte Lesefertigkeiten • geringe Fähigkeiten der Gefühlsverarbeitung/Emotionsregulation (auch aufgrund fehlender Verbalisierung) geringere Frustrationstoleranz verminderte Fähigkeit zur Bedürfnisaufschiebung Fehlende Fähigkeit zur Kompromissbildung vermindert ausgeprägte Anstrengungsbereitschaft 17.06.2021 51
Einfluss auf die kognitive Entwicklung mediale Dauerberieselung und oberflächliche Verarbeitung fehlende Förderung der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung, insbesondere bei reduzierter Motivation (Schule) und mangelnde Regulationsfähigkeiten (Wut, Sorgen, Langeweile) • 69,5 % der 2- bis 5-Jährigen können sich weniger als zwei Stunden selbständig ohne die Nutzung von digitalen Medien beschäftigen • 70 % der Kinder im Kita-Alter benutzen das Smartphone ihrer Eltern mehr als eine halbe Stunde täglich Quelle: Rheinische Fachhochschule Köln: BLIKK-Studie 2017 (Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz, Kommunikation) 17.06.2021 52
Einfluss auf die körperliche, kognitive & soziale Entwicklung Positive Auswirkungen? • Steigerung der sozialen Kompetenzen durch prosoziale Medieninhalte (prosoziale Szenen ca 4x/Stunde, aber auch Gewaltdarstellungen ca 14x/h) • Lernprozesse fördernd (strategisches-räumliches Denken) • Steigerung der Reaktions- und Verarbeitungsgeschwindigkeit Quelle: M. Zemp, G. Bodenkamp (2015): Neue Medien und kindliche Entwicklung, Positive Effekte von neuen Medien auf Kinder und Jugendliche. Springer Fachmedien Wiesbaden • Förderungen von Stresstoleranz • Förderung der sozialen Kommunikation (insbesondere für sozial Inhibierte) • Förderung schneller Regelerfassung • Problemanalyse und –lösung (in Echtzeit) 17.06.2021 53
Schädlich oder nicht schädlich??? Die Dosis macht das Gift Langes Spielen oder das Verbringen von Zeit in sozialen Netzwerken bedeutet nicht gleich, eine Sucht zu haben. Vielmehr ist es von Bedeutung, welchen Einfluss und mögliche Folgen der Konsum auf die kindliche Entwicklung hat und ob es möglich ist, diesem dann entsprechend zu begegnen. 17.06.2021 54
Suchtentwicklung Internet Gaming Disorder (DSM V) „Internetsucht“ „Computerspiel- und Internetabhängigkeit“ „Medienabhängigkeit“ Diagnose wird von WHO anerkannt (2018) Diagnosekriterien orientieren sich an Kriterien der stoffgebundenen Abhängigkeit, ICD 11 (ab 2022) = Gaming Disorder (Verhaltenssucht, aktuell Impulskontrollstörung) 17.06.2021 55
Medienabhängigkeit Seit mind. einem Monat oder wiederholt in den letzten 12 Monaten 5 oder mehr Kriterien (+1) VERHALTEN Andauernde Beschäftigung/ Einengung (dominante Aktivität des tägliches Lebens) Gedankenkreisen (ständige gedankliche Beschäftigung auch während anderer Beschäftigungen) Zeitkriterium spielt untergeordnete Rolle Kontrollverlust Kontrolle über die Zeit geht verloren, Spielen bis spät in die Nacht, Verschiebung Tag-Nacht-Rhythmus Toleranzsteigerung Steigerung der Bildschirmzeiten Entzugssymptome Bei Verzicht Nervosität, Gereiztheit, Niedergeschlagenheit Unternommene Abstinenzversuche scheiterten 17.06.2021 56
Medienabhängigkeit Folgen Anhaltender Konsum trotz Wissen von eingetretenen schädlicher Folgen (soziale, körperlich, psychisch, strafrechtliche) Sozial: • Alterstypische Aufgaben werden nicht nur vorübergehend vernachlässigt (Hobbys, Kontakte zu Gleichaltrigen, Schule, Ausbildung, familiäres Zusammenleben) • Täuschen von Familienmitgliedern, Freunden, Therapeuten in Bezug auf das wirkliche Ausmaß des online-Spielens • Finanzieller Ruin, damit verbunden Möglichkeiten der Beschaffung, Geheimhaltung Körperlich: • Verzicht auf Mahlzeiten, Tagesmüdigkeit, Vernachlässigung Körperhygiene Psychisch: • Depressive Symptomatik, Angst, Konsum zur Affektregulation (Linderung von zb Hilflosigkeit, Schuld, Ängstlichkeit) 17.06.2021 57
Medienabhängigkeit Schule Schlaf, bewusste Nahrungsaufnahme, Hygiene 17.06.2021 58
Entstehung eines Suchtgedächtnisses Lerntheoretische Grundlagen zur Verinnerlichung von Verhalten werden bedient erfahrene Belohnungen im Spiel wirken verhaltensverstärkend (operante Konditionierung) • Künftige Stressoren lösen ein medienfokussiertes Bewältigungsverhalten aus • Keine Entwicklung von protektiven Bewältigungsstrategien + durch Sensitivierung des verhaltensverstärkenden Belohnungssystems folgt eine erhöhte Aufmerksamkeit für medienassoziierten Reize (klassisch konditionierten Aufmerksamkeitszuwendung ) Diese Verankerung der Reizpräsentation führt zum Suchtgedächtnis. + Empfindung von Macht, Anerkennung, Verantwortung, Zugehörigkeit, Verbundenheit etc. + Wunsch, etwas zu leisten, sich selbst und anderen zu zeigen, dass man etwas kann (Demonstration von Autonomie und Kompetenz) 17.06.2021 59
Risikofaktor Umwelt • Intrafamiliäre Konflikte (dysfunktionales Familienklima x3, EXIF* 2012) • Sozialstrukturelle Gegebenheiten (Unterschicht x17, Erwerbslosigkeit der Eltern x1,5) Quelle: U. Braun (2014): Exzessive Internetnutzung Jugendlicher im familiären Kontext, Analysen zu Sozialschicht, Familienklima und elterlichen Erwerbsstatus. Springer Fachmedien Wiesbaden • Konsumverhalten der Eltern bzw. deren Einstellungen • oft selbst mit eigenen Nutzungsverhalten befasst bzw mit Verantwortungsübernahme überfordert, unsicher Bequemlichkeit, Beliebigkeit • „Statuspanik“ der Eltern Überforderung mit Schule und Tätigkeiten Überlastung • Kinder beklagen Teilnahmslosigkeit ihrer Eltern am eigenen Alltag und übermäßige Nutzung von E- Medien Flucht in die virtuelle Welt +Exzessive Internetnutzung in Familien, BM für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 17.06.2021 60
Risikofaktor Umwelt Life Child Studie (24. Schwangerschaftswoche bis 16. Lebensjahr, Kohorte insgesamt 50.000 Fälle, Leipzig, Prof. Kiess) immer wiederkehrendes Muster: sozioökonomische Status der Eltern (Bildung, Einkommen) Zusammenhang mit: Fettleibigkeit (BMI) des Kindes (kritisches Fenster zwischen 2. Lebensjahr, wenn Kind da adipös dann 90 % Wahrscheinlichkeit das im 16. Lebensjahr auch adipös) Auffälligkeiten in Sprache, Motorik, Sehen niedrigem Hämoglobinwert Sozialstatus ↓ Auffälligkeiten ↑ Sozialstatus ↓ Medienkonsum ↑ siehe auch EXIF-Studie 2012 (Exzessive Internetnutzung Jugendlicher im familiären Kontext) • Sozialstrukturelle Gegebenheiten (Unterschicht x17, Erwerbslosigkeit der Eltern x1,5) • Niedrige Intelligenz Quelle: U. Braun (2014):, Analysen zu Sozialschicht, Familienklima und elterlichen Erwerbsstatus. Springer Fachmedien Wiesbaden Kausalität? Medienkonsum ↑ Auffälligkeiten ↑ ??? (keine Kausalität, aber Zusammenhang) 17.06.2021 61
Risikofaktor: Person Disponierende Persönlichkeitseigenschaften • Soziale Gehemmtheit • Sensation seeking • Anfälligkeit für Langeweile • Gering ausgeprägte Leistungsorientierung • Defizitäre Fertigkeiten der Gefühlregulation und Stressbewältigung • Defizitäre Fähigkeiten zur Selbstorganisation und Selbststrukturierung Die Möglichkeit, aus „sicherer Distanz“ und mit größtmöglicher Kontrolle mit anderen Nutzern zu kommunizieren, ständige Verfügbarkeit, erlebte Anonymität, hohe Ereignisfrequenz, vergleichsweise einfach und schnell ausführbare Möglichkeit, finanzielle Beiträge zu entrichten bedeutet für gefährdete Personen eine Gefahr der Suchtentwicklung 17.06.2021 62
Risikofaktor: Person • Geringer Selbstwert (Konflikt wird selbstwertrelevant bewertet +nicht in der Lage, funktionelle Unterstützung in der Peer zu besorgen) Schule und Mitschüler werden negativ interpretiert schlechte Schulleistungen Ausbleiben von Erfolgen führt zu einer Abnahme der Selbstwirksamkeitserwartung meist bereits schwach ausgebildetes Leistungsmotiv wird nochmals gemindert + keine soziale Bestätigung + Erleben von Einsamkeit, Bewusstwerden von sozialen Folgen wie Isolation oder Schulverweis zum Schutz des Selbst zieht man sich in sichere Umgebung zurück und fängt an, sich einer Tätigkeit zu widmen, welche Freude bereitet (positive Verstärkung) Veränderung des Selbstbildes (Entstehung einer anderen Wahrnehmung von sich selbst) Folge: Es geht der Bezug zu dem eigentlichen Selbst verloren. Die Vorstellung, was Welt ist, hat sich verändert. 17.06.2021 63
Frühwarnsignale • Alltag wird um den Medienkonsum herum geplant • Unterbrechen des Medienkonsums nur mit großer Mühe möglich • Gereizte Reaktionen auf Einschränkung bei der Nutzung • verspätetes Einschlafen • Müdigkeit tagsüber v.a. Zusammenhang mit Bildschirmgeräten im Kinderzimmer (40% der 5jährigen Kinder haben TV im Zimmer) Quelle: M. Zemp, G. Bodenkamp (2015): Neue Medien und kindliche Entwicklung, Machen neue Medien dumm? Springer Fachmedien Wiesbaden • Probleme dem Unterricht zu folgen, da die Gedanken sich weiterhin mit dem Konsum beschäftigen • Vernachlässigung von Hobbys oder Pflichten wie die Erledigung von Hausaufgaben • es wird die meiste Zeit des Tages lieber allein im Zimmer verbracht 17.06.2021 64
Checkliste Findet eine regelmäßige und anhaltende Nutzung des Internets statt, um sich mit Spielen oder Chatten zu beschäftigen? (gedankliche Einengung) Drehen sich die Gedanken um die Mediennutzung, auch wenn die Beschäftigung mit anderen Dingen stattfindet? (gedankliche Einengung) Scheiterten bereits Versuche, die Nutzung zu reduzieren? (gescheiterte Abstinenzversuche) Gerät bei der Nutzung die Zeit völlig in Vergessenheit? (Kontrollverlust) Wird bis spät in die Nacht gespielt? (Kontrollverlust) Haben die Nutzungszeiten zugenommen? (Toleranzsteigerung) Kommt es zu Unruhe, Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, wenn eine Zeit lang nicht gespielt wird? (Entzug) Ist das Interesse an bekannten Hobbys verloren gegangen? (neg.Folgen) Wird die meiste freie Zeit des Tages lieber allein Im Zimmer verbracht? (neg.Folgen) Haben sich die schulischen Leistungen verschlechtert o. wird nicht mehr zur Arbeit gegangen? (neg.Folgen) Wird auf Mahlzeiten verzichtet oder die Körperhygiene vernachlässigt aufgrund der Nutzung? (neg.Folgen) Werden Gefühle wie Wut, Ärger oder Trauer durch das Spielen abgebaut? (neg.Folgen) 17.06.2021 65
Interventions- möglichkeiten ??? 17.06.2021 66
Arbeit in der Medienambulanz 1. Diagnostik • Suchtanamnese (Eigen- und Fremdanamnese, OSV/CSV, Elternfragebogen) • Fragen zur Spielfigur bezüglich Fähigkeiten, Status/Level sowie Rolle und Funktion in einer Gilde • Motiv des Spielens? (Was wird in der realen Welt als kränkend, was wird in der virtuellen Welt als positiv empfunden?) • Komorbiditäten: ADHS, Depressionen, Identitätskrisen, Sozialphobien, Autismus, substanzgebundene Süchte 2. Motivation und Psychoedukation • Entwicklung eines Problembewusstseins durch Neubewertung und Perspektivwechsel (Entwicklung einer Krankheitseinsicht) • Informationen zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer Sucht Wie konnte Sucht entstehen? An welchen Punkten sind Veränderungen zielführend? Welche therapeutischen Unterstützungsmöglichkeiten gibt es? 17.06.2021 67
Arbeit in der Medienambulanz 2. Motivation und Psychoedukation Absichtslosigkeit → Absichtsbildung → Vorbereitung → Handlung →Aufrechterhaltung/Stabilisierung Cave! Rückfälle müssen als wichtiger Bestandteil im Rahmen des Lern- und Therapieprozesses herausgestellt werden 17.06.2021 68
SMART-Konzept Sinnvoll für die Zielplanung des Vorhabens (der Betroffenen und des Therapeuten) S spezifisch M messbar A attraktiv (Nutzen einer Vierfeldertafel zur Bewusstwerdung von Vor- und Nachteilen einer bestimmten Verhaltensweise) R realistisch T Terminierbarkeit 17.06.2021 69
Arbeit in der Medienambulanz 3. Verhaltenstherapie Problem- und Verhaltensanalyse 17.06.2021 70
Arbeit in der Medienambulanz 17.06.2021 71
Arbeit in der Medienambulanz 3. Verhaltenstherapie • Problem- und Verhaltensanalysen • Gegenüberstellung Persönlichkeitseigenschaften (reale vs virtuelle Welt) • Kompetenzentwicklung zur Bewältigung realer Aufgaben (u.a. Selbstsicherheit, Problemlösung) • Aufbau sozialer Kompetenzen • Aufbau einer sog. Freizeitkompetenz • Vermittlung von funktionalen Stressbewältigungsfähigkeiten (Exposition mit Reaktionsverhinderung) 17.06.2021 72
Arbeit in der Medienambulanz 4. Transfer und Stabilisierung (Rückfallprophylaxe) u.a. Abbau von Prokrastinationstendenzen (Zeitplaner), Notfallplan , Sensibilisierung auf Frühwarnhinweise Aber! Essentiell für eine bestmögliche Rückfallprophylaxe ist die Berücksichtigung der verschiedenen Bedingungsfaktoren einer Abhängigkeit 17.06.2021 73
Elternarbeit Bewussten Medienumgang schulen • Was sind kindliche Bedürfnisse und wie können diese befriedigt werden? • Informationen der Eltern über Medieninhalte, Faszinationsgründe und Ängste ihrer Kinder (FoMo) • Psychoedukation Suchtgefährdung/-entwicklung: Belohnung/Erfolgserlebnisse, Stimulation, Individualität (Avatar) • Verweis auf die Notwendigkeit positiver Kommunikationsmuster (Wertschätzung, Autonomie, Grenzen, Zugehörigkeit/Gemeinsamkeitsempfinden) • Stellung der Medien? (Überhöhung/Strafe) • Wesen des Mediums? (Spiel, Kommunikation etc) • Stimuluskontrolle (Wo steht PC?, eigenes Nutzungsverhalten? [Vorbildfunktion-Modelllernen], Sicherungssysteme?) 17.06.2021 74
Elternarbeit Schärfung des Problembewusstseins Hinweise für Eltern: • Beendigung des Konsums kann zu neuen Konfliktpunkten führen • Versuche, das exzessive PC-Spielen einzudämmen, werden als Bedrohung des gerade erst aufgebauten sozialen Selbstwertes oder Verlust der Identität interpretiert und entsprechend aggressiv beantwortet Besser nicht ohne Vorankündigung den Stecker ziehen 17.06.2021 75
Elternarbeit: Vermittlung medienpädagogischer Inhalte • Unsicherheit bezüglich Handyerziehung abbauen (Wissen über unterschiedliche Bedürfnisse, Ängste (FoMo) und Kompetenzen ihrer Kinder) • Verständigung über alle handybezogenen Themen (Potenziale, Risiken, Interessen) • Sich Selbst und den Heranwachsenden den Einfluss von Gruppennormen und –druck bewusst machen • Vorbildrolle überprüfen !!! • Mediennutzungsvertrag (festgelegte Regeln und Bedingungen) • Gutscheine • Gefahren, Gefahren, Gefahren (zb öffentliche Profile in den Standarteinstellungen von Instagram, Screenshots bei Snapchat, Sexting, Grooming) • Rechtliche Konsequenzen für Kind und Eltern (Beachtung von Musik- und Bildrechten, Surfschein) • Elterliches Monitoring (Jugendschutzsoftware: Filter-, Monitoring-, Zeitkontrollsoftware) 17.06.2021 76
Sichere Internetquellen 17.06.2021 77
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit ! 17.06.2021 78
Sie können auch lesen