Arbeitswelten. Menschenwelten - Prioritäten für den Arbeitsschutz von morgen
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2 Inhalt Inhaltsverzeichnis 04 Vorwort 06 Warenlogistik Vorbereitet sein Wo sie ihr Päckchen zu tragen haben: von Prof. Dr. Dietmar Reinert Arbeit in der Warenlogistik 08 Entsorgung Was die Entsorgung sorgt: Arbeitsschutz in der Abfallbranche 10 Pflege Es muss sicher und gesund werden, Pflegekraft zu sein 12 Krankenhaus Zwischen Kraftakt und Keimen: Arbeitsplatz Krankenhaus
Inhalt 3 Für alle im Folgenden beschriebenen Branchen und weitere Wirtschaftszweige gibt es ausführliche Branchenbilder • unter 14 Fleischwirtschaft Wenn’s um die Wurst geht: Arbeitsschutz in der Fleischwirtschaft 16 Energie- und Wasserwirtschaft Energie, Wasser, Arbeitsschutz: garantiert nachhaltig? 18 Elektroindustrie Schöpferkraft mit Nebenwirkung – Arbeitsschutz in der Elektroindustrie 20 Hochbau Auf Sicherheit gebaut? Arbeitsschutz im Hochbau 32 Methodik 22 Polizei Das Risikoobservatorium: In Sachen Arbeitsschutz: Methodik und Nutzen Die Polizei bittet um Mithilfe! 34 Fazit 24 Kindertagesstätten Damit Arbeitswelten Menschenwelten Kita-Alltag: ein Kinderspiel? bleiben: ein Fazit 26 Schule 36 Forschen für die Prävention Wenn Lehren und Lernen zur Last wird Das Institut für Arbeitsschutz der DGUV 28 Hochschule 38 Dankeschön! Hochschule heute:international, digital, belastend 39 Übersicht Berufsgenossenschaften und Unfallkassen 30 Verwaltung Fordernder Dienst an schwieriger Kundschaft 40 Impressum
4 Vorwort Vorbereitet sein „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusa- land. Zudem erstreckt er sich auf etwa 18 Millionen gen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in sein.“ Das wusste schon Perikles, führender Staats- Kitas oder Tagespflege betreut werden, zur Schule ge- mann der griechischen Antike im 5. Jahrhundert v. hen oder studieren. Chr. Und tatsächlich tun sich auch noch so ausge- feilte Algorithmen schwer, ein wirklich zuverlässi- Hinzu kommt, dass Entwicklungen in der Arbeits- ges Bild von der Zukunft zu errechnen. Der berühmte und Bildungswelt nicht mehr dem Takt des 19. Jahr- Schmetterlingseffekt … hunderts folgen, in dem Reichskanzler Otto von Bis- marck die gesetzliche Unfallversicherung erfand, Trotzdem braucht es gerade in unserer hoch dynami- weil nach damaligem Maßstab Fabriken buchstäb- schen Welt ein Mindestmaß an Vorausschau und Vor- lich aus dem Boden schossen. Heute schießen Bits bereitung. Denn allzu Unerwartetes verunsichert und und Bytes technologische Grenzen beinahe im Ta- erschwert strukturierte Prozesse. Das hat uns nicht gesrhythmus sturmreif und sorgen in vielen Bran- zuletzt die Corona-Pandemie deutlich vor Augen ge- chen für das, was als disruptiver Wandel beschrieben führt. Im Erschrecken um die Situation und in der wird. Sorge um ihre Konsequenzen werden Entscheidungen und Maßnahmen allzu oft überstürzt getroffen und Viele dieser Veränderungen haben Potenzial, Arbei- laufen Gefahr, ihr Ziel – zumindest in Teilen – zu ver- ten und Lernen sicherer und gesünder zu machen. fehlen. Nachträgliche Korrekturen kosten Zeit und je Doch jedes Ding hat zwei Seiten. Und so muss die nach Kontext Geld, Gesundheit oder gar Leben. gesetzliche Unfallversicherung immer auch ein Auge darauf haben, ob und wie sich durch Innovationen Dieses Prinzip gilt immer und überall – von wenigen und andere Entwicklungen neue Risiken für die Be- genialen Eingaben und extemporierten Glücksgrif- troffenen ergeben oder alte eventuell verstärken. fen mal abgesehen. Gerade der Arbeitsschutz sollte Ein einfaches Beispiel: Exoskelette können Muskel- allerdings nicht der Improvisation und dem Stegreif Skelett-Belastungen bei der Arbeit reduzieren und überlassen werden. Denn er betrifft fast 34 Millionen so theoretisch Beschwerden des Bewegungsappara- sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutsch- tes vorbeugen. Dass sich dabei allerdings eventuell
Vorwort 5 Auf all das vorbereitet sein zu wollen, was aktuell und zukünftig entsteht und unsere Art zu arbeiten beeinflusst, wäre wohl vermessen. Trotzdem lassen sich größere Entwicklungen durchaus erkennen, erfassen und in die Zukunft projizieren.“ auch ungünstige Effekte für ande- IFA. Es identifiziert im Fünfjahres- Ich wünsche Ihnen eine anregende re Körperregionen ergeben kön- rhythmus die wichtigsten Präven- Lektüre! nen, bleibt häufig unbedacht. Auf tionsthemen für die großen Bran- all das vorbereitet sein zu wollen, chen und Sektoren, beschreibt sie was aktuell und zukünftig ent- in sogenannten Branchenbildern steht und unsere Art zu arbeiten und trägt zukunftsgerichtete Prä- beeinflusst, wäre wohl vermessen. ventionsvorschläge für die Träger Trotzdem lassen sich größere Ent- der gesetzlichen Unfallversiche- Prof. Dr. Dietmar Reinert wicklungen durchaus erkennen, rung zusammen. erfassen und in die Zukunft proji- Direktor des Instituts für Arbeitsschutz zieren. Vor allem besteht die Mög- Auf den folgenden Seiten finden der Deutschen Gesetzlichen lichkeit, die wesentlichen Risiken Sie Synopsen ausgewählter Bran- Unfallversicherung (IFA) – und natürlich auch Vorteile – chenbilder. Sie illustrieren in Wort dieser Entwicklungen für den Ar- und Bild die komplexen Heraus- beitsschutz abzuschätzen und für forderungen für den Arbeitsschutz die Prävention der nahen Zukunft der kommenden Jahre. Auch wenn zu berücksichtigen. sie keinen Anspruch auf Vollstän- digkeit erheben wollen und kön- Dabei hilft seit inzwischen elf Jah- nen, helfen sie uns doch bei ei- ren das Risikoobservatorium beim nem: vorbereitet zu sein.
6 Warenlogistik Entsorgung undund Arbeitsschutz Arbeitsschutz Wo sie ihr Päckchen zu tragen haben: Arbeit in der Warenlogistik „Anständige Arbeitsbedingungen“ für die Paketdienste forderte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im April 2019 auf Twitter. Ungeachtet politischer Gesetzesinitiativen zeigt ein aktueller Blick in die Branche: Es gibt viel zu tun in Sachen sichere und gesunde Arbeit in Warenlager und -zustellung. 2018: Zum vierten Mal in Folge bewertet die Weltbank Zwei Seiten der Digitalisierung Deutschland als Handelslogistikstandort Nummer 1. Im selben Jahr werden bereits rund 3,5 Milliarden Sendun- Ob Lager oder KEP, beide Bereiche leben von den gen mit Kurier-, Paket- und Expressdiensten, kurz KEP, Effekten der Digitalisierung – und leiden unter ihnen. verschickt. Nur zwei Jahre später ist die Vier-Milliarden- Denn Prozesse werden schneller. Vernetzte Produktion Grenze geknackt. Ein Plus von mehr als 14 Prozent, mit moderner Sensortechnik und elektronischer Tendenz weiter steigend. Die Branche boomt, weil der Produkterkennung beschleunigt das Handling. Daten- Onlinehandel floriert. Immer mehr Menschen, jung wie brillen, Sprachsteuerung und Lichtführung verdichten alt, bestellen Produkte des täglichen Bedarfs im Internet die Arbeit im Lager. Potenzielle Konkurrenz durch – und lassen sie sich nach Hause liefern, gerne auch mal Lagerroboter schürt die Angst vor Arbeitsplatzverlust. abends und zum Wunschtermin. Der Kunde wird zuneh- Digitalisierte und automatisierte Paketsortierung mend König über Zustellfristen und -zeiten. Die, die ihn erhöht die Umschlagsgeschwindigkeit in den Verteil- beliefern, arbeiten zumeist für Kleinstunternehmen. zentren und verkürzt Sortierzeiten. Elektronische Tou- 38 Prozent von ihnen sind geringfügig beschäftigt, viele renplanung optimiert die Zustellung. Live-Tracking von soloselbstständig. Einfache Beschäftigtenstrukturen Paketen intensiviert die Arbeitskontrolle. Dynamische häufig auch in der Lagerei, wo die Sendungen zusam- Zustellung fordert Flexibilität und bindet zusätzliche mengestellt, kontrolliert und verpackt werden: Mehr Ressourcen. als 50 Prozent sind hier un- oder angelernt.
Warenlogistik und Arbeitsschutz 7 Mögliche Folgen für die Beschäftig- ten: Arbeitsdruck, Unzufriedenheit, Überforderung oder Existenzangst. 4,1 Tatsächlich gibt es bislang wenige Paketflut: Forschungsergebnisse, die kogni- 2018 wurden rund tive, psychische und körperliche Miliarden 3,5 Milliarden Sendungen Folgen der neuen Technologien 3,5 Miliarden mit Kurier-, Paket- und beleuchten. Doch der digitale Expressdiensten ver- Fortschritt in der Branche wirkt schickt. 2020 sind es be- 2020 auch entlastend: Autonome Flur- reits über 4 Milliarden. [1] förderzeuge im innerbetrieblichen Verkehr, Lager- und Zustellroboter oder Exoskelette sollen Unfälle 2018 verhindern und körperliche Überlastung vermeiden. Zugleich können sie – zumindest in Teilen – Personalmangel ausgleichen. Denn der ist trotz überdurchschnittlicher Erschöpfung stellen sich ein. Keine boomenden Branche wie der Integration ausländischer Arbeits- gute Voraussetzung für einen Job, Warenlogistik – auch verlässliche kräfte – ein gutes Viertel sind es der im oft dichten Stadtverkehr und angemessene Bezahlung. Der inzwischen allein in der Lagerei Aufmerksamkeit verlangt und gute Ist-Zustand allerdings ist eher pre- – manifest. Nerven, wenn beispielsweise Park- kär denn anständig: Geringfügig flächen fehlen. Das Lastenfahrrad Beschäftigte sind überdurch- Wenig Erholung, wenig Geld ist da eine gute Alternative, die schnittlich zahlreich. Zudem zugleich dem politischen wie finden sich in den KEP-Diensten [2] Quelle: https://psl-bawue.verdi.de/fach-und-personengruppen/speditionen-und-logistik/branchenanalyse-logistik (abgerufen am 23.06.2021) Größere Zustellbezirke lautet derzeit gesellschaftlichen Wunsch nach auch immer wieder Verstöße gegen die Lösung für die unterbesetzten „grünen“ Transportmitteln ent- das Mindestlohngesetz. KEP-Dienste. Konkret heißt das: spricht und innerstädtische Die- überlange Arbeitszeiten, Wegfall selbelastungen reduziert. Ob das Es bleibt also viel zu tun, damit von Pausen, längere Pro-Tag-Belas- eigentlich bewegungsförderliche Arbeit in der Warenlogistik unein- tungen des Muskel-Skelett-Systems Radfahren für die Beschäftigten geschränkt sicher und gesund aber auch Geschwindigkeitsüber- angesichts langer Arbeitstage und stattfinden kann. In etlichen Punk- schreitungen, um das Pensum zu schwerer Transportgewichte auch ten kann die gesetzliche Unfall- schaffen. Mehr als die Hälfte der schädigend wirken kann, gilt es versicherung dazu beitragen, in Beschäftigten in Verkehr und Lage- zu untersuchen. Bereits fest steht anderen braucht es den Einsatz rei gaben in einer DBG-Index-Befra- jedoch, dass es die erhöhte Son- oder zumindest die Unterstützung gung bereits 2015 an, regelmäßig nenbelastung auf dem Rad tut und Dritter. Worum es dabei geht, hat 45 Stunden pro Woche oder mehr geeigneten UV-Schutz nötig macht. der Arbeitsminister auf den Punkt [1] Quelle: https://www.biek.de/publikationen/studien.html (abgerufen am 23.06.2021) zu arbeiten. In den KEP-Diensten gebracht; wo genau Maßnahmen sind es häufig deutlich mehr als Nicht zuletzt bedeuten die oben nötig sind, beschreibt ein ausführ- zehn Stunden am Tag. Erholungs- zitierten „anständigen Arbeits- liches Branchenbild. • zeiten schrumpfen, Ermüdung und bedingungen“ – gerade in einer Warenlogistik und Arbeitsschutz Diese Themen beeinflussen Sicherheit und Gesundheit von Beschäftigten in der Warenlogistik: Quelle: DGUV Risikoobservatorium 1 Arbeitsverdichtung und mehr Verantwortung 2 Mobilität/Verkehrsdichte 3 Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems 4 Interkulturelle Anforderungen 5 Autonome Fahrzeuge (Entwicklungen nach Rangfolge) Geringfügig beschäftigt: Der Anteil geringfügig Beschäftigter in den KEP-Diensten liegt bei 38 Prozent. [2]
8 Entsorgung und Arbeitsschutz Was die Entsorgung sorgt: Arbeitsschutz in der Abfallbranche 457 Kilogramm Abfall pro Person und Jahr werden in Deutschland eingesammelt, abtransportiert, verwertet oder beseitigt. Die das tun, arbeiten heute oft unbefristet, in Vollzeit und sind anständig bezahlt. Ein guter Arbeitsplatz bis zur Rente also? Ja, bis auf ein paar echte Herausforderungen in Sachen Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Auch Abfall unterliegt Wandel. Denn wie wir denken, sorgung 2019 einen Spitzenplatz in Sachen alternde leben und konsumieren, hat Einfluss auf Art und Um- Belegschaften. fang unserer Abfälle. Abfall vermeiden und rückgewin- nen lautet das Gebot der Stunde. Ergo verändern sich Mehr Dienstleistung, weniger (Fach)kräfte Aufgaben und Schwerpunkte der Abfallbranche und mit ihnen die Anforderungen an personelle wie tech- Hinzu kommt, wie beinahe überall, der Fachkräfte- nologische Voraussetzungen. Tatsächlich gelten vor mangel – insbesondere bei technischen Berufen, aber allem private Abfallunternehmen in Deutschland als auch bei einfacheren Aufgaben wie dem Steuern von Innovationstreiber. Von selbstfahrenden Tonnen über Müllfahrzeugen. Hier schafft allerdings die Zuwande- digitale Revierplanung bis zu künstlicher Intelligenz rung erste Entlastung, ein Trend der sich wahrschein- in der Wertstoffsortierung gibt es viel Anlass für die lich fortsetzen wird. Trotzdem steigt in vielen Berei- Beschäftigten der Branche, sich um die Zukunft ihrer chen der Branche der Arbeitsdruck. Wirtschaftlicher Arbeit zu sorgen. Angst vor Arbeitsplatzverlust paart Wettbewerb einerseits und neue Wünsche einer dienst- sich hier schnell mit Angst vor Überforderung durch leistungsgewöhnten Gesellschaft andererseits führen neue Steuerungs- und Überwachungsaufgaben. Letz- dazu, dass das Leistungsangebot der Abfallbranche – tere sind vor allem für ältere Beschäftigte eine Heraus- insbesondere bei der Entsorgung – komplexer und forderung. Und an Älteren mangelt es nicht: Mit einem aufwendiger wird: So bietet beispielsweise der soge- Altersdurchschnitt von über 45 Jahren belegte die Ent- nannte Vollservice die Möglichkeit, Abfallbehälter von
Entsorgung und Arbeitsschutz 9 einem vereinbarten Behälterstand- ort abholen und wieder dorthin zu- rückstellen zu lassen. Stehen dafür nicht ausreichend Kräfte zur Verfü- gung, steigt die Belastung der Ein- Körperliche Anstrengung zelnen. Während einer Arbeitsschicht ziehen und schieben die Beschäftigten der Stress – ob durch Zeitdruck, Angst Abfallsammlung durchschnittlich oder Überforderung – trifft dann 12 Tonnen Abfall. [1] auf den Belastungsfaktor Nummer 1 in der Branche: körperliche An- strengung. Während einer Arbeits- schicht ziehen und schieben die [1] Quelle: https://www.bg-verkehr.de/redaktion/medien-und-downloads/informationen/themen/mse/ansicht_ziehen-und-schieben-von-abfallsammelbehaelter_webansicht.pdf (abgerufen am 23.06.2021) Beschäftigten der Abfallsammlung durchschnittlich zwölf Tonnen Ab- fall – meist von Hand. Dabei legen Schimmelsporen und andere luft- Handlungsbedarf gibt, zeigt auch sie eine Strecke von etwa vier Kilo- getragene Biostoffe. Mögliche Fol- ein Blick auf den Krankenstand: [2] Quelle: https://www.bkk-dachverband.de/fileadmin/Artikelsystem/Publikationen/2020/Gesundheitsreport_2020/BKK_Gesundheitsreport_2020_web.pdf (abgerufen am 23.06.2021) metern zurück. Lendenwirbelsäu- gen: Schleimhautreizungen oder Der gehörte 2019 mit gut 25 Fehl- le, Schultern und Arme, aber auch sogar chronische Erkrankungen tagen pro Person zu den höchsten die Knie sind überdurchschnittlich der Atemwege. im Land. Viele Beschäftigte der gefordert. Ob solche Belastungen Abfallsammlung scheiden zudem zu Beschwerden oder gar Erkran- Biostoffe, Diesel, Sonne bereits vor dem Erreichen des ge- kungen führen, hängt von verschie- setzlichen Rentenalters aus ihrem denen Faktoren ab. Verstärkende Und wer glaubt, die viele Arbeit an Beruf aus. Effekte durch psychosoziale Be- frischer Luft trage ausschließlich lastungen sind allerdings wahr- zur Gesunderhaltung der Betroffe- Sicherheit und Gesundheit von scheinlich. Fakt ist: Die Branche nen bei, der sei an zwei hoch ak- mehr als 100 000 Beschäftigten hat mehr „Rücken“ als andere. 2019 tuelle Umweltthemen erinnert, die in der sich verändernden Entsor- zählte der BKK-Dachverband rund die Beschäftigten der Entsorgungs- gungsbranche zu erhalten und – 700 Fehltage auf 100 Beschäftig- branche in besonderem Maße be- wo nötig – zu verbessern, ist eine te allein wegen Rückenschmerzen. treffen: Dieselmotoremissionen komplexe Aufgabe. Ein Branchen- Arbeiten rund um das Thema Müll mit ihren teils krebserzeugenden bild • soll helfen, Prioritäten für – vor allem in Zeiten von Biotonne Inhaltsstoffen und ultraviolette die Präventionsarbeit der gesetzli- und Wertstoffsortierung – bedeutet Sonnenstrahlung mit ihrem haut- chen Unfallversicherung zu setzen. auch Belastung durch Gerüche oder schädigenden Potenzial. Dass es Entsorgung und Arbeitsschutz Diese Themen beeinflussen Sicherheit und Gesundheit von Beschäftigten in der Abfallwirtschaft: 1 Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems 2 Demografischer Wandel 3 Fachkräftemangel 4 Arbeitsverdichtung und mehr Verantwortung 5 Schimmelsporen 6 Fehlende Anerkennung 7 Interkulturelle Anforderungen Quelle: DGUV Risikoobservatorium 8 Ultraviolette Strahlung 9 Komplexe Mensch-Maschine-Schnittstellen 10 Sanierungsbedarf (Räume/Ausstattung) 11 Recycling-Technologien Hoher Krankenstand: 12 Autonome Fahrzeuge Die Branche Sammlung, Behandlung 13 Dieselmotoremissionen und Beseitigung von Abfällen gehörte 14 Gerüche 2019 mit gut 25 Fehltagen pro Person zu (Entwicklungen nach Rangfolge) den Branchen mit dem höchsten Kran- kenstand. [2]
10 Pflege und Arbeitsschutz Entsorgung und Arbeitsschutz Es muss sicher und gesund werden, Pflegekraft zu sein* Über der Zukunft der Pflege stehen in Großbuchstaben zwei Worte: demografischer Wandel. Er prägt das Gesicht und die gesellschaftspolitische Wahrnehmung der Branche. Nicht umsonst startete die Bundesregierung bereits im Sommer 2018 mit der Konzertierten Aktion Pflege ein Programm gegen Personalnot. Was viele dabei übersehen: Der demografische Wandel für Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Die Fehlzeiten fordert auch den Arbeitsschutz. Denn viele demogra- in der Pflegebranche scheinen das zu bestätigen: Laut fisch bedingte Entwicklungen gehen zu Lasten von Si- AOK-Angaben fehlt eine Pflegekraft krankheitsbedingt cherheit und Gesundheit der professionell Pflegenden 27,5 Tage im Jahr. Zum Vergleich: Der durchschnittli- – ob ambulant oder stationär. Immer weniger poten- che Krankenstand über alle Branchen liegt mehr als zielle Pflegekräfte müssen immer mehr Pflegebedürf- eine Kalenderwoche unter dieser Zahl. Fast ein Drittel tige versorgen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele der Altenpflege-Fachkräfte geben an, häufig bis an die Pflegekräfte ihren Beruf nach wenigen Jahren wieder Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu gehen. aufgeben. Verantwortlich für diesen Exodus ist nicht zuletzt die oft hohe Arbeitsbelastung. Lange Arbeits- Knochenjob Pflege zeiten und Schichtarbeit bei einer vielerorts dünnen Personaldecke und Fachkräftemangel machen es den Und auch körperliche Anforderungen gehören längst Beschäftigten schwer, Beruf und Familie in Einklang nicht der Vergangenheit an. Pflege ist immer noch zu bringen und in der Freizeit den Akku neu aufzula- Knochenarbeit und bedeutet Belastungen für das Mus- den. Mit Blick auf die großen emotionalen Herausfor- kel-Skelett-System. Die wachsende Zahl übergewich- derungen in der Branche – Umgang mit Verwirrtheit, tiger und pflegeintensiver Menschen verschärft das Depressivität, Krankheit, Sterben und Tod – ist eine Problem. Und das, obwohl entlastende Hilfsmittel wie gute Work-Life-Balance allerdings die Voraussetzung Hebehilfen auf dem Markt verfügbar sind. *Zitat frei nach Franziska Giffey
Pflege und Arbeitsschutz 11 Gefühlte Belastung: Fast ein Drittel der Altenpflegekräfte geben an, häufig bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu gehen. [1] Der Schutz vor Infektionen gehört der Betreuten ist eines davon. Oder ergibt sich unterm Strich das Bild dort, wo kranke und hilfsbedürfti- auch der Anspruch, einer wach- eines schwierigen Berufsfeldes mit ge Menschen betreut werden, zum senden Zahl an Menschen fremder Nachwuchsproblemen, das bei den Tagesgeschäft. Trotzdem sind Pfle- Kulturen und Sprachen gerecht Beschäftigten viel Idealismus und gekräfte von Pandemien, wie die werden zu müssen. Wer in der Belastbarkeit voraussetzt. durch SARS-CoV-2, aber auch von Pflege arbeitet, muss leistungsbe- der Ausbreitung multiresistenter reit, engagiert und lernwillig sein, Mäßige Entlohnung und Erreger besonders betroffen, denn denn lebenslanges Lernen ist auch Nachwuchsprobleme die Sorge um die eigene Gesundheit in dieser Branche ein Muss. Dem- wächst mit der körperlichen Nähe gegenüber stehen begrenzte Ent- Der gesetzlichen Unfallversiche- zum Gegenüber. Hinzu kommen wicklungsmöglichkeiten, mäßige rung liefert ein Branchenbild • gesellschaftliche Phänomene, die und mehrheitlich tarifungebunde- für die kommenden Jahre wichtige [2] Quelle: https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-0043-104693 (abgerufen am 23.06.2021) ihrerseits Folgen für die seelische ne Entlohnung und eine teils man- Hinweise, wo branchenbezogene, Verfassung der Beschäftigten ha- gelhafte gesellschaftliche Wert- maßgeschneiderte Präventionsar- [1] Quelle: https://www.barmer.de/presse/infothek/studien-und-reports/pflegereport (abgerufen am 23.06.2021) ben: Steigende Gewaltbereitschaft schätzung für die Pflegeberufe. So beit ansetzen kann. Pflege und Arbeitsschutz Diese Themen beeinflussen Sicherheit und Gesundheit von Pflegekräften bei der Arbeit: 1 Arbeitsverdichtung und mehr Verantwortung 2 Fachkräftemangel 3 Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems 4 Demografischer Wandel 5 Fehlende Anerkennung 6 Emotionale Anforderungen 7 Körperliche Gewalt Quelle: DGUV Risikoobservatorium 8 Seelische Gewalt 9 Interkulturelle Anforderungen 10 Flexibilisierung von Arbeit 11 Resistenzen bei Desinfektions-/Sterisilisationsmitteln 12 Lebenslanges Lernen Rückenschmerzen: Bei 51 Prozent 13 Resistenzen bei Arzneimitteln der weiblichen Pflegekräfte werden im Laufe ihres Lebens chronische (Entwicklungen nach Rangfolge) Rückenscherzen beobachtet. Bei Pflegern sind es 20 Prozent. [2]
12 Krankenhaus undArbeitsschutz Entsorgung und Arbeitsschutz Zwischen Kraftakt und Keimen: Arbeitsplatz Krankenhaus Die deutsche Krankenhausversorgung braucht den internationalen Vergleich nicht zu scheuen: Sie bietet flächendeckend medizinische Versorgung auf hohem Niveau. Wo das Patientenwohl großgeschrieben wird, sollten sichere und gesunde Arbeitsbedingungen selbstverständlich sein – auch und gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Pandemieerfahrungen. Der Gesundheitssektor ist eine Wachstumsbranche; tendurchsatz, kurze Liegezeiten, Arbeit unter extremem nicht zuletzt profitiert er vom demografischen Wandel. Zeitdruck und Arbeitsplatzunsicherheit. Leidtragende Mit der wachsenden Gruppe Älterer steigt auch die Zahl sind – neben den Erkrankten selbst – ganz wesentlich altersassoziierter Krankheiten und der stationäre Betreu- die Beschäftigten. ungs- und Pflegeaufwand. Die Kehrseite der Medaille: Schon jetzt gibt es deutlich weniger jüngere Beschäf- Herausforderung für Körper und Seele tigte in Krankenhäusern und Kliniken als in den übri- gen Branchen – und dieser Trend wird sich verstärken. Dass die Branche vor Herausforderungen steht, zeigt Zusätzlich haben allein zwischen Anfang April und Ende nicht zuletzt der hohe Krankenstand. Beschäftigte Juli 2020 mehr als 9 000 Pflegekräfte der Branche den in der Kranken- und Altenpflege verzeichnen rund 23 Rücken gekehrt - wahrscheinlich unter dem Eindruck der Fehltage und liegen damit mehr als 50 Prozent über Extrembelastung durch Corona. dem Durchschnitt. Auch wirtschaftliche Restriktionen verändern den Selbst in einer hoch technisierten Umgebung wie dem Arbeitsplatz Krankenhaus. Der Wunsch nach Ausga- Krankenhaus sind körperlich belastende Tätigkeiten benverringerung durch die Kassen einerseits, der nach nach wie vor eine zentrale Quelle für gesundheitliche Ertragssteigerung und Wettbewerbsfähigkeit der Anbie- Beschwerden: Über 80 Prozent der Betroffenen sehen ter andererseits. Konkret bedeutet dies: hoher Patien- Verspannungen und Rückenschmerzen im Zusammen-
Krankenhaus und Arbeitsschutz 13 40%2C9%20%25.&text=Insgesamt%20haben%2079%2C5%20%25%20(,letzten%2012%20Monaten%20Gewalt%20erlebt.) (abgerufen am 24.06.2021) |[2] Quelle: https://www.tk.de/resource/blob/2059766/2ee52f34b8d545eb81ef1f3d87278e0e/gesundheitsreport-2019-data.pdf hang mit ihrer Arbeit. Wo Perso- [1] Quelle: https://www.bgw-online.de/DE/Arbeitssicherheit-Gesundheitsschutz/Grundlagen-Forschung/GPR-Medientypen/Downloads/Studie-Gewalt-Mitteilungen.pdf?__blob=publicationFile#:~:text=Insgesamt%20haben%201.984%20von%204.852,die%20Responserate%20 nalmangel herrscht und die Pati- entenschaft zugleich immer älter, zahlreicher und zudem schwerer wird, leidet das Muskel-Skelett-Sys- tem fast zwangsläufig – und nicht nur das: Die seelischen Herausfor- derungen im Klinikalltag nehmen ebenfalls zu. Mehr als 75 Prozent der Beschäftigten in Krankenhäu- sern erleben inzwischen Gewalt. Auch respektloses Verhalten durch Betreute und deren Angehörige gehört immer mehr zum Tagesge- schäft. In einem Arbeitsbereich, der Körperliche Gewalt: eine enge, teils fast intime Bezie- In einer Befragung gaben 76 Prozent der hung zur „Kundschaft“ voraussetzt Beschäftigten in Krankenhäusern an, und der den Beschäftigten viel Em- innerhalb des vorangegangenen Jahres pathie und Sensibilität abfordert, körperliche Gewalt erlebt zu haben. [1] wiegen solche Entwicklungen be- sonders schwer. Zu alledem addieren sich oft steigen interkulturelle Anforde- wissheit geworden. Dass ein zum schwierige Rahmenbedingungen: rungen an die Beschäftigten an- Wohle Kranker geschaffener Ort steigender Dokumentationsauf- gesichts einer wachsenden Zahl nicht zum Wehe seiner Beschäf- wand, problematische Personal- ausländischer Patientinnen und tigten wird, dazu kann und will und Dienstplanung, Schichtarbeit, Patienten. Medizintourismus und die gesetzliche Unfallversicherung schlecht koordinierte Arbeitsab- Migration können zudem zur Aus- beitragen – allein und im Verbund läufe, laute Arbeitsplätze oder breitung von Erregern beitragen. mit Dritten, von der Gewerbeauf- fehlende Pausenräume. Laut einer aktuellen Metastudie ist sicht bis zum Robert Koch-Institut. in Europa jede vierte geflüchtete Ein Branchenbild • gibt umfang- Ungesunde Globalisierung Person mit resistenten Bakterien reiche Hinweise für die Prävention besiedelt oder infiziert. Die latent der nahen Zukunft. Und nicht zuletzt: Globalisierung immer präsente Angst vor einer findet auch im Krankenhaus statt! Infizierung mit gefährlichen Kei- Die Zuwanderung ausländischer men bei der Arbeit ist durch die Fachkräfte kann die Personalnot in rasante und globale Verbreitung der Branche lindern. Gleichzeitig von SARS-CoV-2 zur traurigen Ge- Krankenhaus und Arbeitsschutz Diese Themen beeinflussen Sicherheit und Gesundheit von Beschäftigten in Krankenhäusern und Kliniken: 1 Arbeitsverdichtung und mehr Verantwortung 2 Fachkräftemangel 23 Fehltage 3 4 Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems Demografischer Wandel 15 im Jahr Quelle: DGUV Risikoobservatorium 5 Körperliche Gewalt 6 Emotionale Anforderungen 7 Interkulturelle Anforderungen 8 Sensibilisierende Stoffe 9 Migration von Krankheitserregern Fehltage: 10 Resistenzen bei Desinfektions-/Sterilisationsmitteln Beschäftigte in der Kranken- und 11 Resistenzen bei Arzneimitteln Altenpflege verzeichnen rund 23 Fehltage (Entwicklungen nach Rangfolge) im Jahr und liegen damit mehr als 50 Prozent über dem Durchschnitt. [2]
14 Fleischwirtschaft und Arbeitsschutz Entsorgung und Arbeitsschutz Wenn’s um die Wurst geht: Arbeitsschutz in der Fleischwirtschaft »Wir haben über die Situation in der Fleischindustrie erschreckende Nachrichten bekommen«, sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich einer Aktuellen Stunde im Bundestag im Mai 2020. Ein Blick auf die Branche zeigt: Prekäre Arbeitsbedingungen und Werkverträge in großer Zahl sind nicht die einzigen Herausforderungen, wenn es um Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten in der Fleischwirtschaft geht. Auch wenn die rasante Ausbreitung des Corona-Virus in der Fleischwirtschaft in den Hintergrund gedrängt. der Fleischbranche den deutschen Appetit auf Fleisch Viele verknüpfen den Wirtschaftszweig heute mit vorübergehend gedämpft haben mag: Fleisch ist und „Schmutzarbeit“, obwohl genau die vom eigenen bleibt ein beliebtes Lebensmittel. Trotz wachsender Konsumverhalten befeuert wird. Da wundert es nicht, Lobby für eine vegetarische oder zumindest fleischarme dass der Nachwuchs fehlt. Auszubildende wurden und Ernährung sinkt der Fleischkonsum in Deutschland nur werden immer weniger. Zugleich hat sich die Zahl der langsam. 2020 lag der Pro-Kopf-Verbrauch immer noch 55+-Jährigen zwischen 2014 und 2020 um knapp bei 57 kg. Hinzu kommt, dass Fleisch- und Wurstwaren 20 Prozent erhöht. Ein Trend, der auch für die verblie- inzwischen besonders häufig im Discounter über das benen Handwerksbetriebe gilt: Hier sind inzwischen Band gehen. Der so entstehende Preisdruck bleibt etwa zwei Drittel der Beschäftigten älter als 50 Jahre. nicht ohne Folgen für die Beschäftigtenstruktur in der Branche: immer mehr Fachfremde oder gar Ungelernte, Neben dem bereits erwähnten Negativ-Image der immer mehr Menschen aus dem Ausland mit Werkver- Branche erschweren unterdurchschnittliche Verdienst- trägen. möglichkeiten die Azubi-Suche im Schlachterei- und Fleischverarbeitungsgewerbe. Bescheidenen 27 876 Euro Gleichzeitig hat die fortschreitende Automatisierung Bruttojahresverdienst (Stand 2020) stehen erhebliche kör- das Handwerk und sein bodenständiges Image in perliche und psychische Arbeitsbelastungen gegenüber.
Fleischwirtschaft und Arbeitsschutz 15 Schwerstarbeit mit Traumapotenzial Unfallträchtig: 750 Millionen Tiere pro Jahr – das 2019 gab es in der ist die Schlachtbilanz in Deutsch- Fleischwirtschaft 13 255 land: minütlich 1 300 Vögel, 110 meldepflichtige Schweine und 7 Rinder. An den Arbeitsunfälle. [1] Schlacht- und Zerlegebahnen wird taktgebunden gearbeitet, meist im Schichtbetrieb. Zeitdruck ist ein [2] Quelle: Friedrichsen, J.; Huck, S.: Nicht-Orte der Fleischindustrie. Fakten und Hintergründe zum Schlachten in Deutschland., Vol. 3, (WZB-EOC Schriften Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin 2018 permanenter Begleiter. Körper- liche und psychische Ermüdung sind vorprogrammiert, Verstöße gegen Tierrechte und ergo mehr nissen und einer eigenen Sicher- psychischer Stress teils die Folge. Ein Teil des Problems dürfte heitskultur – zwei Aspekte also, Tatsächlich haben Beschäftigte in die bisher hohe Zahl von Werk- die das Verstehen und Umsetzen Schlachthöfen – besonders in der vertragsbeschäftigten gewesen von Präventionsbotschaften nicht Schlachtung – ein erhöhtes Risiko sein – immerhin 42 Prozent im erleichtern dürften. [1] Quelle: https://www-p1.bgn.de/?storage=3&identifier=%2F656335&eID=sixomc_filecontent&hmac=662df724290670c5bbdc6c120543e702f42d917d (abgerufen am 23.06.2021) für posttraumatische Belastungs Jahr 2017. Die zuständige Berufs- störungen. Aber auch der Körper ist genossenschaft Nahrungsmittel Mit überdurchschnittlichen 5,3 gefordert: Zwangshaltungen – vor- und Gastgewerbe startete bereits Prozent im Jahr 2020 – gegenüber gebeugte Oberkörper an den Bän- lange vor Corona und den dadurch einem bundesweiten Wert von dern –, sich ständig wiederholende, offenbarten Missständen in der 4,1 Prozent – spricht nicht zuletzt einseitig belastende Bewegungen, Branche eine Schwerpunktaktion der Krankenstand eine deutliche Hand-Arm-Schwingungen durch für Beschäftigte unter Werkvertrag. Sprache: Sicheres und gesundes handgehaltene Maschinen wie Zer- Erst der mediale Druck in der Arbeiten in der Fleischwirtschaft legesägen oder elektrische Messer Krise hat schließlich auch den ist (noch) keine Selbstverständ- und Kältearbeit sind verbreitete Gesetzgeber auf den Plan gerufen: lichkeit. Die gesetzliche Unfall- Gesundheitsrisiken in der Branche. Ab dem 1. Januar 2021 und für versicherung kann an vielen Scharfe Werkzeuge und gefährliche Betriebe ab 50 Beschäftigte gilt bei Stellen für Verbesserung sorgen Maschinen sind zudem Ursachen der Schlachtung, Zerlegung und und tut dies bereits. Will man die für Unfälle, und auf verunreinigten Fleischverarbeitung ein sogenann- allenthalben belastenden Struk- Böden wird immer noch viel gestol- tes Werkvertrag-Verbot. turen und Rahmenbedingungen pert und gestürzt. Die Fleischwirt- der Branche ändern, bedarf es schaft zählt jährlich mehr als 13 000 Gute Nachrichten also für den allerdings einer gesamtgesell- meldepflichtige Arbeitsunfälle; 55,5 Arbeitsschutz, doch es bleibt noch schaftlichen Anstrengung, die je 1 000 Vollarbeitende waren das viel zu tun: Mehr als 30 Prozent über Gesetze und Bußgelder 2019 und damit mehr als doppelt so der regulär Beschäftigten sind deutlich hinausgeht. Handlungs- viele wie im branchenübergreifen- ausländischer Herkunft mit teils schwerpunkte beschreibt ein den Durchschnitt. eingeschränkten Deutschkennt- ausführliches Branchenbild. • Tierisch viel Arbeit: Fleischwirtschaft und Arbeitsschutz Minütlich werden in Deutschland Diese Themen beeinflussen Sicherheit und Gesundheit 1 300 Vögel, 110 Schweine von Beschäftigten in der Fleischwirtschaft und 7 Rinder geschlachtet. [2] 1 Fachkräftemangel 2 Interkulturelle Anforderungen 3 Arbeitsplatzunsicherheit und prekäre Arbeit Quelle: DGUV Risikoobservatorium 4 Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems 5 Fehlende Anerkennung 6 Arbeitsverdichtung und mehr Verantwortung 7 Demografischer Wandel 8 Lärm 9 Thermische Belastung (Entwicklungen nach Rangfolge)
16 Energie- undund Entsorgung Wasserwirtschaft Arbeitsschutz und Arbeitsschutz Energie, Wasser, Arbeitsschutz: garantiert nachhaltig? Erneuerbare Energien gelten als Garant für nachhaltiges Wirtschaften und Klimaschutz. Wie aber steht es um den Schutz derer, die die Mammutaufgabe der Energiewende in der Energie- und Wasserwirtschaft zu bewältigen haben? Zwischen Smart Grid, grünem Wasserstoff und Extremwettern muss sich auch der Arbeitsschutz für die Branche neu positionieren, um nachhaltig wirken zu können. Deutschland befindet sich mitten in der Energiewende: Windkraft, Photovoltaik und Elektromobilität revolutio- Bis Ende 2022 soll der Ausstieg aus der Kernenergie nieren den Energiemarkt und die Arbeit in der Branche. geschafft sein, bis Ende 2038 der aus der Kohlever- Parallel treibt die Digitalisierung den Aus- und Umbau stromung. Damit leistet das Land seinen Beitrag zum der bestehenden Verteilnetze voran. Smart Grid oder Pariser Klimaabkommen, das die Erderwärmung auf Smart Meter stehen stellvertretend für intelligente deutlich unter zwei Grad Celsius begrenzen will. Dane- Lösungen innerhalb einer hochkomplexen, digitalen ben stehen Gewässerqualität und Wassermanagement Infrastruktur. Sie garantieren maximale Energieeffizi- auf der Umweltagenda, denn Schadstoffeinträge, enz und Versorgungssicherheit via Kommunikations-, Flächenversiegelung, Trockenperioden und Starkregen- Mess-, Regel- und Automatisierungstechnik. Auch die ereignisse bedrohen die Ressource Wasser. Wasserwirtschaft profitiert von Vernetzung und intelli- genter Sensorik; Wasserverluste oder Qualitätsschwan- Diese politischen Ziele bedeuten einen nie dagewesenen kungen lassen sich so zum Beispiel zeitnah erkennen Transformationsprozess für die Energie- und Wasser- und beheben. wirtschaft. Und sie stellen enorme Anforderungen an ihre Beschäftigten: Neue, hoch innovative Technologien Dies sind mehr als Veränderungen; es sind Techno- entstehen: Power-to-X-Technologien, die Strom aus logiesprünge, die Beschäftigte nicht nur mitmachen, erneuerbaren Energien in lagerfähige Energieträger sondern managen und umsetzen müssen, bis sich wandeln, feste, flüssige und gasförmige Biomassen, daraus irgendwann Arbeitserleichterungen ergeben.
Energie- und Wasserwirtschaft und Arbeitsschutz 17 Gleichzeitig steigt die Verletzlichkeit die Hälfte der Beschäftigten häufig > 40 % der digital vernetzten Systeme für Interaktionsarbeit – mit allen Cyberkriminalität und erhöht den emotionalen und körperlichen Druck auf alle, deren Arbeitsplatz Belastungen, die Gesprächs- und von funktionierenden Netzwerken Menschenführung bedeuten kön- abhängt. Knapp 80 Prozent der nen, vor allem unter Erfolgsdruck. Geschäftsführungen und Vorstände von Stadtwerken und Energieversor- Die vom politischen Zeitplan gern in Deutschland, Österreich und bestimmte Transformation der der Schweiz stuften 2020 das Thema Branche droht allerdings ausge- Cybersecurity als (sehr) relevant für bremst zu werden. Denn Beleg- ihre Branche ein. schaften altern und Fachkräfte fehlen, wie fast überall. Als Risiko Neu zu lernen und altbekannt werten das in einer Umfrage unter Stadtwerken über 40 Prozent der Fakt ist: Tätigkeiten und Qualifika- befragten Verantwortlichen. tionen wandeln sich, Bereitschaft zum lebenslangen Lernen und Und ganz nebenbei gibt es auch digitale Kompetenz werden zu noch viel „Altbekanntes“, das die Risiko Fachkräftemangel Schlüsselqualifikationen ebenso Sicherheit und Gesundheit der Über 40 Prozent der befragten Verantwort- wie interdisziplinäres und ganzheit- Beschäftigten bedroht: Abstürze, lichen von Stadtwerken werten den Mangel an [1] Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1180527/umfrage/relevante-technologien-der-digitalen-transformation-fuer-stadtwerke-in-deutschland/ (abger. am 16.04.2021) liches Denken. Konkurrenz wächst. Explosionen, Brände, Erstickung Fachkräften als Risiko für das Netzgeschäft. [1] Unsicherheit, Überforderung und und Vergiftungen, Stromunfälle, Stress nehmen potenziell zu. Für Mikroorganismen, Asbestfasern, eine derart im Umbruch begriffene UV-Strahlung, Hitze und Kälte, zu haben und auch möglichen Branche wäre es zweifellos geboten, aber auch Lärm oder Muskel- Wechselwirkungen Aufmerksam- Aufmerksamkeit und Energie auf Skelett-Belastungen. Etliche dieser keit zu schenken – nicht zuletzt brancheninterne Bedarfe und Faktoren gewinnen gar an Bedeu- psychischer Druck kann die Prozesse zu verwenden. Indes ist tung: Wenn beispielweise vermehrt Effekte körperlicher Belastungen Nabelschau keine Option. Denn die Solar- und Windkraftanlagen verstärken. Wo Entwicklungen so Veränderungen im Energie- wie im entstehen oder Wasserleitungen dynamisch verlaufen und Verände- Wassersektor verlangen Austausch, und Kanäle saniert werden, nimmt rungen so disruptiv wirken wie in Abstimmung und Zusammenarbeit Außenarbeit zu und damit die der Energie- und Wasserwirtschaft, auf allen Ebenen: mit Politik, UV-Belastung der betroffenen ist der Arbeitsschutz gut beraten, Wirtschaft, Wissenschaft, Umwelt- Beschäftigten. das technologische Geschehen verbänden, Versicherungen, eng zu begleiten. Ansatzpunkte Wetterdiensten, und nicht zuletzt Für den Arbeitsschutz und die für zukunftsorientierte und nach- [2] Quelle: https://www.pwc.de/de/energiewirtschaft/stadtwerke-2030.pdf (abgerufen am 04.11.2020) mit der Konkurrenz und der eigenen gesetzliche Unfallversicherung gilt haltige Prävention beschreibt ein Kundschaft. Tatsächlich leistet fast es, neue wie alte Risiken im Blick detailliertes Branchenbild. • Energie- und Wasserwirtschaft und Arbeitsschutz Diese Themen beeinflussen Sicherheit und Gesundheit von Beschäftigten in der Energie- und Wasserwirtschaft. 1 Demografischer Wandel Quelle: DGUV Risikoobservatorium 2 Fachkräftemangel 3 Technologien für erneuerbare Energien 4 Veränderung des Energienetzes 5 Ultraviolette Strahlung 6 Naturkatastrophen und Extremwetter Sensible Netze 7 Cyberangriffe Knapp 80 Prozent der Geschäftsführungen und Vorstände (Entwicklungen nach Rangfolge) von Stadtwerken und Energieversorgern stuften 2020 das Thema Cybersecurity als (sehr) relevant für ihre Branche ein. [2]
18 Elektroindustrie und Arbeitsschutz Entsorgung und Arbeitsschutz Schöpferkraft mit Nebenwirkung – Arbeitsschutz in der Elektroindustrie Industrie 4.0 ist nichts ohne sie: die Produkte und Technologien der elektrotechnischen Industrie. Und die Digitalisierung verschiebt die Grenzen des Machbaren weiter. Die Branche dreht ein großes Innovationsrad, unter das der Arbeitsschutz in Teilen zu geraten scheint. Auch, weil die selbst geschaffenen Neuerungen nicht zuletzt die eigenen Beschäftigten fordern. Im Jahr 2020 zählte die mittelständisch geprägte borierende Roboter, Cobots genannt, selbstlernende Elektroindustrie beinahe 900 000 Beschäftigte und Maschinen oder andere auf künstlicher Intelligenz (KI) erzielte einen Umsatz von 182 Milliarden Euro. Damit basierende Systeme – alles baut auf die buchstäbliche war und ist sie nach dem Maschinenbau der beschäfti- Schöpferkraft der Branche. Auch die (CO2-freundliche) gungsstärkste Industriezweig. Vor allem aber ist sie eine Zukunft der Mobilität setzt auf die Elektroindustrie. zentrale Lieferantin, ohne die Wertschöpfung in vielen Denn Deutschland will Leitmarkt für Elektromobilität Bereichen undenkbar wäre: von der Medizin- und werden. Daneben stehen immer raffiniertere Assis- Sicherheitstechnik bis zur Luft- und Raumfahrt. Dabei tenzsysteme und autonomes Fahren ganz oben auf der spielen neuartige Produkte und Systeme schon jetzt Agenda. Und wieder gilt: Kreative Elektronik, Mikro- fast die Hälfte des Umsatzes ein. Jede dritte Innovation elektronik und Software machen es möglich. des verarbeitenden Gewerbes basiert auf Lösungen der Elektroindustrie. Und der Innovationsdruck steigt. Auf Innovationen in Rekordzeit dem Weg zur Industrie 4.0 ist gewünscht, was der tech- nologische Fortschritt erlaubt: modulare Produktion, Doch ein Industriezweig ist auf Dauer nur so innovativ, 5G-taugliche Systeme für Echtzeitanwendungen, geeig- dynamisch und flexibel wie seine Beschäftigten. Und nete Netzwerk- und Schnittstellenstandards für die für eben die droht das disruptive Potenzial der eigenen datenbasierte Ferndiagnose und -wartung, leistungs- Branche im ursprünglichen Wortsinn „zerstörend“ zu fähige Elektronik für die Big Data-Auswertung, kolla- wirken: Wer nicht auf der Strecke bleiben will, muss
Elektroindustrie und Arbeitsschutz 19 umlernen, neu lernen und das Wettbewerbsfähigkeit des Landes. lebenslang. Das erzeugt Druck. Vor allem IT-Sicherheitsexpertise Der wiederum paart sich mit ist gefragt: 70 Prozent der Unter- Zeitmangel, denn immer kürzere nehmen haben Schwierigkeiten, IT- Innovationszyklen lassen wenig Sicherheitsfachleute zu rekrutieren. Raum für Entwicklung, Design und Und auch der VDE warnt: In den Produktion. Hinzu kommen in der kommenden zehn Jahren würden exportorientierten Elektrobranche über 100 000 E-Ingenieurskräfte internationaler Konkurrenzdruck fehlen. und damit ein noch lauterer Ruf nach Innovationen in Rekordzeit. Geister der Industrie 4.0 So viel Druck bedeutet Stress für die Wo immer weniger Menschen Beschäftigten und im ungünstigsten immer komplexere Aufgaben Fall steigende Fehlerraten oder gar in immer kürzerer Zeit erfüllen Unfälle. Das Gefühl, abgehängt zu müssen, lassen gesundheitliche sein und nicht zu genügen, kann Folgen nicht auf sich warten: In zusätzlich belasten und demotivie- der Metall- und Elektroindustrie Mangelware IT-Expertise ren. Und es scheint, als sei dies erst nehmen psychische Belastungen 70 Prozent der Unternehmen der Anfang: Die Elektroindustrie und Erkrankungen zu. Über 20 haben Schwierigkeiten, IT-Sicher- selbst schätzt, dass die Chancen der Prozent der Beschäftigten gehen heitsfachleute zu rekrutieren. [1] Digitalisierung bei Weitem nicht aus gesundheitlichen Gründen ausgeschöpft sind. Kontinuierliche vorzeitig in den Ruhestand. Hier und zielgruppengerechte Weiterbil- macht sich wohl auch ein anderer dungsangebote, so lautet folglich Effekt bemerkbar: Die Geister, die [2] Qelle: https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/innovation/innovationsbarometer/++co++10b323c8-0ad2-11ea-a165-525400f67940 (abgerufen am 23.6.2021) das Gebot der Stunde oder besser die Branche rief, wird sie nun selbst 66 Prozent der Befragten des ver.di- der nächsten Jahre. Dabei gilt es, nicht los. Neue Technologien und Innovationsbarometers empfanden technologisches Spezialwissen Konzepte der Industrie 4.0 – von KI bereits 2019 als Bedrohung für ebenso zu vermitteln wie Hilfe zur Cobots bis mobile Arbeit – werden den Arbeitsplatz; trotzdem hält Selbsthilfe: Persönlichkeitsent- nicht nur in der Elektroindustrie der Zentralverband ZVEI an ihrer wicklung, Selbstorganisation oder (mit)erschaffen, sondern auch von branchenweiten Einführung fest. Resilienz sind geeignet, Stress, ihr genutzt und rufen dort, wie Unterm Strich gilt: Ob Safety & Überforderung und Ängste zu andernorts, den Arbeitsschutz auf Security by Design, Normungs- [1] Quelle: https://www.vdi.de/ueber-uns/presse/publikationen/details/ingenieurmonitor-2019iv (abgerufen am 23.6.2021) begrenzen – auch am Arbeitsplatz. den Plan. Die sichere und intuitive arbeit oder Engagement in der Qualifizierungsangebote sind auch Interaktion zwischen Mensch Regelsetzung, jede Investition in deshalb essenziell, weil dem Sektor und Maschine über ergonomische sichere und gesunde Technologien Fachkräfte fehlen – kein singuläres Schnittstellen ist dafür nur ein dient auch dem Arbeitsschutz der Problem, aber ein gravierendes, Beispiel. Auch die mit Branchen- eigenen Belegschaften. Mehr dazu betrachtet man die Bedeutung der Knowhow entfesselte KI macht in einem ausführlichen Branchen- Branche für die technologische nicht halt vor den eigenen Leuten. bild. • Elektroindustrie und Arbeitsschutz Diese Themen beeinflussen Sicherheit 66 % und Gesundheit von Beschäftigten in der elektrotechnischen Industrie Quelle: DGUV Risikoobservatorium 1 Arbeitsverdichtung und mehr Verantwortung 2 Fachkräftemangel 3 Komplexe Mensch-Maschine-Schnittstellen Konkurrenz durch 4 Informationstechnik und Automatisierung Künstliche Intelligenz 5 Mobilität/Verkehrsdichte 66 Prozent der Befragten des 6 Robotik und künstliche Intelligenz ver.di-Innovationsbaro- 7 Autonome Fahrzeuge meters empfanden KI bereits (Entwicklungen nach Rangfolge) 2019 als Bedrohung für den Arbeitsplatz. [2]
20 Hochbau undund Entsorgung Arbeitsschutz Arbeitsschutz Auf Sicherheit gebaut? Arbeitsschutz im Hochbau Kerle, die malochen, Kippe und Bierchen zwischendurch – und das im Sommer gerne mal »oben ohne«. Soweit die tradierten, eher schlichten Klischees des »Bauarbeiters«. Aber was bedeutet Arbeit in der Baubranche im 21. Jahrhundert wirklich? Welche Herausforderungen und Risiken warten auf die Beschäftigten? Und wo ist der Arbeitsschutz gefordert? Die deutsche Bauwirtschaft läuft rund: Im Juni 2020 hat Anforderungen entsteht so schnell ein Teufelskreis: der Umsatz im Bauhauptgewerbe um 11 Prozent gegen- Ältere – der Anteil der 50+-Jährigen betrug 2017 bereits über dem gleichen Zeitpunkt 2019 zugelegt, so das Sta- 31,4 Prozent – verkraften Schwerarbeit und Zwangshal- tistische Bundesamt. Die Zahl der Beschäftigten stieg tungen schlechter und fallen schneller aus. Gleichzeitig um 1,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Dabei wirkt ein von »Plackerei«, »Dreck« und »Lärm« gepräg- spielt der Hochbau eine dominierende Rolle: Im Jahr tes Branchenimage abschreckend auf junge Menschen. 2019 machte er mehr als 80 Prozent des Bauvolumens Beides verschärft die Personalsituation. aus. Gute Voraussetzungen also für eine Branche, die – so könnte man meinen – über ausreichend Ressourcen Die Branche reagiert und beschäftigt eine wachsende verfügt, um für die Sicherheit und Gesundheit ihrer Zahl ausländischer Kräfte: Ihr Anteil im Hochbau lag Beschäftigten angemessen zu sorgen. Ein Blick auf die 2019 bereits bei überdurchschnittlichen 30 Prozent – Arbeitsbedingungen, Gefährdungen und Belastungen im gefahrenreichen Bausektor durchaus eine Heraus- im Hochbau lässt Zweifel aufkommen. forderung für den Arbeitsschutz, denn Sprachbarrieren und eine andere Sicherheitskultur können gesundes Teufelskreis Fachkräftemangel Arbeiten für alle erschweren. Da stellt sich die Frage, ob nicht auch eine höhere Frauenquote auf dem Bau – 2019 Wie überall setzen Fachkräftemangel, Nachwuchssor- lag sie bei nur 1,3 Prozent – zu Personalgewinnung gen und älter werdende Belegschaften der Branche zu. und Prävention gleichermaßen beitragen kann. Doch Im Hinblick auf die oft immer noch hohen körperlichen der Druck steigt nicht allein, weil Arbeitskräfte
Hochbau und Arbeitsschutz 21 fehlen. Der Wettbewerb in der Diversität am Bau: Branche ist groß, vor allem mit Der Anteil ausländischer europäischen Entsendebetrieben, Arbeitskräfte im Hochbau die Mindestlohn zahlen und von lag 2019 bei 30 Prozent. [1] niedrigen Sozialabgaben in den 30 % Herkunftsländern profitieren. 2019 betraf das immerhin fast 10 Prozent aller Beschäftigten im Bauhauptge- werbe, eine Zahl, die sich seit der Finanzkrise mehr als verdoppelt hat. Der Wettbewerb geht nicht nur zu Lasten der Gehälter; er hat auch immer öfter Termin- und Zeitdruck zur Folge, was bereits 2018 die Hälfte aller Beschäftigten im Bausektor als psychisch belastend wahrnahmen. Das gilt auch in lei- tenden Funktionen, wo zusätzlich vibrations- oder gefahrstoffarme Verständnis für Gefährdungspoten- die Verantwortungslast wächst. Arbeitsverfahren und -geräte, ziale fördern und Vorteile gelebter Nicht zuletzt haben SARS-CoV-2 Ersatzstoffe oder Persönliche Prävention greifbar machen – für und die damit verknüpfte Unsicher- Schutzausrüstung (PSA), das Arbeitgeber wie Beschäftigte. heit – gesundheitlich wie wirtschaft- Angebot für die Praxis ist groß. lich – den Stress für alle erhöht … mit Warum es in der Branche wenig Und natürlich wird das Prä- potenziell krankmachenden Folgen Beachtung und Einsatz findet, ventionsangebot erweitert und für Körper und Geist. darüber lässt sich nur spekulieren. optimiert: Abbruchroboter oder Wird der wirtschaftliche Vorteil intelligente PSA zum Schutz [1] Quelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Jahrbuch/jb-arbeitsmarkt.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 23.06.2021) Kombinationsbelastungen über die Sicherheit und Gesundheit vor Gefahrstoffen sind nur zwei der Beschäftigten gestellt? Fehlt es Beispiele, wie das zukünftig Was allerdings den Hochbau beson- an ausreichend Information und/ geschehen kann. Viele weitere Bei- ders auszeichnet, lässt sich unter oder Verständnis? Vor allem hier spiele und Ansatzpunkte für den dem Begriff »Kombinationsbelas- kann der Arbeitsschutz ansetzen: Arbeitsschutz der nahen Zukunft tungen« zusammenfassen. Die mit niederschwelligen, zielgrup- finden sich in einem ausführlichen [2] Quelle: https://zeitschriften.bgbau.de/BG_BAU_aktuell_03_2018/html5.html#/20 (abgerufen am 23.06.2021) zuvor beschriebenen Belastungsfak- pengeeigneten Informationen Branchenbild. • toren treffen auf zahlreiche, altbe- und Medien, die Bewusstsein und kannte, branchentypische Risiken, denen das Baugewerbe nicht Herr zu werden scheint: Muskel-Skelett- Belastungen durch schwere Ge- Hochbau und Arbeitsschutz wichte, Zwangshaltungen und Diese Themen beeinflussen Sicherheit und Schwingungen, gehörschädigender Gesundheit von Beschäftigten im Hochbau Lärm im Umgang mit Maschinen und Geräten, Hautschäden durch 1 Interkulturelle Anforderungen ultraviolette Sonnenstrahlung, 2 Arbeitsverdichtung und mehr Verantwortung körperliche Strapazen durch Arbeit 3 Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems in Hitze und Kälte und vor allem 4 Lärm eine lange Liste gesundheitsgefähr- 5 Ultraviolette Strahlung dender Gefahrstoffe – viele davon 6 Demografischer Wandel 7 Kanzerogene und mutagene Stoffe krebserzeugend – die durch den 8 Schwerlösliche Stäube Trend zur Bestandssanierung und Quelle: DGUV Risikoobservatorium 9 Künstliche Mineralfasern -modernisierung an Bedeutung 10 Epoxidharze gewinnen. 11 Dieselmotoremissionen Psychische Belastung: 12 Vibrationen Termin- und Zeitdruck Ein Blick in den Instrumentenkoffer 13 Thermische Exposition nehmen ungefähr der Prävention macht jedoch deut- 14 Mobilitätsanforderungen die Hälfte aller lich: Für das Gros dieser Belas- 15 Sanierungsbedarf (Räume, Ausstattung) Betroffenen in der Bau- tungen existieren seit Langem (Entwicklungen nach Rangfolge) branche als psychisch Schutzmaßnahmen. Ob lärm-, belastend wahr. [2]
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