ANSPRÜCHE AUF GESUNDHEITSLEISTUNGEN FÜR ASYLSUCHENDE IN DEUTSCHLAND
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2021-2 Policy Paper ANSPRÜCHE AUF GESUNDHEITSLEISTUNGEN FÜR ASYLSUCHENDE IN DEUTSCHLAND RECHTSLAGE UND REFORMBEDARFE VON KATJA LINDNER MIDEM ist ein Forschungszentrum der Technischen Universität Dresden, gefördert durch die Stiftung Mercator. Es wird von Prof. Dr. Hans Vorländer, TU Dresden, geleitet.
Zitiervorschlag: Lindner, Katja 2021: Ansprüche auf Gesundheitsleistungen für Asylsuchende in Deutschland. Rechtslage und Reform- bedarfe, MIDEM-Policy Paper 02/21, Dresden.
INHALTSVERZEICHNIS ZUSAMMENFASSUNG 4 1 DAS ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ UND WEITERE BUNDESGESETZLICHE 4 VORGABEN 1.1 DAS ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ 4 1.2 DIE ENTWICKLUNG DER GESETZESLAGE SEIT 1993 7 1.3 PRAKTISCHE PROBLEME BEI DER ANWENDUNG DES ASYLBLG 9 1.4 DAS PHYSISCHE EXISTENZMINIMUM 11 1.5 DIE MEDIZINISCHE ERSTUNTERSUCHUNG 13 1.6 SPRACHMITTLUNG 13 2 SUPRANATIONALE RECHTSVORGABEN BEI DER GESUNDHEITSVERSORGUNG 14 VON ASYLSUCHENDEN 2.1 DAS VÖLKERRECHT UND DAS MENSCHENRECHT AUF GESUNDHEIT 14 2.2 DIE AUFNAHMERICHTLINIE DER EU VON 2013 16 3 LEHREN AUS DER ‚FLÜCHTLINGSKRISE‘ 18 4 DIE GESUNDHEITLICHE SITUATION VON ASYLSUCHENDEN 21 5 HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN 22 LITERATURVERZEICHNIS 34 AUTORIN 35 IMPRESSUM
ZUSAMMENFASSUNG Glossar Zeitdauer des (eingeschränkten) Leistungsanspruchs Die Beschränkung auf die Versorgung akuter Erkrankun Bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten kommt der Frage nach körperlicher und psychischer Ge- AEG Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften gen und Schmerzzustände (§ 4) und sonstiger Leistun- sundheit eine fundamentale Bedeutung zu. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die rechtlichen Rahmen- AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union gen im Einzelfall (§ 6) gilt in der Regel für die ersten 18 bedingungen auf nationaler und supranationaler Ebene und deren Entwicklung. Darüber hinaus werden unter AsylbLG Asylbewerberleistungsgesetz Monate des Aufenthalts (§ 3 AsylbLG - Grundleistun- Einbeziehung von wissenschaftlichen Forschungsbefunden Handlungsempfehlungen abgeleitet. AsylG Asylgesetz gen). Jene Bezieherinnen und Bezieher von Leistungen AufenthG Aufenthaltsgesetz nach dem AsylbLG, „die sich seit 18 Monaten ohne we- Asylsuchende und ihnen gleichgestellte Personen erhalten in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthaltes in BAfF Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen sentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und Deutschland auf gesetzlicher Grundlage medizinische Leistungen im Falle akuter Erkrankungen und Schmerz- Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich zustände (§ 4 AsylbLG). Kosten für weitergehende Bedarfe können im Einzelfall und nach behördlichem Ermes- BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst beeinflusst haben“, (§ 2 AsylbLG – Leistungen in sen übernommen werden (§ 6 AsylbLG). BGB Bürgerliches Gesetzbuch besonderen Fällen) erhalten demgegenüber eine me- BVerfG Bundesverfassungsgericht dizinische Versorgung analog der Sozialhilfe (SGB XII) Die bestehenden Regelungen zur medizinischen Versorgung von Asylsuchenden bedürfen jedoch einer Über- CESCR Committee on Economic, Social and Cultural Rights / bzw. der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). So- arbeitung, da: Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle lange das Asylverfahren nicht abgeschlossen ist und • das Asylbewerberleistungsgesetz mit weiten Ermessensspielräumen und unklaren Rechtsbegriffen arbeitet, Rechte der Vereinten Nationen die Personen nicht einer sozialversicherungspflichti- • chronische Erkrankungen im Gesetz kaum Berücksichtigung finden, eGk elektronische Gesundheitskarte gen Tätigkeit nachgehen, gilt für sie eine ‚Quasiversi- • der Ausschluss der Asylsuchenden aus der Regelversorgung aus gesundheitsökonomischer Sicht zu keiner EuGH Europäischer Gerichtshof cherung‘ bzw. ‚unechte Versicherung‘. Dabei erstattet Kostenersparnis führt, EUV Vertrag über die Europäische Union das Sozialamt die Kosten für Aufwendungen zur Kran- • Basiskriterien der Identifikation besonders Schutzbedürftiger und deren erweiterter Leistungsanspruch im GG Grundgesetz kenbehandlung an die Krankenkassen. Die Betroffe- Bereich der medizinischen Versorgung nach der Aufnahmerichtlinie der EU (2013/33/EU) bisher in keiner GKV Gesetzliche Krankenversicherung nen erhalten dann eine Krankenversicherungskarte. bundesdeutschen Rechtsnorm abgebildet sind, GRCh Grundrechtecharta (der EU) • verfassungsrechtliche Zweifel an den gegenwärtigen rechtlichen Instrumenten zu Sanktionen im Bereich der IfSG Infektionsschutzgesetz Leistungsanspruch undokumentierter Migrantin- Gesundheitsleistungen für Asylsuchende bestehen, weil mit diesen Regelungen Fragen des menschenwürdi- PatRechteG Patientenrechtegesetz nen und Migranten gen Existenzminimums berührt werden, SGB Sozialgesetzbuch Einen Rechtsanspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG • da bislang keine verbindlichen Regelungen bezüglich der Übernahme von Sprachmittlerkosten bei der medi- UMF Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (zumindest nach § 4 AsylbLG) haben auch ‚undoku- zinischen Versorgung getroffen worden sind. UN Vereinte Nationen mentierte‘ Personen bzw. Personen ohne einen lega- UN-BRK Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen len bzw. regulären Aufenthaltsstatus außerhalb eines WHO Weltgesundheitsorganisation Asylverfahrens (§ 1 Absatz 1 AsylbLG). Sie gelten als 1 DAS ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ UND Leistungsumfang vollziehbar Ausreisepflichtige. Der sogenannte ‚No- WEITERE BUNDESGESETZLICHE VORGABEN Bei der Beschreibung der gesetzlichen Leistungs- thelferparagraph‘ (§ 6a AsylbLG) ermöglicht die „Er- ansprüche ist zwischen akuten und chronischen Er- geschlossen (Frerichs 2014a: 5), sofern sie nicht mit stattung von Aufwendungen anderer“ im medizinischen 1.1 DAS ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ krankungen zu unterscheiden. akuten Krankheitszuständen oder Schmerzen einher- Eilfall für Kliniken. Dabei geht es um die Behandlung gehen.6 Auf Basis von behördlichen Ermessensspiel- „akuter, lebensbedrohlicher klinischer Zustände“ und de- Anspruchsberechtigte „Zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzu- räumen sind weitergehende Behandlungen bei Per- ren Kostenerstattung. In diesem Zusammenhang be- In Deutschland regelt das Asylbewerberleistungsge- stände sind die erforderliche ärztliche und zahnärztli- sonen mit besonderen Bedarfen, unter anderem bei steht ein verlängerter Geheimnisschutz für stationäre setz, welche medizinischen Leistungen Asylsuchende che Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arz- chronischen Erkrankungen, vorgesehen (Eichenhofer Behandlungen von Menschen ohne einen regulären in Anspruch nehmen können.1 Es definiert den Um- nei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, 2013: 169f.): Aufenthaltsstatus. Das heißt, dass im Zuge der Koste- fang an medizinischen Leistungen, die Asylsuchende zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder nerstattungsverfahren für die Behandlungen seitens und ihnen gleichgestellte Ausländerinnen und Aus- Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewäh- „Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt wer- der Sozialämter keine Meldungen über die Identität länder erhalten (§§ 4, 6 AsylbLG).2 Bezieherinnen und ren.“ (§ 4 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG) den, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensun- der Personen an die Ausländerbehörde erfolgen dür- Bezieher von Leistungen nach dem Asylbewerberleis- terhalts oder der Gesundheit unerläßlich, zur Deckung fen. Die ärztliche Schweigepflicht wirkt dann bis in tungsgesetz sind nicht regulär krankenversichert.3 Anspruchsberechtigte erhalten demnach bei „akuten besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur die zuständige Behörde hinein (Mylius 2016; Diakonie Die Kosten für ihre Versorgung werden durch den Erkrankungen und Schmerzzuständen“5 sowie im Zu- Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungs- Deutschland 2019). Bund, die Bundesländer bzw. die Kommunen getra- sammenhang mit Schwangerschaft und Geburt medi- pflicht erforderlich sind.“ (§ 6 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG). gen. Dazu gehören neben Asylbewerberinnen und zinische oder zahnmedizinische Versorgung, Arznei- Leistungsbeschränkungen bei Sanktionierung Asylbewerbern auch Geduldete, Ausreisepflichtige so- und Verbandsmittel und diesbezüglich sonstige not- Diese Leistungen müssen gesondert beantragt wer- Der Anspruch auf (medizinische) Leistungen nach AsylbLG wie mehrere Personengruppen mit vorübergehender wendige Leistungen. Auch empfohlene Schutzimp- den. Die Entscheidung darüber fällt häufig nichtärzt- erlischt teilweise oder nahezu vollständig, wenn Asyl- Aufenthaltserlaubnis aufgrund von humanitären oder fungen und Vorsorgemaßnahmen werden gewährt liches Personal (Lindner 2015a; Kaltenborn 2015; bewerberinnen und Asylbewerber ihren Mitwirkungs- anderen Gründen sowie Familienangehörige (Perso- (§ 4 Absatz 3 AsylbLG). Eine Kostenerstattung für Rixen 2015). Leistungsansprüche nach §§ 4 und 6 pflichten bei Behörden nicht nachkommen oder wenn nenkreise § 1 AsylbLG).4 Wie bei allen existenzsichern- Zahnersatz ist nur im Falle einer medizinisch begrün- AsylbLG müssen in der Regel durch einen vom Sozial- sie (nach Ablehnung) vollziehbar ausreisepflichtig sind den Leistungen erfolgt eine Bedürftigkeitsprüfung deten Unaufschiebbarkeit möglich. Nach § 4 AsylbLG amt ausgestellten Behandlungsschein nachgewiesen und für sie bereits eine Schutzbewilligung durch einen (§ 7 AsylbLG). ist die Versorgung chronischer Erkrankungen aus- werden.7 anderen EU-Staat vorliegt (§ 1a AsylbLG).8 Hierbei fallen insbesondere die Leistungen nach § 6 AsylbLG weg. In 1 Siehe: Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in der Neufassung vom 05.08.1997, zuletzt geändert am 21.12.2020. 2 Bei der Einführung des Gesetzes 1993 handelte es sich um die §§ 3 und 5. Im weiteren Text wird der Einfachheit halber häufig nur der Begriff „Asylsuchende“ oder „Leistungsberechtigte“ verwendet. Wenn explizit andere Anspruchsberechtigte (z. B. Geduldete) gemeint sind, wird dies kenntlich gemacht. 6 § 6 AsylbLG beinhaltet nicht nur Ansprüche auf besondere medizinische Leistungen, sondern auch anderweitige Bedarfe im Einzelfall (z. B. Sicherung des 3 Ende 2018 lebten 411.211 Personen mit Leistungen nach dem AsylbLG in Deutschland. 162.202 dieser Personen wiesen eine Aufenthaltsdauer von 24 und Lebensunterhaltes, besondere Bedürfnisse von Kindern, verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflichten) (Frerichs 2014b: 6). mehr Monaten auf (Statistisches Bundesamt 2019). 7 Ausnahmen finden sich in den Bundesländern und Kommunen, in denen elektronische Gesundheitskarten für Asylsuchende von Anfang an eingeführt 4 Siehe: Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und Aufenthaltsgesetz (AufenthG). wurden (mehr dazu: Wächter-Raquet 2016 a, b; Gesundheit für Geflüchtete 2019). 5 Akut meint hier eine „plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung“ (Frerichs 2014a: 12, nach Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch). 8 Zu weiteren Gründen siehe: § 1a AsylbLG, 3. Änderungsgesetz zum AsylbLG, 15.08.2019. 4 5
besonderen Härtefällen sind gegebenenfalls Ausnah- Abbildung 1 gibt eine Übersicht über den Personenkreis Medipoints am Anfang 1.2 DIE ENTWICKLUNG DER GESETZESLAGE men vorgesehen. Dazu zählen vor allem verschiedene und den Leistungsumfang der medizinischen Versorgung Die in Abbildung 1 dargestellten Leistungsansprüche SEIT 1993 Gruppen besonders schutzbedürftiger Asylsuchender für Asylsuchende und ihnen gleich gestellte Ausländer- bestehen unabhängig von der Unterbringungsart. Bei nach der Aufnahmerichtlinie von 2013. Jedoch beinhaltet innen und Ausländer. Eine weitergehende Versorgung, einem Aufenthalt in (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen und AsylbLG zur ‚Migrationshemmung‘ das AsylbLG generell keine klaren Regelungen zu den Ge- die dem allgemeinen Sozialhilfeniveau entspricht, sieht Ankerzentren sind die Bundesländer die direkten Kos- Die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im sundheitsleistungen der ‚besonders Schutzbedürftigen‘. das Gesetz für Asylsuchende mit einer Aufenthaltsdauer tenträger.11 Der praktische Zugang zur Versorgung ge- Jahr 1993 fiel in eine Zeit erhöhter internationaler Migra- von weniger als 18 Monaten bei Schwangerschaft und schieht dort in der Regel zunächst über sogenannte tionsbewegungen. Insbesondere in Deutschland waren Übernahme von Sprachmittlerkosten über AsylbLG Geburt sowie bei unbegleiteten minderjährigen Asylsu- Medipoints. Hierbei handelt es sich um medizinische die Zahlen von Asylsuchenden gestiegen. Mit dem Ge- Die Übernahme von Kosten für Dolmetscherinnen und chenden vor. Anlaufstellen in großen Aufnahmeeinrichtungen und setz des Bundestages, dem die Mehrheit der CDU/CSU, Dolmetscher im Rahmen der medizinischen Versorgung Ankerzentren, die je nach Größe in unterschiedlichem FDP und SPD-Abgeordneten zugestimmt hatten, erfolg- ist im AsylbLG zwar nicht explizit vorgesehen. Sie kann Die Anspruchsberechtigten nach dem AsylbLG mit einer Umfang mit pflegerischem Personal besetzt sind und in te eine Ausgliederung der medizinischen Versorgung aber über den § 4 Abs. 1 („…sowie sonstiger zur Gene- Aufenthaltsdauer von unter 18 Monaten sind von der Zu- denen auch regelmäßige ärztliche Sprechstunden abge- von Asylsuchenden aus dem Sozialhilfegesetz. Damit sung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten zahlungspflicht für Medikamente und sonstige Hilfs- und halten werden. Für die Behandlung in den Aufnahmeein- wurden Sozialleistungen einschließlich der Gesund- oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen“) oder Heilmittel befreit.10 Asylsuchende mit einer Aufenthalts- richtungen ist kein Behandlungsschein notwendig. Bei heitsversorgung eingeschränkt und sogar unterhalb des über den Ermessenspielraum des § 6 Abs. 1 (z. B. „ver- dauer von über 18 Monaten erhalten Gesundheitsleis- Bedarf werden die Patientinnen und Patienten weiter ins Sozialhilfeniveaus bemessen. Dies sollte einerseits eine waltungsrechtliche Mitwirkungspflicht“) erfolgen. Asylsu- tungen analog der GKV bzw. Sozialhilfe und müssen die Gesundheitssystem überwiesen. migrationshemmende Wirkung entfalten, andererseits chende mit einer Aufenthaltsdauer von über 18 Monaten regulären Zuzahlungen leisten. Asylbewerberinnen und der Bevölkerung vermitteln, dass Asylsuchende – auch und einer Versorgung analog der GKV haben demge- Asylbewerber haben eine freie Arztwahl. Die Sozialämter Im Notfall immer Behandlungspflicht hinsichtlich gesundheitsbezogener Leistungen – keine genüber in der Regel keine Möglichkeiten der Kosten- können jedoch im Rahmen des behördlichen Sicherstel- Nach der Zuweisung der Asylsuchenden sind die Land- gleichberechtigten ‚Anspruchskonkurrenten‘ im Wohl- erstattung für Sprachmittlung.9 Sprachmittlung gehört lungsauftrages Einschränkungen vornehmen (§ 4 Abs. 3 kreise bzw. Kommunen Träger der Kosten, die jedoch fahrtsstaat sind. Das Gesetz sollte damit unterschied- grundsätzlich nicht zum Katalog der GKV. Satz 1 AsylbLG; Frerichs 2014a: 3). in unterschiedlichem Umfang von den Bundesländern liche Versorgungsniveaus markieren und auch den erstattet werden. Vor der Inanspruchnahme medizini- Staatshaushalt entlasten (Bommes 1996; Eichenhofer scher Leistungen muss der Anspruch durch einen Be- 2013; Hillmann 2017). Abb. 1: Gesetzlich Anspruchsberechtigte nach § 1 Absatz 1 AsylbLG und Leistungsansprüche nach dem Asylbewer- handlungsschein (der von den zuständigen Behörden berleistungsgesetz bei einem Aufenthalt unter 18 Monaten (Stand: August 2020) ausgestellt wird) bzw. durch spezielle elektronische Ge- Leistungseinschränkungen wegen nur „kurzfristi- sundheitskarten (regional variierend) nachgewiesen wer- gen“ Aufenthalts Anspruchsberechtigte den. Grundsätzlich besteht aber im Notfall immer eine Der Gesetzgeber zielte also auf eine Absenkung der • Asylsuchende, die Asyl beantragt haben (Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG) Pflicht zur medizinischen Behandlung. Die Bewilligung (medizinischen) Leistungen ab und begründete dies • Personen, die ein Asylgesuch geäußert haben und das Kostenerstattungsverfahren erfolgen dann im mit der „nur kurzen Aufenthaltsdauer“ (Deutscher Bun- • ausländische Personen im Flughafenverfahren (§ 18a AsylG) Nachgang. Außerhalb eines Notfalls kann die Versorgung destag 1993a: 5; siehe auch Eichenhofer 2013: 170f.). • Geduldete nach § 60 a AufenthG ohne vorliegenden Behandlungsschein des Sozialamtes Daneben wurde für die Bewilligung von medizinischen • Ausreisepflichtige oder ohne Gesundheitskarte verweigert werden. Leistungen das Kriterium der ‚Aufschiebbarkeit‘ einge- • Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG, § 24 AufenthG, § 25 Abs. 4 S. 1 AufenthG führt. Medizinische Behandlungen, die voraussichtlich (Humanitäre Gründe), § 25 Abs. 5 AufenthG (sofern die Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung Grundsätzlich tragen die Bundesländer und teilweise die vor Abschluss des Asylverfahrens nicht abgeschlossen noch nicht 18 Monate zurückliegt), Folgeantrag nach § 71 AsylG oder Zweitantrag nach § 71a AsylG gestellt Kommunen die mit der Umsetzung des AsylbLG verbun- werden können, sollten aus dem Leistungsanspruch • Familienangehörige der genannten Personengruppen denen Kosten. Seit 2016 werden sie hierbei vom Bund ausgenommen werden. Eine Berücksichtigung chroni- • eingeschränkt: vollziehbar Ausreisepflichtige (§ 50 AufenthG) mit einer Pauschale von 670 Euro im Monat pro Person scher Erkrankungen war ebenfalls nicht ausdrücklich im Asylverfahren (nicht für Geduldete) unterstützt (Gath- vorgesehen. Welche Behandlung konkret durchgeführt AsylbLG § 4, akute Erkrankungen und Schmerzzustände mann 2015).12 werden sollte, sei jedoch im Einzelfall unter medizi- • ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich Arznei- und Verbandsmittel nischen Gesichtspunkten zu entscheiden (Deutscher • Schutzimpfungen nach den entsprechenden Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und Vorsor- Bundestag 1993a: 9). geuntersuchungen (analog GKV) • ärztliche und pflegerische Hilfe bei Schwangerschaft und Geburt, Wöchnerinnen Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 • Zahnersatz nur, wenn unaufschiebbar Zwischen 1993 und 2015 gab es keine Veränderun- • gegebenenfalls Dolmetscherleistungen gen in Bezug auf die Leistungen nach dem AsylbLG. Am 18.07.2012 urteilte das Bundesverfassungsgericht AsylbLG § 6, sonstige Leistungen/besondere Bedarfe (BVerfG) jedoch in seinen Leitsätzen Folgendes: • Leistungen im Einzelfall, nach Ermessen der Behörden (außer bei besonders schutzbedürftigen Personen im Asylverfahren hier kein Ermessen) • Behandlung bestimmter chronischer Erkrankungen • gegebenenfalls Dolmetscherleistungen, Psychotherapie, Transportkosten zum Arzt, Anschlussheilbehand- lungen, häusliche Krankenpflege, ambulante/ stationäre Pflegeleistungen (ohne Pflegegeld), Eingliederungs- hilfe für Menschen mit Behinderungen (Frerichs 2014a, b; Classen 2017) 11 Die Dauer des Aufenthalts in Aufnahmeeinrichtungen und Ankerzentren der Bundesländer variiert zwischen einigen Wochen und bis zu 18 Monaten. Grund- Quelle: Gesetzestexte sowie Frerichs 2014a, 2014 b; Classen 2017; Hillmann 2017); eigene Darstellung. lage dafür ist der Absatz 1 Satz 1 § 47 AsylG: “Ausländer, die den Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamtes zu stellen haben (§ 14 Abs. 1), sind verpflichtet, bis zur Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag und im Falle der Ablehnung des Asylantrags bis zur Ausreise oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung oder -anordnung, längstens jedoch bis zu 18 Monate, bei minderjährigen Kindern und ihren Eltern oder anderen Sorgeberechtigten sowie ihren volljährigen, ledigen Geschwistern längstens jedoch bis zu sechs Monate, in der für ihre Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen.“ 9 Als eine in der Praxis seltene Ausnahme wäre hier aber eine Ermessensentscheidung über 73 SGB XII möglich. 12 Auf die Finanzierungsfragen von Gesundheitsleistungen in den Bundesländern, relevante föderalismusbedingte Variationen der Umsetzung der medizini- 10 Bei der Bemessung der Bedarfe zur Sicherung des Existenzminimums bei Asylsuchenden wurden Ausgaben für den Bereich Gesundheitspflege nicht berück- schen Versorgung nach dem AsylbLG und die Einführung elektronischer Gesundheitskarten für Asylsuchende in einzelnen Bundesländern kann jedoch im sichtigt (Deutscher Bundestag 2019: 3). Rahmen dieser Publikation nicht eingegangen werden. Diesen Themen wird sich eine spätere Publikation widmen. 6 7
„1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewer- Reduktion der Wartezeit auf Regelversorgung von schieden und wurden zum Vorbild für einige Flächenlän- falscher Anreize, nach Deutschland zu kommen.23 Dieser berleistungsgesetzes ist evident unzureichend, weil sie 48 auf 15 Monate der wie Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Bran- Position zufolge bestünde bei elektronischen Gesund- seit 1993 nicht verändert worden ist. Nach dem Urteil des BVerfG vom 18.07.2012 kam es zu denburg oder Thüringen (Wächter-Raquet 2016; Medizi- heitskarten für Asylsuchende beispielsweise die Gefahr, einer Reform des AsylbLG. Die novellierte Fassung des nische Flüchtlingshilfe Göttingen e. V. 2020). Unterstützt dass zu viele Leistungen verordnet würden und überhöh- 2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaats- Gesetzes trat am 01.03.2015 in Kraft und hatte u. a. eine wird dieses Anliegen auch vom Nationalen Normenkon- te Kosten für das Wohlfahrtssystem entstünden. Dem prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht Erhöhung der Geldleistungen zur Folge.15 Der Leistungs- trollrat (2017: 5).19 ‚Menschenrechte-Diskurs‘ nahestehende Akteure aus auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz- anspruch blieb aber weiterhin unter dem ALG-II- und den Parteien Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke so- minimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG be- Sozialhilfeniveau. Im Bereich der Gesundheitsleistungen Im August 2019 wurde die reduzierte Wartefrist für Asylsu- wie Menschenrechtsakteure wie ‚Ärzte der Welt‘ oder ‚Pro gründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst wurde die Zeitdauer für einen reduzierten Leistungsan- chende auf einen Zugang zu Analogleistungen des SGB V Asyl‘ forderten hingegen eine Abmilderung oder Abschaf- sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die spruch nach dem AsylbLG jedoch von 48 auf 15 Monate wiederum auf 18 Monate erhöht.20 Am Umfang der re- fung der Leistungsbeschränkungen nach dem AsylbLG. Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschli- stark reduziert: Asylsuchende und ihnen gleichgestellte duzierten medizinischen Versorgung hat sich seit der Das Gesetz und seine Umsetzung hätten demzufolge die cher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am Ausländerinnen und Ausländer erhielten dadurch deut- erstmaligen Einführung des Gesetzes 1993 nichts grund- anvisierte migrationshemmende Wirkung nicht entfaltet. gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das lich früher Zugang zu Analogleistungen nach SGB V. Am legend geändert. Stattdessen habe es zahlreiche Unsicherheiten für ver- Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staats- Leistungsumfang der medizinischen Versorgung änder- schiedene Akteure in der Versorgung mit sich gebracht, angehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland te sich aber nichts. Das Gericht hatte dem Gesetzgeber Grundkonflikt zwischen „ordnungspolitisch-rest- Behandlungsverzögerungen erzeugt sowie ärztliche aufhalten, gleichermaßen zu. zwar Grenzen in Bezug auf das Existenzminimum ver- riktiven“ und „wohlfahrtsstaatlich-sozialliberalen“ Expertise infrage gestellt. Grundsätzlich sei das Gesetz deutlicht, jedoch auch Ermessensspielräume aufgezeigt. Positionen inkompatibel mit dem Menschenrecht auf Gesundheit. 3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des men- Legitimierbar seien diese mit dem nur vorübergehen- Diese rechtliche Sonderbehandlung der Asylsuchenden Zwischen diesen beiden Seiten finden sich wiederum schenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten den Aufenthalt. Demnach kann erst ab einer Dauer von stand von Anfang an in der Kritik, vor allem aus men- Positionen, die eine grundsätzliche Beibehaltung des re- bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf ca. zwei Jahren von einem nicht nur vorübergehenden schenrechtlicher und ärztlicher Perspektive. So hoben duzierten Umfangs an Gesundheitsleistungen befürwor- er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Aufenthalt ausgegangen werden (Frerichs 2014a: 8). Bündnis 90/Die Grünen die Unteilbarkeit der Menschen- ten, gleichzeitig aber auf die (gestiegenen) praktischen Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus würde und die von Deutschland ratifizierten internatio- Herausforderungen der Versorgung auf kommunaler differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, so- Optionale Einführung der elektronischen Gesund- nalen Menschenrechtsabkommen sowie eine mögliche Ebene hinweisen („Kosten-Nutzen-Diskurs“; Klotz 2019: fern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen heitskarte für Asylsuchende Verfassungswidrigkeit hervor.21 Sie wiesen auf eine gro- 133). Diesen Positionen pflichteten verschiedene Akteu- von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und Mit der Asylgesetzgebung von 2015 ergab sich jedoch ße Anzahl nicht akuter, aber die Lebensqualität stark re- re von SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen bei. Demnach dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Ver- noch eine weitere wichtige Entwicklung. Im Frühjahr duzierender Erkrankungen sowie auf Konflikte, die sich solle mithilfe einer elektronischen Gesundheitskarte für fahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser 2015 führte die Bundesregierung an, dass die Ausle- aus dem Gesetz für die Ärzteschaft ergeben, hin. Auch Asylsuchende von Anfang an der administrative Zugang Gruppe belegt werden kann.13 gung des AsylbLG und dessen Anwendung in Bezug auf von Seiten der Ärzteschaft gab es Widerspruch (Bun- zu den Gesundheitsleistungen nach dem AsylbLG verein- Gesundheitsleistungen in der Zuständigkeit der Bundes- desärztekammer 2014; Deutscher Bundestag 1993b: facht werden (Klotz 2019: 132ff.). Hervorzuheben ist die Feststellung des BVerfG, wo- länder liegt (Deutscher Bundestag 2015b). Zuvor hatte 13598; Klinkhammer/Korzilius 2014; Flüchtlingsrat Ber- nach migrationspolitische Erwägungen nicht zu einem bereits im Oktober 2014 die Hansestadt Hamburg einen lin et al. ohne Jahr). Mit der Verabschiedung des AsylbLG 1.3 PRAKTISCHE PROBLEME BEI DER ANWEN- Unterlaufen des Existenzminimums führen dürfen. Antrag in den Bundesrat eingebracht, um die adminis- 1993 wurde der Grundkonflikt zwischen den beiden DUNG DES ASYLBLG Demnach legitimiert die Motivation, Migrationsanrei- trativen Barrieren der medizinischen Versorgung von Positionen (‚ordnungspolitisch-restriktiv‚ versus ‚wohl- ze zu vermeiden – etwa über eine eingeschränkte Ge- Asylsuchenden mittels elektronischer Gesundheitskar- fahrtsstaatlich-sozialliberal‚) auf die Bundesländer über- Der Text des AsylbLG – insbesondere der Teil zur me- sundheitsversorgung – keine präventive Absenkung ten bundesweit zu vereinfachen.16 Dabei ging es auch tragen (Schammann 2015: 169ff.). dizinischen Versorgung – ist im Gegensatz zu anderen des Leistungsanspruches. So stellte das BVerfG unter um eine Reduktion von Handlungsunsicherheiten durch Sozialgesetzen nur wenig strukturiert, detailliert und kritischer Bezugnahme auf die Begründung der Be- die Ermessensspielräume des AsylbLG und eine admi- Ab 2015 traten die seit (mindestens) 1993 grundsätzlich konkret (Hillmann 2017: 86).24 Durch begriffliche Unbe- schlussempfehlung zum AsylbLG von 1993 fest: nistrative Entlastung der Länder und Kommunen (vgl. bestehenden Konfliktlinien in Bezug auf die medizinische stimmtheiten und Ermessensspielräume ergeben sich Burmester 2015). Wahrscheinlich auch vor dem Hinter- Versorgung von Asylsuchenden vor dem Hintergrund der bei der Umsetzung der medizinischen Versorgung nach „Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asyl- grund der gestiegenen administrativen Herausforde- Debatte um die Einführung der elektronischen Gesund- dem AsylbLG deshalb zahlreiche praktische Probleme.25 bewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize rungen des verstärkten Flüchtlingszuzugs und des zu- heitskarten erneut zu Tage.22 Die Befürworterinnen und Rixen spricht in diesem Zusammenhang von einer struk- für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen nehmenden Handlungsdrucks eröffnete die Bundesre- Befürworter der bestehenden gesetzlichen Regelungen, turellen Normunbestimmtheit (2015: 1640, 1643). Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, gierung den Bundesländern im Herbst 2015 schließlich die der Einführung der elektronischen Gesundheitskarten können von vornherein kein Absenken des Leistungsstan- die Möglichkeit, Rahmenverträge mit Krankenkassen ablehnend gegenüber standen (vor allem Vertreterinnen dards unter das physische und soziokulturelle Existenzmi- zur Versorgung von Asylsuchenden (orientiert an § 264 und Vertreter der CDU/CSU), befürchteten bei Leistungs- nimum rechtfertigen (vgl. Beschlussempfehlung und Be- SGB) einzuführen.17 Damit sollte die Einführung elektro- erweiterungen oder bei einer Vereinfachung des Zugangs richt des Ausschusses für Familie und Senioren vom 24. Mai 1993, BTDrucks 12/5008, S. 13 f.). Die Anfang an in allen Bundesländern vereinfacht werden. in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrati- Dabei handelte es sich nicht um eine verpflichtende Re- onspolitisch nicht zu relativieren.“ 14 gelung.18 Die Hansestädte Bremen (2005) und Hamburg 19 Dieser Abbau bürokratischer Hürden wird seit langem von der Ärzteschaft gefordert (Bundesärztekammer 2013). (2012) hatten sich bereits früher für die Einführung ent- 20 Wie bereits in den vorherigen Gesetzesfassungen machte der Gesetzgeber auch aktuell keine Angaben dazu, wie es zu dem Wert von 18 Monaten (vorher 12, 16, 48, 15 Monate) als Dauer des nur „vorübergehenden“ Aufenthalts kommt. Es ist zu vermuten, dass die 15 (bzw. jetzt 18) Monate durchschnittliche Asylverfahrenszeiträume inklusive der Vorbereitung von Abschiebemaßnahmen repräsentieren (Rixen 2016: 137ff.). 21 Eine Abgeordnete der PDS/Linke Liste kritisierte in der abschließenden Lesung, dass mit dem geplanten Gesetz die medizinische Versorgung gesundheitsgefährdend unterboten würde (Deutscher Bundestag 1993b: 13597). 13 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, Leitsätze. 22 Eine genauere Analyse der verschiedenen Positionen nahm Klotz anhand parlamentarischer Drucksachen vor (2019: 132ff.). Im Folgenden wird sich auf diese Ausführungen bezogen. 14 BVerfG 18.07.2012, 1 BVL 10/10, 2 BVL 2/11, Rd. 95. 23 Dies gilt für die Bundesebene (siehe: Klotz 2019) sowie einzelne Bundesländer, wie zum Beispiel Sachsen, wo sich der damalige Ministerpräsident Tillich von 15 Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10.12.2014. In: Bundesgesetzblatt. Jahrgang 2014 Teil I Nr. 59. der CDU (dpa 2015c) sowie der CDU-Abgeordnete und Sächsische Ausländerbeauftragte Mackenroth gegen ‚falsche Anreize‘ aussprachen (siehe: Freie Presse 16 Zu den Details und zu den Erfahrungen in der Hansestadt Hamburg siehe: Burmester 2015. 2015). 17 Siehe auch: Bundesregierung 2015, S. 5. 24 Die Ausführungen in diesem Kapitel folgen maßgeblich der Argumentation von Hillmann (2017). 18 Zur entsprechenden Bundesrahmenempfehlung und der Problematik des föderalismusbedingten ‚Flickenteppichs‘ siehe: GKV-Spitzenverband 2015; siehe 25 Auf die Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensspielräumen bzw. die „Ambiguität“ des AsylbLG weist auch Schammann hin (2015: 169). auch: Beerheide 2015. Thematisiert wurden die Normunbestimmtheit und auch fehlende Interpretationsleitlinien auch von den Vereinten Nationen (2018: 9). 8 9
Unbestimmte Rechtsbegriffe bei der Bemessung von Unklarheiten in Bezug auf chronische Erkrankungen Hoher Prüfungs- und Entscheidungsaufwand 1.4 DAS PHYSISCHE EXISTENZMINIMUM Leistungsansprüchen Inwiefern chronische Erkrankungen nach dem AsylbLG Das Fehlen bundesgesetzlicher Vorgaben zur Interpre- Eine erste große Schwierigkeit hinsichtlich der Auslegung behandelt werden können, ist juristisch umstritten: Auf tation der genannten unbestimmten Begriffe bei gleich- Grundlegung in der Verfassung und der Rechtspre- des AsylbLG besteht in der Interpretation dessen, was der einen Seite finden sich Positionen, wonach die Be- zeitig hoher Handlungsunsicherheit auf Seiten von chung des Bundesverfassungsgerichts ‚erforderlich‘ ist, denn die Begriffe der „erforderlichen Be- handlung chronischer Erkrankungen grundsätzlich als Leistungserbringern, Leistungsberechtigten aber auch Mit Blick auf die vorangegangenen Darlegungen stellt handlung“ und der „erforderlichen Leistungen“ (§ 4 Ab- „unerlässlich“ anzusehen ist, da sie in der Regel auch ei- Leistungsträgern ging insbesondere seit 2015 und der sich im Folgenden die Frage, ob die medizinischen Leis- satz 1 Satz 1 AsylbLG) sind in hohem Maß unbestimmt. ner regelmäßigen – akuten – Behandlung bedürfen, um Zunahme der Asylsuchendenzahlen mit erheblichen He- tungsansprüche nach dem AsylbLG mit einem verfas- Bezogen auf „akute Erkrankungen und Schmerzzustände“ sich nicht zu verschlimmern (Classen 2017: 176). Da also rausforderungen einher. Denn bei der Auslegung des sungsrechtlich gesicherten Gebot des menschenwür- (§ 4 AsylbLG) erscheint zwar einerseits klar zu sein, dass viele – aber nicht alle – chronische Erkrankungen unbe- § 6 AsylbLG muss zum Beispiel jeweils im Einzelfall ge- digen Existenzminimums in Einklang stehen. Ein expli- Maßnahmen zu deren Beseitigung und zur Wiederher- handelt zu akuten werden, ist immer anzunehmen, dass prüft werden: die bisherige und geplante Aufenthalts- zit-wortwörtliches Grundrecht auf Gesundheit sieht das stellung der Gesundheit „erforderlich“ und deswegen be- in diesen konkreten Fällen chronischer Erkrankungen § 6 dauer, der Schweregrad der Erkrankung, die Dauer der Grundgesetz nicht vor. Artikel 2 Absatz 2 GG beschreibt reitzustellen sind. Andererseits lässt sich argumentieren, AsylbLG anzuwenden ist (Hillmann 2017: 91; siehe auch begehrten Behandlung, der Ausschluss von gleichwerti- aber ein „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. dass „erforderliche Leistungen“ auch dann bereitgestellt Kapitel 2.1). Frerichs betont, dass der § 6 Abs. 1 Satz 1 gen, kostengünstigeren Behandlungsalternativen sowie Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 20 GG garantieren des werden müssen, wenn keine akute Erkrankung vorliegt, AsylbLG entsprechend der Rechtsprechung und der Li- drohende Gesundheitsfolgen einer Leistungsablehnung, Weiteren das Recht auf ein menschenwürdiges Existenz- denn das Vorliegen von Schmerzzuständen beschränkt teratur „nach Sinn und Zweck des Gesetzes und wegen der das Vorliegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit minimum (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli sich nicht auf akute Erkrankungen. Zur Genesung von Begriffe ‚unerlässlich‘ und ‚geboten‘ einzelfallbezogen und (Frerichs 2014b: 17 ff., 30). Noch komplizierter wird es 2012 - 1 BvL 10/10 - Leitsätze, siehe Kapitel 2.2) Schmerzzuständen kann auch eine Behandlung einer restriktiv auszulegen“ ist (Frerichs 2014b: 11). Gleichzeitig in Fällen, in denen Asylsuchende wegen einer fehlenden chronischen Erkrankung „erforderlich“ sein. verweist er auch auf eine mögliche Anwendbarkeit des Mitwirkung nach § 1a AsylbLG sanktioniert werden sol- Mittlerweile liegen mindestens drei Entscheidungen des § 4 AsylbLG bei chronischen Erkrankungen, sofern „die len und deshalb möglicherweise Ermessensleistungen Bundesverfassungsgerichtes vor, die von Relevanz für die Auch ‚unerlässlich‘ ist ein in hohem Maße unbestimmter Behandlung der akuten Erkrankung oder der Schmerzzu- nach § 6 entzogen werden können. In der Konsequenz Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini- Begriff. Es handelt sich bei § 6 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG, der stände untrennbar eine Therapie des Grundleidens vor- ist die Anwendung des § 6 AsylbLG in der Praxis mit ei- mums auch bei Asylsuchenden sind34: das Hartz-IV-Urteil den Begriff ‚unerlässlich‘ beinhaltet, um „das Korrektiv zur aussetzt“ (2014: 13). Vor allem im Falle psychiatrischer nem hohen bürokratischen und zeitlichen Aufwand ver- zum Existenzminimum von 201035, die bereits genann- restriktiven Regelung des § 4 AsylbLG“ und gleichzeitig um chronischer Erkrankungen werden Behandlungen im bunden. te entsprechende ‚Analogentscheidung‘ zum AsylbLG eine „reine Ermessensnorm“ (Hillmann 2017: 90f.). Leistun- Rahmen des AsylbLG gelegentlich nur im Falle akuter im Jahre 201236 sowie der Hartz-IV-Beschluss von 201437 gen, die über § 4 AsylbLG nicht gewährt werden können, lebensbedrohlicher Zuspitzungen gewährt (Hillmann Reformbedarf hinsichtlich der Unbestimmtheit des (Hillmann 2017: 99). 2019 kam eine Entscheidung zu aber für die Sicherung der Gesundheit „unerlässlich“ sind, 2017: 93f.). Obwohl der tatsächliche Interpretations- AsylbLG Sanktionen im Rahmen von Hartz-IV-Leistungen38 hinzu, sind über § 6 AsylbLG bereitzustellen. Aber wo genau ist spielraum der erläuterten vagen Rechtsbegriffe des Es zeigt sich ein gesetzgeberischer Änderungsbedarf im deren Auswirkungen auf die Sanktionspraxis im Bereich der Unterschied zwischen „erforderlich“ und „unerläss- AsylbLG groß ist, orientieren sich die Verwaltung und Hinblick auf die §§ 4 und 6 des AsylbLG. Denn derart gro- des Asylbewerberleistungsgesetzes derzeit noch nicht lich“? 26 Kann die Behandlung einer chronischen Erkran- Sozialgerichte in der Regel an der gesetzgeberischen In- ße Ermessensspielräume stellen Herausforderungen für abschließend beurteilt werden können. kung unerlässlich aber gleichzeitig nicht erforderlich sein? tention der Leistungsabsenkung im Vergleich zum Bun- die das Gesetz ausführenden Bundesländer und Kom- Im Zusammenhang mit dem AsylbLG wurde kein Katalog dessozialhilfegesetz (Hillmann 2017: 89f.). munen sowie für die einzelnen Sachbearbeiterinnen und Notwendige Gesundheitsleistungen als Bestandteil dessen herausgegeben, was mit „unerlässlich“ gemeint ist. Sachbearbeiter in den Sozial- und Gesundheitsämtern des physischen Existenzminimums Verlagerung der Entscheidungsverantwortung auf dar. Der hohe Prüf- und Entscheidungsaufwand ergibt Am 9. Februar 2010 entschied das Bundesverfassungs- Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Gerichte, Bundesländer und Kommunen sich nicht nur aus dem AsylbLG und anderen relevanten gericht, dass jeder Hilfebedürftige ein Recht auf ein men- Erkrankungen schwierig Durch diese relativ große Normunbestimmtheit des Normen, sondern auch aus den Krankheitshäufigkeiten schenwürdiges Existenzminimum hat, dass die materiel- Gleichzeitig ist die dem AsylbLG immanente Unterschei- AsylbLG wird die Gesetzesinterpretation in einem überaus bei Asylsuchenden sowie bei einem Rechtskreiswech- len Voraussetzungen für seine physische Existenz und dung zwischen akuten und chronischen Erkrankungen weiten Umfang auf die Gerichte sowie grundsätzlich auf die sel.32 Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, in der Praxis nicht immer einfach (Frerichs 2014a: 12f.; Länder und Kommunen verlagert.28 Dabei variiert die An- die Entscheidungen über medizinische Leistungen auf kulturellen und politischen Leben zu sichern sind (BVerfG Hillmann 2017: 87ff.). Im Gegensatz zur Begrifflichkeit wendung des AsylbLG durch Gerichte von Bundesland zu Basis so unklarer Rechtsbegriffe nicht immer von me- 09. Februar 2010).39 Auch in dem viel beachteten Ur- des AsylbLG werden solche Grenzen in der Humanmedi- Bundesland und innerhalb von Bundesländern erheblich dizinisch sachkundigen Behördenmitarbeiterinnen und teil zum AsylbLG im Jahre 201240 entschied das BVerfG, zin mit einem ganzen Fächer an Krankheitszustandsbe- (Hillmann 2017: 92ff.). So wurden zum Beispiel Behandlun- -mitarbeitern erfolgen.33 (Kaltenborn 2015: 165; Rixen dass Artikel 1 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Sozial- schreibungen definiert und als fließend angenommen gen schwerer psychischer Erkrankungen in manchen Fäl- 2015; Lindner 2015a; Eichenhofer 2013: 174) staatsprinzip (Artikel 20 Absatz 1 GG) ein Grundrecht auf (Hillmann 2017: 88). Chronische Erkrankungen (bzw. Dia- len gewährt, in anderen wiederum abgelehnt.29 2004 lehnte Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini- gnosebereiche), die medizinisch zwingend einer Behand- das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern in mums vorsieht. Dies umfasst dem Gericht zufolge auch lung bedürfen, sind zum Beispiel Asthma, Hypertonie, einem Fall trotz Nierenversagens eine Nierentransplantati- die physische Existenz des Menschen. Zwar stellte das Ge- Diabetes mellitus, Depression, Koronare Herzkrankheit, on unter Verweis auf die Möglichkeit der Dialyse ab.30 Das richt keinen konkreten Bezug zu Gesundheitsleistungen Nierenschwäche, Posttraumatische Belastungsstörung, Verwaltungsgericht Frankfurt a. M. verweigerte 1997 eine Tumore.27 Eine hinreichende Bestimmbarkeit des Begriffs dringende Lebertransplantation.31 Derartige Fälle machen 32 Damit ist der, mit einer Änderung des Aufenthaltsstatus (zum Beispiel nach Abschluss des Asylverfahrens) verbundene, veränderte Rechtsanspruch auf der ‚akuten Erkrankung‘ ist durch Verwaltungen und Ge- deutlich, dass ein gesetzgeberischer Normierungsbedarf Sozialleistungen gemeint. richte kaum möglich (Hillmann 2017: 88). besteht (Eichenhofer 2013; Classen 2016; Hillmann 2017). 33 Selbst wenn in einigen Fällen eine amtsärztliche Stellungnahme eingeholt wird, kann auch dieser Entscheidungsweg als kritisch betrachtet werden, da Amtsärztinnen und -ärzte in der Regel Fachleute für ein konkretes Gebiet der Humanmedizin sind und nicht für alle Fälle ausreichend Expertise besitzen. Gelegentlich werden die Spielräume sogar rechtswidrig restriktiv auslegt, wie Zusatzvermerke auf Behandlungsscheinen und Leistungseinschränkungen belegen (Classen 2016). 34 Detaillierte Erörterung siehe: Hillmann (2017: 93). 26 Auch die Landesministerien in Deutschland interpretieren diese Begriffe anscheinend sehr unterschiedlich. Die Autorin hat im Jahr 2020 bei den zuständigen 35 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 09. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -. Landesministerien nachgefragt, wie die aktuellen Erstattungsverfahren von Gesundheits- und medizinisch relevanten Sprachmittlerkosten nach dem 36 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -. AsylbLG gestaltet sind. Demnach werden Sprachmittlerkosten in Ausnahmefällen erstattet und zwar in manchen Bundesländern auf Basis des § 4 AsylbLG („erforderlich“) und in anderen über den § 6 AsylbLG („unerlässlich“, und „erforderliche behördliche Mitwirkungspflicht“). 37 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -. 27 Siehe: Robert-Koch-Institut 2020. 38 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 05. November 2019 - 1 BvL 7/16 -, Rn. (1-225). 28 Siehe auch: Deutscher Bundestag 2015b; Deutscher Bundestag 2019. 39 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 09. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -, Leitsätze. 29 Dabei hätte dem Gericht in einem der letzteren Fälle (Ende 2015) die Aufnahmerichtlinie bekannt sein müssen. 40 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, Leitsatz 2. 30 Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (AZ: I O 5/04); Hillmann 2017. 31 VG Frankfurt/ M 8 G 638/97, nach Classen 2016: 12. 10 11
her, doch ist davon auszugehen, dass auch notwendige reduzieren kann, wenn er nachweist, dass diese Perso- te im November 201946, dass bei Sanktionen gegenüber dafür die kommunalen Gesundheitsämter. Im Detail ob- Gesundheitsleistungen zum physischen Existenzmini- nengruppe tatsächlich und signifikant weniger Bedarfe Asylsuchenden eine Verhältnismäßigkeit und die in der liegen die Umsetzung und Entscheidung über den Um- mum gehören: hat als einheimische Bezieherinnen und Bezieher exis- Grundrechtecharta verankerte Menschenwürde zu ge- fang der Erstuntersuchungen den einzelnen Bundeslän- tenzsichernder Leistungen. Dazu braucht es ein transpa- währleisten ist. Ein vollständiger Entzug von existenzsi- dern. Die dabei bestehenden Differenzen erschweren „Unter dem physischen E. ist die Summe der Aufwendungen rentes Verfahren zur Beurteilung der Bedarfe von Asyl- chernden Leistungen darf laut EuGH nicht erfolgen. Die eine Vergleichbarkeit von Daten. zur Aufrechterhaltung der physischen Existenz zu verstehen, suchenden (Frerichs 2014a: 6).43 Sanktionierung medizinischer Leistungen (insbesondere also die existenziell notwendigen Ausgaben für Nahrung, bei besonders Schutzbedürftigen) steht zudem in Kon- Lücken bei Dokumentation und Datenübermittlung Kleidung, Unterkunft und Heizung sowie Hygiene und Ge- Nachweis, dass Asylsuchende geringere medizini- flikt mit der Aufnahmerichtlinie. Insbesondere im Jahre 2015 kam es aufgrund der gro- sundheit.“ (Müller Franken 2019) sche Bedarfe als Einheimische haben, wurde vom ßen Anzahl an Asylsuchenden zu lückenhaften Untersu- Gesetzgeber bislang nicht erbracht Mehrere Gerichte haben sich mittlerweile bei Entschei- chungen. Asylsuchende wurden nach Ankunft in einem Weites Verständnis des medizinischen Existenzmini- Dass erkrankte Geflüchtete grundsätzlich weniger me- dungen zu Gesundheitsleistungen für Geflüchtete auf Bundesland sofort in weitere Sammelunterkünfte ver- mums im SGB dizinische Bedarfe haben sollen als Einheimische bzw., das Urteil des BVerfG von 2012 bezogen. Zum einen ent- teilt, ohne dass zunächst die vorgeschriebene Erstunter- Eine genaue Bemessung des medizinischen Existenz- gesetzlich Versicherte und dass die Bedarfe vom Aufent- schied das Landessozialgericht Hessen, dass die Kosten suchung stattgefunden hatte. Diese wurde dann jedoch minimums ist bisher kaum möglich (Neumann 2006; Ei- haltsstatus einer Person abhängig sein sollen, ist für ver- für eine antivirale Hepatitis C-Therapie übernommen in der Regel später nachgeholt.50 Im Zusammenhang mit chenhofer 2013: 172f.; Hillmann 2017: 98ff.; Kaltenborn schiedene Akteure jedoch nicht nachvollziehbar (Bun- werden müssen.47 In einem anderen Fall ist ein nahezu der Erstuntersuchung sind Fragen der Dokumentations- 2015: 162f.; Grube/Wahrendorf/Flint SGB XII § 48 Rn. 50- desärztekammer 2013; Eichenhofer 2013: 174; Hillmann gehörloser Kläger mit einem Cochlea-Implantat zu ver- kontinuität und Datenübermittlung an Kommunen und 53). Ein erster Anhaltspunkt für eine Orientierung wäre 2017: 99). Versorgungsmedizinische Daten deuten sogar sorgen.48 Dass sich das Bundesverfassungsgericht selbst behandelnde Ärztinnen und Ärzte von Bedeutung. Nicht die Sozialgesetzgebung und Rechtsprechung im Bereich teilweise auf erhöhte Bedarfe bei Asylsuchenden hin. bisher noch nicht konkret mit den Gesundheitsleistungen immer, vor allem nicht im Sommer 2015, erfolgte eine Sozialhilfe und ALG 2. Die medizinische Versorgung von Eine Einschränkung von Leistungen ist möglich (siehe der Asylsuchenden beschäftigt hat, könnte daran liegen, adäquate Übermittlung von Versorgungsbedarfen zur Hartz-IV-Beziehenden sowie Sozialhilfeempfangenden ‚kurze Aufenthaltsdauer‘), widerspricht aber gegebenen- dass die Betroffenengruppe überdurchschnittliche Zu- Weiterbehandlung, was die Versorgung erschwerte und orientiert sich grundsätzlich am Leistungsumfang von falls dem Artikel 3 GG, wenn sie ohne Nachweis der Min- gangshürden – hinsichtlich Systemkenntnissen, Sprache, kostenerhöhende Mehrfachuntersuchungen zur Folge gesetzlich Krankenversicherten. Die Leistungen der Ge- derbedarfe bzw. ohne ein transparentes Verfahren er- finanzieller Mittel – zu derartigen Klageverfahren hat. hatte (Bozorgmehr et al. 2016b: 552).51 setzlichen Krankenversicherung dürfen gemäß § 12 Abs. folgt. Die notwendige nachvollziehbare Bemessung der 1 SGB V ‚das Maß des Notwendigen‘ nicht überschreiten medizinisch relevanten Bedarfe von Asylsuchenden er- 1.5 DIE MEDIZINISCHE ERSTUNTERSUCHUNG 1.6 SPRACHMITTLUNG (Neumann 2006). Insofern kann von einem relativ wei- folgte bisher nicht (siehe Urteile des BVerfG 2010, 2012; ten Verständnis des medizinischen Existenzminimums Kaltenborn 2015; Rixen 2015). Fokus übertragbare Erkrankungen Verstehen als Behandlungsbasis im SGB ausgegangen werden. Zur Beschreibung des gesetzlichen Rahmens der Ge- Ärztinnen und Ärzte müssen bei einer Behandlung Zweifel an Verfassungsmäßigkeit der Streichung me- sundheitsversorgung von Asylsuchenden gehört auch grundsätzlich sicher sein, dass sie von den Patientinnen Existenzminimum muss willkürfrei und nachvoll- dizinischer Leistungen als Form der Sanktionierung die medizinische Erstuntersuchung nach § 62 Absatz 1 und Patienten verstanden werden. Sind sie das nicht, ziehbar bemessen werden Grundsätzlich kann der Gesetzgeber existenzsichernde Asylgesetz (AsylG). Allerdings handelt es sich hierbei um müssen sie die Maßnahme verweigern, sonst wäre dies Die exakte Bestimmung des Existenzminimums im All- Leistungen an eine Mitwirkungsbereitschaft des Leis- eine der eigentlichen Versorgung vorgelagerte und selek- ein unrechtmäßiger Eingriff in die Persönlichkeitsrechte gemeinen und des physischen Existenzminimums im tungsempfängers knüpfen (Berlit 2013). Sanktionsins- tive Diagnostik. Der § 62 Absatz 1 AsylG in Verbindung der Person. Das deutsche Patientenrechtegesetz regelt Speziellen kann nicht durch das Bundesverfassungsge- trumente existieren im Bereich der Hartz-IV-Gesetzge- mit §§ 6, 7 und 36 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) unter anderem die Informations- und Aufklärungspflich- richt erfolgen. Im Falle von Asylsuchenden gibt es jedoch bung ebenso wie im Bereich des AsylbLG. Im ersteren gibt vor, dass sich Asylsuchende nach ihrer Ankunft ei- ten gegenüber Patientinnen und Patienten und die Ein- vor, dass der Leistungsumfang des Existenzminimums Fall betreffen Sanktionen jedoch nicht die Gesundheits- ner medizinischen Erstuntersuchung unterziehen müs- willigung und Prüfung der Einwilligungsfähigkeit in eine anhand von „verlässlichen Zahlen“ und „schlüssigen Be- versorgung.44 Bei Asylsuchenden ist demgegenüber sen. Diese bundesgesetzlich verpflichtende medizini- ärztliche Behandlung (Bundesgesetzblatt 2013). rechnungsverfahren“ willkürfrei und nachvollziehbar be- eine Sanktionierung von Leistungen nach § 6 AsylbLG sche Erstuntersuchung, inklusive einer Röntgenaufnah- messen sein muss.41 vorgesehen.45 Dazu zählen auch Gesundheitsleistun- me der Atmungsorgane, steht in Zusammenhang mit Verbale Kommunikation und Verständnis sind grund- gen. Allerdings gibt es auch hier Ermessensspielräu- der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften der legende Voraussetzungen für eine gelingende medizi- Unter der genannten Voraussetzung gesteht das BVerfG me. Ein bundesgesetzgeberischer Normierungsbedarf Erstaufnahme. Sie zielt auf die Identifizierung von über- nische Versorgung. Sie sind unabdingbar für die Um- dem Gesetzgeber einen sozialpolitischen Ermessens- besteht somit nicht nur zu Leistungsansprüchen bei tragbaren Krankheiten ab. Nichtübertragbare körperli- setzung des Patientenrechtegesetzes. Ärztinnen und spielraum bei der Gewährung eines abweichenden Exis- der Behandlung chronischer Erkrankungen, sondern che sowie psychische Erkrankungen werden dabei nicht Ärzte tragen deshalb ein hohes Haftungsrisiko. Zu ihrer tenzminimums für Asylsuchende zu.42 Der Gesetzgeber auch hinsichtlich der Entziehbarkeit von Leistungen bei systematisch erfasst49, können jedoch Basis für weite- Sicherheit sollten sie die Behandlungen auch doku- kann Leistungen für Asylsuchende mit Verweis auf die medizinisch notwendiger Dauerbehandlung (z. B. bei re Diagnostik und die Behandlung nach dem AsylbLG mentieren und die Qualifikation von hinzugezogenen kurze Aufenthaltsdauer einschränken. Behandlungen Diabetes mellitus). Der Entzug einer notwendigen me- sein. Die Erstuntersuchung wird von Ärztinnen und Ärz- Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern prüfen. Details von gesundheitlichen Problematiken, die ohne Risiko dizinischen Leistung als Form der Sanktionierung für ten des öffentlichen Gesundheitsdienstes durchgeführt. dazu stellte das Oberlandesgericht Köln in einem Urteil aufgeschoben werden können, fallen entsprechend Asylsuchende lässt verfassungsrechtliche Zweifel auf- In der Regel beauftragen die zuständigen Bundesländer fest (Az.: 5 U 184/14) (Pflugmacher 2016).52 nicht unter das zu gewährende Existenzminimum (Ei- kommen. Da der Leistungsanspruch bereits unterhalb chenhofer 2013: 170f.; Frerichs 2014a; Hillmann 2017: des Sozialhilfeniveaus liegt, ist eine weitergehende Auf- 99f.). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der Gesetz- splittung des physischen Existenzminimums schwer zu 46 EuGH Urteil vom 12. November 2019 – C-233/18, BeckRS 2019, 27379. geber die medizinischen Leistungen bei Asylsuchenden rechtfertigen. Auch der Europäische Gerichtshof urteil- 47 Landessozialgericht Hessen, Urteil vom 11. Juli 2018 (L 4 AY 9/18 B ER): „Wegen Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sind die Tatbestandsmerkmale der Unerläss- lichkeit und der Sicherung der Gesundheit in § 6 Abs. 1 Satz 1 2. Var. AsylbLG weit auszulegen.“ Siehe auch: Beitrag bzw. Kommentar dazu von Kötter 2018. 48 Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, 9. Senat, Beschluss vom 28. August 2019 (L 9 AY 13/19 B ER). Weitere Urteile zu Gesundheitsleistungen nach dem AsylbLG, in denen Bezug auf die Verfassung genommen wurde: SG Dessau-Roßlau (17. Kammer), Beschluss vom 12. September 2018 - S 17 AY 22/18 ER; Rn. 30. 49 Die Erstuntersuchung und Versorgung nach dem Bremer Modell (seit 1993) stellt eine Ausnahme dar. Hierbei werden in Kritik an der ansonsten üblichen 41 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 09. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 -; Leitsätze; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, Rn. 90. engen seuchenorientierten Erstversorgung von Flüchtlingen ein weitergehender, die sozioökonomischen Faktoren berücksichtigender Untersuchungsansatz 42 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, Rn. 47. und eine niedrigschwellige Behandlung in den Erstaufnahmeeinrichtungen verknüpft (Jung 2011). 43 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 -, Leitsatz 3. 50 Dies bedeutete in der Anfangszeit in den Aufnahmeeinrichtungen ein potentiell erhöhtes Infektionsrisiko durch möglicherweise unentdeckte Erkrankungen. 44 Dies traf ausschließlich für Fälle von Vollsanktionen zu. Diese untersagte das BVerfG jedoch am 05.11.2019. (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 05. 51 Es folgen im Zusammenhang mit Änderungen der Zuständigkeit von Leistungsträgern häufig weitere Brüche in der Dokumentationsweitergabe, denn November 2019 - 1 BvL 7/16 -, Rn. (1-225). Statusverläufe gehen einher mit Zuständigkeitsverläufen. Zwischen den Akteuren ist die Kommunikation nicht immer ausreichend. So erfolgt die Information des BAMF an Sozialämter bezüglich des Ergebnisses des Asylverfahrens zeitverzögert. 45 Nach § 1a AsylbLG i.V.m. § 15 AsylG. 52 Aus dem Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern resultieren zusätzliche Herausforderungen zur Einhaltung der Datenschutzbestimmungen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. 12 13
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