Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina: Itzik Manger, Rose Ausländer, Paul Celan - Schnittstelle ...

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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina:
                                   Itzik Manger, Rose Ausländer, Paul Celan

                                   Thomas Schneider

                                   1. Dichtung der Bukowina

                                   Wie immer die Debatte um den interkulturellen Charakter der ehemals in be-
                                   sonderem Maße multiethnischen und mehrsprachigen Bukowina angesichts
                                   „eine[r] zunehmende[n] Polarisierung der wissenschaftlichen Auffassungen
                                   über die interkulturelle Qualität der Erscheinungs- und Ergebnisformen des
                                   bukowinischen […] Völkerpluralismus“ (Werner 2003a: 20) sich gestalten mag
                                   – das Faktum der nicht selten an Verklärung grenzenden projektiven Aufla-
                                   dung, wie sie die Bukowina als deutsch-jüdische Literaturlandschaft von den
                                   in ihr Aufgewachsenen und vor allem ex post durch die aus ihr Vertriebenen
                                   vielfach erfahren hat, ist um so auffälliger, als es immer auch schon gewichtige
                                   Gegenstimmen gab. Rose Ausländers oft zitierten Zeilen von den „[v]ierspra-
                                   chig verbrüderte[n] (/) Lieder[n] (/) in entzweiter Zeit“ (Ausländer 1984: 72)
                                   aus dem Gedicht Bukowina II und Paul Celans prominentester Äußerung über
                                   die Landschaft seiner Herkunft in der Bremer Rede von 1958: „Es war, wenn
                                   ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von
                                   sehr weit her, jetzt vor Augen tritt, – es war eine Gegend, in der Menschen und
                                   Bücher lebten“ (Celan 2000l: 185), seien deswegen, gleichsam vorsichtig kor-
                                   rektiv, die Aussagen zweier Autoren mit dem selben Erfahrungshintergrund
                                   gegenübergestellt, die das Bild einer ungetrübten und befruchtenden Inter-
                                   kulturalität durch den Hinweis auf den in der Bukowina schon lange vor der
                                   deutschen Besatzung herrschenden Antisemitismus zumindest relativieren. In
                                   seiner Rede zum 60. Geburtstag kommt der 1901 in Czernowitz geborene und
                                   später in Polen lebende jiddische Dichter Itzik Manger im Zusammenhang
                                   poetologischer Überlegungen zu der von ihm bevorzugt verwendeten Form der
                                   Ballade auf diesbezügliche Erfahrungen zu sprechen:
                                      Mein Gemüt war seit Anbeginn voller balladenhafter Schatten. Ist das ein Wunder? Ich wuchs in
                                      einem Land des klassischen Antisemitismus auf. Die griechisch-orthodoxen Kirchen breiteten
                                      ihren giftigen und gefahrvollen Schatten über die jüdische Bevölkerung aus. In Polen, dem Land,
                                      in dem ich bis zum Zweiten Weltkrieg lebte, spitzte sich dies zu. Hinter jedem polnischen Juden
                                      zeichneten sich zwei Schatten ab: einer des erschrockenen Juden selbst und ein zweiter, fremder
                                      Schatten mit einem Messer zwischen den Zähnen. (Manger 2004: 326)

                                   Ähnlich äußert sich, in einem seiner letzten Interviews, der 1912 geborene, im
                                   Alter von zwölf Jahren nach Czernowitz gekommene und als letzter jiddischer
                                   Dichter dieser Region 2009 verstorbene Josef Burg:

                                                    Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                    © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                                                        Czernowitz hat Österreich, Rumänien, die Sowjetunion und die Ukraine erlebt und überlebt.
                                                                        Alle haben dieser Stadt ihren Stempel gegeben. In der österreichischen Zeit war es eine Stadt,
                                                                        wie es sie sonst wohl nur selten gab. Man hat nichts gewusst von einem Antisemitismus, von
                                                                        einem Hass von Mensch zu Mensch. Als die Rumänen gekommen sind mit ihren ,Juden nach
                                                                        Palästina‘-Rufen wurde alles anders. (Burg 2008: 25)

                                                                   Und Celan selbst verließ im Schuljahr 1934/35 „das Oberrealgymnasium, das
                                                                   er bisher besucht hatte, das ,Liceul Ortodox de Baeti‘, nicht wegen des Lehr-
                                                                   plans […], sondern einzig und allein wegen des dort herrschenden Antisemitis-
            for personal use only / no unauthorized distribution

                                                                   mus“ (Chalfen 1983: 56). In einem Brief vom 30. Januar 1934 an seine Tante
                                                                   in Palästina hält er dazu fest: „Was Angelegenheit Zeugniß betrifft, ja, hm! ich
                                                                   bin der Zweite, aber..... nicht der erste, wie es von Rechtswegen hätte sein sollen.
                                                                   Die Professoren, die Angehörigkeit zum jüdischen Zweig der semitischen Rasse
                                                                   und noch viele andere Hinderniße! Ja, was den Antisemitismus in unserer
                                                                   Schule betrifft, da könnte ich ein 300 Seiten starkes Buch drüber schreiben.“
                              Winter Journals

                                                                   (Celan, zit.n. Chalfen 1983: 51)
                                                                       Sowohl der eher launige Ton, in dem der vierzehnjährige Celan das Problem
                                                                   des ihn doch sehr konkret betreffenden Antisemitismus als (nur) eines von
                                                                   vielen Hindernissen anzusprechen vermag, wie auch die seltsam abstrakte und
                                                                   wie distanziert wirkende Andeutung einer ,entzweiten Zeit‘ bei der späten
                                                                   Rose Ausländer mögen wiederum Indizien dafür sein, dass mögliche soziale
                                                                                                                                                      Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
                                                                   und ethnische Konfliktlinien in der Bukowina der 1930er Jahre noch nicht als
                                                                   wirklich bedrohlich oder gar destruktiv empfunden wurden, auch nicht für die
                                                                   Wirklichkeit oder zumindest die Möglichkeit einer menschlichen, ideellen und
                                                                   künstlerischen Gemeinschaft über die Sprach- und Völkergrenzen hinweg
                                                                   oder gar durch diese hindurch. Gerade wenn man die These, dass „[d]ie von
                                                                   den deutsch-jüdischen Autoren aus der Bukowina und Galizien entwickelten
                                                                   positiven Ansichten dieser (süd)osteuropäischen Kulturregionen […] aus lebens­
                                                                   geschichtlichen Zusammenhängen unter dem Zeichen der Totalitarismen des
                                                                   20. Jahrhunderts, des Holocaust vor allem, begriffen werden müssen“ (Werner
                                                                   2003a: 20), unterstützt, müssen die Verhältnisse vor 1940/41 immerhin so
                                                                   gewesen sein, dass sie retrospektiv eine starke positive Aufladung zuließen
                                                                   – mag deren hoher Intensitätsgrad dann wiederum nur aus dem Unmaß von
                                                                   Terror und Zerstörung und der nachfolgenden Erfahrung des ungeliebten
                                                                   Exils zu erklären sein. Was Celans immer wieder zum Ausdruck gebrachte
                                                                   Sehnsucht nach der Bukowina betrifft, so spielt ohne Frage auch seine zweite
                                                                   traumatische Erfahrung, die vom Nachleben des Antisemitismus im Deutsch-
                                                                   land der 1950er und 60er Jahre eine Rolle, wie er es vor allem (aber nicht nur)
                                                                   in der Affäre um die Plagiatsvorwürfe Claire Golls erfuhr. Celans in einem Brief
                                                                   an Alfred Margul-Sperber vom 30. Juli 1960 aufgeworfene Frage, „ob ich nicht
                                                                   besser bei den Buchen meiner Heimat geblieben wäre…“ (Celan 1975: 56), ergeht
                                                                   genau zwei Monate, nachdem er von Claire Golls unter dem Titel „Unbekanntes

                                                                                      Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                                                      © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                                               39

                                   über Paul Celan“ veröffentlichten Plagiatsvorwürfen erfahren hatte, und in den
                                   wenigen, aber intensiven Briefen an den in Czernowitz gebliebenen Freund
                                   Gustav Chomed wird der Geburtsort in den folgenden Jahren, da er der an ihm
                                   nicht gelungenen physischen Vernichtung die psychische und geistige folgen
                                   sieht, endgültig zur rückwärtsgewandten Utopie. Der Brief vom 6. Februar
                                   1962, in dem er die Goll-Affäre mit Bezug auf Heinrich Heine bitter kommen-
                                   tiert: „Augenblicklich ist es so weit, daß man mich – siehe Loreley – für inexis-
                                   tent erklärt. (Buchstäblich, lieber Gustav!) Und mich nach Strich und Faden
                                   bestiehlt…“, endet mit dem Aufruf von Czernowitz als dem humanen Gegen-
                                   bild: „Ach weißt Du, ich wollte, ich wohnte noch dort – nicht nur die Töpfer-
                                   gasse war… menschlich.“ (Celan 2010: 16, 17)1 Die unmittelbare Antwort Cho-
                                   meds auf diesen in seiner Deutlichkeit auch aus der Situation heraus
                                   verstehbaren Wunsch Celans mag dem Ineinander der politisch-gewaltsamen
                                   und emotionalen Besetzung des Ortes, an dem die Briefpartner als Kinder zu
                                   spielen pflegten, in ihrer Nüchternheit und die Wirklichkeit prononcierenden
                                   Schärfe auf andere Weise gerecht werden und sei deshalb in extenso zitiert:
                                       Die Töpfergasse, liebes Paulchen, mit all dem was in, auf und um ihr [sic; T.S.] war – die gibt es
                                       schon lang nicht mehr. ,Eto bylo davno i nepravda‘ heisst es sehr treffend auf russisch. Es ist nur
                                       noch eine Erinnerung, die in – einigen – Herzen lebt. Du brauchst also nichts zu bedauern. Die
                                       Tragödie unseres Lebens ist nicht die, dass die Töpfergasse verschwunden ist. Die Tragödie liegt
                                       darin, dass es sie eigentlich gar nicht gegeben hat, außer in unserer Vorstellung. Wir sind die
                                       Geisteskinder eines Deutschlands der Dichter und Denker, das es schon lang nicht mehr gibt.
                                       Ich war in jenen Jahren in ziemlich engem Kontakt mit allen möglichen Arten von Deutschen
                                       und habe mich mehr als einmal von unserer haushohen geistigen Überlegenheit überzeugt. Und
                                       dass die Mehrzahl von ihnen Schweinehunde sind, hab ich schon damals, trotz der gedemütigten
                                       Lage, in der sie waren, erkannt. Ausserdem hab ich noch Auschwitz und Ravensbrück gesehen…
                                       (Chomed 2010: 22)2

                                   Aber nicht erst retrospektive Beschwörung, auch schon die deutsch-jüdische
                                   Dichtung der 1930er Jahre inszeniert die Bukowina als einen positiv besetzten
                                   Raum, in welchem Juden sich einmal nicht auf Wanderschaft befinden, sondern
                                   einer heimatlichen Landschaft eng verbunden erscheinen. Alfred Margul-
                                   Sperber hält 1936 ausdrücklich fest, daß die „Bukowiner jüdischen Dichter […]
                                   dem Boden und der Landschaft viel stärker verhaftet“ sind, „als dies bei jü­
                                   dischen Dichtern anderswo der Fall zu sein pflegt“ (Margul-Sperber, zit. n.
                                   Emmerich 2001: 24) und veröffentlicht seine Lyrik, die dieser Boden-Haftung

                                   1   Zur umfassenden Aufarbeitung der Affäre um die Plagiatsvorwürfe Claire Golls vgl. Wiedemann
                                       (2000).
                                   2   Brief vom 17. 2. 1962. – Vgl. aber auch die nochmalige Wendung der Thematik in Celans Antwort
                                       vom 26. 2. 1962: „[…] die Töpfergasse, die ich zwar gar nicht anders sehe als Du, die es aber
                                       dennoch gibt: quia absurdum.“ (Celan 2010: 25) Vgl. auch die Thematisierung des Absurden
                                       in Celans Meridian-Rede von 1960 und die auf „den Ort meiner eigenen Herkunft“ bezogene
                                       Feststellung: „Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal
                                       jetzt, geben müßte, und … ich finde etwas!“ (Celan 2000m: 202)

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                     © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                   Ausdruck gibt, 1934 unter dem Titel Gleichnisse der Landschaft – eine Pro-
                                   grammformulierung, deren konservativer und mythogener Gehalt ihm selbst
                                   noch für die frühe Dichtung Celans gilt, wenn er Otto Basil in einem Brief aus
                                   dem Jahr 1947 „doch gern sagen [möchte], daß Paul Celan der Dichter unserer
                                   westöstlichen Landschaft ist, den ich ein halbes Menschenalter von ihr erwartet
                                   habe und der diese Gläubigkeit reichlich lohnt“, um Celans ,Landschafts‘-Lyrik
                                   dann allerdings seltsam übergangslos mit der doch vollendeten Bodenlosigkeit
                                   der Prosa Kafkas zu vergleichen: „Ich für mein Teil glaube, daß Celans Gedichte
                                   das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes sind.“ (Margul-Sperber,
                                   zit. n. Emmerich 2001: 72) Margul-Sperbers thematischer und formaler Kon-
                                   servatismus, sein Bekenntnis „zu allem Veralteten und Herkömmlichen, in
                                   Form, Wahl und Behandlung seiner dichterischen Gegenstände“ (Margul-
                                   Sperber, zit. n. Emmerich 2001: 59), steht exemplarisch für jene Bukowiner
                                   Lyrik, „der Peter Demetz mit Recht ihre ,anachronistische Loyalität zur deut-
                                   schen klassisch-romantischen Tradition‘ vorgeworfen hat. […] Naturschwär-
                                   merei, Harmoniestreben und ein Verharren in der traditionellen, metrisch re-
                                   gelmäßigen Reimstrophe wie in geläufiger Bildlichkeit kennzeichnen diese
                                   Lyrik, von Ausnahmen abgesehen. Poetisierung, Romantisierung der Welt ist
                                   ihr nicht in Frage gestelltes Ziel.“ (Emmerich 2001: 41) Und Klaus Werner hält
                                   in seinen Ausführungen zur „buchenländischen Natur- und Landschafts­
                                   dichtung“ entsprechend kritisch fest:
                                        Die buchenländische Lyrik der 1930er Jahre gehorchte einem Funktionsverständnis, das sich
                                        einer direkten, attackierenden Vergegenwärtigung zunehmend finsterer Zeiten verschloss und
                                        Sozialkritik weitgehend aussparte, die Kontradiktion von Dichtung und Politik, Poesie und Ge-
                                        sellschaft festschrieb und Lyrik als Fluchtpunkt menschlicher Hoffnungen und Sehnsüchte jen-
                                        seits verunsichernder Weltläufe ansiedelte. Wo sich am Horizont die Zeichen des Faschismus
                                        zu häufen begannen, der bald ganz Europa überziehen sollte, schuf jenes ,immer / zum Grund
                                        zu‘, ins Mythische vordringende Wachhalten des Immerwährenden und Konsistenten, ergänzt
                                        um Hymnen an die Nacht und poetische Mondscheinsonaten, tröstliche Ersatzrealitäten, redete
                                        diese noble Dichtung der Dinge und des Herzens, dieser, wie man auch sagen könnte, poetische
                                        Moderantismus, die Wirklichkeit in einem problematischen Sinne still. (Werner 2003b: 33)

                                   Die hier zur Charakterisierung der bukowinischen Lyrik benutzte Metaphorik
                                   mag andeuten, dass der in ihr konstituierte Flucht-Raum zentral auch ein müt-
                                   terlich konnotierter ist. Der Raum der Imagination, den die ,Lieder‘ der ,Land-
                                   schaft‘ abgewinnen und einer sich andeutenden ,Entzweiung‘ entgegensetzen,
                                   kann in dem genauen Sinne einer Beschwörung von sprachloser Verständi-
                                   gung und zeitüberhobenem Einverständnis als ein Raum des Imaginären ver-
                                   standen werden, wie ihn für das kindliche Wünschen die Allgegenwart der
                                   Mutter repräsentiert. Keine Rede vom ,Grund‘, vom ,Immerwährenden‘ und
                                   ,Konsistenten‘ funktioniert ohne die infantile emotionale Besetzung dieser wie
                                   der ihnen in der Lyrik entsprechenden Metaphern, als welche die der ,Milch‘
                                   die im intertextuellen Feld dieser Dichtung vielleicht sprechendste ist. Rose

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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                       41

                                   Ausländers Gedicht Bukowina III (Ausländer 1984: 130) apostrophiert die
                                   Landschaft denn auch ausdrücklich als nährende Mutter und imaginiert die
                                   Aufhebung der Unterschiedenheit der Sprachen in einer Kunst, in der die mit-
                                   aufgenommene väterliche Komponente eine eindeutig sekundäre Rolle spielt:
                                      Grüne Mutter
                                      Bukowina
                                      Schmetterlinge im Haar

                                      Trink sagt die Sonne
                                      rote Melonenmilch
                                      weiße Kukuruzmilch
                                      ich machte sie süß

                                      Violette Föhrenzapfen
                                      Luftflügel Vögel und Laub
                                      Der Karpatenrücken
                                      väterlich
                                      lädt dich ein
                                      dich zu tragen

                                      Vier Sprachen
                                      Viersprachenlieder

                                      Menschen die sich verstehn

                                   Noch das ,Stillreden der Wirklichkeit‘, mit dem Werner seine kritischen Aus-
                                   führungen zum Moderantismus dieser Dichtung schließt, hat seine genaue
                                   Entsprechung in der Strophe des Gedichts Ferner Gast (Margul-Sperber 1939:
                                   23) von Margul-Sperber, dessen matrilineare Genese kaum abzuweisen ist:
                                      Ihre Augen, unaussprechlich lind,
                                      Sehn mich an mit fernem Sternenblinken;
                                      Und sie flüstert: Willst du nicht, mein Kind,
                                      Von der dunklen Milch des Friedens trinken?

                                   Und auch die Beschwörung einer maximalen Intimität mit der Mutter in Rose
                                   Ausländers 1939 in ihrem ersten Gedichtband veröffentlichtem Gedicht Ins
                                   Leben (Ausländer 1939) verläuft über die bukowinisch omnipräsente Metapher
                                   der Milch:
                                      Nur aus der Trauer Mutterinnigkeit
                                      strömt mir das Vollmaß des Erlebens ein.
                                      Sie speist mich eine lange, trübe Zeit
                                      mit schwarzer Milch und schwerem Wermutwein.

                                   Die psychisch bedeutsame Möglichkeit der Evokation und Überführung infan-
                                   tiler emotionaler Besetzungen in die Sprache des Erwachsenen konzentriert
                                   sich bei Margul-Sperber und Ausländer auf eine klassische Weise in der Meta-
                                   pher der Milch, insofern in der ,dunklen‘ bzw. ,schwarzen Milch‘ die imaginäre
                                   Ambivalenz von Leben und Tod – individualgeschichtlich bzw. psychogenetisch

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                                   die von guter und böser Mutter – zwar angedeutet ist, durch die formale Har-
                                   monisierung zugleich aber melancholisch moderiert: aufgehoben und stillge-
                                   stellt – in Bezug auf die damit unmittelbar verbundene Metaphorik des Näh-
                                   rens: gestillt erscheint. Als räumliche Repräsentation des Imaginären, so
                                   könnte man zusammenfassend und zugespitzt sagen, wird die Bukowina zur
                                   Gebär-Mutter dieser Dichtung.
                                       Eine andere Dimensionierung erfährt der Rekurs auf die Bukowina als einen
                                   mütterlichen Raum, als Repräsentationsraum des mütterlichen Imaginären in
                                   der Lyrik Celans. Das initiale Oxymoron der Todesfuge, die „Schwarze Milch
                                   der Frühe“, schneidet die psychokonstitutive Möglichkeit individualgeschicht-
                                   lichen Durcharbeitens des Imaginären, wie es bei Margul-Sperber und Aus-
                                   länder auch und gerade nach der Shoah dichterisch noch weitgehend im Rekurs
                                   auf klassisch-romantische Modelle funktioniert, im Eingedenken der unauf-
                                   hebbaren Wirklichkeit der Ermordung der Mutter ab und hebt dadurch das
                                   mit der Mutter verbundene Imaginäre zugleich in eine andere, überpersönliche
                                   Dimension.3 In einem Brief an Margul-Sperber vom 30. Juli 1960 verallgemei-
                                   nert Celan die Beschwörung der ,Gegend, in der Menschen und Bücher lebten‘:
                                   die retrospektive Evokation der Verbindung der „Buchen meiner ­Heimat“ mit
                                   dem „Wort Mensch“ (Celan 1975: 54-56) zu der topographischen Konstruktion
                                   einer Verbindung des Ostens bzw. des Östlichen mit einem im Westen „selten
                                   gewordenen Seelenhaften“4, um über diese Konstruktion eines östlich Seelen-
                                   haften bzw. seelenhaft Östlichen das sein Leben zerschneidende Trauma als
                                   objektives formulierbar zu machen. Das Gedicht Der Reisekamerad (Celan
                                   2000a: 66) greift das imaginäre Ineinander von Mutter und Raum noch als
                                   persönliche Möglichkeit auf und vollendet die schützende Identifikation noch
                                   und gerade im Außen des ,geteilten Lagers‘, ohne dass die mit dem Possessiv-
                                   pronomen gegen den Verlust behauptete Möglichkeit der individuellen, zu-
                                   gleich psychologischen (Seele) und poetologischen (Wort) Dimension der
                                   Identifkation selber angegriffen würde. Die durch die anaphorische und paral-
                                   lele Fügung und die stabilisierende Alliteration als paradigmatische beschwo-
                                   rene Identifikation:

                                   3    Celans Eltern wurden im Juni 1942 von den Deutschen abgeholt und am 18. August 1942 in
                                        das Lager Michailowka deportiert; im Herbst/Winter 1942 Tod des Vaters durch Flecktyphus,
                                        bald darauf Ermordung der Mutter. Die Härte der Celanschen Lyrik, „ihr wesentlich nicht be-
                                        kenntnishafter, ihr unpersönlicher Charakter“ (Szondi 1978: 384), ist nicht zuletzt in diesem
                                        objektiven Schnitt durch die Psyche fundiert. Es ist diese Dekonstitution der Psyche, die sie
                                        unvermittelt auf jene sowohl geschichtliche wie vorgeschichtliche Dimensionen öffnet, von
                                        denen weiter unten die Rede ist. Zum Problem des mütterlichen Imaginären in diesem Kontext
                                        vgl. Schneider (2017).
                                   4    Vgl. auch die Briefe an Chomed vom 26. 2. 1962 (Entwurf) und 18. 3. 1962 (Ausführung), die
                                        das ,Seelenhafte‘ und das ,Östliche‘ über die Person und den Namen von Celans Frau, Gisèle
                                        Celan-Lestrange – „Fräulein Seltsam“ – zusammenführen. (Celan 2010: 26, 30)

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                     © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                                    43

                                       Deiner Mutter Seele schwebt voraus.
                                       Deiner Mutter Seele hilft die Nacht umschiffen, Riff um Riff.
                                       Deiner Mutter Seele peitscht die Haie vor dir her.

                                       Dieses Wort ist deiner Mutter Mündel.
                                       Deiner Mutter Mündel teilt dein Lager, Stein um Stein.
                                       Deiner Mutter Mündel bückt sich nach der Krume Lichts.

                                   – wird mit der Apostrophe des Gedichts Schwarzerde (Celan 2000d: 241) zur
                                   sprachlichen Identifikation des Verlusts der Mutter und der einer nicht einmal
                                   mehr die „Krume Lichts“ tragenden, sondern vollends schwarz gewordenen
                                   Erde intensiviert:
                                       SCHWARZERDE, schwarze
                                       Erde du, Stunden-
                                       Mutter
                                       Verzweiflung:

                                       Ein aus der Hand und ihrer
                                       Wunde dir Zu-
                                       geborenes schließt
                                       deine Kelche.5

                                   Es ist dieser doppelte Verlust des mütterlichen Imaginären und seiner Reprä-
                                   sentation im Raum, mit dem für Celan die Kontinuität dichterischer Imagina-
                                   tion prinzipiell fraglich und „[d]ie Frage nach dem Woher […] dringender, ver-
                                   zweifelter“ – Dichtung ihre eigene Verwundung wird: „die Dichtung – in einem
                                   seiner Essays über die Poesie nennt Mandelstamm sie einen Pflug – reißt die
                                   untersten Zeitschichten auf, die ,Schwarzerde der Zeit‘ tritt zutage“ (Celan
                                   1999: 219). Mit dem Zusammenfall von Zivilisation und Barbarei, wie Celan
                                   ihn in Todesfuge thematisiert und wie er sich für ihn im Zusammenfall von
                                   Mutter- und Mördersprache darstellt, geht die Zerstörung in die Sprache der
                                   Dichtung selber ein, die das Imaginäre in der Anstrengung seiner für die Psyche
                                   konstitutiven Erinnerung zugleich immer auch aufzureißen gezwungen ist.
                                   Durch die Identität von Evokation und Revokation wird das Sprechen apore-
                                   tisch. Celans intensive Aufnahme und Auseinandersetzung mit der jüdischen
                                   Tradition kann in diesem Zusammenhang auch als Versuch verstanden werden,
                                   die durch die Zerstörung des inneren Konnexes von Sprache und Imagination
                                   un-aus-tragbar gewordene Verletzung in eine überpersönliche symbolische
                                   Ordnung einzutragen, die den Zusammensturz der lyrischen Rede verhindert,
                                   ohne den Grad der traumatischen Verletzung zu relativieren. In Text und
                                   Kontext des späten Gedichts Aus Engelsmaterie (Celan 2000f: 196) ergänzt
                                   Celan die individualgeschichtlich unbeantwortbar gewordene Frage nach dem

                                   5   Vgl. den Kommentar von Wiedemann zu dem Ausdruck „Schwarzerde“: „Fruchtbare Humus-
                                       schicht in Südrußland und der Ukraine, auch in Celans Heimat Bukowina; der Bestandteil
                                       ,Czerno-‘ von ,Czernowitz‘ entspricht russ. черный für ,schwarz‘.“ (Wiedemann 2005: 688)

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                                   Woher um die Frage nach dem Wohin, indem er sie als geschichtsphilosophi-
                                   sche Spannung von Arché und Telos in die topographischen Koordinaten der
                                   jüdischen Mystik einschreibt. Die Zeile „vom Osten gestreut, einzubringen im
                                   Westen“, zitiert explizit Gershom Scholems Von der mystischen Gestalt der
                                   Gottheit: „Aus dem Osten stammt der Same, der in der Sphäre der Schechina in
                                   die Welt tritt und aus ihr, ,wo sich aller Same vermischt‘, bei der Erlösung wie-
                                   der heimgebracht wird“, sowie: „Im Osten ist das Schatzhaus der Seelen, die in
                                   die Sphäre der Schechina, die der mystische Westen oder die Vermischung ist,
                                   ausgesät werden.“ (Scholem, zit. n. Wiedemann 2005: 779) Der Übertragung
                                   der Bukowina in die mystische Vorstellung des Ostens entspricht dabei die der
                                   Mutter in die mystische Vorstellung der Schechina, in welche „das seit dem be-
                                   rühmten Kapitel 31 in Jeremia auftauchende Bild der Mutter Rahel, die über
                                   ihre Kinder, die ins Exil ziehen, weint, sowie die Personifizierung Zions als einer
                                   mütterlichen Gestalt“ (Scholem, zit. n. Wiedemann 2005: 782) eingegangen ist.
                                   Mit „Mutter Rahel“ und „Ziw“, dem Licht der Schechina, zitiert das Gedicht
                                   Nah, im Aortenbogen (Celan 2000f: 202) die kabbalistischen Spekulationen
                                   ausdrücklich, um das „Hellwort“ – einem zentralen Verfahren der Celanschen
                                   Lyrik folgend – „im Hellblut“ zugleich wiederum physisch rückzubinden und
                                   anatomisch zu verorten.

                                   2. Einbruch der Gewalt

                                   Auf dem Hintergrund der Trennung von Dichtung und gesellschaftlich-politi-
                                   scher Realität und der imaginären Aufladung der Bukowina muss der Terror
                                   des Zweiten Weltkriegs um so stärker als Einbruch der Gewalt in einen zuvor
                                   geschützten und schützenden, mütterlich bergenden Raum erfahren worden
                                   sein. Von den vielen Texten, die davon Zeugnis ablegen, sei hier nur ein kurzer
                                   Ausschnitt aus Alexander Gelmans Kindheit und Tod zitiert:
                                        Vor dem Krieg bin ich dem Tod nur ein einziges Mal begegnet. Und dann habe ich in einem
                                        Winter Dutzende, ja Hunderte von Toten gesehen, darunter meine Mutter, meinen Bruder,
                                        meine Großmutter, meine Tante mit Mann und Sohn, meinen Onkel mit Frau und Sohn … Der
                                        Tod war nicht bloß Teil meiner Kindheit, er bestimmte sie, er war Herr über alles und machte
                                        mit meiner Seele, was er wollte. Ich weiß gar nicht so richtig, was er angerichtet hat, und werde
                                        es auch nie erfahren. (Gelmann, zit. n. Werner 2003c: 73)

                                   Die eindringlichen Worte Gelmans weisen mit der gewaltsamen Zerstörung
                                   von Physis und Psyche auf jene Unfassbarkeit und Unerfahrbarkeit des Ge-
                                   schehens hin, wie sie einen traumatischen Vorgang kennzeichnen. Der Ver-
                                   zweiflung über die der Unfassbarkeit und Unerfahrbarkeit des Geschehens
                                   entsprechende Unsagbarkeit, wie sie der letzte Satz Gelmans birgt, hat die
                                   Dichtung während und nach der Shoah (eine) Sprache abzuringen versucht.

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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                       45

                                    Die damit verbundene Problematik ist nicht nur eine der Unangemessenheit
                                    jeden Sprechens und jeden Ausdrucks gegenüber der Dimension der Gewalt
                                    und des Leids, sondern die noch fundamentalere der inneren Zerstörung der
                                    Sprache durch die Zerstörung der Psyche, des Einbruchs der Gewalt auch in
                                    die inneren emotionalen Räume und damit in deren sprachliche Repräsenta-
                                    tion: die Auflösung der für die Psyche konstitutiven emotionalen Besetzungen
                                    von Sprache, wie sie sich individualgeschichtlich in der gleichzeitigen Genese
                                    des Seelenlebens und seines sprachlichen Ausdrucks bilden. Genau diesen
                                    Aspekt hält Gelman – entsprechend dem hier thematisierten Zusammenhang
                                    von Imaginärem und Gewalt – schon im Titel seiner Aufzeichnugen fest. Die
                                    Artikulation des traumatischen Geschehens, sofern es überhaupt zu einem
                                    Aussprechen kommt, erscheint der Verletzung deswegen nicht angemessen,
                                    weil der traumatische Einschnitt die Emotionen von der Sprache und die Spra-
                                    che von den Emotionen trennt und in der Folge jedes Sprechen zu einem in
                                    diesem intensiven Sinne äußeren und äußerlichen macht. Das traumatische
                                    Geschehen kann prinzipiell nicht in die Sprache zurückgeholt: gerade auch
                                    sprachlich nicht erinnert und verinnerlicht werden; es bewohnt die Psyche wie
                                    eine durch Verseuchung unbetretbar gewordene Zone, die auch ihre Umge-
                                   bung kontaminiert. Wenn Celan am 29. Januar 1970 in einem seiner letzten
                                   Briefe schreibt, er „habe in [s]einen Gedichten ein Äußerstes an menschlicher
                                   Erfahrung in dieser unserer Zeit eingebracht“ (Celan 2010: 62), dann ist damit
                                   auch jener Punkt anvisiert, an dem das Innen menschlicher Erfahrung durch
                                   die gewaltsame Zerstörung des konstitutiven Zusammenhangs von Sprache
                                   und Emotionalität zu einem Außen zu werden droht – und in genau diesem
                                   Sinne die Anstrengung provoziert, immer wieder, von Text zu Text, ,einge-
                                   bracht‘ zu werden. Die Arbeit an der Erfahrung des Terrors ist genau deswegen
                                   eine intensiv sprachliche und als solche ihre eigene Gefährdung, insofern das
                                   notwendige Einbringen des Außen das Seelenleben und seinen sprachlichen
                                   Ausdruck noch einmal zu zerstören, um die schon zitierte Metapher
                                   ­Mandelstams aufzugreifen: die Psyche wie ein Pflug aufzureißen droht. Ein
                                    Sprechen, das sich auf der damit angedeuteten Grenze zu bilden und zu halten
                                    versucht, ist tendenziell seine eigene Negation.
                                        Versucht man, die traumatische Erfahrung des Einbruchs von Gewalt rein
                                    strukturell als Aufhebung der Unterscheidung von Innen und Außen durch
                                    Vergewaltigung und Überwältigung der Psyche und ihres sprachlichen Aus-
                                    drucks und damit als Nullpunkt nicht nur von sprachlicher Erfahrung, sondern
                                    von symbolischer Ordnung überhaupt zu fassen, so referiert die Dichtung nach
                                    der Shoah nicht selten auf vor allem zwei strukturelle Figuren, um die Erfah-
                                    rung des Nullpunkts bzw. den Nullpunkt in die Erfahrung einzuholen und der
                                    in ihm konzentrierten Gewalt von dieser Gewalt nicht berührte Erfahrungsge-
                                    halte, ja die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt abzugewinnen. Im Folgenden

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                                   sollen diese Figuren an Texten von Itzik Manger und Rose Ausländer exempla-
                                   risch aufgezeigt werden, um dann auf diesem Hintergrund das Spezifische des
                                   Celanschen Ansatzes anzudeuten.

                                   2.1 Nullpunkt und Inversion

                                   In seinem poetologischen Text Die Ballade – die Vision des Bluts von 1929 hat
                                   Itzik Manger die traditionelle Figur der Inversion als „balladische Verwand-
                                   lung“ zum konstitutiven Moment seiner Lyrik erklärt. Metaphorisch wird ein
                                   Nullpunkt von Erfahrung anvisiert und als Durchgangs- und Umschlagspunkt
                                   zu einer gesteigerten Erfahrung und ihres unmittelbaren Ausdrucks in der
                                   Dichtung beschworen. Exakt „da“, wo Wahrnehmung und Sprache enden und
                                   die Grenzen von Innen und Außen sich im „Rausch“ dionysischen „Einswer-
                                   dens“ verlieren, „beginnt das große Bacchanal“ und „wird auf dem Grund der
                                   Nacht die Niemandstat geboren“:
                                        Das ist der Strahl, der die ruhige Empfindung, die stille lyrische Seelenschwingung verwischt.
                                        Das ist der Anblick am Rand der Nacht, des Tods und Wahnsinns. Das ist das wilde Mysterium,
                                        das in unserem exaltierten Blut schlummert – die Ballade. (/) Ich gehe durch die Dämmerung,
                                        grau in grau. Am Horizont erwacht das Unklare. Silhouetten werden gänzlich schwarz. Bäume,
                                        Häuser, Laternen. Alte gebückte Bettler. Das Blut hebt zu brausen an, verschlingt das Panora-
                                        ma von Umrissen. Wird Rausch … Berauschung. Und durch das Einswerden von Silhouette und
                                        Rauschen des Bluts kommt die balladische Verwandlung in Gang. Die Schattenrisse der Bettler
                                        tragen in ihren schwer schleppenden Schritten Fragezeichen. Sie ritzen diese Fragezeichen in
                                        die nächtlichen Sterne ein. Umherziehende Gestalten fragen. Verlorene Gestalten suchen. Die
                                        Nacht schweigt, antwortet nicht. Gibt das Verlorene nicht zurück. Da beginnt das große Baccha-
                                        nal. Die dürre Bettlerhand entzündet rote sündige Monde. Und mit wilder Ekstase wird auf dem
                                        Grund der Nacht die Niemandstat geboren. Das zerzauste, sinnlose Gelächter menschlicher
                                        Verzweiflung. Die große mystische Vision unseres Blutes – die Ballade. (Manger 2004: 325f.)

                                   Nicht anders beschwört noch Mangers bereits oben zitierte und die ­Erfahrung
                                   des Antisemitismus thematisierende Rede zum 60. Geburtstag den Nullpunkt
                                   als die invertierende Genese eines anderen Zustands. Die inzwischen erfolgte
                                   Deromantisierung der Erfahrung von Rausch und Nacht zu der einer ­konkreten
                                   Todesdrohung affiziert nicht die prinzipiell mystische Struktur der Absolution:
                                   des Umschlagens von Negation in Position und deren sowohl ­religiöse wie ro-
                                   mantische Aufladung, ihrer Qualifizierung als ,Läuterung‘ und ,Verwandlung‘:
                                        Mein Gemüt war seit Anbeginn voller balladenhafter Schatten. Ist das ein Wunder? Ich wuchs
                                        in einem Land des klassischen Antisemitismus auf. Die griechisch-orthodoxen Kirchen breite-
                                        ten ihren giftigen und gefahrvollen Schatten über die jüdische Bevölkerung aus. In Polen, dem
                                        Land, in dem ich bis zum Zweiten Weltkrieg lebte, spitzte sich dies zu. Hinter jedem polnischen
                                        Juden zeichneten sich zwei Schatten ab: einer des erschrockenen Juden selbst und ein zweiter,
                                        fremder Schatten mit einem Messer zwischen den Zähnen. (/) All diese Schatten, die in mein
                                        jüdisches Gemüt hineingedunkelt hatten, versuchte ich in meiner Ballade zu läutern, das Balla-
                                        denhafte in mir und um mich herum in Musik zu verwandeln.6 (Manger 2004: 326)

                                   6    Um nicht nur Programmformulierungen, sondern auch einen lyrischen Text Mangers zu zitieren,

                                                      Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                      © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                                        47

                                   Aus der Situation des postbukowinischen Exils heraus rekurriert Rose Aus-
                                   länder auf dieselbe Struktur als Bedingung für die poetische Reinszenierung
                                   der verlorenen Landschaft. Auch ihr Gedicht Im Dschungel (Ausländer 1985:
                                   337) steigert das im Titel angedeutete Chaos bis zu dem Punkt des Ineinan-
                                   ders von seelischem und sprachlichem Ver-Sagen als dem Moment, da der
                                   ,Zauber‘ ­einsetzt:
                                      […]

                                      Wo sollen meine Gespielen
                                      aus dem Apfelland wohnen

                                      der Cecina die geschliffnen Pruthsteine?
                                      Wo die Gespräche mit Kindern
                                      die Augen der Blinden die
                                      weiter schaun als die Gassen?

                                      Wenn ich mich verirre
                                      hier im Dschungel
                                      mein Atem verstrickt
                                      im Steingestrüpp
                                      ruf ich meine Gefährten aus der Tasche:
                                      Revnawald Habsburgshöh
                                      Echo und Dorna
                                      und wenn alles versagt
                                      zaubert in meiner Tasche die Zimbel
                                      den Rabbi Eli Melech herbei

                                   Ob „auf dem Grund der Nacht“ oder „wenn alles versagt“: jeweils wird ein Zu-
                                   stand vollendeter Indifferenz zu dem Punkt stilisiert, der die Bedingung der
                                   Möglichkeit dichterischen Sprechens – vor wie nach der Shoah – darstellt.
                                   Mangers ,balladischer Verwandlung‘ entspricht Ausländers ,zauberische‘ Evo-
                                   kation des Verlorenen – die Möglichkeit sprachlicher Herstellung eines positiv
                                   besetzten emotionalen Raumes aus einer Negation heraus, die als konstitutive
                                   in dem Moment ihres konstitutiven Fungierens noch sich selber negiert und
                                   das auf diese Weise durch sie konstituierte Sprechen nicht affiziert. Indem das
                                   Moment der Negation damit in einem genauen Sinne zugleich bedeutend (für
                                   die Positionen) und unbedeutend (als Negation) wird, ermöglicht es einen
                                   weitgehend narrativen Diskurs, dessen Subjekt-Objekt-Prädikat-Struktur und

                                      der Negation und Position auf diese Weise zusammenschließt, sei die letzte Strophe der Rede
                                      des Schneidergesellen Notte Manger an den Dichter angeführt: „Und eine Träne fiel (/) in dein
                                      Gemüt, (/) mit Wunde und Wunder (/) im Gedicht aufgeblüht.“ (Manger 2004: 249) Das im
                                      November 1942 geschriebene Gedicht steht in dem Band Der ­Schneidergeselle Notte M  ­ anger
                                      von 1948, der dem Gedenken des von den Sowjets nach Samarkand deportierten und 1944 um-
                                      gekommenen Bruders gilt. „Zugleich markiert der Band die Bruchlinie im ­Mangerschen Werk:
                                      danach entstanden kaum noch Gedichte.“ (Efrat Gal-Ed, Nachwort zu Manger 2004: 320) An
                                      den wenigen späten Gedichten wäre zu überprüfen, inwiefern die Bruchlinie auch das Konzept
                                      der ,balladischen Verwandlung‘ affiziert.

                                                    Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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48                                                                             Thomas Schneider

                                   mimetisch-referentieller Charakter nicht in Frage steht. Die Möglichkeit der
                                   Artikulation von Welt als einem mehr oder weniger geordneten Zusammenhang
                                   von Erinnerung und Erfahrung lagert damit in dem Nullpunkt als in einem
                                   nicht artikulierten und prinzipiell nicht artikulierbaren Zentrum. Seine Insze-
                                   nierung als konstitutive Mitte lyrischen Sprechens: als stummer Punkt der
                                   Vermittlung qualifiziert Dichtung zu einem handhabbaren Medium der Kon-
                                   taktaufnahme mit wie immer räumlich repräsentierten verlorenen Anteilen
                                   der Seele, die Gefahr implizierend, dass diese durch ihre mediale Verfügbarkeit
                                   je und je auch zu abstrakten Gestalten werden.7

                                   2.2 Nullpunkt und Aufspaltung der Ambivalenz

                                   Die Fixierung eines Nullpunkts symbolischer Ordnung kann als Versuch ver-
                                   standen werden, eine destruktive Gewalt zugleich zu bannen und dichterisch
                                   ins Produktive zu wenden. Gelingt der Versuch, so ermöglicht die Indifferenz
                                   als Stillstellung der die Erinnerung irritierenden Ambivalenz von Negation
                                   und Position die Präsenz einfacher Referenzen – wie in dem Gedicht Auslän-
                                   ders die erinnernde Gegenwart bukowinischer Orte. In der Ununterschieden-
                                   heit des Nullpunkts aber insistiert die unausgetragene Ambivalenz von Nega-
                                   tion und Position und generiert eine zweite Form der sprachlichen Artikulation,
                                   nämlich die Aufspaltung der Ambivalenz und ihre antithetische Aufteilung.
                                   Markiert, um eine metaphorische Analogie aufzugreifen, die dichterische „Nie-
                                   mandstat“ bei Manger das unartikulierbare Zentrum der Figur der Inversion,
                                   so die Situierung des dichterischen Sprechens Im Niemandshaus (Ausländer
                                   1986: 169) bei Ausländer exakt den Ausgangsort dieser zweiten Möglichkeit als
                                   einer von differenzierender Artikulation:
                                        Ich wohne im Niemandshaus
                                        Mit Vögeln
                                        Und einer Schlange

                                        […]

                                        Meine Vögel haben
                                        Herzliche Stimmen

                                        Die Schlange wartet
                                        Auf den Biss

                                   7    Werners Rede von einer „Galerie von Schlüssel-Orten elementarer und ideeller Art“ (Werner
                                        2003b: 36) im Zusammenhang mit dem Text Im Dschungel kann in genau diesem Sinne kritisch
                                        gewendet werden. Vgl. auch seine Einschätzung des „,Mengenartigen‘ der Gedicht-Stafetten“
                                        Ausländers: „Der Eindruck eines gewissen Selbstlaufs der lyrischen Reflexion und einer damit
                                        einhergehenden partiellen Beliebigkeit der Hervorbringungen drängt sich namentlich im Spät-
                                        werk durchaus auf.“ (Werner 2003d: 159)

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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                                         49

                                   Der Punkt absoluter Indifferenz, wie er aus dem gewaltsamen Zusammen-
                                   bruch der die symbolische als kulturelle und sprachliche Ordnung konstituie-
                                   renden Differenzen hervorgeht, wird hier nicht zum Punkt der Verwandlung
                                   überhöht, sondern durch Differenzierung der in ihm gebannten Ambivalenz in
                                   die symbolische Ordnung eingebracht. Die Bewältigung der jede symbolische,
                                   sprachlich-kulturelle Ordnung nicht nur irritierenden, sondern unterminie-
                                   renden Indifferenz und damit die Lösung des destabilisierenden Ambivalenz-
                                   konflikts erfolgt durch Auflösung der Ambivalenz in einfache, sprachlich fixier­
                                   bare und als solche stabile Gegensätze, wie sie als antithetische Metaphorik
                                   das gesamte Werk Rose Ausländers durchziehen. Als Versuch des Umgangs
                                   mit der Erfahrung von Gewalt sind die immer neuen metaphorischen Anti­
                                   thesen Ausländers lesbar auch als ein Umgehen der Gewaltstruktur. Noch das
                                   für ihre Poetik der Ambivalenz zentrale und geschichtsphilosophisch weit aus-
                                   greifende Gedicht Janusengel (Ausländer 1986: 146) entschärft den gewalt­
                                   samen Schnitt durch „Zeit“ und „Gedächtnis“, indem er dessen Zwiespältigkeit
                                   mehrfach zu eindeutigen Antithesen neutralisiert und noch abschließend meta­
                                   phorisch stillstellt:
                                       Der seinen Flügelschlag kennt
                                       Meister
                                       schneide in unser Gedächtnis
                                       seine Geschichte
                                       rosenzart
                                       messerscharf8

                                   3. Sprache der Ambivalenz

                                   Celans Lyrik hat ihre unversöhnliche Härte daran, dass sie die hier strukturell
                                   als Indifferenz begriffene geschichtliche Situation des Ineinanders von Zivili-
                                   sation und Barbarei als die einer „vollkommenen Schändlichkeit“ (Hamacher
                                   1988: 88) annimmt, ohne die vollkommen schändlich und nur in diesem Sinne
                                   absolut gewordene Gewalt zum Einsatzpunkt invertierender Aufhebung zu
                                   machen oder durch metaphorische Aufspaltung sprachlich zu verwalten. Im
                                   Eingedenken des Verlorenen: der Bukowina als einer ,Gegend, in der Men-
                                   schen und Bücher lebten‘, wird Dichtung als Suche nach dem verlorenen Ort
                                   von Menschlichkeit und Sprache und damit nach ihrer eigenen Möglichkeit

                                   8   Vgl. zu diesem Komplex auch Werner (2003d), wo sich auch eine Deutung des Gedichts Janus­
                                       engel findet. Mit einem Wort Franz Fühmanns bezeichnet Werner diesen Modus Rose Aus-
                                       länders, „die existenzielle Lähmung fallweise zu kompensieren“, als „,Magie der Alternative‘“
                                       (Werner 2003d: 151). Das ,magische‘ Moment des Modus der Aufspaltung korrespondiert dem
                                       ,zauberischen‘ des Modus der Inversion; beide Modi der Ermöglichung des Sprechens funktio-
                                       nieren über ein nicht artikuliertes bzw. nicht artikulierbares Zentrum.

                                                    Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                    © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                   zum Versuch einer Ortung: zu Topo-Graphie. Als solchermaßen orts-gebundene
                                   – und in diesem Sinne mag Margul-Sperbers oben angeführte Aussage, Celan
                                   sei „der Dichter unserer westöstlichen Landschaft“, doch zutreffen –
                                   transzendiert sie nicht die irdischen Koordinaten, sondern wird selbst zum
                                   „Gelände“ (Harnischstriemen, Celan 2000e: 28). Als Landvermessung ver-
                                   weigert sich Celans Lyrik den klassischen Modi des dichterischen Umgangs
                                   mit dem Phänomen der Gewalt. Seine blasphemischen Gedichte kritisieren
                                   deswegen zentral den strukturellen Zusammenhang von Inversion und Ästhetik
                                   und weisen diesen auch als problematische Säkularisation der christologischen
                                   Vorstellung des erlösenden Durchgangs durch den Nullpunkt des Kreuzes auf,
                                   wie sie als Imagination der Fixierung und Bannung universaler Gewalt am
                                   Grunde der Möglichkeit universaler „goldene[r] Rede“ (Spät und Tief, Celan
                                   2000a: 35) liegt. Celans Konzeption einer „,grauere[n]‘ Sprache, […] die unter
                                   anderem auch ihre ,Musikalität‘ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie
                                   nichts mehr mit jenem ,Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem
                                   Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte“ (Celan 2000k:
                                   167), trägt darum als Einspruch gegen den inneren Zusammenhang von Ge-
                                   walt und religiöser und ästhetischer Erlösung einen genauen geschichtsphilo-
                                   sophischen Index. Der genuin christlichen Figur vollzogener und darum immer
                                   wieder vollziehbarer Absolution steht in Celans Dichtung das jüdische Motiv
                                   konkreter Landsuche entgegen.9
                                       Das Maß der Aufgabe einer Vermessung des verlorenen Landes wird in der
                                   Erfahrung der geschichtlichen Situation als der eines Ineinanders von Zivilisa-
                                   tion und Barbarei, des Zusammenbruchs der symbolischen Ordnung als einer
                                   Ordnung von Differenzen, zum Unmaß: im Zustand der Indifferenz sind als
                                   einem prinzipiell maßlosen keine Maßstäbe mehr gegeben. Der Kritik der topo-­
                                   logischen Figur der Inversion entspricht deswegen die topo-graphische Kon-
                                   zeption des Verfahrens der Engführung (Celan 2000c: 195ff.) als Gang „mit
                                   der Kunst in deine allereigenste Enge“ (Celan 2000m: 200), der mit dem Ein-
                                   bruch der Gewalt als dem „EINBRUCH des Ungeschiedenen (/) in deine Spra-
                                   che“ (Celan 2000i: 150) zugleich die Engführung von Erfahrung und Sprache,
                                   der Austrag der Identität von Mutter- und Mördersprache ist: „Ich habe die
                                   Worte, die Stimmen wirklich enggeführt (mich von ihnen engführen lassen)
                                   – ins Unerbittliche des letzten Gedichts […]“ (Celan, zit. n. Wiedemann 2005:
                                   667). Der sprachliche Nach-Vollzug der Erfahrung der Vernichtung, auf dem
                                   Celan in dem Brief an Walter Jens vom 21. März 1959 insistiert, ist somit auch
                                   einer der Vernichtung der Sprache, die, „Düsterstes im Gedächtnis“: „,angerei-
                                   chert‘ von all dem“ (Celan 2000l: 186), keine erinnernd bereicherte und be-
                                   reichernde, sondern eine kontaminierte, verseuchte: eine aussätzige und immer

                                   9    Vgl. zu dieser Unterscheidung in Celans Todesfuge Schneider (2010).

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                        51

                                   wieder aussetzende ist. Die Verderbnis der Sprache generiert eine Sprache des
                                   Verderbens, in der mit ihr selbst noch das Andenken der Opfer pervertiert er-
                                   scheint: „Welches der Worte du sprichst – (/) du dankst (/) dem Verderben.“
                                   (Welchen der Steine du hebst, Celan 2000b: 129) Das Einbringen des Äußers-
                                   ten: die sprachliche Verinnerung von Gewalt und gewaltsamem Tod, terminiert
                                   in Selbstvergewaltigung und Tod der Sprache selbst, indem noch der Prozess
                                   der Signifikation durch die Veräußerung des Signifikanten zum Signifikat ab-
                                   stirbt: „Ein Wort – du weißt: (/) eine Leiche.“ (Nächtlich geschürzt, Celan
                                   2000b: 125) Diese Engführung von Sprache und Erfahrung lässt sich im Werk
                                   Celans bis zu dem Punkt traumatischer Sprach- und Erfahrungslosigkeit ver-
                                   folgen – von der narrativen Evokation der Bukowina in Oben, geräuschlos
                                   (­Celan 2000c: 188):
                                      (Erzähl von den Brunnen, erzähl
                                      von Brunnenkranz, Brunnenrad, von
                                      Brunnenstuben – erzähl.

                                   – und der schon zitierten Ineinanderblendung von Mutter- und Ortsverlust in
                                   Schwarzerde (Celan 2000d: 241)
                                      SCHWARZERDE, schwarze
                                      Erde du, Stunden-
                                      Mutter
                                      Verzweiflung:

                                      Ein aus der Hand und ihrer
                                      Wunde dir Zu-
                                      geborenes schließt
                                      deine Kelche.

                                   – über die Verwundung und das physische Sich-Verzehren der Erinnerung
                                   selbst (Schwarz, Celan 2000e: 57):
                                      SCHWARZ,
                                      wie die Erinnerungswunde,
                                      wühlen die Augen nach dir
                                      in dem von Herzzähnen hell-
                                      gebissenen Kronland,
                                      das unser Bett bleibt:

                                   – bis zu der durch die Engführung von Sprach- und Ortsverlust in ihrer Un(dar)-
                                   stellbarkeit endenden Frage in Deine Augen im Arm (Celan 2000f: 123):
                                      Wo?

                                      Mach den Ort aus, machs Wort aus.
                                      Lösch. Miß.

                                      Aschen-Helle, Aschen-Elle – ge-
                                      schluckt.

                                                   Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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                                        Vermessen, entmessen, verortet, entwortet,

                                        entwo

                                   In dem sprachlich durch Paronomasie hergestellten Ineinander von „Aschen-
                                   Helle“ und „Aschen-Elle“, darin das Maßlose der Gewalt zum einzig verfügbaren
                                   Maß und in unausgesprochener Realisierung und Radikalisierung der Parono-
                                   masie von ,Helle‘ und ,Elle‘ die Hölle als ,Helle‘ zu ihrem eigen(st)en Licht ge-
                                   worden ist, erweist sich die Topographie der Indifferenz als strukturell unmög-
                                   lich.10 Sprechen über den Stand von Zivilisation wird nach deren Untergang als
                                   buchstäbliches zum archaischen Vorgang der „Knochenstabritzung“ (Spasmen,
                                   Celan 2000f: 122).11 Die in dem Gedicht Stille! (Celan 2000a: 75): „Sie blutete
                                   schon, als wir mischten das Ja und das Nein, (/) als wirs schlürften“ schon früh
                                   als Struktur der Erfahrung benannte und in Sprich auch du (Celan 2000b:
                                   135) zur Form eines lyrischen Imperativs geronnene Insistenz auf der Unhin-
                                   tergehbarkeit der Struktur der Ununterschiedenheit: „Sprich – (/) Doch schei-
                                   de das Nein nicht vom Ja.“, realisieren die letzten Zeilen des poetologischen
                                   Gedichts Tübingen, Jänner (Celan 2000d: 226) als sprachliche, wenn die
                                   schrittweise immer wieder neu ansetzende Annäherung an die Gegenwart aus
                                   der Perspektive der jüdischen Tradition in infantiler Vorsprachlichkeit mündet
                                   und die Rede am Rande (der Zerstörung) ihrer selbst in Hölderlins spätem
                                   Neologismus für die Nichtunterscheidung von Ja und Nein ver-endet:
                                        Käme,
                                        käme ein Mensch,
                                        käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
                                        dem Lichtbart der
                                        Patriarchen: er dürfte,
                                        spräch er von dieser
                                        Zeit, er
                                        dürfte
                                        nur lallen und lallen,
                                        immer-, immer-
                                        zuzu.

                                        („Pallaksch. Pallaksch.“)

                                   10 Vgl. zu dieser Struktur der Selbstverzehrung auch den Aphorismus aus Gegenlicht: „Täusche
                                      dich nicht: nicht diese letzte Lampe spendet mehr Licht – das Dunkel rings hat sich in sich selber
                                      vertieft.“ (Celan 2000j: 165)
                                   11 Vgl. die ebenfalls durch das Verfahren der Paronomasie getragene Radikalisierung der Eng-
                                      führung von Sprache und Körper bis hin zu der von Logos und Sexus: „SPASMEN, ich liebe
                                      dich, Psalmen […] in dich, in dich (/) sing ich die Knochenstabritzung, (//) Rotrot, weit hinterm
                                      Schamhaar (/) geharft, in den Höhlen […].“ (Celan 2000f: 122)

                                                      Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
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Anmerkungen zur Dichtung der Bukowina                                                          53

                                   4. Im Namen – der Kreatur

                                   In der in Tübingen, Jänner wie in vielen anderen Gedichten hergestellten ge-
                                   schichtsphilosophischen Spannung eines Zusammenschlusses von Anfang und
                                   Ende: hier der Anfänge jüdischer Rede im Namen der Väter mit dem Zustand
                                   infantiler Vorsprachlichkeit, steht mit der symbolischen Ordnung auch die
                                   Möglichkeit des Sprechens in Frage. Diagnostisch fällt im Bild der ,lallenden
                                   Patriarchen‘ die Instanz des Vaters, die das Infans aus der sprachlosen Unun-
                                   terschiedenheit zur Sprache zu befreien aufgerufen ist, mit der Position des
                                   Infans strukturell zusammen. Noch den Instanzen bzw. der Instanz der sym-
                                   bolischen Ordnung droht infantile Regression, weil mit dem „Einbruch des
                                   Ungeschiednen“: der Indifferenz von Zivilisation und Barbarei, im Innersten
                                   auch die Sprache als System von Differenzen affiziert ist. Deswegen gilt für Das
                                   – geschichtlich realisierte – Nichts (Celan 2000h: 110):
                                       […]

                                       das Ende glaubt uns
                                       den Anfang,

                                       vor den uns
                                       umschweigenden
                                       Meistern,
                                       im Ungeschiednen, bezeugt sich
                                       die klamme
                                       Helle.

                                   Anvisiert wird mit dem ,Ungeschiednen‘ als der ,klammen Helle‘ eine Stätte, in
                                   der das Ende des zivilisatorischen Prozesses auf dessen früheste Anfänge zu-
                                   rückverweist und die finale Situation zur initialen wird: ,das Ende uns den An-
                                   fang glaubt‘. Die Struktur der Ungeschiedenheit kann im Bild der „klamme[n]
                                   (/) Helle“ als dem einer das Licht trübenden Feuchtigkeit als Bild des phylo-
                                   genetischen Übergangs vom Meer zum Land gelesen werden. In ihm wird die
                                   Krisis der Gegenwart als eine doppelte kenntlich: wie die phylogenetische In-
                                   differenz von Land und Meer auf die prähistorische Zuständlichkeit der Ge-
                                   genwart, so verweisen die Anfänge der phylogenetischen Differenzierung von
                                   Land und Meer auf diesen Zustand als den, dem als aktuell unhintergehbarem
                                   neue Unterscheidungen abzugewinnen sind.
                                       In der Meridian-Rede hat Celan für den Rekurs auf die Sphäre eines präkul-
                                   turellen und prähumanen Ineinanders von Re- und Progression den Begriff des
                                   „Kreatürlichen“ (Celan 2000m: 191)12 gefunden und die je und je zu leistende

                                   12 Vgl. Celans zeitgleiches Interesse für die von Martin Buber, Joseph Wittig und Viktor von Weiz-
                                      säcker herausgegebene Zeitschrift Kreatur (1926-1930); vgl. auch die Briefe Nr. 26 und 32 in
                                      Celan/Szondi (2005: 20, 23).

                                                     Schnittstelle Germanistik, Jahrgang 1 (2021), Ausgabe 1
                                                     © 2021 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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                                   Anstrengung der Dichtung, neue Differenzierungen zu gewinnen, mit aus-
                                   drücklichem Bezug auf Georg Büchners und Jakob Michael Reinhold Lenz‘ ma-
                                   terialistische Ästhetik konzipiert. Büchners bzw. Lenzens „elementarischer
                                   Sinn“: „Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten
                                   und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen,
                                   kaum bemerkten Mienenspiel“ (Büchner 1980: 76) entspricht der elementaren
                                   Arbeit Celans als einer, deren Rückgang auf das Kreatürliche durch die Shoah
                                   allerdings eine andere Dimensionierung erfahren hat. Die gewaltsame „Reduk-
                                   tion auf das nackt Kreatürliche“ (Werner 2000c: 85), wie sie, um nur ein Zeug-
                                   nis anzuführen, etwa in Zeilen Wolf Rosenstocks zum Ausdruck kommt: „Exis-
                                   tenz? Worin besteht sie eigentlich? Im Lechzen. Hier in der Wüste ist dieses
                                   Wüstenwort Inbegriff all dessen geworden, was in uns noch von Seele geblie-
                                   ben ist“ (Rosenstock, zit. n. Werner 2003c: 86), übernimmt das Gedicht als
                                   Geste solchen Lechzens; seine „Aufmerksamkeit“ ist die Gebärde der elementar
                                   bedrohten Kreatur: das Gedicht merkt auf, indem es „verhofft – ein auf die Kre-
                                   atur zu beziehendes Wort“ (Celan 2000m: 197). Dichtung wird diesseits von
                                   Bedeutung zu Gebärden-Sprache. Celan schreibt den Materialismus von Lenz
                                   und Büchner als Insistenz auf dem Kreatürlichen unterhalb jeder Transforma-
                                   tion, sei sie als Läuterung (christlich-)religiöser, als Aufhebung (idealistisch-)
                                   dialektischer oder als Verwandlung (romantisch-)poetischer Natur, fort. Die in
                                   den Gedichten Eine Gauner- und Ganovenweise und Einem, der vor der Tür
                                   stand (Celan 2000d: 242f, 229f.) für den damit verbundenen Anspruch an die
                                   Dichtung stehenden Ausdrücke des ,Krummnasigen‘ und ,Kielkröpfigen‘13 hat
                                   Celan in Anmerkungen zur Meridian-Rede erläutert: „Wer nur der Mandeläu-
                                   gig-Schönen die Träne nachzuweinen bereit ist, der tötet auch sie gräbt sie nur,
                                   die Mandeläugig-Schöne, nur zum andern Mal tiefer ins Vergessen. – Erst wenn
                                   du mit deinem allereigensten Schmerz zu den krummnasigen, bucklichten und
                                   mauschelnden und kielkröpfigen Toten von Treblinka, Auschwitz und anders-
                                   wo gehst, dann begegnest du auch dem Aug und seinem Eidos: der Mandel“
                                   (Celan 1999: 128) – nicht als abwehrende Transformation des Nicht-Schönen,
                                   sondern als annehmende „Ehrfurcht vor dem Geheimnis der krummnasigen
                                   Natur“: „darum auch ist das Gedicht, von seinem Wesen und nicht erst von
                                   seiner Thematik her – eine Schule wirklicher Menschlichkeit: es lehrt das An-
                                   dere als das Andere d.h. sein Anderssein verstehen […]“ (Celan 1999: 104).14
                                       Celans Texte überführen das Anderssein als die Wirklichkeit des Men-
                                   schen in eine Fremdheit, der er in der Meridian-Rede über die materialistische

                                   13 Vgl. auch Celans Widmung eines Sonderdrucks von Gespräch im Gebirg: „Für Peter Szondi,
                                      / herzlich und krummnasig, krummnasig und / herzlich / Paul Celan / Im September 1960.“
                                      (Celan/Szondi 2005: 18)
                                   14 Vgl. zu dieser Thematik ausführlich Perez (2010).

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