Anerkennung und ontologische (Un-)Sicherheit von migrantischen Care-Arbeiterinnen in Singapur: Zur Bedeutung von Sichtbarkeit und Zugehörigkeit
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supported by Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021 © Author(s) 2021. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Anerkennung und ontologische (Un-)Sicherheit von migrantischen Care-Arbeiterinnen in Singapur: Zur Bedeutung von Sichtbarkeit und Zugehörigkeit Janina Dobrusskin and Ilse Helbrecht Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Correspondence: Janina Dobrusskin (janina.dobrusskin@hu-berlin.de) and Ilse Helbrecht (ilse.helbrecht@geo.hu-berlin.de) Received: 1 April 2021 – Revised: 20 September 2021 – Accepted: 8 October 2021 – Published: 17 November 2021 Kurzfassung. Migrant domestic workers in Singapore are situated in a highly hierarchical environment, requi- ring them to live and work in the same place. This spatial situation leads to a lack of space and time for the female workers which challenges their psychosocial well-being. We ask how the women, nevertheless, develop psycho- social well-being, based on their recognition and subjective embodied positioning, analytically grasped through the concept of ontological (in)security. Based on qualitative interviews, we show how the workers perceive and produce ontological (in)security through spatial dimensions of visibility and belonging. These dimensions are subjectively embodied in multiple places and networks. On behalf of multiple visibilities and belongings outside the domestic realm, domestic care workers in Singapore are able to actively produce ontological security and strengthen their psychosocial well-being. The results show the relevance of implementing regulations for the women to have more possibilities in choosing their whereabouts. 1 Einleitung das Wohlergehen der Frauen (Lan, 2003a; Fong und Yeoh, 2020). Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisa- Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen1 geleistet. Sie tion (ILO) gibt es weltweit etwa 11,5 Millionen migranti- umfasst meist unbezahlte Haus- und Sorgearbeit wie Put- sche Care-Arbeiterinnen (ILO, 2015). Besonders präsent ist zen, Kochen, Einkaufen, Kinderbetreuung und Pflege älte- das Phänomen in Ost- und Südostasien, wo etwa ein Drit- rer Menschen. An vielen Orten der Welt übernehmen zu- tel der weltweiten Care-Arbeiterinnen tätig sind (Fong und nehmend Migrantinnen aus weniger wohlhabenden Ländern Yeoh, 2020). Hier stellen die außergewöhnliche Arbeitsum- diese Tätigkeiten, was auf einen erhöhten Bedarf an Sorge- gebung der Frauen und die damit zusammenhängenden Kon- arbeit durch Alterung und eine größere Teilhabe von Frau- sequenzen für ihr soziales, psychologisches und ökonomi- en auf dem Arbeitsmarkt – ohne eine entsprechende Über- sches Wohlergehen ein akutes Forschungsdesiderat dar. Um nahme von Sorgearbeit durch Männer – zurückzuführen ist die Konsequenzen zu verstehen, die sich aus den Arbeitsbe- (Summerfield et al., 2006). Migrantische Care-Arbeit ba- dingungen der Care-Arbeiterinnen ergeben, bedarf es insbe- siert auf strukturellen Ungleichheiten und birgt Gefahren für sondere Untersuchungen zu der besonderen räumlichen Kon- stellation, in der sie leben und arbeiten (ebd.:704). 1 Geschlechtsidentitäten sind biologisch sowie sozial divers und Diesen Zusammenhang analysieren wir im Folgenden gehen weit über die binären Kategorien von Frau und Mann hinaus. am Beispiel von Singapur. Im Jahr 2019 war hier bereits An dieser Stelle finden diese Kategorien dennoch Anwendung, da in jedem fünften Haushalt eine Care-Arbeiterin angestellt referierte Statistiken und Studien nur auf dieser Ebene vorliegen. In diesem Artikel wird durchgängig die weibliche Form von „Care- (MOM, 2021a). Die Gesetzgebung bezüglich der migranti- Arbeiterinnen“ genutzt, da es in unserem Fallbeispiel Singapur aus- schen Care-Arbeit in Singapur erlaubt ausschließlich Frau- schließlich Frauen erlaubt ist, in der migrantischen Care-Arbeit tä- en, als foreign domestic worker tätig zu sein, und verpflichtet tig zu sein. sie, im selben Haushalt zu leben, in dem sie arbeiten. Zu- Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
426 J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit sammen mit der Bedingung, dass der Aufenthalt der Frauen grantischen Care-Arbeiterinnen strukturell Zugang zu viel- an ihr Arbeitsverhältnis gebunden ist, sowie vor dem Hinter- fältigen Räumen und Gemeinschaften außerhalb ihrer Ar- grund sehr beschränkter Arbeitsrechte führt diese Verpflich- beitsräume zu ermöglichen. tung zu prekären Lebenssituationen (Huang und Yeoh, 2007; Marti, 2019; Parreñas et al., 2020). Den Zusammenhang zwi- 2 Strukturelle Ungleichheit und Vulnerabilität in der schen der räumlichen Konstellation und dem psychosozia- Care-Arbeit len Wohlergehen der Frauen untersuchen wir im Folgen- den anhand des Konzepts der ontologischen (Un-)Sicherheit, Die Anzahl weltweit tätiger Migrantinnen in der Care-Arbeit welches das subjektive Vertrauen in die Selbstidentität und hat in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen – wie auch die eigene Positionierung in der Welt beleuchtet. Es hat in das wissenschaftliche Interesse an ihrer Tätigkeit (Ogawa den letzten Jahren zunehmende Verwendung gefunden, so et al., 2018; Fong und Yeoh, 2020; Aulenbacher et al., 2021). auch in unserem Forschungsfeld der emotionalen und femi- Migrantische Care-Arbeit ist ein Phänomen globaler Arbeits- nistischen Geographien (Bondi, 2014; Botterill et al., 2019, teilung vor dem Hintergrund kapitalistischer Märkte. Die 2020; Hopkins et al., 2019). Neben einem oft rezipierten Frauen erleben dabei eine hohe Vulnerabilität durch prekäre zeitlichen Zugang liegt ein bisher unterbelichtetes Potenzial Arbeitsbedingungen sowie durch strukturelle Ungleichhei- des Konzepts in der Betrachtung der räumlichen Dimensio- ten. Pei-Chia Lan hebt gender, class und race als dominant nen bei der Ver(un)sicherung des Selbst. Die Situation der wirkende Dimensionen der Ungleichheit migrantischer Care- Care-Arbeiterinnen in Singapur dient dem vorliegenden Bei- Arbeit hervor (Lan, 2003a:187). Mit dem Begriff der femini- trag als Beispiel, um die räumliche Herstellung ontologischer zation von Arbeitsmigration haben Brenda Yeoh et al. bereits (Un-)Sicherheit zu untersuchen. Wir fragen also danach, wie im Jahr 2005 darauf verwiesen, dass Frauen deshalb immer Care-Arbeiterinnen trotz prekärer Arbeits- und Lebensbedin- öfter eine Arbeit an anderen Orten der Welt aufnehmen, um gungen ihr psychosoziales Wohlergehen stärken und über ihre Familien zu Hause zu unterstützen. Neben Singapur und räumliche Strategien und Praktiken eine (ontologische) Ver- den Golfstaaten sind insbesondere Nordamerika sowie Süd- sicherung des Selbst erlangen. und Westeuropa Aufnahmeregionen von Care-Arbeiterinnen Zu diesem Zweck legt der Beitrag zunächst dar, in wel- aus weniger wohlhabenden Ländern (Aulenbacher et al., che strukturellen Ungleichheiten Care-Arbeiterinnen über 2021:8). Lan verhandelt die Identität der Frauen unter den die Kategorien gender, class und race eingebettet sind und Kategorien „maid or madam“ (Lan, 2003a), zwischen denen wie sie darüber in ihren Arbeitsverhältnissen Ausbeutung sie wechseln bzw. die auch gleichzeitig relevant sein kön- und Unterdrückung erfahren. Anschließend nehmen wir die nen: So sind die Frauen gegenüber der eigenen Familie ma- Arbeitsumgebung der Care-Arbeiterinnen zum Ausgangs- dam, während sie in ihrem Arbeitsverhältnis zur maid wer- punkt, um ihr Wohlergehen zu betrachten. Studien zum den. Unter Rückgriff auf eine transnationale Perspektive wird Wohlergehen von Care-Arbeiterinnen berücksichtigen räum- zudem zwischen den multiplen Class-Identitäten der Frau- liche Dimensionen bisher vorrangig über die Unterscheidung en differenziert, die in verschiedenen Räumen unterschied- von privaten und öffentlichen Räumen sowie über sozial- liche Positionen einnehmen (Rother, 2017:969): So werden räumliche Grenzziehungen innerhalb der Arbeitsverhältnis- Care-Arbeiterinnen auf den Philippinen und in Indonesien se. Weitere sozialräumliche Dimensionen, die Einfluss auf als nationale Heldinnen gefeiert,3 wohingegen ihnen am Ort das Wohlergehen der Frauen haben und damit Stellschrau- ihrer Migration eine Zugehörigkeit zur Klasse der Hausan- ben für Verbesserungen sein könnten, bleiben bisher unter- gestellten zugeschrieben wird. Über ihr Bewusstsein für den belichtet. Basierend auf der Analyse von 60 narrativen Inter- transnationalen Charakter der individuell erlebten Ausbeu- views mit der Methode der Foto-Elizitation erläutern wir, in- tung nehmen sich die Arbeiterinnen schließlich als Teil einer wiefern sich die Positionierung und Anerkennung der Care- transnationalen sozialen Klasse wahr, was sie zu ihrer politi- Arbeiterinnen in dem Erleben von Sichtbarkeit und Zugehö- schen Organisierung ermächtigt. Über das Annehmen der un- rigkeit abbildet und dadurch das psychosoziale Wohlergehen terschiedlichen Identitäten erlangen Care-Arbeiterinnen ei- der Frauen beeinflusst.2 Innerhalb des Haushalts, in dem sie ne Form von Handlungsmacht (ebd.). Schließlich adressiert arbeiten, als Person und in ihrer Tätigkeit nicht gesehen zu Pei-Chia Lan über die favorisierte Anstellung von Migrantin- werden oder gezeigt zu bekommen, dass sie als Familien- nen im niedrig bezahlten Care-Sektor die dritte Dimension mitglied nicht anerkannt werden, führt zu Verunsicherung. der Ungleichheit, welche zu einer ethnisch-stratifizierten Ar- Um ihre ontologische Sicherheit zu stärken, suchen Care- beitsteilung führt, die schließlich auch rassistische Diskurse Arbeiterinnen Sichtbarkeit und Zugehörigkeit auf multiplen befördert (Lan, 2003b). Ebenen – in unterschiedlichen Räumen und Netzwerken. Die Die dargestellten strukturellen Ungleichheiten innerhalb Ergebnisse der Studie weisen auf die Notwendigkeit hin, mi- der Care-Arbeit entlang der Dimensionen von gender, class 2 Die Untersuchung wurde gefördert von der Deutschen For- 3 Die Bewertung der Arbeitsmigration ist nicht nur positiv – so schungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbe- wird den Frauen zum Teil auch vorgeworfen, ihre eigenen Familien reiches 1265 „Re-Figuration von Räumen“. zu vernachlässigen (Pratt und Johnston, 2014). Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021
J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit 427 und race sind keinesfalls folgenlos. Care-Arbeiterinnen sind 3 Psychosoziales Wohlergehen migrantischer einem breiten Spektrum an Vulnerabilitäten ausgesetzt, die Care-Arbeiterinnen ihr soziales, physisches und psychologisches Wohlbefinden beeinflussen (Fong und Yeoh, 2020:704): Studien zum Wohlergehen migrantischer Care-Arbeiterinnen nehmen vor allem die ausbeuterischen und unterdrücken- den Arbeitsbedingungen zum Ausgangspunkt (Huang und “It has a clear structure of exploitation, as mi- Yeoh, 2007; Fong und Shibuya, 2020) und fordern gute Ar- grant domestic workers usually work long hours beitsbedingungen ein (Aulenbacher et al., 2021). Die be- with unclear guidelines. As migrant workers, the- sondere sozialräumliche Konstellation des Arbeitsverhältnis- se domestic workers have little say when employ- ses spielt in diesen Studien eine immanente, aber hinter- ers control the standards of their working environ- gründige Rolle. Bereits in „Maid to order in Hong Kong“ ment, sometimes even revoking visas without noti- (1997), einem Pionierwerk der transnationalen Migrations- ce.” (Ebd.:522) studien, das die Machtdynamiken und die Formen der (Selbst-)Disziplinierung und Überwachung innerhalb der Ar- beitsverhältnisse in den Vordergrund stellt, argumentiert Ni- Neben den strukturellen Ungleichheiten, aufgrund derer cole Constable: Arbeitgeber:innen prekäre Arbeitsbedingungen durchsetzen können, haben auch die geltenden Gesetzgebungen sowie die “[T]he confluence of home and workplace makes it sich daraus ableitende räumliche Konstellation des Arbeit- more difficult for household workers than factory sumfeldes Einfluss auf das Wohlergehen der Frauen (ebd.; workers to separate work spatially, it is also more Yeoh und Huang, 2010). Die besondere räumliche Situati- difficult temporally to distinguish time on and off.” on von sogenannten Live-in-Arrangements bedeutet, dass der (Constable, 1997:89) Arbeitsplatz der Frauen gleichzeitig das Zuhause ihrer Ar- beitgeber:innen ist und oftmals – wie im Fall von Singapur Den besonderen sozialräumlichen Herausforderungen des – auch verpflichtend das von ihnen selbst (Lai und Fong, Arbeitsverhältnisses begegnen die Frauen mit der Notwen- 2020). digkeit sozialräumlicher Grenzziehungen, die Pei-Chia Lan Statistische Untersuchungen belegen, dass hierbei ein di- (2003b) über die Sphären des Privaten und des Öffentlichen rekter Zusammenhang zwischen beengten räumlichen Be- erläutert. Ihre Studie zeigt, wie Arbeitgeber:innen den Ein- dingungen einerseits und Erfahrungen missbräuchlichen Ver- schluss der Care-Arbeiterinnen in das Private der Familie haltens durch Arbeitgeber:innen andererseits besteht (ebd.; bzw. ihren Ausschluss davon aktiv suchen und wie zum an- Yu, 2016). So zeigt eine Studie in Hong Kong, dass die Woh- deren Care-Arbeiterinnen in Ermangelung von Privatsphäre nungsgröße einen Einfluss darauf hat, wie wahrscheinlich es öffentliche Orte an ihrem Wohnort nutzen (ebd.). Es wird ist, Aggressionen der Arbeitgeber:innen ausgesetzt zu sein. deutlich, wie die Frauen vor dem Hintergrund der heraus- Demnach werden Care-Arbeiterinnen, die in kleineren Woh- fordernden räumlichen Konstellation und in teilweise sehr nungen arbeiten, häufiger von ihren Arbeitgeber:innen ge- prekären Arbeitssituationen Strategien für ihr Wohlergehen scholten (Lai und Fong, 2020:732). entwickeln und sich ihrer Selbst in dem spezifischen Arbeits- Demgegenüber haben Care-Arbeiterinnen mit einem ei- kontext vergewissern. genen Zimmer seltener das Gefühl, von ihren Arbeitge- Das Wohlergehen und die Sicherheit von migrantischen ber:innen vernachlässigt zu werden, da Bedürfnisse von ih- Care-Arbeiterinnen wird jüngst zunehmend mittels quanti- nen anerkannt werden (ebd.). Eine Studie in Singapur stell- tativer Studien untersucht (Chiu, 2018; Wang und Liu, 2018; te fest, dass rund 40 Prozent von 472 befragten Care- van Bortel et al., 2019; Chung et al., 2020). Einige haben Arbeiterinnen über kein eigenes Zimmer verfügen und sich etwa herausgearbeitet, dass es den Frauen an Raum und entgegen den Vorgaben teilweise auch Zimmer mit männ- Zeit fehlt, um Stress zu bewältigen und darüber ihr Wohl- lichen Jugendlichen oder Erwachsenen teilen (Yu, 2016). ergehen zu verbessern (Wang und Liu, 2018:132; van Bor- Wie diese Studien zeigen, trägt die räumliche Konstellati- tel et al., 2019:10). Auf einer räumlichen Ebene wird daher on des Live-in-Arrangements zur Vulnerabilität von Care- gefordert, das Arbeitsumfeld der Care-Arbeiterinnen neu zu Arbeiterinnen bei. Die dargelegten räumlichen Bedingungen gestalten und beispielsweise unterschiedliche Wohnmodelle beeinflussen das psychosoziale Wohlergehen der Frauen. Ih- zu ermöglichen, sodass die Frauen alternativ auch außerhalb re Situierung in der spezifischen Arbeitsumgebung geht je- des Haushalts ihrer Arbeitgeber:innen wohnen können. Die doch über die rein materielle Anordnung hinaus und basiert Forderung ist also, neben Anstellungsverhältnissen in einem auch auf räumlichen Praktiken, Vorstellungen und sozialen „home-based living“ ein Modell des „out-of-home living“ zu Strukturen. Wie migrantische Care-Arbeiterinnen psychoso- entwickeln (Wang und Liu, 2018:134). Neben solchen po- ziales Wohlergehen über ihre sozialräumliche Positionierung litischen Handlungsempfehlungen werden psychosoziale In- erleben, wahrnehmen und schließlich auch aktiv herstellen, terventionen geltend gemacht, die das Wohlergehen der Mi- betrachten wir im Folgenden. grantinnen in der Care-Arbeit verbessern sollen (Hall et al., https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021 Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021
428 J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit 2019). Wie entsprechende Interventionen ausgestaltet sein Räumen, Subjekten und Praktiken eine politische Relevanz können, bleibt jedoch offen. ein, die in dominanten geopolitischen Diskursen marginali- In diesem Beitrag erläutern wir, wie psychosoziales siert werden (Hörschelmann und Reich, 2017:74; Hyndman, Wohlergehen mit räumlichen Dimensionen zusammenhängt 2004; Massaro und Williams, 2013). Auch schließen wir und wie darauf aufbauende Interventionen aussehen kön- an eine psychoanalytische Perspektive innerhalb der Geo- nen. Hierfür ziehen wir das Konzept der ontologischen graphie an, die genutzt werden kann, um über persönliche (Un-)Sicherheit heran. Es geht zurück auf den Psychiater Ro- und subjektive emotionale Geographien nachzudenken (Bon- nald D. Laing und wurde für die Sozialwissenschaften von di, 2014:345). Unter Rückgriff auf das Konzept der onto- Anthony Giddens weiterentwickelt. Er beschreibt ontologi- logischen (Un-)Sicherheit – und unter Einbezug der kriti- sche Sicherheit wie folgt: schen Theorie der Anerkennung – analysieren wir das Ver- trauen der Care-Arbeiterinnen bezüglich ihrer Positionie- “The phrase refers to the confidence that most hu- rung in der Welt. Diese Perspektive erlaubt es uns zu zei- man beings have in the continuity of their self- gen, wie Care-Arbeiterinnen in Singapur ein Vertrauen in identity and in the constancy of the surrounding die eigene Positionierung auf einer affektiven, emotionalen social and material environments of action.” (Gid- und subjektiv verkörperten Ebene herstellen. Liz Bondi ver- dens, 1990:92) weist darauf, dass es sich bei der Frage nach dem Empfin- Ontologische Sicherheit ist demnach eine Grundvoraus- den von Unsicherheit nicht um einen Ausnahmezustand han- setzung für psychische Gesundheit und Wohlbefinden (Gid- delt: „[E]lements of ontological insecurity are an ordinary dens, 1991:38f.; Vaquera et al., 2017). Sie ist charakterisiert part of all our lives, rendering fragile our sense of being in durch zweierlei: erstens eine subjektiv empfundene Gewiss- the world“ (ebd.). Das Maß, in dem sich eine Person onto- heit über die Kontinuität des Selbst und die eigene Iden- logisch (un-)sicher fühlt, ist einem stetigen Aushandlungs- tität und zweitens das Vertrauen in die Verlässlichkeit der prozess unterworfen. Wir nutzen daher die Schreibweise der sozialen und materiellen Umgebung und damit in die ei- „ontologischen (Un-)Sicherheit“, um auf die Veränderlich- gene Positionierung in der Welt. Somit ist die Räumlich- keit des Empfindens und seine Dialektik hinzuweisen. keit ein wesentlicher Bestandteil subjektiver ontologischer Ver(un)sicherungen. Gerade der Zusammenhang zwischen dem subjektiven Wohlergehen und der Rolle der sozialen 4 Fallbeispiel Singapur und methodisches Vorgehen und materiellen Umgebung macht das Konzept der ontologi- schen Sicherheit für geographische Forschungen ausgespro- Von 2015 bis 2020 stieg die Anzahl der in Singapur als chen fruchtbar. foreign domestic worker tätigen Frauen von 231.500 auf Mit unserem Beitrag verfolgen wir konzeptionell zwei 252.600 an (MOM, 2021a). Damit macht der Anteil der Ziele: Zum einen erläutern wir tiefergehend, wie ontolo- Care-Arbeiterinnen knapp 19 Prozent aller ausländischen gische (Un-)Sicherheit über räumliche Dimensionen herge- Arbeiter:innen in Singapur aus (ebd.). Voraussetzungen für stellt wird. Dabei zeigen wir empirisch, dass insbesondere die Anstellung als Care-Arbeiterin in Singapur sind, dass die (Un-)Sichtbarkeit der Care-Arbeiterinnen ein entschei- die Frauen zum Zeitpunkt der Bewerbung zwischen 23 und dender Faktor für ihre soziale Anerkennung bzw. Nicht- 50 Jahre alt sind, mindestens acht Jahre einer formalen Anerkennung – und damit auch wesentlicher Faktor ihrer Bildung nachgegangen sind und aus einem der durch das ontologischen Ver(un)sicherung ist. Das Konzept der An- Arbeitsministerium anerkannten Herkunftsländer stammen erkennung erweist sich für die Untersuchung der räumli- (MOM, 2021b). Als Herkunftsländer der Care-Arbeiterinnen chen Dimensionen von ontologischer Ver(un)sicherung be- am relevantesten sind Indonesien (50 %), die Philippinen sonders hilfreich, denn es berührt – ähnlich wie der Be- (30 %) und Myanmar (15 %), wobei entsprechende Daten griff der ontologischen Sicherheit – existenzielle Erfahrun- auf Hochrechnungen beruhen (Yu, 2016). Daten zu den Ar- gen des Menschen und Fragen der Subjektwerdung (Hon- beitsbedingungen der Care-Arbeiterinnen vom Arbeitsmi- neth, 2003:91). Mit Axel Honneth (ebd.:26f.) verstehen wir nisterium Singapurs (MOM, 2016) erscheinen nicht son- dabei unter „Anerkennung„ die bewertende Wahrnehmung derlich belastbar. Diese weichen stark von denen migranti- von Personen, die oftmals auf expressiven Gesten anderen scher Arbeitnehmerinnen-Organisationen wie HOME (Hu- gegenüber beruht und die „Bekundung einer Wertschätzung“ manitarian Organization for Migration Economics) (Wessels, umschließt (ebd.:27). Dabei ist prinzipiell davon auszuge- 2015) und TWC2 (Transient Workers Count Too) (Yu, 2016) hen, dass eine solche „gegenseitige Anerkennung ständig ab. Auch eine neuere Studie der Internationalen Arbeits- umkämpft ist“ (Gadamer, 1990:365). Zum anderen erwei- organisation in Zusammenarbeit mit der UN (ILO, 2019) tern wir mit unserer Studie die Literatur zum Wohlbefinden kommt zu anderen Ergebnissen. Generell gilt, dass Sin- der Care-Arbeiterinnen um eine subjektiv verkörperte Per- gapur keinen Mindestlohn für Care-Arbeit vorgibt, das je- spektive, die sowohl soziale als auch psychische Handlungs- weilige Herkunftsland jedoch Konditionen festgelegen kann bezüge berücksichtigt. Dem zentralen Interesse einer femi- (Marti, 2019). Als durchschnittliches Monatsgehalt wird nistischen Geopolitik folgend räumen wir dabei Maßstäben, 650 Singapur-Dollar (SGD) angegeben (ILO, 2019:36). Ar- Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021
J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit 429 beitserfahrung kann zu einem höheren Einkommen führen, Bezug zum Erlebten, zum Alltag und zu den Emotionen der wohingegen Überstunden generell nicht vergütet werden. Gesprächspartner:innen gesucht, um die alltägliche Herstel- Außerdem sind Care-Arbeiterinnen oft verschuldet, da sie lung ontologischer (Un-)Sicherheit über räumliche Bezüge den Agenturen, die sie aus ihren Herkunftsländern nach Sin- zu betrachten. gapur vermittelt haben, Gebühren zahlen müssen (Wessels, Durch den offenen Ansatz des Forschungsprojekts wurden 2015:69). Die Arbeitszeit der Frauen variiert recht stark, wo- unterschiedliche Themen adressiert, wie beispielsweise die bei der Durchschnitt bei 13 Arbeitsstunden (ebd.:52) bis 14,5 sicherheitsstiftende Funktion des Zuhauses oder existenzielle Arbeitsstunden (Yu, 2016:17) am Tag liegt. Misshandlun- Bedrohungen, die von Prozessen der Globalisierung ausge- gen durch Arbeitgeber:innen finden auf unterschiedlichen hen (Pohl et al., 2020; Helbrecht et al., 2021). Besonders häu- Ebenen statt: ökonomisch (35 %), verbal (51 %), physisch fig wurde die räumliche Beengtheit des Wohnens in Singapur (6 %), moralisch (7 %) und sexuell (7 %) (Wessels, 2015:37). (oft thematisiert durch das Bild der improvisierten Schlaf- Auf die Frage, ob die Frauen von ihren Arbeitgeber:innen stätte) und die Relevanz von Sorgebeziehungen hervorgeho- menschlich behandelt werden, antworteten 73 Prozent mit ben (beispielsweise ausgelöst durch das Bild der Kunstinstal- „oft“ oder „immer“, die anderen 27 Prozent antworten mit lation, die ein Kleinkind abbildet, das über den Grenzzaun „manchmal“, „selten“ oder „nie“ (ebd.:42). Die gesetzliche greift). Da die räumliche Konstellation der Arbeits- und Le- Verpflichtung, dass der Arbeitsort der Care-Arbeiterinnen benssituation für Care-Arbeiterinnen auffallend prekäre Aus- gleichzeitig ihr Wohnraum ist, sowie die Regelung, dass ihr wirkungen hat, spitzt sich in ihrer Situation die Frage nach Aufenthalt an einen Arbeitsvertrag geknüpft ist, machen es der Herstellung ontologischer Sicherheit besonders zu. Ne- den Frauen besonders schwer, sich dieser Situation zu ent- ben Interviews mit sechs Care-Arbeiterinnen sind die Per- ziehen. Zudem ist die Fläche des Inselstaates natürlich be- spektiven von Arbeitgeber:innen, Mitarbeiter:innen migran- grenzt und dicht besiedelt, sodass Wohnraum knapp ist (Me- tischer Arbeitsorganisationen und anderen Bewohner:innen le, 2017). Diese Raumknappheit zusammen mit dem gerin- Singapurs in die Analyse eingeflossen. Der Zugang zu Care- gen Wert, der den Care-Arbeiterinnen offenbar beigemessen Arbeiterinnen hat über Multiplikator:innen innerhalb einer wird, führen dazu, dass sie oft über kein eigenes Zimmer migrantischen Arbeitsorganisation stattgefunden, sodass da- verfügen: 40 Prozent der Frauen teilen sich ihren Schlaf- von ausgegangen werden kann, dass eher privilegierte Care- raum mit anderen Haushaltsmitgliedern (Yu, 2016). Dadurch Arbeiterinnen an den Interviews teilgenommen haben. Da- wird eine Abgrenzung zwischen Arbeitsplatz und Wohn- durch, dass eine weiße Forscherin aus Europa die Interviews raum praktisch unmöglich und die Wahrscheinlichkeit von in englischer Sprache führte, waren diese teilweise sprach- Missbrauch und Misshandlung steigt (ebd.). Wie diese Da- lich limitiert und ist der Interviewsituation ein Hierarchie- ten zeigen, stellen sowohl die Arbeitsbedingungen als auch gefälle eingeschrieben. Die Positionalität der Forscherin, die die räumliche Situation der Care-Arbeiterinnen in Singapur vor Ort die Rolle einer (privilegierten) Außenseiterin ein- eine Herausforderung für ihr Wohlbefinden dar. nimmt, konnte in einigen Gesprächen zu einer besonders Unsere Studie basiert auf 60 qualitativen Interviews mit großen Erzählbereitschaft führen – beispielsweise gegenüber einem divers zusammengesetzten Sample der Bevölkerung Personen, die selbst eine Außenseiter:innenrolle einnehmen. Singapurs (in Bezug auf Gender, Alter, sozioökonomischer In anderen Gesprächen fiel auf, dass das gegenseitige Ver- und ethnischer Herkunft). Diese wurden mit der Metho- stehen durch fehlendes lokales Wissen sowie sprachliche Li- de der Foto-Elizitation geführt, wobei von den Forschen- mitierungen nur begrenzt möglich war. Die Analyse der In- den ausgewählte Bilder im Interview als visueller Leitfa- terviews fand über einen induktiven Kodierungsprozess mit den dienen (Dirksmeier, 2015). Der Einsatz der Bilder macht MAXQDA und eine inhaltsanalytische Interpretation der In- sich die Vielfältigkeit der möglichen Bezüge sowie ihre af- terviewtranskripte statt, wobei die Relevanz der Kategori- fektive, emotionale Dimension zunutze, „um den interview- en und räumlichen Dimensionen der Sichtbarkeit und Zuge- ten Personen Aspekte zu entlocken, die bei rein kognitiv- hörigkeit in ihren vielfältigen Bezügen zum psychosozialen sprachlichen Impulsen oftmals latent bleiben“ (Dobrusskin Wohlergehen deutlich zum Tragen kam. et al., 2021:212). Die Auswahl der von uns als Gesprächsim- puls eingesetzten Fotos bedient verschiedene Maßstabsebe- nen, Raumtypen und unterschiedliche Markierungen von 5 Ergebnisse und Diskussion (Un-)Sicherheit. Darüber hinaus wurde die Auswahl davon geleitet, den Gesprächspartner:innen einen möglichst großen Mit den Ergebnissen der Analyse zeigen wir im Folgen- Interpretationsspielraum zu geben (ebd.). Die eingesetzten den, wie Care-Arbeiterinnen zur Stärkung ihrer ontologi- Bilder zeigen beispielsweise eine improvisierte Schlafstätte schen Sicherheit agieren und welche sozialräumlichen Stra- in einem Innenraum, eine Kunstinstallation an einem Grenz- tegien sie dafür anwenden. Insbesondere über die Dimen- zaun oder eine Viehherde mit Hirten vor der Teilansicht einer sionen der Sichtbarkeit und der Zugehörigkeit positionieren Stadt. Es wurden stets die gleichen fünf Fotos gezeigt und sich die Frauen aktiv und stellen darüber ein ontologisches im Anschluss wurde ein Set von weiteren acht Bildern zur Sicherheitsempfinden her, worauf schließlich ihr subjektiv freien Auswahl gereicht. In der Gesprächsführung wurde der empfundenes Wohlergehen beruht. Sichtbarkeit ist relatio- https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021 Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021
430 J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit nal, da über sie eine Beziehung aufgespannt wird – zwischen “So, they wake up late. They’ll go swimming and der Person, die sieht, und der, die gesehen wird (Brighen- like that. So, when they go out for swimming, I ha- ti, 2010:39). Sichtbarkeit kann ermächtigend und/oder ent- ve to hurry up to clean everything. Because if they machtend wirken, abhängig davon, inwiefern sie Anerken- come home, they stay up. When they come back nung mit sich bringt oder als Kontrollinstrument eingesetzt from swimming, they’re at home the whole day. wird (ebd.). Honneth legt in seiner philosophischen Ausein- So, they drink coffee, drink like this, so I cannot andersetzung zur Unsichtbarkeit dar, dass eine Person phy- do anything.” (S37:600f.) sisch für andere erst einmal sichtbar sein muss, um sie so- zial anzuerkennen oder auch, um ihre Nichtexistenz vorzu- Die Notwendigkeit, Arbeiten auf eine Art und Weise zu er- geben (Honneth, 2003). Er stellt fest, dass mit Anerkennung ledigen, bei der sie selbst gegenüber den Arbeitgeber:innen stets „ein existentieller Ruck, ein plötzlicher Wandel im ei- nicht sichtbar ist, erzeugt bei Emily Stress und Verunsiche- genen Selbstverständnis verbunden“ ist (ebd.: 91). Sichtbar- rung: keit über eine intersubjektive Anerkennung kann demnach als konstitutiv für das Personsein verstanden werden und ist “Because, if I missed one work, I cannot go on so ein grundlegendes Element bei der Herstellung ontologischer fast. Because, let’s say, I missed this. Um, so I be- Sicherheit. Sichtbarkeit im Sinne der sozialen Anerkennung come crazy. If I didn’t do the things in the right geht der Dimension der Zugehörigkeit – als der Anerkennung order, I will not be happy.” (S37:622f.) des Individuums als Teil einer bestimmten Gemeinschaft – voraus. Nur wenn sie die ihr zugewiesenen Aufgaben in einer be- stimmten Abfolge erledigt, kann sie die Erwartungshaltung ihrer Arbeitgeber:innen erfüllen, nicht sichtbar zu sein. Wie 5.1 Forderungen nach (Un-)Sichtbarkeit aus den Erzählungen von Emily und Maria deutlich wird, Care-Arbeiterinnen in Singapur erleben in ihren Arbeitsver- wird den Frauen ihre Sichtbarkeit aberkannt – an dem Ort, hältnissen regelmäßig, dass Unsichtbarkeit von ihnen ver- an dem sie arbeiten und leben; an dem Ort, der ihr Zuhau- langt wird. Eine typische Erwartungshaltung an die Frau- se darstellt. Die Forderung nach Unsichtbarkeit während der en ist beispielsweise, dass sie ihr Bett, das sich in einem ihnen zugewiesenen Care-Tätigkeiten ist eine gängige Ten- Gemeinschaftsraum befindet, jeden Morgen wieder abbauen. denz. In einem Diskurs zu „unsichtbarer Arbeit“ wird zudem Emily, die bereits für über ein Dutzend Haushalte als Care- darauf verwiesen, dass das Verbergen von Arbeit mit einer Arbeiterin tätig war, spricht genervt von dieser Notwendig- emotionalen Anstrengung verbunden ist (Crain et al., 2016). keit: „Every morning you have to carry the bed and put it so- Dies wird auch im Fall der Care-Arbeiterinnen in Singapur mewhere else.“ (S37:526) Trotz der Routine, die diese räum- deutlich. liche Praxis mit der Zeit erlangt hat, sitzt die Frustration über Unter Rückgriff auf das Konzept der ontologischen diese Notwendigkeit tief. Noch drastischer spitzt sich die Si- (Un-)Sicherheit lässt sich die sicherheitsstiftende Funktion tuation zu, wenn sich die Frauen sogar bei der Durchführung der Sichtbarkeit detaillierter betrachten. Indem von Emily ihrer Aufgaben genötigt sehen, die Unsichtbarkeit ihrer Tä- gefordert wird, bei der Ausübung ihrer Care-Tätigkeit nicht tigkeiten oder sogar ihrer Person zu wahren. In den Ausfüh- in Erscheinung zu treten, wird ihr die Chance auf soziale An- rungen von Maria, die seit 19 Jahren als Care-Arbeiterin in erkennung als Person genommen. Die Situation ist also noch Singapur tätig ist, wird dies in der Erzählung über ihre ehe- drastischer als die „Demütigung“, die Honneth (2003:12) malige Arbeitgeberin deutlich: beschreibt, wenn Menschen ihre soziale Bedeutungslosig- keit kommuniziert wird, indem einer Person durch bewuss- “She spoke to me like the husband: ‘Oh, Maria, tes Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen gezeigt wird, dass sie sozial can you please make yourself scarce whenever we nicht anerkannt wird. Im Falle der Care-Arbeiterinnen neh- are at home.’ I thought for revenge. Make myself men die Arbeitgeber:innen nicht einmal diesen Akt des Igno- scarce? How? Since I’m working with you, how rierens als aktives Nicht-Sehen auf sich, um die Anerken- would I do that? Make myself scarce. You know, nung zu verweigern. Vielmehr fordern sie sehr viel umfas- the word scarce hit me. How do they take me with sender die physische (und damit soziale) Unsichtbarkeit der them in the house?” (S05:242f.) Frauen selbst. Für die Care-Arbeiterinnen bedeutet dies eine starke Verletzung und Verunsicherung ihres Personseins, wie Die Entrüstung in Marias Erzählung ist vor allem von Wut beispielsweise die Frustration von Maria zeigt, die schließ- getragen. Die beschriebene Situation bildete den Tropfen, der lich sogar in die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mün- das Fass zum Überlaufen und Maria schließlich zum Ver- det. Über das relationale Verhältnis von Sichtbarkeit definie- lassen des Haushalts brachte. Auch Emily berichtet von ih- ren sich Subjektpositionen (Brighenti, 2010:39). Nicht gese- rem aktuellen Anstellungsverhältnis, bei dem das Putzen der hen zu werden bedeutet, keine anerkannte Positionierung zu- Räumlichkeiten im Beisein der Familienangehörigen keine gestanden zu bekommen. Es entsteht also eine existenzielle Option sei, ihre Unsichtbarkeit also erwartet werde: und damit ontologische Verunsicherung durch die Forderung Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021
J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit 431 nach Unsichtbarkeit, weil die subjektiv empfundene Gewiss- dürfen, besucht an ihren freien Sonntagen eine selbst organi- heit der Care-Arbeiterinnen über ihr materielles Selbst durch sierte Akademie der Care-Arbeiterinnen, um sich fortzubil- die fehlende soziale Anerkennung infrage gestellt wird. Ähn- den. Über die Möglichkeit der Begegnung mit Freundinnen liches beschreibt Zuzana Sekeráková Búriková (2020) für berichtet sie: slowakische Care-Arbeiterinnen in London, deren Sichtbar- keit eng verbunden mit sozialer Anerkennung ist und ihnen “I cannot visit them.“ zu einer Form von Empowerment verhilft. Interviewer: “Okay. So, are you meeting here at the Entgegen einer Verunsicherung durch die Forderung nach academy?” Unsichtbarkeit kann das Erleben von Sichtbarkeit – im Sinne “Yeah. And once we finish the class, we go to the einer Anerkennung des Selbst und seiner Kontinuität – somit city hall. City hall is the place where Myanmar schließlich auch ontologische Sicherheit befördern. In den people meet, yeah. [. . . ] There is, yeah. [chuck- Ausführungen der Care-Arbeiterinnen wird deutlich, dass les] All the Myanmar people are there and Myan- Sichtbarkeit auf mehreren Ebenen gesucht wird: an verschie- mar food, yeah. They sell it. We always go there.“ denen Orten und in unterschiedlichen Netzwerken. Auch die (S13:195ff.) zuvor genannte Studie zu slowakischen Care-Arbeiterinnen in London stellt fest, dass die Frauen Sichtbarkeit in ihrem Shopping Malls als Enklaven spezifischer Herkunftsgrup- eigenen Zimmer und im öffentlichen Stadtraum suchen (Se- pen (beispielsweise City Plaza Mall als indonesischer An- keráková Búriková, 2020). In unserer Studie konnten wir zei- laufpunkt, Lucky Plaza als philippinischer und Peninsula gen, wie die Frauen auch innerhalb ihres Arbeitsverhältnisses Plaza als myanmarischer) bilden wichtige Orte für die Frau- in spezifischen Situationen Sichtbarkeit erlangen und diese en, um ihren Bedürfnissen nachzugehen, sichtbar zu werden als bestärkend empfinden. So beschreibt Emily in Bezug auf und somit Anerkennung zu erfahren. Ein weiterer Ort, der eine Familie, die sie besonders gut behandelt, wie wohl sie besonders relevant für Care-Arbeiterinnen ist, ist die Aka- sich in ihrer Aufmachung bei einem offiziellen Dinner mit demie. Hier organisieren sich Arbeitsmigrantinnen, um sich dem Botschaftssekretär bei ihnen zu Hause fühlt: für die Zeit nach der Tätigkeit in Singapur weiterzubilden. Emily, die mittlerweile selbst als Lehrkraft in der Akademie “I served the foods like in a restaurant in a proper arbeitet, berichtet voller Stolz von ihren Erfolgen in der Zeit dress. Yeah. I wear a white and black skirt, and ihrer eigenen Ausbildung: small heels. [chuckles] So sexy.” (S37:277f.) “Then after a year, I’m an honour student. I mean, in the baking and the cosmetology as well. I’m, uh, Ihr Auftreten zu dem Anlass des hohen Besuchs macht sie awarded. I mean, I got the certificate and medal.” stolz, sie erfährt Sichtbarkeit und Anerkennung. Als eine Si- (S37:410f.) tuation, der sie bei der Erzählung über sich selbst in ihrer Tä- tigkeit als Care-Arbeiterin Relevanz einräumt, stärkt sie die Neben der Absolvierung von Weiterbildungen mit der Gewissheit ihrer Selbst. Möglichkeit, Zertifikate und Auszeichnungen zu erhalten, Wird Sichtbarkeit in der Gastfamilie nicht in einem be- können innerhalb der Organisation Aufgaben und institutio- friedigenden Maße erlebt, so wird sie für die Frauen an an- nalisierte Rollen übernommen werden. Die Verleihung von deren Orten umso relevanter. Sichtbarkeit ist jedoch nicht di- Abschlüssen findet innerhalb von festlichen Veranstaltungen rekt mit positiver Anerkennung gleichzusetzen. In der Wahr- statt, in denen die Frauen mit ihren unterschiedlichen Positio- nehmung der Mehrheitsgesellschaft sind Care-Arbeiterinnen nen Wertschätzung erfahren: Es werden Fotos gemacht, Gäs- im öffentlichen Raum oft in Gruppen anzutreffen, und diese te eingeladen (manchmal auch Arbeitgeber:innen), Medail- fallen dann durch störendes Verhalten auf. Wie Honneth fest- len und Zertifikate überreicht und schließlich auch Jahrbü- stellt, ist Anerkennung stark an eine Normativität der Wahr- cher unterschrieben. Neben diesen Praktiken, die innerhalb nehmung geknüpft – die Entscheidung über das Anerkennen der Organisation Sichtbarkeit schaffen, ermöglichen weite- geht damit dem tatsächlichen Erkennen unseres Gegenübers re Aktivitäten wie Schreibworkshops (vgl. als Ergebnis eines meist voraus (Honneth, 2003:26f.). Vor dem Hintergrund ge- solchen das Buch „Our homes, our stories“; van Ditzhuijzen, sellschaftlicher Machtverhältnisse und struktureller Diskri- 2018), dass Care-Arbeiterinnen ihre Erfahrungen und Per- minierung nehmen insbesondere Netzwerke wie diejenigen spektiven auch vor einem größeren Publikum sichtbar ma- der institutionalisierten Organisation der Care-Arbeit, aber chen. auch religiöse Gemeinschaften und Freundschaften eine zen- All diese Instrumente und Praktiken schaffen also trale Rolle für die soziale Anerkennung der Arbeitsmigran- Sichtbarkeit sowohl innerhalb des Netzwerks der Care- tinnen ein. Ihre Möglichkeiten, sich in diesen Netzwerken zu Arbeiterinnen als auch darüber hinaus. Rother leitet aus bewegen, sind jedoch durch die hohe Arbeitsbelastung auf Praktiken der Sichtbarkeit einen Statusgewinn ab, der die spezifische Zeiten und Orte begrenzt. Margarete, die zum Care-Arbeiterinnen zu einer spezifischen politischen Klasse ersten Mal in Singapur arbeitet und sich für älter ausgibt, werden lässt (Rother, 2017:970). Demnach findet eine Iden- als sie ist, um die Tätigkeit als Care-Arbeiterin ausführen zu titätsbildung und -stärkung über entsprechende Praktiken der https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021 Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021
432 J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit Sichtbarkeit statt. Wie die Beispiele zeigen, können die Frau- Auf der diskursiven Ebene der „politics of belonging“ en an vielfältigen Orten und in diversen Netzwerken Sicht- (Antonsich, 2010:649) wurde ihre sozialräumliche Inklusion barkeit erlangen und damit ihre Anerkennung und ontologi- also zunächst nicht anerkannt. Als Quasi-Familienmitglied sche Sicherheit stärken. nehmen sich die Frauen wahr, wenn ihnen ein wertschätzen- der Umgang und Vertrauen entgegengebracht werden, insbe- sondere durch das Übertragen von Verantwortung. So erlebt 5.2 Aushandlung von Zugehörigkeit Emily sich selbst mit der Zeit als Quasi-Familienmitglied in Auch Zugehörigkeit, indem ein Individuum sich als Teil ei- dem Haushalt, in dem sie zuvor von den Kindern so schmerz- ner Gemeinschaft erfährt, schafft soziale Anerkennung und lich abgewiesen wurde: stärkt ontologische Sicherheit. Zugehörigkeit lässt sich über “Yes. This is, uh, it’s like my home – everything. zwei Ebenen beschreiben: zum einen über ein persönliches, Because they’re – the thing is, they trust me. And intimes Gefühl des Zu-Hause-Seins (place-belonging) sowie they are, uh, confident on me, what I’m doing.” über eine diskursive Ebene (politics of belonging), die eine (S37:671f.) sozialräumliche Verortung von Ein- und Ausschlüssen aus- handelt (Antonsich, 2010). Zur Betrachtung der Herstellung Das Gefühl des Zu-Hause-Seins unterstreicht das Phäno- von ontologischer Sicherheit über die Dimension der Zuge- men des „place-belonging“ (Antonsich, 2010:646). Auch an- hörigkeit wollen wir zunächst den Blick auf die Gastfamilie dere Care-Arbeiterinnen heben diejenigen Arbeitgeber:innen lenken, die innerhalb des Arbeitsverhältnisses besonders re- positiv hervor, bei denen sie sich als Quasi-Familienmitglied levant für die Frauen ist. Inwiefern Care-Arbeiterinnen als erlebt haben. Arbeitgeber:innen wiederum beschreiben, wie Familienmitglieder angesehen werden, ist in der Literatur das Ausgliedern der Care-Verpflichtungen ihnen dazu ver- umstritten, denn die emotionale Involviertheit einer „famili- helfe, mit ihren Kindern qualitativ hochwertige Zeit zu ver- ären Handlungslogik“ (Schilliger, 2014:243) macht die per- bringen, was mit Dankbarkeit gegenüber ihren Angestellten sönliche Abgrenzung innerhalb des Arbeitsverhältnisses und verbunden sei. Im Umkehrschluss aber auch heißen kann, das Einfordern von Arbeitsrechten für Care-Arbeiterinnen dass sie den Care-Arbeiterinnen diese Form der Verbunden- zu einer großen Herausforderung (Folbre, 2001; Schilliger, heit mit ihren Kindern absprechen. 2014). In feministischen geographischen Debatten zur onto- “So, in the end, the interaction that I got with my logischen (Un-)Sicherheit werden das häusliche Umfeld und daughters is more meaningful than what they used die Familie als Ort der Geopolitiken herausgestellt (Botte- to be.” (S60:465f.) rill et al., 2020:1157). Dabei wird sich das Konzept der on- tologischen (Un-)Sicherheit zunutze gemacht, um die psy- Marcus Yu Lung Chiu (2018) untersucht die wechsel- chosozialen Prozesse innerhalb von familiären Geopolitiken seitige Aushandlung von fiktiv verwandtschaftlichen Bezie- zu untersuchen (ebd.:1143). Diese Perspektive wollen wir hungen zwischen Care-Arbeiterinnen und ihren Arbeitge- erweitern, indem wir aufzeigen, wie – über die Dimension ber:innen in Singapur. Mit dem Begriff der familization be- der Zugehörigkeit – Familie als ein „domestic site of geo- schreibt er eine neue Sorte von Familie und einen identi- politics“ (ebd.:1139) für die Herstellung von ontologischer tätsstiftenden Prozess, der emotional intensiv erfahren wird. (Un-)Sicherheit relevant wird. Demnach bewerten Care-Arbeiterinnen, die sich als Teil der Care-Arbeiterinnen und ihre Arbeitgeber:innen finden Familie ihrer Arbeitgeber:innen verstehen, ihre Stimmung meist über eine Agentur zueinander. Hierbei handelt es sich signifikant positiver (Chiu, 2018:109). An erster Stelle sei- für die Care-Arbeiterinnen oft um einen passiven Akt der Zu- ner politischen Forderungen steht daher, das Arbeitsumfeld weisung: „they give you to the future employer“ (S37:247f.). der Care-Arbeiterinnen so zu gestalten, dass sie als Famili- Das Ankommen in einer neuen Familie ist durch unterschied- enmitglieder behandelt werden (Wang und Liu, 2018:133). liche Herausforderungen gekennzeichnet: Die Frauen müs- Dieser Perspektive steht allerdings die berechtigte kritische sen sich eine neue Arbeitsumgebung mit spezifischen Anfor- Einschätzung in der Literatur gegenüber, wonach die emo- derungen erschließen und sich mit neuen Haushaltsmitglie- tionale Involviertheit der Care-Arbeiterinnen über entspre- dern arrangieren. So beschreibt Emily beispielsweise, dass chende Formen der familiären Zugehörigkeit dazu führt, dass die Kinder einer neuen Gastfamilie sie anfangs nicht in ih- Arbeitsrechte ausgehebelt werden (Folbre, 2001; Schilliger, rem Zuhause haben wollten: 2014). Die Möglichkeit der Care-Arbeiterinnen, ihre Anstellung “I said, I cannot take this because they talk bad. zu wechseln, ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig, They say ‘I don’t want you, Miss Emily. Get away wie beispielsweise von der Agentur, über die sie nach Sin- from me. I don’t like you to be here.’ Something gapur gekommen sind. Generell ist es für die Frauen jedoch like that, but I understand, because they don’t have ausgesprochen schwierig, in den vorherrschenden Hierarchi- any helper in their place in UK. And they don’t en Kritik an aktuellen Arbeitsbedingungen anzubringen, da have other people in their place and they are always ihr Aufenthalt an einen Arbeitsvertrag in Singapur geknüpft in the house with the grandmother.” (S37:656f.) ist. Sich frei eine Anstellung zu suchen, in der die eigenen Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021
J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit 433 Ansprüche und Bedürfnisse Berücksichtigung finden, ist da- other members of the society one lives in, but also her nicht einfach zu realisieren. Maria berichtet von einem in relation to the position oneself might hold in a prekären Anstellungsverhältnis: different location.” (Ebd.) “So, it was like for 18 months, I didn’t have Multiple Zugehörigkeiten sehen wir bei den Frauen, in- enough food. I had, to take my bath at the Queen- dem Zugehörigkeit über die Gastfamilie hinaus auch über stown Swimming Complex every Sunday, because andere Orte und Netzwerke relevant wird. Zugehörigkeit I couldn’t use the bathroom during Sundays. So, wird schließlich subjektiv wahrgenommen, verkörpert und after 18 months, I felt like it’s too much and the über Praktiken an den spezifischen Orten und in Netzwer- wife was not really nice. But I wanted to keep my ken erlebt. Für das Empfinden ontologischer Sicherheit ist work as long as I can. But during that time, I really demnach nicht nur eine Gewissheit über die Kontinuität des could not take it anymore, so I eventually answered Selbst relevant, sondern auch darüber, als Teil einer Gemein- back. She didn’t like it.“ (S05:124f.) schaft anerkannt zu werden. Mit einer Frist von zehn Tagen wurde Maria daraufhin ent- lassen und musste sich unter hohem Zeitdruck eine neue Ar- 6 Fazit beitsstelle suchen, was ihr durch das Netzwerke ihrer Kirche gelang. Die Arbeitsumgebung von Care-Arbeiterinnen ist durch die Die Suche nach einem Gefühl der Zugehörigkeit richtet Fusionierung von Arbeitsplatz und Wohnraum einzigartig. sich oft auf die Gastfamilie, aber auch auf andere Kontex- Sie stellt die Frauen vor eine besondere Herausforderung te. Die eigene Familie am Herkunftsort spielt eine wichtige bezüglich ihrer subjektiven Positionierung und sozialen An- Rolle für Gefühle der familiären Zugehörigkeit, jedoch bleibt erkennung. Dabei stellt insbesondere die Untersuchung die- der lokale Kontext des Arbeitsumfeldes in Singapur relevant. ser besonderen räumlichen Konstellation und der damit ver- Die Frauen thematisieren hinsichtlich der Schaffung ontolo- bundenen Konsequenzen für die Arbeitsbedingungen der gischer Sicherheit über Zugehörigkeit – gleichermaßen wie Frauen ein Forschungsdesiderat dar, dessen Untersuchung für die Sichtbarkeit – multiple Orte und Gemeinschaften. Aufschluss über das soziale, psychologische und ökonomi- Somit kommen Formen der Gruppenzugehörigkeit zum Tra- sche Wohlergehen der Frauen verspricht (Fong und Yeoh, gen, die auf Herkunft, Sprache und Religion beruhen. Hier ist 2020:704). In unserer Studie in Singapur haben wir an- insbesondere die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Care- hand von qualitativen Interviews mit der Methode der Foto- Arbeiterinnen relevant. Rabitah, die ihren Lebensmittelpunkt Elizitation untersucht, wie Care-Arbeiterinnen ihr psycho- zurück nach Indonesien verlegen möchte, um ihrer Familien- soziales Wohlergehen über ihre subjektiv verkörperte Po- planung den Vorzug gegenüber ihrer Einkommenssituation sitionierung innerhalb dieser Arbeitsumgebung herstellen. zu geben, erläutert bezüglich des Miteinanders in der Akade- Dabei konnten wir zeigen, dass die Konzepte der ontolo- mie der Care-Arbeiterinnen: gischen (Un-)Sicherheit (Giddens, 1990) und der sozialen Anerkennung (Honneth, 2003) ausgesprochen fruchtbar für “We greet each other. We talk to each other: ‘Whe- eine räumliche Analyse des psychosozialen Wohlergehens re are you from? Which part of Indonesia?’ That is sind. Vorangegangene Studien zum Wohlergehen migranti- the starting of the communication. And then we get scher Care-Arbeiterinnen zeigen, wie die Frauen vor dem closer. We get more comfortable. That’s why I call Hintergrund starker Ungleichheiten Strategien der Grenzzie- it a second family. And for those, who have any hung in Bezug auf die Familie der Arbeitgeber:innen relevant problem, they will just share. [. . . ] The commu- machen, um sich innerhalb der Arbeitsumgebung zu positio- nication, the sharing. Everything, it makes – you nieren. know it makes – it can change someone’s feeling.” Wir erweitern diese Perspektiven und zeigen unter Rück- (S07:1260f.) griff auf das Konzept der ontologischen (Un-)Sicherheit Das persönliche, intime Gefühl des Zu-Hause-Seins lässt und der sozialen Anerkennung dezidiert, dass die Räum- sich demnach nicht nur auf einen Ort beziehen, sondern auch lichkeit der Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und die auf einen sozialen Kontext, in dem eine Verbundenheit und sozialräumlichen Dimensionen der Sichtbarkeit und Zu- ein tiefes Vertrauen in die Zugehörigkeit zu anderen und da- gehörigkeit im Besonderen für die Positionierungen der mit auch in die eigene Position in der Welt existiert. Care-Arbeiterinnen hoch relevant sind. Gerade für Care- Rother (2017:960) legt dar, dass ein Individuum in einer Arbeiterinnen – aufgrund der speziellen Einheit von Arbeits- transnationalen Perspektive multiple Positionen und Klas- und Wohnort – sind die räumlichen Komponenten ontolo- senzugehörigkeiten auf sich vereinen kann: gischer Ver(un)sicherung wesentlich. Die Aushandlung und Anerkennung des Selbst, der sozialen Identität und eines Ge- “Within a transnational space established by mi- fühls von Sicherheit findet über eine Verortung in der Welt gration, the relationality becomes more complex; und dieser inhärenten sozialen Beziehungen statt. Sichtbar- position can thus be defined not only in relation to keit und Zugehörigkeit sind bei der Herstellung der subjek- https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021 Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021
434 J. Dobrusskin and I. Helbrecht: Anerkennung und ontologische (Un)Sicherheit tiv empfundenen Gewissheit des Selbst besonders relevante Begutachtung. This paper was edited by Benedikt Korf and re- Dimensionen – alltäglich verkörpert in multiplen Orten und viewed by two anonymous referees. Netzwerken. Über eine Vielzahl dieser räumlichen Bezüge sind die Arbeiterinnen in der Lage, ontologische Sicherheit aktiv herzustellen und somit ihr psychosoziales Wohlergehen zu stärken. Literatur Bei der Positionierung kommt schließlich insbesondere die Maßstabsebene des Körpers (Hyndman, 2004:309) zum Antonsich, M.: Searching for Belonging – An Analyti- Tragen. Die individuellen Erfahrungen und Empfindungen cal Framework, Geography Compass, 4, 644–659, htt- sind subjektiv verkörpert und gleichzeitig in übergeordnete ps://doi.org/10.1111/j.1749-8198.2009.00317.x, 2010. Machtstrukturen von gender, class und race eingebettet. Ab- Aulenbacher, B., Lutz, H., und Schwiter, K.: Gute Sorge ohne gu- schließend wollen wir daher den Blick zurück auf eine struk- te Arbeit? Einleitung, in: Gute Sorge ohne gute Arbeit? Live- turelle Ebene lenken. Neben ihrer individuellen Handlungs- in-Care in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Herausge- macht sind die Care-Arbeiterinnen weiterhin stark vulnera- ber*innen: Aulenbacher, B., Lutz, H., und Schwiter, K., Beltz bel, sodass auch über strukturelle Veränderungen ihre Aner- Juventa, Weinheim, 7–17, 2021. Bondi, L.: Feeling insecure: a personal account in a psy- kennung gestärkt und Ungleichheit weiter abgebaut werden choanalytic voice, Soc. Cult. Geogr., 15, 332–350, htt- muss. Auf einer räumlichen Ebene bedeutet dies insbeson- ps://doi.org/10.1080/14649365.2013.864783, 2014. dere die Notwendigkeit, migrantischen Care-Arbeiterinnen Botterill, K., Hopkins, P., und Sanghera, G. S.: Young people’s eve- strukturell Zugang zu Orten und Gemeinschaften außerhalb ryday securities: pre-emptive and pro-active strategies towards ihrer Arbeitsräume zu ermöglichen. Ein Wohnmodell, in dem ontological security in Scotland, Soc. Cult. Geogr., 20, 465–484, Care-Arbeiterinnen außerhalb der Arbeitskonstellation le- https://doi.org/10.1080/14649365.2017.1346197, 2019. ben, wäre dafür ein Anfang – die Schaffung von Zugängen Botterill, K., Hopkins, P., und Sanghera, G. S.: Familial geopolitics sollte jedoch deutlich darüber hinausgehen. and ontological security: intergenerational relations, migration and minority youth (in)securities in Scotland, Geopolitics, 25, 1138–1163, https://doi.org/10.1080/14650045.2018.1512098, Datenverfügbarkeit. Aufgrund der getroffenen Datenschutzver- 2020. einbarungen sind die Daten, auf denen dieser Artikel beruht, nicht Brighenti, A. M.: Visibility in social theory and social research, Pal- öffentlich zugänglich. grave Macmillan, Basingstoke, 2010. Chiu, M. Y. L.: Familization of Indonesian Domestic Workers in Singapore, in: Gender, Care and Migration in East Asia, Herausgeber*innen: Ogawa, R., Chan, R. K., Oishi, A. S., Autorenmitwirkung. Die beiden Autorinnen haben den Artikel und Wang, L.-R., Springer Singapore, Singapore, 97–116, htt- gemeinsam konzipiert. Die Datenerhebung und -analyse wurde von ps://doi.org/10.1007/978-981-10-7025-9_5, 2018. JD durchgeführt. Die Interpretation der Ergebnisse ist gemeinsam Chung, R. Y.-N., Liao, T. F., und Fong, E.: Data Collection erfolgt. Bei dem Verfassen des Artikels hat IH unterstützend mitge- for Migrant Live-In Domestic Workers: A Three-Stage Clus- wirkt. ter Sampling Method, Am. Behav. Sci., 64, 709–721, htt- ps://doi.org/10.1177/0002764220910223, 2020. Constable, N.: Maid to order in Hong Kong: Stories of migrant wor- Interessenkonflikt. Die Autor*innen erklären, dass kein Interes- kers, Cornell paperbacks, Cornell University Press, Ithaca, 1997. senkonflikt besteht. Crain, M., Poster, W., und Cherry, M. (Hrsg.): Invisible Labor. Hid- den Work in the Contemporary World, University of California Press, Oakland, 2016. Haftungsausschluss. Copernicus Publications bleibt in Bezug Dirksmeier, P.: Bildbegriffe und ihre Reichweite zur Analyse von auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institu- Gesellschaft-Raum-Verhältnissen, in: Visuelle Geographien: Zur tionellen Zugehörigkeiten neutral. Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern, Her- ausgeber*innen: Schlottmann, A. und Miggelbrink, J., transcript, Bielefeld, 195–208, 2015. Danksagung. Wir danken Carolin Genz und Lucas Pohl für vie- Dobrusskin, J., Helbrecht, I., Born, A. M., und Genz, C.: Bildge- le intensive Diskussionen zum Argument, Carl-Jan Dihlmann für stützte Interviews in der Raumforschung: Potenziale der Foto- die Unterstützung bei der Auswertung des Interviewmaterials so- Elizitation, in: Methoden der qualitativen Raumforschung. Ein wie den anonymen Gutachter*innen für ihre konstruktive Kritik. interdisziplinäres Handbuch, Herausgeber*innen: Heinrich, A. J., Marguin, S., Million, A., und Stollmann, J., transcript, Bie- lefeld, 207–221, 2021. Finanzierung. The research for this paper was funded by Folbre, N.: The Invisible Heart: Economics and Family Values, New the DFG-funded collaborative research center “Re-Figuration of Press, New York, 2001. Spaces” (CRC 1265) with the grant no. 290045248. Fong, E. und Shibuya, K.: Migration Patterns in East and Southeast Asia: Causes and Consequences, Annu. Rev. Sociol., 46, 511– 531, https://doi.org/10.1146/annurev-soc-121919-054644, 2020. Geogr. Helv., 76, 425–436, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-425-2021
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