Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina: Itzik Manger, Rose Ausländer, Paul Celan - Schnittstelle ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina: Itzik Manger, Rose Ausländer, Paul Celan Thomas Schneider 1. Dichtung der Bukowina Wie immer die Debatte um den interkulturellen Charakter der ehemals in be- sonderem Maße multiethnischen und mehrsprachigen Bukowina angesichts „eine[r] zunehmende[n] Polarisierung der wissenschaftlichen Auffassungen über die interkulturelle Qualität der Erscheinungs- und Ergebnisformen des bukowinischen […] Völkerpluralismus“ (Werner 2003a: 20) sich gestalten mag – das Faktum der nicht selten an Verklärung grenzenden projektiven Aufla- dung, wie sie die Bukowina als deutsch-jüdische Literaturlandschaft von den in ihr Aufgewachsenen und vor allem ex post durch die aus ihr Vertriebenen vielfach erfahren hat, ist um so auffälliger, als es immer auch schon gewichtige Gegenstimmen gab. Rose Ausländers oft zitierten Zeilen von den „[v]ierspra- chig verbrüderte[n] (/) Lieder[n] (/) in entzweiter Zeit“ (Ausländer 1984: 72) aus dem Gedicht Bukowina II und Paul Celans prominentester Äußerung über die Landschaft seiner Herkunft in der Bremer Rede von 1958: „Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor Augen tritt, – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“ (Celan 2000l: 185), seien deswegen, gleichsam vorsichtig kor- rektiv, die Aussagen zweier Autoren mit dem selben Erfahrungshintergrund gegenübergestellt, die das Bild einer ungetrübten und befruchtenden Inter- kulturalität durch den Hinweis auf den in der Bukowina schon lange vor der deutschen Besatzung herrschenden Antisemitismus zumindest relativieren. In seiner Rede zum 60. Geburtstag kommt der 1901 in Czernowitz geborene und später in Polen lebende jiddische Dichter Itzik Manger im Zusammenhang poetologischer Überlegungen zu der von ihm bevorzugt verwendeten Form der Ballade auf diesbezügliche Erfahrungen zu sprechen: Mein Gemüt war seit Anbeginn voller balladenhafter Schatten. Ist das ein Wunder? Ich wuchs in einem Land des klassischen Antisemitismus auf. Die griechisch-orthodoxen Kirchen breiteten ihren giftigen und gefahrvollen Schatten über die jüdische Bevölkerung aus. In Polen, dem Land, in dem ich bis zum Zweiten Weltkrieg lebte, spitzte sich dies zu. Hinter jedem polnischen Juden zeichneten sich zwei Schatten ab: einer des erschrockenen Juden selbst und ein zweiter, fremder Schatten mit einem Messer zwischen den Zähnen. (Manger 2004: 326) Ähnlich äußert sich, in einem seiner letzten Interviews, der 1912 geborene, im Alter von zwölf Jahren nach Czernowitz gekommene und als letzter jiddischer Dichter dieser Region 2009 verstorbene Josef Burg: Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
38 Thomas Schneider Czernowitz hat Österreich, Rumänien, die Sowjetunion und die Ukraine erlebt und überlebt. Alle haben dieser Stadt ihren Stempel gegeben. In der österreichischen Zeit war es eine Stadt, wie es sie sonst wohl nur selten gab. Man hat nichts gewusst von einem Antisemitismus, von einem Hass von Mensch zu Mensch. Als die Rumänen gekommen sind mit ihren ,Juden nach Palästina‘-Rufen wurde alles anders. (Burg 2008: 25) Und Celan selbst verließ im Schuljahr 1934/35 „das Oberrealgymnasium, das er bisher besucht hatte, das ,Liceul Ortodox de Baeti‘, nicht wegen des Lehr- plans […], sondern einzig und allein wegen des dort herrschenden Antisemitis- for personal use only / no unauthorized distribution mus“ (Chalfen 1983: 56). In einem Brief vom 30. Januar 1934 an seine Tante in Palästina hält er dazu fest: „Was Angelegenheit Zeugniß betrifft, ja, hm! ich bin der Zweite, aber..... nicht der erste, wie es von Rechtswegen hätte sein sollen. Die Professoren, die Angehörigkeit zum jüdischen Zweig der semitischen Rasse und noch viele andere Hinderniße! Ja, was den Antisemitismus in unserer Schule betrifft, da könnte ich ein 300 Seiten starkes Buch drüber schreiben.“ Winter Journals (Celan, zit.n. Chalfen 1983: 51) Sowohl der eher launige Ton, in dem der vierzehnjährige Celan das Problem des ihn doch sehr konkret betreffenden Antisemitismus als (nur) eines von vielen Hindernissen anzusprechen vermag, wie auch die seltsam abstrakte und wie distanziert wirkende Andeutung einer ,entzweiten Zeit‘ bei der späten Rose Ausländer mögen wiederum Indizien dafür sein, dass mögliche soziale Powered by TCPDF (www.tcpdf.org) und ethnische Konfliktlinien in der Bukowina der 1930er Jahre noch nicht als wirklich bedrohlich oder gar destruktiv empfunden wurden, auch nicht für die Wirklichkeit oder zumindest die Möglichkeit einer menschlichen, ideellen und künstlerischen Gemeinschaft über die Sprach- und Völkergrenzen hinweg oder gar durch diese hindurch. Gerade wenn man die These, dass „[d]ie von den deutsch-jüdischen Autoren aus der Bukowina und Galizien entwickelten positiven Ansichten dieser (süd)osteuropäischen Kulturregionen […] aus lebens geschichtlichen Zusammenhängen unter dem Zeichen der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, des Holocaust vor allem, begriffen werden müssen“ (Werner 2003a: 20), unterstützt, müssen die Verhältnisse vor 1940/41 immerhin so gewesen sein, dass sie retrospektiv eine starke positive Aufladung zuließen – mag deren hoher Intensitätsgrad dann wiederum nur aus dem Unmaß von Terror und Zerstörung und der nachfolgenden Erfahrung des ungeliebten Exils zu erklären sein. Was Celans immer wieder zum Ausdruck gebrachte Sehnsucht nach der Bukowina betrifft, so spielt ohne Frage auch seine zweite traumatische Erfahrung, die vom Nachleben des Antisemitismus im Deutsch- land der 1950er und 60er Jahre eine Rolle, wie er es vor allem (aber nicht nur) in der Affäre um die Plagiatsvorwürfe Claire Golls erfuhr. Celans in einem Brief an Alfred Margul-Sperber vom 30. Juli 1960 aufgeworfene Frage, „ob ich nicht besser bei den Buchen meiner Heimat geblieben wäre…“ (Celan 1975: 56), ergeht genau zwei Monate, nachdem er von Claire Golls unter dem Titel „Unbekanntes Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 39 über Paul Celan“ veröffentlichten Plagiatsvorwürfen erfahren hatte, und in den wenigen, aber intensiven Briefen an den in Czernowitz gebliebenen Freund Gustav Chomed wird der Geburtsort in den folgenden Jahren, da er der an ihm nicht gelungenen physischen Vernichtung die psychische und geistige folgen sieht, endgültig zur rückwärtsgewandten Utopie. Der Brief vom 6. Februar 1962, in dem er die Goll-Affäre mit Bezug auf Heinrich Heine bitter kommen- tiert: „Augenblicklich ist es so weit, daß man mich – siehe Loreley – für inexis- tent erklärt. (Buchstäblich, lieber Gustav!) Und mich nach Strich und Faden bestiehlt…“, endet mit dem Aufruf von Czernowitz als dem humanen Gegen- bild: „Ach weißt Du, ich wollte, ich wohnte noch dort – nicht nur die Töpfer- gasse war… menschlich.“ (Celan 2010: 16, 17)1 Die unmittelbare Antwort Cho- meds auf diesen in seiner Deutlichkeit auch aus der Situation heraus verstehbaren Wunsch Celans mag dem Ineinander der politisch-gewaltsamen und emotionalen Besetzung des Ortes, an dem die Briefpartner als Kinder zu spielen pflegten, in ihrer Nüchternheit und die Wirklichkeit prononcierenden Schärfe auf andere Weise gerecht werden und sei deshalb in extenso zitiert: Die Töpfergasse, liebes Paulchen, mit all dem was in, auf und um ihr [sic; T.S.] war – die gibt es schon lang nicht mehr. ,Eto bylo davno i nepravda‘ heisst es sehr treffend auf russisch. Es ist nur noch eine Erinnerung, die in – einigen – Herzen lebt. Du brauchst also nichts zu bedauern. Die Tragödie unseres Lebens ist nicht die, dass die Töpfergasse verschwunden ist. Die Tragödie liegt darin, dass es sie eigentlich gar nicht gegeben hat, außer in unserer Vorstellung. Wir sind die Geisteskinder eines Deutschlands der Dichter und Denker, das es schon lang nicht mehr gibt. Ich war in jenen Jahren in ziemlich engem Kontakt mit allen möglichen Arten von Deutschen und habe mich mehr als einmal von unserer haushohen geistigen Überlegenheit überzeugt. Und dass die Mehrzahl von ihnen Schweinehunde sind, hab ich schon damals, trotz der gedemütigten Lage, in der sie waren, erkannt. Ausserdem hab ich noch Auschwitz und Ravensbrück gesehen… (Chomed 2010: 22)2 Aber nicht erst retrospektive Beschwörung, auch schon die deutsch-jüdische Dichtung der 1930er Jahre inszeniert die Bukowina als einen positiv besetzten Raum, in welchem Juden sich einmal nicht auf Wanderschaft befinden, sondern einer heimatlichen Landschaft eng verbunden erscheinen. Alfred Margul- Sperber hält 1936 ausdrücklich fest, daß die „Bukowiner jüdischen Dichter […] dem Boden und der Landschaft viel stärker verhaftet“ sind, „als dies bei jü dischen Dichtern anderswo der Fall zu sein pflegt“ (Margul-Sperber, zit. n. Emmerich 2001: 24) und veröffentlicht seine Lyrik, die dieser Boden-Haftung 1 Zur umfassenden Aufarbeitung der Affäre um die Plagiatsvorwürfe Claire Golls vgl. Wiedemann (2000). 2 Brief vom 17. 2. 1962. – Vgl. aber auch die nochmalige Wendung der Thematik in Celans Antwort vom 26. 2. 1962: „[…] die Töpfergasse, die ich zwar gar nicht anders sehe als Du, die es aber dennoch gibt: quia absurdum.“ (Celan 2010: 25) Vgl. auch die Thematisierung des Absurden in Celans Meridian-Rede von 1960 und die auf „den Ort meiner eigenen Herkunft“ bezogene Feststellung: „Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt, geben müßte, und … ich finde etwas!“ (Celan 2000m: 202) Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
40 Thomas Schneider Ausdruck gibt, 1934 unter dem Titel Gleichnisse der Landschaft – eine Pro- grammformulierung, deren konservativer und mythogener Gehalt ihm selbst noch für die frühe Dichtung Celans gilt, wenn er Otto Basil in einem Brief aus dem Jahr 1947 „doch gern sagen [möchte], daß Paul Celan der Dichter unserer westöstlichen Landschaft ist, den ich ein halbes Menschenalter von ihr erwartet habe und der diese Gläubigkeit reichlich lohnt“, um Celans ,Landschafts‘-Lyrik dann allerdings seltsam übergangslos mit der doch vollendeten Bodenlosigkeit der Prosa Kafkas zu vergleichen: „Ich für mein Teil glaube, daß Celans Gedichte das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes sind.“ (Margul-Sperber, zit. n. Emmerich 2001: 72) Margul-Sperbers thematischer und formaler Kon- servatismus, sein Bekenntnis „zu allem Veralteten und Herkömmlichen, in Form, Wahl und Behandlung seiner dichterischen Gegenstände“ (Margul- Sperber, zit. n. Emmerich 2001: 59), steht exemplarisch für jene Bukowiner Lyrik, „der Peter Demetz mit Recht ihre ,anachronistische Loyalität zur deut- schen klassisch-romantischen Tradition‘ vorgeworfen hat. […] Naturschwär- merei, Harmoniestreben und ein Verharren in der traditionellen, metrisch re- gelmäßigen Reimstrophe wie in geläufiger Bildlichkeit kennzeichnen diese Lyrik, von Ausnahmen abgesehen. Poetisierung, Romantisierung der Welt ist ihr nicht in Frage gestelltes Ziel.“ (Emmerich 2001: 41) Und Klaus Werner hält in seinen Ausführungen zur „buchenländischen Natur- und Landschafts dichtung“ entsprechend kritisch fest: Die buchenländische Lyrik der 1930er Jahre gehorchte einem Funktionsverständnis, das sich einer direkten, attackierenden Vergegenwärtigung zunehmend finsterer Zeiten verschloss und Sozialkritik weitgehend aussparte, die Kontradiktion von Dichtung und Politik, Poesie und Ge- sellschaft festschrieb und Lyrik als Fluchtpunkt menschlicher Hoffnungen und Sehnsüchte jen- seits verunsichernder Weltläufe ansiedelte. Wo sich am Horizont die Zeichen des Faschismus zu häufen begannen, der bald ganz Europa überziehen sollte, schuf jenes ,immer / zum Grund zu‘, ins Mythische vordringende Wachhalten des Immerwährenden und Konsistenten, ergänzt um Hymnen an die Nacht und poetische Mondscheinsonaten, tröstliche Ersatzrealitäten, redete diese noble Dichtung der Dinge und des Herzens, dieser, wie man auch sagen könnte, poetische Moderantismus, die Wirklichkeit in einem problematischen Sinne still. (Werner 2003b: 33) Die hier zur Charakterisierung der bukowinischen Lyrik benutzte Metaphorik mag andeuten, dass der in ihr konstituierte Flucht-Raum zentral auch ein müt- terlich konnotierter ist. Der Raum der Imagination, den die ,Lieder‘ der ,Land- schaft‘ abgewinnen und einer sich andeutenden ,Entzweiung‘ entgegensetzen, kann in dem genauen Sinne einer Beschwörung von sprachloser Verständi- gung und zeitüberhobenem Einverständnis als ein Raum des Imaginären ver- standen werden, wie ihn für das kindliche Wünschen die Allgegenwart der Mutter repräsentiert. Keine Rede vom ,Grund‘, vom ,Immerwährenden‘ und ,Konsistenten‘ funktioniert ohne die infantile emotionale Besetzung dieser wie der ihnen in der Lyrik entsprechenden Metaphern, als welche die der ,Milch‘ die im intertextuellen Feld dieser Dichtung vielleicht sprechendste ist. Rose Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 41 Ausländers Gedicht Bukowina III (Ausländer 1984: 130) apostrophiert die Landschaft denn auch ausdrücklich als nährende Mutter und imaginiert die Aufhebung der Unterschiedenheit der Sprachen in einer Kunst, in der die mit- aufgenommene väterliche Komponente eine eindeutig sekundäre Rolle spielt: Grüne Mutter Bukowina Schmetterlinge im Haar Trink sagt die Sonne rote Melonenmilch weiße Kukuruzmilch ich machte sie süß Violette Föhrenzapfen Luftflügel Vögel und Laub Der Karpatenrücken väterlich lädt dich ein dich zu tragen Vier Sprachen Viersprachenlieder Menschen die sich verstehn Noch das ,Stillreden der Wirklichkeit‘, mit dem Werner seine kritischen Aus- führungen zum Moderantismus dieser Dichtung schließt, hat seine genaue Entsprechung in der Strophe des Gedichts Ferner Gast (Margul-Sperber 1939: 23) von Margul-Sperber, dessen matrilineare Genese kaum abzuweisen ist: Ihre Augen, unaussprechlich lind, Sehn mich an mit fernem Sternenblinken; Und sie flüstert: Willst du nicht, mein Kind, Von der dunklen Milch des Friedens trinken? Und auch die Beschwörung einer maximalen Intimität mit der Mutter in Rose Ausländers 1939 in ihrem ersten Gedichtband veröffentlichtem Gedicht Ins Leben (Ausländer 1939) verläuft über die bukowinisch omnipräsente Metapher der Milch: Nur aus der Trauer Mutterinnigkeit strömt mir das Vollmaß des Erlebens ein. Sie speist mich eine lange, trübe Zeit mit schwarzer Milch und schwerem Wermutwein. Die psychisch bedeutsame Möglichkeit der Evokation und Überführung infan- tiler emotionaler Besetzungen in die Sprache des Erwachsenen konzentriert sich bei Margul-Sperber und Ausländer auf eine klassische Weise in der Meta- pher der Milch, insofern in der ,dunklen‘ bzw. ,schwarzen Milch‘ die imaginäre Ambivalenz von Leben und Tod – individualgeschichtlich bzw. psychogenetisch Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
42 Thomas Schneider die von guter und böser Mutter – zwar angedeutet ist, durch die formale Har- monisierung zugleich aber melancholisch moderiert: aufgehoben und stillge- stellt – in Bezug auf die damit unmittelbar verbundene Metaphorik des Näh- rens: gestillt erscheint. Als räumliche Repräsentation des Imaginären, so könnte man zusammenfassend und zugespitzt sagen, wird die Bukowina zur Gebär-Mutter dieser Dichtung. Eine andere Dimensionierung erfährt der Rekurs auf die Bukowina als einen mütterlichen Raum, als Repräsentationsraum des mütterlichen Imaginären in der Lyrik Celans. Das initiale Oxymoron der Todesfuge, die „Schwarze Milch der Frühe“, schneidet die psychokonstitutive Möglichkeit individualgeschicht- lichen Durcharbeitens des Imaginären, wie es bei Margul-Sperber und Aus- länder auch und gerade nach der Shoah dichterisch noch weitgehend im Rekurs auf klassisch-romantische Modelle funktioniert, im Eingedenken der unauf- hebbaren Wirklichkeit der Ermordung der Mutter ab und hebt dadurch das mit der Mutter verbundene Imaginäre zugleich in eine andere, überpersönliche Dimension.3 In einem Brief an Margul-Sperber vom 30. Juli 1960 verallgemei- nert Celan die Beschwörung der ,Gegend, in der Menschen und Bücher lebten‘: die retrospektive Evokation der Verbindung der „Buchen meiner Heimat“ mit dem „Wort Mensch“ (Celan 1975: 54-56) zu der topographischen Konstruktion einer Verbindung des Ostens bzw. des Östlichen mit einem im Westen „selten gewordenen Seelenhaften“4, um über diese Konstruktion eines östlich Seelen- haften bzw. seelenhaft Östlichen das sein Leben zerschneidende Trauma als objektives formulierbar zu machen. Das Gedicht Der Reisekamerad (Celan 2000a: 66) greift das imaginäre Ineinander von Mutter und Raum noch als persönliche Möglichkeit auf und vollendet die schützende Identifikation noch und gerade im Außen des ,geteilten Lagers‘, ohne dass die mit dem Possessiv- pronomen gegen den Verlust behauptete Möglichkeit der individuellen, zu- gleich psychologischen (Seele) und poetologischen (Wort) Dimension der Identifkation selber angegriffen würde. Die durch die anaphorische und paral- lele Fügung und die stabilisierende Alliteration als paradigmatische beschwo- rene Identifikation: 3 Celans Eltern wurden im Juni 1942 von den Deutschen abgeholt und am 18. August 1942 in das Lager Michailowka deportiert; im Herbst/Winter 1942 Tod des Vaters durch Flecktyphus, bald darauf Ermordung der Mutter. Die Härte der Celanschen Lyrik, „ihr wesentlich nicht be- kenntnishafter, ihr unpersönlicher Charakter“ (Szondi 1978: 384), ist nicht zuletzt in diesem objektiven Schnitt durch die Psyche fundiert. Es ist diese Dekonstitution der Psyche, die sie unvermittelt auf jene sowohl geschichtliche wie vorgeschichtliche Dimensionen öffnet, von denen weiter unten die Rede ist. Zum Problem des mütterlichen Imaginären in diesem Kontext vgl. Schneider (2017). 4 Vgl. auch die Briefe an Chomed vom 26. 2. 1962 (Entwurf) und 18. 3. 1962 (Ausführung), die das ,Seelenhafte‘ und das ,Östliche‘ über die Person und den Namen von Celans Frau, Gisèle Celan-Lestrange – „Fräulein Seltsam“ – zusammenführen. (Celan 2010: 26, 30) Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 43 Deiner Mutter Seele schwebt voraus. Deiner Mutter Seele hilft die Nacht umschiffen, Riff um Riff. Deiner Mutter Seele peitscht die Haie vor dir her. Dieses Wort ist deiner Mutter Mündel. Deiner Mutter Mündel teilt dein Lager, Stein um Stein. Deiner Mutter Mündel bückt sich nach der Krume Lichts. – wird mit der Apostrophe des Gedichts Schwarzerde (Celan 2000d: 241) zur sprachlichen Identifikation des Verlusts der Mutter und der einer nicht einmal mehr die „Krume Lichts“ tragenden, sondern vollends schwarz gewordenen Erde intensiviert: SCHWARZERDE, schwarze Erde du, Stunden- Mutter Verzweiflung: Ein aus der Hand und ihrer Wunde dir Zu- geborenes schließt deine Kelche.5 Es ist dieser doppelte Verlust des mütterlichen Imaginären und seiner Reprä- sentation im Raum, mit dem für Celan die Kontinuität dichterischer Imagina- tion prinzipiell fraglich und „[d]ie Frage nach dem Woher […] dringender, ver- zweifelter“ – Dichtung ihre eigene Verwundung wird: „die Dichtung – in einem seiner Essays über die Poesie nennt Mandelstamm sie einen Pflug – reißt die untersten Zeitschichten auf, die ,Schwarzerde der Zeit‘ tritt zutage“ (Celan 1999: 219). Mit dem Zusammenfall von Zivilisation und Barbarei, wie Celan ihn in Todesfuge thematisiert und wie er sich für ihn im Zusammenfall von Mutter- und Mördersprache darstellt, geht die Zerstörung in die Sprache der Dichtung selber ein, die das Imaginäre in der Anstrengung seiner für die Psyche konstitutiven Erinnerung zugleich immer auch aufzureißen gezwungen ist. Durch die Identität von Evokation und Revokation wird das Sprechen apore- tisch. Celans intensive Aufnahme und Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition kann in diesem Zusammenhang auch als Versuch verstanden werden, die durch die Zerstörung des inneren Konnexes von Sprache und Imagination un-aus-tragbar gewordene Verletzung in eine überpersönliche symbolische Ordnung einzutragen, die den Zusammensturz der lyrischen Rede verhindert, ohne den Grad der traumatischen Verletzung zu relativieren. In Text und Kontext des späten Gedichts Aus Engelsmaterie (Celan 2000f: 196) ergänzt Celan die individualgeschichtlich unbeantwortbar gewordene Frage nach dem 5 Vgl. den Kommentar von Wiedemann zu dem Ausdruck „Schwarzerde“: „Fruchtbare Humus- schicht in Südrußland und der Ukraine, auch in Celans Heimat Bukowina; der Bestandteil ,Czerno-‘ von ,Czernowitz‘ entspricht russ. черный für ,schwarz‘.“ (Wiedemann 2005: 688) Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
44 Thomas Schneider Woher um die Frage nach dem Wohin, indem er sie als geschichtsphilosophi- sche Spannung von Arché und Telos in die topographischen Koordinaten der jüdischen Mystik einschreibt. Die Zeile „vom Osten gestreut, einzubringen im Westen“, zitiert explizit Gershom Scholems Von der mystischen Gestalt der Gottheit: „Aus dem Osten stammt der Same, der in der Sphäre der Schechina in die Welt tritt und aus ihr, ,wo sich aller Same vermischt‘, bei der Erlösung wie- der heimgebracht wird“, sowie: „Im Osten ist das Schatzhaus der Seelen, die in die Sphäre der Schechina, die der mystische Westen oder die Vermischung ist, ausgesät werden.“ (Scholem, zit. n. Wiedemann 2005: 779) Der Übertragung der Bukowina in die mystische Vorstellung des Ostens entspricht dabei die der Mutter in die mystische Vorstellung der Schechina, in welche „das seit dem be- rühmten Kapitel 31 in Jeremia auftauchende Bild der Mutter Rahel, die über ihre Kinder, die ins Exil ziehen, weint, sowie die Personifizierung Zions als einer mütterlichen Gestalt“ (Scholem, zit. n. Wiedemann 2005: 782) eingegangen ist. Mit „Mutter Rahel“ und „Ziw“, dem Licht der Schechina, zitiert das Gedicht Nah, im Aortenbogen (Celan 2000f: 202) die kabbalistischen Spekulationen ausdrücklich, um das „Hellwort“ – einem zentralen Verfahren der Celanschen Lyrik folgend – „im Hellblut“ zugleich wiederum physisch rückzubinden und anatomisch zu verorten. 2. Einbruch der Gewalt Auf dem Hintergrund der Trennung von Dichtung und gesellschaftlich-politi- scher Realität und der imaginären Aufladung der Bukowina muss der Terror des Zweiten Weltkriegs um so stärker als Einbruch der Gewalt in einen zuvor geschützten und schützenden, mütterlich bergenden Raum erfahren worden sein. Von den vielen Texten, die davon Zeugnis ablegen, sei hier nur ein kurzer Ausschnitt aus Alexander Gelmans Kindheit und Tod zitiert: Vor dem Krieg bin ich dem Tod nur ein einziges Mal begegnet. Und dann habe ich in einem Winter Dutzende, ja Hunderte von Toten gesehen, darunter meine Mutter, meinen Bruder, meine Großmutter, meine Tante mit Mann und Sohn, meinen Onkel mit Frau und Sohn … Der Tod war nicht bloß Teil meiner Kindheit, er bestimmte sie, er war Herr über alles und machte mit meiner Seele, was er wollte. Ich weiß gar nicht so richtig, was er angerichtet hat, und werde es auch nie erfahren. (Gelmann, zit. n. Werner 2003c: 73) Die eindringlichen Worte Gelmans weisen mit der gewaltsamen Zerstörung von Physis und Psyche auf jene Unfassbarkeit und Unerfahrbarkeit des Ge- schehens hin, wie sie einen traumatischen Vorgang kennzeichnen. Der Ver- zweiflung über die der Unfassbarkeit und Unerfahrbarkeit des Geschehens entsprechende Unsagbarkeit, wie sie der letzte Satz Gelmans birgt, hat die Dichtung während und nach der Shoah (eine) Sprache abzuringen versucht. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 45 Die damit verbundene Problematik ist nicht nur eine der Unangemessenheit jeden Sprechens und jeden Ausdrucks gegenüber der Dimension der Gewalt und des Leids, sondern die noch fundamentalere der inneren Zerstörung der Sprache durch die Zerstörung der Psyche, des Einbruchs der Gewalt auch in die inneren emotionalen Räume und damit in deren sprachliche Repräsenta- tion: die Auflösung der für die Psyche konstitutiven emotionalen Besetzungen von Sprache, wie sie sich individualgeschichtlich in der gleichzeitigen Genese des Seelenlebens und seines sprachlichen Ausdrucks bilden. Genau diesen Aspekt hält Gelman – entsprechend dem hier thematisierten Zusammenhang von Imaginärem und Gewalt – schon im Titel seiner Aufzeichnugen fest. Die Artikulation des traumatischen Geschehens, sofern es überhaupt zu einem Aussprechen kommt, erscheint der Verletzung deswegen nicht angemessen, weil der traumatische Einschnitt die Emotionen von der Sprache und die Spra- che von den Emotionen trennt und in der Folge jedes Sprechen zu einem in diesem intensiven Sinne äußeren und äußerlichen macht. Das traumatische Geschehen kann prinzipiell nicht in die Sprache zurückgeholt: gerade auch sprachlich nicht erinnert und verinnerlicht werden; es bewohnt die Psyche wie eine durch Verseuchung unbetretbar gewordene Zone, die auch ihre Umge- bung kontaminiert. Wenn Celan am 29. Januar 1970 in einem seiner letzten Briefe schreibt, er „habe in [s]einen Gedichten ein Äußerstes an menschlicher Erfahrung in dieser unserer Zeit eingebracht“ (Celan 2010: 62), dann ist damit auch jener Punkt anvisiert, an dem das Innen menschlicher Erfahrung durch die gewaltsame Zerstörung des konstitutiven Zusammenhangs von Sprache und Emotionalität zu einem Außen zu werden droht – und in genau diesem Sinne die Anstrengung provoziert, immer wieder, von Text zu Text, ,einge- bracht‘ zu werden. Die Arbeit an der Erfahrung des Terrors ist genau deswegen eine intensiv sprachliche und als solche ihre eigene Gefährdung, insofern das notwendige Einbringen des Außen das Seelenleben und seinen sprachlichen Ausdruck noch einmal zu zerstören, um die schon zitierte Metapher Mandelstams aufzugreifen: die Psyche wie ein Pflug aufzureißen droht. Ein Sprechen, das sich auf der damit angedeuteten Grenze zu bilden und zu halten versucht, ist tendenziell seine eigene Negation. Versucht man, die traumatische Erfahrung des Einbruchs von Gewalt rein strukturell als Aufhebung der Unterscheidung von Innen und Außen durch Vergewaltigung und Überwältigung der Psyche und ihres sprachlichen Aus- drucks und damit als Nullpunkt nicht nur von sprachlicher Erfahrung, sondern von symbolischer Ordnung überhaupt zu fassen, so referiert die Dichtung nach der Shoah nicht selten auf vor allem zwei strukturelle Figuren, um die Erfah- rung des Nullpunkts bzw. den Nullpunkt in die Erfahrung einzuholen und der in ihm konzentrierten Gewalt von dieser Gewalt nicht berührte Erfahrungsge- halte, ja die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt abzugewinnen. Im Folgenden Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
46 Thomas Schneider sollen diese Figuren an Texten von Itzik Manger und Rose Ausländer exempla- risch aufgezeigt werden, um dann auf diesem Hintergrund das Spezifische des Celanschen Ansatzes anzudeuten. 2.1 Nullpunkt und Inversion In seinem poetologischen Text Die Ballade – die Vision des Bluts von 1929 hat Itzik Manger die traditionelle Figur der Inversion als „balladische Verwand- lung“ zum konstitutiven Moment seiner Lyrik erklärt. Metaphorisch wird ein Nullpunkt von Erfahrung anvisiert und als Durchgangs- und Umschlagspunkt zu einer gesteigerten Erfahrung und ihres unmittelbaren Ausdrucks in der Dichtung beschworen. Exakt „da“, wo Wahrnehmung und Sprache enden und die Grenzen von Innen und Außen sich im „Rausch“ dionysischen „Einswer- dens“ verlieren, „beginnt das große Bacchanal“ und „wird auf dem Grund der Nacht die Niemandstat geboren“: Das ist der Strahl, der die ruhige Empfindung, die stille lyrische Seelenschwingung verwischt. Das ist der Anblick am Rand der Nacht, des Tods und Wahnsinns. Das ist das wilde Mysterium, das in unserem exaltierten Blut schlummert – die Ballade. (/) Ich gehe durch die Dämmerung, grau in grau. Am Horizont erwacht das Unklare. Silhouetten werden gänzlich schwarz. Bäume, Häuser, Laternen. Alte gebückte Bettler. Das Blut hebt zu brausen an, verschlingt das Panora- ma von Umrissen. Wird Rausch … Berauschung. Und durch das Einswerden von Silhouette und Rauschen des Bluts kommt die balladische Verwandlung in Gang. Die Schattenrisse der Bettler tragen in ihren schwer schleppenden Schritten Fragezeichen. Sie ritzen diese Fragezeichen in die nächtlichen Sterne ein. Umherziehende Gestalten fragen. Verlorene Gestalten suchen. Die Nacht schweigt, antwortet nicht. Gibt das Verlorene nicht zurück. Da beginnt das große Baccha- nal. Die dürre Bettlerhand entzündet rote sündige Monde. Und mit wilder Ekstase wird auf dem Grund der Nacht die Niemandstat geboren. Das zerzauste, sinnlose Gelächter menschlicher Verzweiflung. Die große mystische Vision unseres Blutes – die Ballade. (Manger 2004: 325f.) Nicht anders beschwört noch Mangers bereits oben zitierte und die Erfahrung des Antisemitismus thematisierende Rede zum 60. Geburtstag den Nullpunkt als die invertierende Genese eines anderen Zustands. Die inzwischen erfolgte Deromantisierung der Erfahrung von Rausch und Nacht zu der einer konkreten Todesdrohung affiziert nicht die prinzipiell mystische Struktur der Absolution: des Umschlagens von Negation in Position und deren sowohl religiöse wie ro- mantische Aufladung, ihrer Qualifizierung als ,Läuterung‘ und ,Verwandlung‘: Mein Gemüt war seit Anbeginn voller balladenhafter Schatten. Ist das ein Wunder? Ich wuchs in einem Land des klassischen Antisemitismus auf. Die griechisch-orthodoxen Kirchen breite- ten ihren giftigen und gefahrvollen Schatten über die jüdische Bevölkerung aus. In Polen, dem Land, in dem ich bis zum Zweiten Weltkrieg lebte, spitzte sich dies zu. Hinter jedem polnischen Juden zeichneten sich zwei Schatten ab: einer des erschrockenen Juden selbst und ein zweiter, fremder Schatten mit einem Messer zwischen den Zähnen. (/) All diese Schatten, die in mein jüdisches Gemüt hineingedunkelt hatten, versuchte ich in meiner Ballade zu läutern, das Balla- denhafte in mir und um mich herum in Musik zu verwandeln.6 (Manger 2004: 326) 6 Um nicht nur Programmformulierungen, sondern auch einen lyrischen Text Mangers zu zitieren, Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 47 Aus der Situation des postbukowinischen Exils heraus rekurriert Rose Aus- länder auf dieselbe Struktur als Bedingung für die poetische Reinszenierung der verlorenen Landschaft. Auch ihr Gedicht Im Dschungel (Ausländer 1985: 337) steigert das im Titel angedeutete Chaos bis zu dem Punkt des Ineinan- ders von seelischem und sprachlichem Ver-Sagen als dem Moment, da der ,Zauber‘ einsetzt: […] Wo sollen meine Gespielen aus dem Apfelland wohnen der Cecina die geschliffnen Pruthsteine? Wo die Gespräche mit Kindern die Augen der Blinden die weiter schaun als die Gassen? Wenn ich mich verirre hier im Dschungel mein Atem verstrickt im Steingestrüpp ruf ich meine Gefährten aus der Tasche: Revnawald Habsburgshöh Echo und Dorna und wenn alles versagt zaubert in meiner Tasche die Zimbel den Rabbi Eli Melech herbei Ob „auf dem Grund der Nacht“ oder „wenn alles versagt“: jeweils wird ein Zu- stand vollendeter Indifferenz zu dem Punkt stilisiert, der die Bedingung der Möglichkeit dichterischen Sprechens – vor wie nach der Shoah – darstellt. Mangers ,balladischer Verwandlung‘ entspricht Ausländers ,zauberische‘ Evo- kation des Verlorenen – die Möglichkeit sprachlicher Herstellung eines positiv besetzten emotionalen Raumes aus einer Negation heraus, die als konstitutive in dem Moment ihres konstitutiven Fungierens noch sich selber negiert und das auf diese Weise durch sie konstituierte Sprechen nicht affiziert. Indem das Moment der Negation damit in einem genauen Sinne zugleich bedeutend (für die Positionen) und unbedeutend (als Negation) wird, ermöglicht es einen weitgehend narrativen Diskurs, dessen Subjekt-Objekt-Prädikat-Struktur und der Negation und Position auf diese Weise zusammenschließt, sei die letzte Strophe der Rede des Schneidergesellen Notte Manger an den Dichter angeführt: „Und eine Träne fiel (/) in dein Gemüt, (/) mit Wunde und Wunder (/) im Gedicht aufgeblüht.“ (Manger 2004: 249) Das im November 1942 geschriebene Gedicht steht in dem Band Der Schneidergeselle Notte M anger von 1948, der dem Gedenken des von den Sowjets nach Samarkand deportierten und 1944 um- gekommenen Bruders gilt. „Zugleich markiert der Band die Bruchlinie im Mangerschen Werk: danach entstanden kaum noch Gedichte.“ (Efrat Gal-Ed, Nachwort zu Manger 2004: 320) An den wenigen späten Gedichten wäre zu überprüfen, inwiefern die Bruchlinie auch das Konzept der ,balladischen Verwandlung‘ affiziert. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
48 Thomas Schneider mimetisch-referentieller Charakter nicht in Frage steht. Die Möglichkeit der Artikulation von Welt als einem mehr oder weniger geordneten Zusammenhang von Erinnerung und Erfahrung lagert damit in dem Nullpunkt als in einem nicht artikulierten und prinzipiell nicht artikulierbaren Zentrum. Seine Insze- nierung als konstitutive Mitte lyrischen Sprechens: als stummer Punkt der Vermittlung qualifiziert Dichtung zu einem handhabbaren Medium der Kon- taktaufnahme mit wie immer räumlich repräsentierten verlorenen Anteilen der Seele, die Gefahr implizierend, dass diese durch ihre mediale Verfügbarkeit je und je auch zu abstrakten Gestalten werden.7 2.2 Nullpunkt und Aufspaltung der Ambivalenz Die Fixierung eines Nullpunkts symbolischer Ordnung kann als Versuch ver- standen werden, eine destruktive Gewalt zugleich zu bannen und dichterisch ins Produktive zu wenden. Gelingt der Versuch, so ermöglicht die Indifferenz als Stillstellung der die Erinnerung irritierenden Ambivalenz von Negation und Position die Präsenz einfacher Referenzen – wie in dem Gedicht Auslän- ders die erinnernde Gegenwart bukowinischer Orte. In der Ununterschieden- heit des Nullpunkts aber insistiert die unausgetragene Ambivalenz von Nega- tion und Position und generiert eine zweite Form der sprachlichen Artikulation, nämlich die Aufspaltung der Ambivalenz und ihre antithetische Aufteilung. Markiert, um eine metaphorische Analogie aufzugreifen, die dichterische „Nie- mandstat“ bei Manger das unartikulierbare Zentrum der Figur der Inversion, so die Situierung des dichterischen Sprechens Im Niemandshaus (Ausländer 1986: 169) bei Ausländer exakt den Ausgangsort dieser zweiten Möglichkeit als einer von differenzierender Artikulation: Ich wohne im Niemandshaus Mit Vögeln Und einer Schlange […] Meine Vögel haben Herzliche Stimmen Die Schlange wartet Auf den Biss 7 Werners Rede von einer „Galerie von Schlüssel-Orten elementarer und ideeller Art“ (Werner 2003b: 36) im Zusammenhang mit dem Text Im Dschungel kann in genau diesem Sinne kritisch gewendet werden. Vgl. auch seine Einschätzung des „,Mengenartigen‘ der Gedicht-Stafetten“ Ausländers: „Der Eindruck eines gewissen Selbstlaufs der lyrischen Reflexion und einer damit einhergehenden partiellen Beliebigkeit der Hervorbringungen drängt sich namentlich im Spät- werk durchaus auf.“ (Werner 2003d: 159) Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 49 Der Punkt absoluter Indifferenz, wie er aus dem gewaltsamen Zusammen- bruch der die symbolische als kulturelle und sprachliche Ordnung konstituie- renden Differenzen hervorgeht, wird hier nicht zum Punkt der Verwandlung überhöht, sondern durch Differenzierung der in ihm gebannten Ambivalenz in die symbolische Ordnung eingebracht. Die Bewältigung der jede symbolische, sprachlich-kulturelle Ordnung nicht nur irritierenden, sondern unterminie- renden Indifferenz und damit die Lösung des destabilisierenden Ambivalenz- konflikts erfolgt durch Auflösung der Ambivalenz in einfache, sprachlich fixier bare und als solche stabile Gegensätze, wie sie als antithetische Metaphorik das gesamte Werk Rose Ausländers durchziehen. Als Versuch des Umgangs mit der Erfahrung von Gewalt sind die immer neuen metaphorischen Anti thesen Ausländers lesbar auch als ein Umgehen der Gewaltstruktur. Noch das für ihre Poetik der Ambivalenz zentrale und geschichtsphilosophisch weit aus- greifende Gedicht Janusengel (Ausländer 1986: 146) entschärft den gewalt samen Schnitt durch „Zeit“ und „Gedächtnis“, indem er dessen Zwiespältigkeit mehrfach zu eindeutigen Antithesen neutralisiert und noch abschließend meta phorisch stillstellt: Der seinen Flügelschlag kennt Meister schneide in unser Gedächtnis seine Geschichte rosenzart messerscharf8 3. Sprache der Ambivalenz Celans Lyrik hat ihre unversöhnliche Härte daran, dass sie die hier strukturell als Indifferenz begriffene geschichtliche Situation des Ineinanders von Zivili- sation und Barbarei als die einer „vollkommenen Schändlichkeit“ (Hamacher 1988: 88) annimmt, ohne die vollkommen schändlich und nur in diesem Sinne absolut gewordene Gewalt zum Einsatzpunkt invertierender Aufhebung zu machen oder durch metaphorische Aufspaltung sprachlich zu verwalten. Im Eingedenken des Verlorenen: der Bukowina als einer ,Gegend, in der Men- schen und Bücher lebten‘, wird Dichtung als Suche nach dem verlorenen Ort von Menschlichkeit und Sprache und damit nach ihrer eigenen Möglichkeit 8 Vgl. zu diesem Komplex auch Werner (2003d), wo sich auch eine Deutung des Gedichts Janus engel findet. Mit einem Wort Franz Fühmanns bezeichnet Werner diesen Modus Rose Aus- länders, „die existenzielle Lähmung fallweise zu kompensieren“, als „,Magie der Alternative‘“ (Werner 2003d: 151). Das ,magische‘ Moment des Modus der Aufspaltung korrespondiert dem ,zauberischen‘ des Modus der Inversion; beide Modi der Ermöglichung des Sprechens funktio- nieren über ein nicht artikuliertes bzw. nicht artikulierbares Zentrum. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
50 Thomas Schneider zum Versuch einer Ortung: zu Topo-Graphie. Als solchermaßen orts-gebundene – und in diesem Sinne mag Margul-Sperbers oben angeführte Aussage, Celan sei „der Dichter unserer westöstlichen Landschaft“, doch zutreffen – transzendiert sie nicht die irdischen Koordinaten, sondern wird selbst zum „Gelände“ (Harnischstriemen, Celan 2000e: 28). Als Landvermessung ver- weigert sich Celans Lyrik den klassischen Modi des dichterischen Umgangs mit dem Phänomen der Gewalt. Seine blasphemischen Gedichte kritisieren deswegen zentral den strukturellen Zusammenhang von Inversion und Ästhetik und weisen diesen auch als problematische Säkularisation der christologischen Vorstellung des erlösenden Durchgangs durch den Nullpunkt des Kreuzes auf, wie sie als Imagination der Fixierung und Bannung universaler Gewalt am Grunde der Möglichkeit universaler „goldene[r] Rede“ (Spät und Tief, Celan 2000a: 35) liegt. Celans Konzeption einer „,grauere[n]‘ Sprache, […] die unter anderem auch ihre ,Musikalität‘ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ,Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte“ (Celan 2000k: 167), trägt darum als Einspruch gegen den inneren Zusammenhang von Ge- walt und religiöser und ästhetischer Erlösung einen genauen geschichtsphilo- sophischen Index. Der genuin christlichen Figur vollzogener und darum immer wieder vollziehbarer Absolution steht in Celans Dichtung das jüdische Motiv konkreter Landsuche entgegen.9 Das Maß der Aufgabe einer Vermessung des verlorenen Landes wird in der Erfahrung der geschichtlichen Situation als der eines Ineinanders von Zivilisa- tion und Barbarei, des Zusammenbruchs der symbolischen Ordnung als einer Ordnung von Differenzen, zum Unmaß: im Zustand der Indifferenz sind als einem prinzipiell maßlosen keine Maßstäbe mehr gegeben. Der Kritik der topo- logischen Figur der Inversion entspricht deswegen die topo-graphische Kon- zeption des Verfahrens der Engführung (Celan 2000c: 195ff.) als Gang „mit der Kunst in deine allereigenste Enge“ (Celan 2000m: 200), der mit dem Ein- bruch der Gewalt als dem „EINBRUCH des Ungeschiedenen (/) in deine Spra- che“ (Celan 2000i: 150) zugleich die Engführung von Erfahrung und Sprache, der Austrag der Identität von Mutter- und Mördersprache ist: „Ich habe die Worte, die Stimmen wirklich enggeführt (mich von ihnen engführen lassen) – ins Unerbittliche des letzten Gedichts […]“ (Celan, zit. n. Wiedemann 2005: 667). Der sprachliche Nach-Vollzug der Erfahrung der Vernichtung, auf dem Celan in dem Brief an Walter Jens vom 21. März 1959 insistiert, ist somit auch einer der Vernichtung der Sprache, die, „Düsterstes im Gedächtnis“: „,angerei- chert‘ von all dem“ (Celan 2000l: 186), keine erinnernd bereicherte und be- reichernde, sondern eine kontaminierte, verseuchte: eine aussätzige und immer 9 Vgl. zu dieser Unterscheidung in Celans Todesfuge Schneider (2010). Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 51 wieder aussetzende ist. Die Verderbnis der Sprache generiert eine Sprache des Verderbens, in der mit ihr selbst noch das Andenken der Opfer pervertiert er- scheint: „Welches der Worte du sprichst – (/) du dankst (/) dem Verderben.“ (Welchen der Steine du hebst, Celan 2000b: 129) Das Einbringen des Äußers- ten: die sprachliche Verinnerung von Gewalt und gewaltsamem Tod, terminiert in Selbstvergewaltigung und Tod der Sprache selbst, indem noch der Prozess der Signifikation durch die Veräußerung des Signifikanten zum Signifikat ab- stirbt: „Ein Wort – du weißt: (/) eine Leiche.“ (Nächtlich geschürzt, Celan 2000b: 125) Diese Engführung von Sprache und Erfahrung lässt sich im Werk Celans bis zu dem Punkt traumatischer Sprach- und Erfahrungslosigkeit ver- folgen – von der narrativen Evokation der Bukowina in Oben, geräuschlos (Celan 2000c: 188): (Erzähl von den Brunnen, erzähl von Brunnenkranz, Brunnenrad, von Brunnenstuben – erzähl. – und der schon zitierten Ineinanderblendung von Mutter- und Ortsverlust in Schwarzerde (Celan 2000d: 241) SCHWARZERDE, schwarze Erde du, Stunden- Mutter Verzweiflung: Ein aus der Hand und ihrer Wunde dir Zu- geborenes schließt deine Kelche. – über die Verwundung und das physische Sich-Verzehren der Erinnerung selbst (Schwarz, Celan 2000e: 57): SCHWARZ, wie die Erinnerungswunde, wühlen die Augen nach dir in dem von Herzzähnen hell- gebissenen Kronland, das unser Bett bleibt: – bis zu der durch die Engführung von Sprach- und Ortsverlust in ihrer Un(dar)- stellbarkeit endenden Frage in Deine Augen im Arm (Celan 2000f: 123): Wo? Mach den Ort aus, machs Wort aus. Lösch. Miß. Aschen-Helle, Aschen-Elle – ge- schluckt. Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
52 Thomas Schneider Vermessen, entmessen, verortet, entwortet, entwo In dem sprachlich durch Paronomasie hergestellten Ineinander von „Aschen- Helle“ und „Aschen-Elle“, darin das Maßlose der Gewalt zum einzig verfügbaren Maß und in unausgesprochener Realisierung und Radikalisierung der Parono- masie von ,Helle‘ und ,Elle‘ die Hölle als ,Helle‘ zu ihrem eigen(st)en Licht ge- worden ist, erweist sich die Topographie der Indifferenz als strukturell unmög- lich.10 Sprechen über den Stand von Zivilisation wird nach deren Untergang als buchstäbliches zum archaischen Vorgang der „Knochenstabritzung“ (Spasmen, Celan 2000f: 122).11 Die in dem Gedicht Stille! (Celan 2000a: 75): „Sie blutete schon, als wir mischten das Ja und das Nein, (/) als wirs schlürften“ schon früh als Struktur der Erfahrung benannte und in Sprich auch du (Celan 2000b: 135) zur Form eines lyrischen Imperativs geronnene Insistenz auf der Unhin- tergehbarkeit der Struktur der Ununterschiedenheit: „Sprich – (/) Doch schei- de das Nein nicht vom Ja.“, realisieren die letzten Zeilen des poetologischen Gedichts Tübingen, Jänner (Celan 2000d: 226) als sprachliche, wenn die schrittweise immer wieder neu ansetzende Annäherung an die Gegenwart aus der Perspektive der jüdischen Tradition in infantiler Vorsprachlichkeit mündet und die Rede am Rande (der Zerstörung) ihrer selbst in Hölderlins spätem Neologismus für die Nichtunterscheidung von Ja und Nein ver-endet: Käme, käme ein Mensch, käme ein Mensch zur Welt, heute, mit dem Lichtbart der Patriarchen: er dürfte, spräch er von dieser Zeit, er dürfte nur lallen und lallen, immer-, immer- zuzu. („Pallaksch. Pallaksch.“) 10 Vgl. zu dieser Struktur der Selbstverzehrung auch den Aphorismus aus Gegenlicht: „Täusche dich nicht: nicht diese letzte Lampe spendet mehr Licht – das Dunkel rings hat sich in sich selber vertieft.“ (Celan 2000j: 165) 11 Vgl. die ebenfalls durch das Verfahren der Paronomasie getragene Radikalisierung der Eng- führung von Sprache und Körper bis hin zu der von Logos und Sexus: „SPASMEN, ich liebe dich, Psalmen […] in dich, in dich (/) sing ich die Knochenstabritzung, (//) Rotrot, weit hinterm Schamhaar (/) geharft, in den Höhlen […].“ (Celan 2000f: 122) Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina 53 4. Im Namen – der Kreatur In der in Tübingen, Jänner wie in vielen anderen Gedichten hergestellten ge- schichtsphilosophischen Spannung eines Zusammenschlusses von Anfang und Ende: hier der Anfänge jüdischer Rede im Namen der Väter mit dem Zustand infantiler Vorsprachlichkeit, steht mit der symbolischen Ordnung auch die Möglichkeit des Sprechens in Frage. Diagnostisch fällt im Bild der ,lallenden Patriarchen‘ die Instanz des Vaters, die das Infans aus der sprachlosen Unun- terschiedenheit zur Sprache zu befreien aufgerufen ist, mit der Position des Infans strukturell zusammen. Noch den Instanzen bzw. der Instanz der sym- bolischen Ordnung droht infantile Regression, weil mit dem „Einbruch des Ungeschiednen“: der Indifferenz von Zivilisation und Barbarei, im Innersten auch die Sprache als System von Differenzen affiziert ist. Deswegen gilt für Das – geschichtlich realisierte – Nichts (Celan 2000h: 110): […] das Ende glaubt uns den Anfang, vor den uns umschweigenden Meistern, im Ungeschiednen, bezeugt sich die klamme Helle. Anvisiert wird mit dem ,Ungeschiednen‘ als der ,klammen Helle‘ eine Stätte, in der das Ende des zivilisatorischen Prozesses auf dessen früheste Anfänge zu- rückverweist und die finale Situation zur initialen wird: ,das Ende uns den An- fang glaubt‘. Die Struktur der Ungeschiedenheit kann im Bild der „klamme[n] (/) Helle“ als dem einer das Licht trübenden Feuchtigkeit als Bild des phylo- genetischen Übergangs vom Meer zum Land gelesen werden. In ihm wird die Krisis der Gegenwart als eine doppelte kenntlich: wie die phylogenetische In- differenz von Land und Meer auf die prähistorische Zuständlichkeit der Ge- genwart, so verweisen die Anfänge der phylogenetischen Differenzierung von Land und Meer auf diesen Zustand als den, dem als aktuell unhintergehbarem neue Unterscheidungen abzugewinnen sind. In der Meridian-Rede hat Celan für den Rekurs auf die Sphäre eines präkul- turellen und prähumanen Ineinanders von Re- und Progression den Begriff des „Kreatürlichen“ (Celan 2000m: 191)12 gefunden und die je und je zu leistende 12 Vgl. Celans zeitgleiches Interesse für die von Martin Buber, Joseph Wittig und Viktor von Weiz- säcker herausgegebene Zeitschrift Kreatur (1926-1930); vgl. auch die Briefe Nr. 26 und 32 in Celan/Szondi (2005: 20, 23). Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
54 Thomas Schneider Anstrengung der Dichtung, neue Differenzierungen zu gewinnen, mit aus- drücklichem Bezug auf Georg Büchners und Jakob Michael Reinhold Lenz‘ ma- terialistische Ästhetik konzipiert. Büchners bzw. Lenzens „elementarischer Sinn“: „Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel“ (Büchner 1980: 76) entspricht der elementaren Arbeit Celans als einer, deren Rückgang auf das Kreatürliche durch die Shoah allerdings eine andere Dimensionierung erfahren hat. Die gewaltsame „Reduk- tion auf das nackt Kreatürliche“ (Werner 2000c: 85), wie sie, um nur ein Zeug- nis anzuführen, etwa in Zeilen Wolf Rosenstocks zum Ausdruck kommt: „Exis- tenz? Worin besteht sie eigentlich? Im Lechzen. Hier in der Wüste ist dieses Wüstenwort Inbegriff all dessen geworden, was in uns noch von Seele geblie- ben ist“ (Rosenstock, zit. n. Werner 2003c: 86), übernimmt das Gedicht als Geste solchen Lechzens; seine „Aufmerksamkeit“ ist die Gebärde der elementar bedrohten Kreatur: das Gedicht merkt auf, indem es „verhofft – ein auf die Kre- atur zu beziehendes Wort“ (Celan 2000m: 197). Dichtung wird diesseits von Bedeutung zu Gebärden-Sprache. Celan schreibt den Materialismus von Lenz und Büchner als Insistenz auf dem Kreatürlichen unterhalb jeder Transforma- tion, sei sie als Läuterung (christlich-)religiöser, als Aufhebung (idealistisch-) dialektischer oder als Verwandlung (romantisch-)poetischer Natur, fort. Die in den Gedichten Eine Gauner- und Ganovenweise und Einem, der vor der Tür stand (Celan 2000d: 242f, 229f.) für den damit verbundenen Anspruch an die Dichtung stehenden Ausdrücke des ,Krummnasigen‘ und ,Kielkröpfigen‘13 hat Celan in Anmerkungen zur Meridian-Rede erläutert: „Wer nur der Mandeläu- gig-Schönen die Träne nachzuweinen bereit ist, der tötet auch sie gräbt sie nur, die Mandeläugig-Schöne, nur zum andern Mal tiefer ins Vergessen. – Erst wenn du mit deinem allereigensten Schmerz zu den krummnasigen, bucklichten und mauschelnden und kielkröpfigen Toten von Treblinka, Auschwitz und anders- wo gehst, dann begegnest du auch dem Aug und seinem Eidos: der Mandel“ (Celan 1999: 128) – nicht als abwehrende Transformation des Nicht-Schönen, sondern als annehmende „Ehrfurcht vor dem Geheimnis der krummnasigen Natur“: „darum auch ist das Gedicht, von seinem Wesen und nicht erst von seiner Thematik her – eine Schule wirklicher Menschlichkeit: es lehrt das An- dere als das Andere d.h. sein Anderssein verstehen […]“ (Celan 1999: 104).14 Celans Texte überführen das Anderssein als die Wirklichkeit des Men- schen in eine Fremdheit, der er in der Meridian-Rede über die materialistische 13 Vgl. auch Celans Widmung eines Sonderdrucks von Gespräch im Gebirg: „Für Peter Szondi, / herzlich und krummnasig, krummnasig und / herzlich / Paul Celan / Im September 1960.“ (Celan/Szondi 2005: 18) 14 Vgl. zu dieser Thematik ausführlich Perez (2010). Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1 © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
Sie können auch lesen