DER LANGE WEG ZUR TEILHABE - Anlaufstelle für europäische Roma - Konfliktintervention gegen Antiziganismus - Amaro Foro eV

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DER LANGE WEG
ZUR TEILHABE

                       Anlaufstelle für
                       europäische Roma –
                       Konfliktintervention
                       gegen Antiziganismus

   Gefördert von der
INHALT
Über das Projekt                                   04
Einführung                                         06
Situation in Deutschland, insbesondere in Berlin   08
Anliegen in der Anlaufstelle                       10
    Aufsuchende Arbeit                             10
    Beratung und Begleitung                        12
Statistik aus der Beratungsarbeit                  16
Fazit & Ausblick                                   18
Fallbeispiele                                      20
Pressemitteilungen                                 23
Beratungsangebote in Berlin                        28
ÜBER UNS

Amaro Foro e. V. (»Unsere Stadt«) ist die Berliner Gliederung
von Amaro Drom e. V. und ein Verein von jungen Rom*nja
und Nicht-Rom*nja mit dem Ziel, jungen Menschen durch
Empower­ment, Mobilisierung, Selbstorganisation und Parti-
zipation Raum zu schaffen. Der Verein unterstützt eine Jugend-
gruppe und betreut ein Kinderprogramm, fördert Bildung und        3

Weiterbildung von jungen Rom*nja, engagiert sich in Kultur-
und Community-Building-Projekten sowie an Berliner Schu-
len und beteiligte sich von 2010 bis 2012 unter Trägerschaft
des Bundesverbandes Amaro Drom e. V. an der Berliner »Mo-
bile Beratungsstelle für europäische Wanderarbeiter/-innen
und Roma – Konfliktintervention gegen Antiziganismus«. Seit
2013 ist das Projekt als »Anlaufstelle für europäische Roma –
Konfliktintervention gegen Antiziganismus« in der Träger-
schaft von Amaro Foro e. V. Seit 2014 dokumentiert der Verein
systematisch antiziganistisch motivierte Vorfälle in Berlin und
unterstützt Betroffene von Diskriminierung.
Amaro Foro e. V. ist Mitglied im Jugendbund djo – Deutscher
Regenbogen Landesverband Berlin e. V., der als anerkannter
Träger der Jugendhilfe und als professionelle Organisation im
Bereich »Hilfen zur Erziehung« weitere Unterstützung und die
Qualitätssicherung gewährleistet, außerdem im Migrationsrat
Berlin-Brandenburg sowie in diversen Fachrunden und Gremien.
ÜBER DAS
    PROJEKT

    Obwohl die Statistik einen Zuwachs an abgewanderten                                           Das Projekt ist eine Antwort auf den prekären sozio-
    bulgarischen und rumänischen Staatsbürger*innen                                               ökonomischen Status eines Teils der rumänischen
    verzeichnet,1 bleiben diese immer noch eine der                                               und bulgarischen Staatsbürger*innen in Berlin und
    größten Zuwanderungsgruppen in Deutschland und                                                damit verbundene Schwierigkeiten in verschiedenen
    in der medialen und der politischen Debatte domi-                                             Lebensbereichen. Im Lauf der Jahre hat sich das Pro-
    niert das »Problem« der EU-Zuwanderung. Die Aus-                                              jekt zu einem festen und vielerorts geschätzten Be-
    wirkungen dieser Debatten sind im Alltag der Men-                                             standteil der Beratungslandschaft in Berlin entwi-
    schen aus beiden Ländern deutlich zu sehen. Nach                                              ckelt. Die Arbeit der Anlaufstelle wird seit 2016 zu-
    wie vor besteht ein besonderer Unterstützungsbedarf                                           sätzlich aus Mitteln des Europäischen Hilfsfonds für
    für viele Menschen aus diesem Personenkreis.                                                  die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP)
         Viele Familien aus den beiden Ländern gehören                                            durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
    zur Minderheit der Rom*nja und wollen am Leben                                                les (BMAS) gefördert.
    in Berlin teilhaben. Aufgrund der multiplen Stigma-
    tisierung und daraus resultierenden erschwerten Zu-                                           Das Projekt fördert die gesellschaftliche Teilhabe und
    gängen zu den gesellschaftlichen Regelstrukturen sind                                         setzt sich für die Prävention von Ausgrenzung und
    die primäre Zielgruppe der »Anlaufstelle für europä-                                          für Chancengerechtigkeit ein. Durch die Förderung
4   ische Roma« (im Folgenden »Anlaufstelle« genannt)                                             einer wenig beachteten und benachteiligten Gruppe,
    Rom*nja, wobei auch zahlreiche Nicht-Rom*nja aus                                              die Rom*nja leider immer noch darstellen, soll kei-
    den beiden Ländern die Angebote nutzten. Dabei ori-                                           ne erneute Segregation und Spezialbehandlung ent-
    entiert sich die Anlaufstelle am Bedarf der Menschen                                          stehen, vielmehr soll das Projekt eine Brückenfunk-
    und fungiert als Brücke zwischen bereits bestehen-                                            tion zu den Regelangeboten einnehmen. Durch Auf-
    den Angeboten und den Selbsthilfepotenzialen der                                              suchende Arbeit, niedrigschwellige Beratung und
    Zielgruppe. Die Angebote des Projektes sind die Be-                                           Begleitungen mit Sprachmittlung zielt das Projekt
    ratung, insbesondere zu Anliegen rund um Wohnen,                                              langfristig auf die Erschließung individueller Res-
    Arbeit, Bildung, Gesundheit und finanzielle Situation,                                        sourcen der Menschen, die es bisher von selbst nicht
    Begleitungen mit Sprachmittlung und Intervention                                              geschafft haben, in die Regelstrukturen zu finden.
    im öffentlichen Raum in den Bezirken Pankow, Trep-                                            Die niedrigschwellige Beratung ermöglicht es Men-
    tow-Köpenick, Tempelhof-Schöneberg, Steglitz-Zeh-                                             schen, über ihre Rechte als EU-Bürger*innen auf-
    lendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinickendorf                                            geklärt zu werden und selbstbewusst von ihnen Ge-
    und Spandau.                                                                                  brauch zu machen. Die Selbsthilfepotenziale werden
                                                                                                  in der Beratung ausgearbeitet und es werden Strategi-
    Die Aufteilung in Bezirke regelt die Zuständigkeit bei                                        en entwickelt, diese gezielt zu stärken und zu nutzen.
    Interventionen an Brennpunkten und in schwierigen
    Situationen und legt konkrete Ansprechpartner*innen                                           Aus den Bedarfen und Erfahrungen ergaben sich im
    für die Bezirke und Bürger*innen fest. Die Anlauf-                                            Rahmen des Projektes drei Handlungsfelder.
    stelle hält sich bei der Aufsuchenden Arbeit an die                                               Durch Aufsuchende Arbeit werden Menschen aus
    Aufteilung, die aber nicht für die offenen Beratungs-                                         der Zielgruppe erreicht, die bisher nicht oder nicht aus-
    stunden gilt und bei Menschen ohne einwohneramt-                                              reichend über Unterstützungsangebote informiert sind.
    liche Anmeldung nicht möglich ist. Dadurch beglei-                                            Das Projekt übernimmt bei Konflikten im Stadtraum
    ten Projektmitarbeiter*innen berlinweit.                                                      die Vermittlungsrolle zwischen Betroffenen und zu-
                                                                                                  ständigem Bezirk, aber auch Nachbar*innen bei Bedarf.

    1   BAMF: Freizügigkeitsmonitoring: Migration von EU-Bürgern nach Deutschland, Bericht für
        das erste Halbjahr 2017: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/
        Broschueren/freizuegigkeitsmonitoring-halbjahresbericht-2017.pdf?__blob=publicationFile
Die Anliegen, mit denen Menschen die Beratung am
Standort aufsuchen, sind sehr individuell und oftmals
komplex. Es gibt jedoch Tendenzen und Häufungen
in Beratungsanliegen und Problemkonstellationen,
an denen sich strukturelle Probleme erkennen las-
sen. Es wird Beratung in den Sprachen Bulgarisch,
Romanes und Rumänisch angeboten, aber bei Bedarf
können auch Sprachmittler*innen für Bosnisch, Eng-
lisch, Kroatisch, Mazedonisch, Russisch und Serbisch
akquiriert werden.
    Da viele Klient*innen einen eingeschränkten Zu-
gang zu sozialen Diensten haben, gilt es diesen zu ver-
bessern und mögliche Hemmschwellen abzubauen.
Dazu gehört, dass den Menschen Begleitungen mit
Sprachmittlung zu Behörden, Gesundheits- und Bil-
dungseinrichtungen, Strukturen der regulären Hilfe-
systeme und anderen Institutionen angeboten werden.       5
EINFÜHRUNG

    Seit dem 1.1.2014 gilt die volle EU-Arbeitnehmerfrei-                                  Land der EU.4 Das Bruttoinlandsprodukt Rumäniens
    zügigkeit für Staatsbürger*innen aus Rumänien und                                      beträgt für 2017 rund 187,49 Mrd. Euro und damit ca.
    Bulgarien. Dadurch »entfachte erneut eine seit Jah-                                    5,7 Prozent des deutschen BIP.
    ren kontrovers geführte Diskussion um eine angeblich
    unverhältnismäßige Inanspruchnahme der Neuzuge-                                        Die Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern stellt al-
    wanderten von Sozialleistungen« und um die soge-                                       lerdings nur einen von unterschiedlichsten Migrati-
    nannte »Armutsmigration«.2                                                             onsgründen dar. Ein weiterer Auswanderungsgrund
         Der Begriff der »Armutsmigration« (gelegentlich                                   für viele junge Menschen sind Studium und Ausbil-
    auch als »Roma-Migration« zu finden) im Zusammen-                                      dung. Dem Auswärtigen Amt zufolge stellen allein
    hang mit der Einwanderung aus Rumänien und Bulga-                                      Bulgar*innen »(...) mit rund 7.000 Studierenden tra-
    rien kennzeichnet nicht nur die mediale Berichterstat-                                 ditionell eine der größten Gruppen ausländischer Stu-
    tung seit dem EU-Beitritt beider Länder, sondern be-                                   dierender an deutschen Universitäten und Hochschu-
    stimmt auch Politik sowohl auf kommunaler wie auf                                      leinrichtungen«. Dieser wissenschaftliche Austausch
    Landes- und Bundesebene. In dieser Debatte werden                                      wird durch Deutschland stark gefördert.
    die Hintergründe der Migration meist nur oberfläch-                                         Bildungsinstitutionen wie der Deutsche Akade-
    lich analysiert; stattdessen kommt es häufig zu einer Re-                              mische Austauschdienst (DAAD), die Deutsche For-
6   produktion von Stereotypen und Vorurteilen. De facto                                   schungsgemeinschaft (DFG) und die Alexander-von-
    pflegt allerdings die Bundesrepublik Deutschland tradi-                                Humboldt-Stiftung unterstützen nicht nur den Aufbau
    tionell gute und enge finanzielle, politische und kultu-                               deutschsprachiger Studiengänge, sondern fördern jun-
    relle Beziehungen zu Bulgarien und Rumänien.                                           ge bulgarische Studierende und Wissenschaftler*innen
    Ökonomische Aspekte tragen zweifellos zu der Zuwan-                                    auch durch Stipendien.5
    derung von Menschen bei. Offiziell gilt Bulgarien als                                       »In Bulgarien gibt es zudem derzeit fünf deutsch-
    ärmstes EU-Land. Laut Eurostat-Angaben von 2016                                        sprachige Studiengänge, die personell und finanziell
    hat Bulgarien mit 4,49 Euro die niedrigsten Lohn-und                                   von Deutschland gefördert werden. Eine beachtliche
    Lohnnebenkosten pro Stunde in der EU. Zudem weist                                      Zahl bulgarischer Wissenschaftler und Studenten ist an
    Bulgarien das niedrigste BIP pro Kopf (7.099 Euro; EU:                                 Einrichtungen in Deutschland tätig.«6 Neben Arbeits-
    32.700 Euro, BIP-Wachstum 2017 lag bei 3,8 Prozent)                                    suchenden, Studierenden und Wissenschaftler*innen
    sowie eine der höchsten Armutsquoten (21,8 Prozent)                                    migrieren auch viele bulgarische und rumänische
    innerhalb der EU auf.3 Das Bruttoinlandsprodukt Bul-                                   Künstler*innen und Kulturschaffende.
    gariens beträgt für 2017 rund 50,31 Mrd. Euro und da-                                       Ähnlich wie in Bulgarien werden in Rumänien
    mit ca. 1,5 Prozent des deutschen BIP.                                                 der wissenschaftliche Austausch und die Förderung
         Laut dem Auswärtigen Amt liegt in Rumänien die                                    der deutschen Sprache im Schulwesen stark durch
    offizielle Arbeitslosenquote bei 3,94 Prozent (Februar                                 Deutschland unterstützt. So wird die deutsche Sprache
    2018). Der Brutto-Mindestlohn hat sich seit 2016 von                                   bereits in ca. 150 Kindergärten und 80 Schulen ver-
    225 Euro auf ca. 410 Euro Anfang 2018 fast verdop-                                     mittelt und an rumänischen Universitäten werden 45
    pelt. Der Brutto-Durchschnittslohn steigt weiter an                                    deutschsprachige Fachstudiengänge angeboten. Au-
    und lag im Februar 2018 bei ca. 887 Euro, bei starken                                  ßerdem wird rumänischen Studierenden durch das
    regionalen und sektoralen Unterschieden. Gleichwohl                                    Deutsche Sprachdiplom (DSD) das Studium an deut-
    bleibt Rumänien mit 59 Prozent des durchschnittli-
    chen Pro-Kopf-Einkommens der EU das zweitärmste
                                                                                           4 https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/
                                                                                             rumaenien-node/wirtschaft/210824

                                                                                           5   https://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/
    2 http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/newsletter/176533/fakten-zur-einwanderung       Laenderinfos/Bulgarien/Bilateral_node.htm

    3 https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/bulgarien-node/             6 https://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/
      wirtschaft/211836#content_0                                                            Laenderinfos/Bulgarien/Kultur-UndBildungspolitik_node.html
schen Unversitäten ermöglicht.7 Unter ihnen befin-
den sich Menschen aus unterschiedlichen ethnischen
Gruppen, auch Angehörige der Roma-Minderheit.

     Viele Rom*nja sind in ihren Herkunftsländern
Diskriminierung und starker Benachteiligung ausge-
setzt. In einer Studie der Sozialfabrik e. V. in Koope-
ration mit Amaro Foro e. V. mit dem Titel »Förder-
prognose: Negativ« (Berlin, 2015) sind viele Hinter-
grundinformationen zu der Situation von Menschen
mit selbst- oder fremdzugeschriebenem Roma-Hin-
tergrund aus Rumänien und Bulgarien zu finden.
     Die Roma-Minderheit in Bulgarien macht je
nach Erhebung zwischen 5 und 10 Prozent der Bevöl-
kerung aus. Durch die verbreitete Diskriminierung
vonseiten der Mehrheitsgesellschaft werden sie nicht
nur sozial ausgegrenzt, sondern sind häufig auch von                         7
Armut bedroht. Beispielsweise besucht die überwie-
gende Mehrheit der Roma-Kinder Sonderschulen,
was den Zugang zu Ausbildungen und zum Arbeits-
markt deutlich einschränkt.
     Ein weiteres Beispiel für die Benachteiligung im
Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft lässt sich im Ge-
sundheitswesen finden: Fast jede*r Zweite verfügt
nicht über eine Krankenversicherung.

In Rumänien machen Rom*nja schätzungsweise 4 bis
8 Prozent der Bevölkerung aus und werden ähnlich
stark diskriminiert wie in Bulgarien. So leben laut EU
und UN 81 Prozent der rumänischen Rom*nja in ärm-
lichen Verhältnissen und auch der Zugang zu Bildung
und zum Arbeitsmarkt gestaltet sich äußerst proble-
matisch, während die Gesundheitsversorgung sogar
als katastrophal bezeichnet werden kann.
     Somit lässt sich konstatieren, dass die rassistische
Diskriminierung von Rom*nja sowohl in Bulgarien als
auch in Rumänien nicht nur eine alltägliche Erschei-
nung darstellt, sondern auch institutionell verfestigt ist.8

7 http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/
  Laenderinfos/Rumaenien/Kultur-UndBildungspolitik_node.html

8 »Förderprognose: Negativ«. Eine Bestandsaufnahme zur Diskriminierung von
   Bulgar_innen und Rumän_innen mit zugeschriebenem oder tatsächlichem
  Rom_nija-Hintergrund in Deutschland. Berlin 2015.
SITUATION IN DEUTSCHLAND,
    INSBESONDERE IN BERLIN

    Laut Eurostat-Bericht über die Migration und Bevölke-                                     Nach Berechnung der Bundesagentur für Arbeit be-
    rungsstatistik vom März 2018 meldete Deutschland die                                      trägt die Beschäftigungsquote der bulgarischen und
    größte Gesamtzahl an Einwander*innen (1.029.900),                                         rumänischen Staatsbürger*innen in Deutschland am
    gefolgt vom Vereinigten Königreich (589.000), Spanien                                     30.6.2018 64,4 Prozent und die Quote der SGBII-
    (414.700), Frankreich (378.100) und Italien (300.800).                                    Leistungsempfänger*innen 16,2 Prozent.13
    Gleichzeitig meldete aber Deutschland auch die
    höchste Anzahl an Auswander*innen (533.800), ge-                                          In Berlin waren am 31.12.2017 insgesamt 92.788 EU-
    folgt vom Vereinigten Königreich (340.400), Spani-                                        Bürger*innen sozialversicherungspflichtig beschäftigt
    en (327.300), Frankreich (309.800), Polen (236.400)                                       (SVB). Davon waren 7.823 bulgarische und 6.540 ru-
    und Rumänien(207.600). Insgesamt 21 der EU-Mit-                                           mänische Staatsbürger*innen Arbeitnehmer*innen, die
    gliedsstaaten meldeten 2016 mehr Zuwanderung als                                          Kranken-, Renten-, Pflegeversicherung zahlen und/
    Abwanderung. In Bulgarien, Kroatien, Lettland, Li-                                        oder beitragspflichtig nach dem Recht der Arbeits-
    tauen, Polen, Portugal und Rumänien übersteigt die                                        förderung sind.
    Zahl der Auswander*innen jedoch die Anzahl der                                                 Außerdem war zu diesem Zeitpunkt ein großer Teil
    Einwander*innen.9                                                                         der Erwerbstätigen ausschließlich geringfügig beschäf-
                                                                                              tigt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit wa-
8   Bulgarien und Rumänien sind am 1. Januar 2007 der                                         ren am 31.12.2017 insgesamt 9.475 EU-Bürger*innen
    EU beigetreten und seit dem 1. Januar 2014 gilt auch                                      ausschließlich geringfügig beschäftigt, was eine Verän-
    in Deutschland die Arbeitnehmerfreizügigkeit für                                          derung zum Vorjahresmonat um 0,3 Prozent darstellt.
    die Staatsbürger*innen dieser zwei Länder. Laut Bun-                                           Bei den bulgarischen und rumänischen Staatsbür-
    desamt für Migration und Flüchtlinge ist durch die                                        ger*innen sieht das anders aus. Bei den ausschließlich
    Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes die Zahl der                                         geringfügig beschäftigten Bulgar*innen ist eine Verän-
    Zugewanderten in Deutschland deutlich gestiegen.                                          derung zum Vorjahresmonat um 5,5 Prozent festzu-
    Offiziell lebten zum 30. April 2014 insgesamt 159.000                                     stellen, bei den ausschließlich geringfügig beschäftig-
    bulgarische und 295.000 rumänische Staatsangehörige                                       ten Rumän*innen um 24,5 Prozent.14
    in Deutschland.10 Laut Zuwanderungsmonitor des Ins-                                            Während zum 31.3.2018 insgesamt 95.924 EU-
    tituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist deren                                    Bürger*innen in Berlin sozialversicherungspflichtig
    Gesamtzahl bis zum 30.6.2018 um etwas mehr als 100                                        beschäftigt waren, betrug die Zahl der bulgarischen
    Prozent auf insgesamt 996.724 Personen gestiegen, hat                                     Staatsbürger*innen 8.160 und die Zahl der rumäni-
    sich also verdoppelt.11                                                                   schen 7.221. Zudem waren 9.421 EU-Bürger*innen
                                                                                              ausschließlich geringfügig beschäftigt, davon 1.386
    Im Oktober 2018 ist der aktuelle statistische Bericht                                     Bulgar*innen und 814 Rumän*innen.15
    des »Amts der Statistik Berlin Brandenburg« erschie-                                           Anhand der statistischen Auswertung kann festge-
    nen. In diesem Bericht werden unter anderen die Da-                                       stellt werden, dass die Beschäftigungsquote der bulga-
    ten von ausländischen Einwohner*innen in Berlin er-                                       rischen und rumänischen Staatsbürger*innen in Ber-
    fasst. Aktuell (30. Juni 2018) leben in Berlin 29.414 bul-                                lin sich nicht stark von der Beschäftigungsquote ande-
    garische und 22.395 rumänische Staatsbürger*innen.12                                      rer EU-Staatsangehöriger unterscheidet.

    9 https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/pdfscache/1275.pdf

    10 »Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien«.
       Forschungsbericht 24. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014, S. 5.
                                                                                              13 http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/Zuwanderungsmonitor_1808.pdf
    11 https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/pdfscache/1275.pdf
                                                                                              14 Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Beschäftigte nach Staatsangehörigkeiten
    12 Statistischer Bericht A I 5 – hj 1 / 18. Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin      (Quartalszahlen) vom 16.7.2018.
       am 30. Juni 2018. Amt für Statistik Berlin Brandenburg, Potsdam 2018, S. 18:
       https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/publikationen/stat_berichte/2018/          15 Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Beschäftigte nach Staatsangehörigkeiten
       SB_A01-05-00_2018h01_BE.pdf                                                               (Quartalszahlen) vom 15.1 0.2018.
ANT E I L UN D EN TWICKLUN G DE R IN BER LIN G EMELD ET EN
   BULGARISC HEN & RUMÄN ISCHE N EU - BÜ RG ER * INNEN

   2011                                                                                             166 115

   2014                                                                                            234 941

   2018                  29 141        22 395                                                      277 002

    ANT E I L DER SV-B ESCHÄFTIGTEN P ER S ONEN 20 17

                                                                                                   230 309
   SV-Beschäftigte

                                                                             Gesamtzahl
                                                                              Personen, die zum 31.1 2.2017 in Berlin
                                                                              einwohneramtlich angemeldet und im
                                                                              Alter von 15 bis 65 Jahren waren

                     0                               50Tsd .                 Rumänien                 Bulgarien               EU

Eigendarstellung nach Amt für Statistik Berlin Brandenburg: Statistischer Bericht A I 5 – hj 2 / 17. Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin am 31. Dezember 2017.
Amt für Statistik Berlin Brandenburg, Potsdam 2018, S. 18 sowie Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Beschäftigte nach Staatsangehörigkeiten (Quartalszahlen) vom 16.7.2018.

       Im Jahr 2015 untersuchte Minor – Projektkon-                      Die Ergebnisse der Studie lassen vermuten, dass
   tor für Bildung und Forschung e. V. die Entwicklun- viele bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen
                                          16

   gen bei der Arbeitsmigration aus Bulgarien, Frankreich, in Berlin zum Zeitpunkt der Befragung überqualifi-                                                                     9
   Polen und Rumänien nach Berlin. Obwohl die meisten ziert für die Branchen waren, in denen sie arbeite-
   befragten Bulgar*innen und Rumän*innen angaben, ten, und somit eher im Niedriglohnsektor beschäf-
   dass ihr höchster erreichter Bildungsgrad eine Berufs- tigt waren.
   ausbildung ist, ist der Anteil der nach Berlin eingewan-              Die meisten der insgesamt befragten Bulgar*innen
   derten Akademiker*innen aus den beiden Ländern waren im Bereich Gastronomie und Hotellerie beschäf-
   nicht klein: aus Bulgarien 38,2 Prozent der Befragten tigt (24,5 Prozent), gefolgt von denjenigen im Bereich
   und aus Rumänien 56,4 Prozent der Befragten.17                  Dienstleistungen (21,7 Prozent) und Bau und Archi-
       39,5 Prozent der befragten Bulgar*innen mit Hoch- tektur (21 Prozent). Lediglich 2,1 Prozent waren im Be-
   schulabschluss waren Rechts-, Wirt-                                                 reich Verwaltung und Management
   schafts- und Sozialwissenschaftle-        BES C H Ä FT IG U NG S QU OT E            tätig und 1,4 Prozent im Bereich
   r*innen, gefolgt von der Gruppe im        D ER EU - BÜ RG ER * INNEN                Naturwissenschaft, Informatik.
   Bereich Mathematik, Informatik,           20 17 IN %                                     Ähnlich sind die Ergebnisse bei
   Naturwissenschaft und Technik                                                       den rumänischen Befragten: 18,6
                                                  EU           BUL             RUM
   (MINT, inkl. Architektur).                                                          Prozent waren im Bereich Gastro-
       Die befragten rumänischen                   44           40               44    nomie und Hotellerie beschäftigt,
   Akademiker*innen hatten die meis-                                                   16,5 Prozent in Bau und Architek-
   ten Abschlüsse in denselben Berei-               F            I               PL    tur und 10,3 Prozent im Dienst-
   chen: Rechts-, Wirtschafts- und So-                                                 leistungssektor. In den Arbeitsbe-
   zialwissenschaften 29,4 Prozent und             37           45               50    reichen Verwaltung und Manage-
   Mathematik, Informatik, Naturwis-                                                   ment sowie Naturwissenschaft und
                                                Anzahl der Erwerbstätigen von          Informatik waren jeweils 6,2 Pro-
   senschaft und Technik (MINT, inkl.           100% Erwerbsfähigen, 1 mm 2 =ˆ 1 %
   Architektur) 25,5 Prozent                                                           zent und 14,4 Prozent beschäftigt.

   16 www.minor-kontor.de

   17 Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung: »Magnet Berlin.Fachkräftesicherung
      durch Integration zuwandernder Fachkräfte aus dem EU-Binnenmarkt«, Berlin 2016:
      https://minor-kontor.de/wp-content/uploads/2018/04/Minor_NAMB_
      Fachkr%C3%A4ftesicherung-durch-Integration-zuwandernder-Fachkr%C3%A4fte-
      aus-dem-EU-Binnenmarkt_2016_WEb.pdf
ANLIEGEN IN DER
     ANLAUFSTELLE

     Aufsuchende Arbeit                                                                          Eine Unterbringung nach ASOG-Berlin19 wird oft
                                                                                             nur dann gewährleistet, wenn eine positive Aussicht
     Durch Aufsuchende Arbeit werden Menschen aus der                                        auf Leistungsbezug nach SGBII besteht, was aus Sicht
     Zielgruppe erreicht, die bisher nicht oder nicht ausrei-                                vieler Rechtsanwält*innen nicht mit der Rechtsgrund-
     chend über Unterstützungsangebote informiert sind.                                      lage übereinstimmt. So werden Unterbringungen nach
          Aufsuchende Arbeit findet regelmäßig in mehrspra-                                  ASOG oft nur gerichtlich durchgesetzt, zumindest so-
     chigen Teams an den Orten statt, an denen Menschen                                      lange die sozialrechtlichen Ansprüche der Betroffenen
     aus der Zielgruppe sich aufhalten. Sie dient auch dazu,                                 geklärt werden, was praktisch viel Zeit in Anspruch
     im Wohnumfeld und Arbeitsumfeld der Adressat*innen                                      nehmen kann.
     präsent und ansprechbar zu sein und Menschen, die in
     Kontakt mit der Zielgruppe stehen, zu informieren und                                   Zum Thema ASOG stellen die Projektmitarbeiter*innen
     zu sensibilisieren. Projektmitarbeiter*innen mit ent-                                   fest, dass die ordnungsrechtliche Unterbringung durch
     sprechenden Sprachkenntnissen gehen zu zweit vor Ort                                    die Berliner Bezirke unterschiedlich interpretiert und
     und suchen die Menschen auf. Sie bieten in erster Linie                                 unterschiedlich umgesetzt wird, was dazu führt, dass
     Beratung und Unterstützung an, verschaffen sich einen                                   das Thema in Berlin seit Jahren äußerst umstritten ist.
     Überblick über die Situation und geben erste Informati-                                      Der Umgang der Bezirke mit den im öffentlichen
10   onen (zum Beispiel die Kältehilfe-Broschüre oder Flyer                                  Raum übernachtenden Personen ist auch intern un-
     zu Gesundheitsdiensten).                                                                terschiedlich geregelt. Während einige Bezirke sehr
          Meistens werden Erwachsene zwischen 21 und 60                                      restriktiv vorgehen, sind andere noch relativ tolerant.
     Jahren angetroffen, die Pfandflaschen und/oder Spen-                                    Öffentliches Gelände wird grundsätzlich schnell ge-
     den sammeln. Unabhängig voneinander berichten die                                       räumt, meistens ohne den Betroffenen eine Alternati-
     Betroffenen über Bedarf an Unterkunft, medizinischer                                    ve anzubieten. Bei Privatgelände verzögert sich zwar
     Versorgung und Pflegeversorgung. Ein Großteil der                                       eine Räumung, diese wird aber in der Regel durchge-
     Personen wird in informellen Arbeitsverhältnissen                                       führt, auch wenn die Geländebesitzer*innen sich von
     festgehalten. Viele erzählen, dass ihnen einen Arbeits-                                 den Personen nicht gestört fühlen und die Umstände
     vertrag für die baldige Zukunft versprochen wurde.                                      akzeptieren und tolerieren.
     Somit werden sie monatelang ausgebeutet, ohne dass                                           Diese Vorgehensweise der Bezirke bedeutet für
     sie Rechte und Ansprüche geltend machen können,                                         die Betroffenen de facto eine Vertreibung ohne nach-
     was theoretisch zwar möglich wäre, viele aber aus ih-                                   haltige Lösungsstrategie, zumal den Bezirken bewusst
     rer existenziellen Not heraus nicht schaffen.                                           ist, dass in der Konsequenz die Menschen von einem
          Fast immer stößt das Projekt bei der Aufsuchenden                                  Bezirk in den anderen weiterziehen. So treffen die
     Arbeit an seine Grenzen. Mehrere Gesetzesverschär-                                      Projektmitarbeiter*innen beispielsweise in Charlotten-
     fungen und Gerichtsurteile haben den Ausschluss ar-                                     burg Menschen, die in Pankow geräumt wurden. Betrof-
     beitssuchender EU-Bürger*innen von SGBII-Leistun-                                       fene selbst berichten, dass sie trotzdem in Berlin bleiben
     gen und der damit verbundenen Kostenübernahme                                           wollen, da sie in den Herkunftsländern in schlimmeren
     der Unterkunft (KdU) bestätigt.                                                         Verhältnissen leben müssen und oft dort auch woh-
          Weitere Gerichtsurteile (etwa des Bundessozialge-                                  nungslos sind. Dies passt nicht zu der von den Bezirken
     richts vom Dezember 201518) zum Existenzsicherungs-                                     oft behaupteten »freiwilligen Obdachlosigkeit«.
     anspruch von EU-Bürger*innen nach SGBXII haben                                               Erfahrungsgemäß sind die angetroffenen Perso-
     kaum zur Verbesserung der Situation beigetragen.                                        nen an Strukturen der niedrigschwelligen Wohnungs-
                                                                                             losenhilfe angebunden. Sie sind jedoch, sobald etwa in
     18 Urteil des Bundessozialgerichts vom3.1 2.2015: Grundsicherung für Arbeitsuchende –
        Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche – Unionsbürger –    Boulevardmedien über einzelne Zeltlager oder Abriss-
        Nichtvorliegen eines materiellen Freizügigkeits- bzw. Aufenthaltsrechts – analoge
        Anwendung des Leistungsausschlusses – Sozialhilfeanspruch bei Aufenthaltsdauer von
        über 6 Monaten – verfassungskonforme Auslegung – sozialgerichtliches Verfahren.      19 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz.
häuser berichtet wird, einer erhöhten Gefährdung und                                           dienberichte klären über tatsächliche Ursachen und
bei vor Ort aktiven Neonazi-Strukturen einer akuten                                            Verantwortliche auf, stattdessen werden Armutsphä-
Bedrohung ausgesetzt.20                                                                        nomene reißerisch beschrieben. Die betroffenen Men-
                                                                                               schen werden exotisiert und als Ursache des Problems
Das Projekt erreichen auch Meldungen mit dem Hin-                                              dargestellt. Der in zahlreichen Studien belegte gesell-
weis auf sogenannte »Problemimmobilien«. In solchen                                            schaftlich weitverbreitete Antiziganismus wird durch
Fällen handelt es sich um ungesicherte oder unklare                                            eine solche Berichterstattung zusätzlich verstärkt.
Mietverhältnisse, Überbelegungen, vernachlässigte
Verantwortung der Vermieter*innen und darüber hi-
naus um drohende Obdachlosigkeit.                                                                              Im Kiez Grunewald wächst die Angst
    In vielen Fällen auch der letzten Jahre handelt es
sich um Geschäftsmodelle mit Mieter*innen, die aus
                                                                                                         DAS SCHÖNEBERGER
diversen Gründen besonders schwer Zugang zum re-
                                                                                                          "HORRORHAUS"
                                                                                                Die Grunewaldstraße 87 in Schöneberg ist eigentlich ein Juwel,
gulären Wohnmarkt finden. So wurden zum Beispiel                                                doch seit einigen Wochen gibt es Ärger mit neuen Bewohnern.
Menschen aus Rumänien Wohnungen in einem ver-                                                                  Im Umfeld steigt die Kriminalität.
kauften Mietobjekt mit befristeten Mietverträgen vo-
rübergehend bis zur Neusanierung vermietet. Den                                                                                                                         11
Mieter*innen, die zum Teil seit mehreren Jahren in
Berlin leben, wurde die Situation bewusst, sie wollten
jedoch keine mietrechtlichen Schritte einleiten.
    In den letzten zwei Jahren haben sich Hostels und
Pensionen als Unterkunft für Menschen mit Kosten-
übernahme der Unterkunft (KdU) durch staatliche
Kostenträger zu einem weitverbreiteten Phänomen bei
                                                                                                Die Fassade des Hauses Grunewaldstraße sieht intakt aus. Dahinter
der Unterbringung obdachloser Menschen entwickelt.                                                   verbergen sich laut Bezirksamt kriminelle Machenschaften.
    Immer wieder kommt es vor, dass auch mit beste-                                                               Tagesspiegel am 29.05.2015
hender Kostenübernahme keinen Platz in den Notun-
terkünften zu finden ist, besonders bei Familien mit
Kindern. In manchen Fällen werden Menschen aus
Bulgarien und Rumänien Plätze verweigert.
                                                                                                         120 POLIZISTEN
So entstehen Geschäftsmodelle mit langfristiger Un-                                                 RÄUMEN »HORRORHAUS«
terbringung, segregierte Wohnhäuser und ein fal-                                                      IN BERLIN-WEDDING
scher Eindruck in der Öffentlichkeit. Theoretisch be-
stehen zwar Mietverhältnisse, Mietverträge werden
aber oft nicht ausgestellt. Letzteres betrifft vor allem
Privateigentümer*innen, deren Mietobjekte offizi-
ell keine Hostels oder Pensionen sind. Immer wieder
kommt es zu einer ganzen Flut von Medienberichten
über einzelne Problemimmobilien, die oft als »Hor-
rorhäuser« bezeichnet werden. Die wenigsten Me-

20 Medienmonitoring Amaro Foro e.V.: »Dokumentation antiziganistischer und diskriminierender   Polizisten räumen ein Haus in der Kameruner Straße/Ecke Lüderitzstraße
   Vorfälle in Berlin«, 2017: http://amaroforo.de/sites/default/files/files/AmaroForo_2017_
   Bericht_Dokuprojekt.pdf                                                                                            WELT am 16.04.2018
Beratung & Begleitung                                                                     unterkünften, welche meistens ohnehin
                                                                                               für kleine Kinder nicht geeignet sind, ist
     Schon seit Jahren berichten Klient*innen                                                  für die meisten ohne Kostenübernahme
     der Beratungsstelle von Amaro Foro e. V.                                                  durch das Jobcenter oder Sozialamt nur
     von großen Schwierigkeiten bei der Woh-                                                   begrenzt möglich.
     nungssuche. Selbst diejenigen, die über                                                        Anliegen rund um das Thema Miet-
     eine Arbeitsstelle beziehungsweise ein reguläres Ein-                        verhältnisse gibt es in der Anlaufstelle auch: Stroman-
     kommen verfügen, haben es auf dem Wohnungs-                                  meldung und Nachzahlungen, Betriebskostenabrech-
     markt schwer. Die Bewerbungsverfahren für die An-                            nungen, Auseinandersetzungen mit Hausverwaltun-
     mietung einer Wohnung verlaufen in der Regel in-                             gen und Ähnliches. Außerdem sind problematische
     transparent und viele bulgarische oder rumänische                            Mietverträge, schwierige Bedingungen in der Wohnung,
     Staatsbürger*innen werden aus nicht nachvollziehbaren                        Überbelegungen der Wohnungen oder überhöhte Miet-
     Gründen abgelehnt. Bulgar*innen und Rumän*innen                              preise in irregulären Untermietverhältnissen oder gar
     mit geringem Einkommen sind somit gezwungen, sich                            ohne Verträge Themen, die die Projektmitarbeiter*innen
     in sogenannten sozialen »Brennpunkten« und margi-                            immer wieder beschäftigen.
     nalisierten Stadtteilen anzusiedeln, da sie keine Mög-                            Es ist festzustellen, dass es organisierte und weniger
12   lichkeit haben, woanders eine Wohnung zu bekom-                              organisierte Ausbeutung von Mieter*innen angesichts
     men. Darüber hinaus werden viele Opfer unseriöser                            der Knappheit von bezahlbarem Mietraum in Berlin
     Vermieter*innen und haben dann keine andere Wahl,                            gibt. Die Folgen dieses Missstandes sind oft unter ande-
     als heruntergekommene Wohnungen in sogenannten                               rem Konflikte in der Nachbarschaft und fehlende ein-
     »Problemimmobilien« zu mieten.                                               wohneramtliche Anmeldung und damit weitgehend
          Seit Jahren beobachten die Berater*innen im Pro-                        informelle Verhältnisse. Zudem gibt es eklatante Versor-
     jekt zahlreiche Umzüge von Klient*innen aus der In-                          gungslücken im Bereich der niedrigschwelligen Obdach-
     nenstadt in die Randbezirke. In Bezirken wie Mitte und                       losenhilfe für Familien mit minderjährigen Kindern.
     Neukölln ist zwar nach wie vor ein Zuwachs an bulga-                         Viele Familien, für die die Kostenübernahme für die
     rischen und rumänischen Staatsbürger*innen zu ver-                           Unterkunft gesichert wurde, müssen in Hostels, Pensi-
     zeichnen (45,75 beziehungsweise 21,7 Prozent), die-                          onen, Ferienwohnungen einziehen. Somit entwickelt
     ser ist aber in Vergleich mit dem Zuwachs in Bezirken                        sich eine Marktlücke für viele Unternehmer*innen,
     wie Lichtenberg (93,27 Prozent), Marzahn-Hellersdorf                         die praktisch von der Situation der Menschen profitie-
     (161,97 Prozent), Pankow (126,25 Prozent), Spandau                           ren. Oft werden Familien von heute auf morgen aufge-
     (135,25 Prozent) und Treptow-Köpenick (116,36 Pro-                           fordert, diese Unterkünfte zu verlassen, wenn das zu-
     zent) deutlich geringer.                                                     ständige Amt beispielsweise mit der Bearbeitung der
           Ein Großteil der Klient*innen in der Anlaufstel-                       Anträge in Verzug ist und somit die Verlängerung der
     le fällt unter die Definition von Wohnungsnotfällen                          Kostenübernahme der Unterkunft nicht rechtzeitig aus-
     nach der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungs-                                 gestellt werden kann. Es sind nicht wenige Fälle, in de-
     losenhilfe e. V.21 Dramatisch ist die Situation für die                      nen Projektmitarbeiter*innen Kontakt mit den Unter-
     am stärksten benachteiligten bulgarischen und ru-                            künften aufnehmen müssen, um die Obdachlosigkeit
     mänischen Migrant*innen, die unmittelbar von Ob-                             zu verhindern.
     dachlosigkeit betroffen sind und in Autos, Parks oder                             Darüber hinaus ist seit längerer Zeit zu beobachten,
     weiteren selbstorganisierten »Unterkünften« über-                            dass viele Betroffene aus diesen Unterbringungsein-
     nachten müssen. Die Übernachtung in Berliner Not-                            richtungen kaum oder nicht rauskommen können.

     21 Position der BAG Wohnungslosenhilfe e.V.: Wohnungsnotfalldefinition der
        Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Mai 2011.
E NT W I CKLUN G DER GEMELDETEN BU LG A R IS C H EN
          & R U M ÄN ISC HEN EIN WOHN ER*INNEN IN BER LIN
                                                                                                                                                                          12 376
       2014                                                                                                                                                                                 12 000

                                                    8                 7

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                                                1                                                                                                                                            9 000

                                                                11
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                                           10                             6
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       2018

                                                    8                 7

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                                                                          2     3         4
                                                1

                                                                                                                                                                                                 5mm =�ˆ 500 Einwohner*innen
                                                                11
                                           10                             6
                                                                                               12

                 < 1500          < 3000                 < 5000                < 10000           > 10000                           1      2       3   4   5   6        7   8   9   10   11   12

             1    Charlottenburg-Willmersdorf                                   4   Marzahn-Hellersdorf                           7   Pankow                     10   Steglitz-Zehlendorf
            2     Friedrichshain-Kruezberg                                      5   Mitte                                         8   Reinickendorf              11   Tempelhof-Schöneberg
            3     Lichtenberg                                                   6   Neukölln                                      9   Spandau                    12   Treptow-Köpenick

Eigendarstellung nach Amt für Statistik Berlin Brandenburg: Statistischer Bericht A I 5 – hj 2/14. Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin
am 31. Dezember 2014 sowie Statistischer Bericht A I 5 – hj 1 / 18. Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin am 30. Juni 2018.

           Im Bereich Arbeit kommen viele Menschen zu uns,                                                         sind nach wie vor für die meisten
           die arbeitsrechtliche Fragen haben oder auch Bera-                                                      Arbeitnehmer*innen Alltag.
           tung über Arbeitsmöglichkeiten und über Formalitä-                                                           Besonders schwer ist der Zu-
           ten wie Steuern, Sozialversicherungsnummer, Steuer-                                                     gang zum Arbeitsmarkt für nicht
           klassen etc. nachfragen.                                                                                einwohneramtlich angemeldete
                Seit der Einführung der Arbeitnehmerfreizügig-                                                     Personen. Oft können sie beste-
           keit für bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen                                                  hende Arbeitsmöglichkeiten aufgrund fehlender Un-
           zum 1. 1. 2014 ist ein Zuwachs an sozialversicherungs-                                                  terlagen nicht annehmen, welche in der Regel mit einer
           pflichtig Beschäftigten aus den beiden Ländern zu ver-                                                  Anmeldung verbunden sind, wie beispielsweise Steuer-
           zeichnen. Ein Großteil der Klient*innen, die bisher ge-                                                 identifikationsnummer oder Sozialversicherungsnum-
           zwungenermaßen selbstständig arbeiten mussten, ist in-                                                  mer. Es bestehen zwar Möglichkeiten, diese Unterlagen
           zwischen zumindest geringfügig beschäftigt. Dennoch                                                     auch ohne amtliche Anmeldung zu bekommen, das Ver-
           sind viele Klient*innen Arbeitsausbeutung ausgesetzt.                                                   fahren ist aber sehr aufwendig, zeitintensiv und vielen
           Mündliche Absprachen, Drohungen und Lohnbetrug                                                          Arbeitgeber*innen nicht bekannt.
Beim Thema Gesundheit kom-                                                   Im Bereich Bildung geht es zu-
     men viele Menschen hauptsäch-                                                meist um die Einschulung von
     lich bezüglich ihres Krankenver-                                             Kindern, Kitaplätze und das In-
     sicherungsschutzes in die An-                                                teresse an Sprachkursen bei Er-
     laufstelle. Sie benötigen Beratung                                           wachsenen. Vielerorts unterstützt
     und Unterstützung beim Ausfül-                                               das Projekt die Kommunikation
     len der Formulare für die Anmeldung, Familienversi-                          zwischen Schüler*innen, Eltern und Schule und fun-
     cherung, Verschuldung durch fehlende Krankenversi-                           giert als Ansprechpartner bei schulischen Problemen
     cherung, aber auch grundsätzlich bei der Klärung des                         der Kinder, wobei in diesem Bereich oft auf die be-
     Krankenversicherungsstatus zum Beispiel bei Men-                             stehenden Projekte vor Ort oder beim Träger intern
     schen ohne Vorversicherungszeiten. Auch Sprach-                              zurückgegriffen wird.
     mittlung und Begleitung zu Ärzt*innen und Gesund-                                 Immer wieder interveniert das Projekt bei der Ein-
     heitsdiensten sind oft nötig und zeitaufwendig, da die                       schulung von Kindern ohne einwohneramtliche An-
     Ressourcen des Gemeindedolmetscherdienstes nicht im-                         meldung. Trotz des Rechts auf Bildung und der gesetz-
     mer in Anspruch genommen werden können. Hierfür                              lichen Vorschriften im Berliner Schulgesetz werden
     klären Projektmitarbeiter*innen Ärzt*innen und Ge-                           immer wieder Schüler*innen ohne Anmeldung von
     sundheitsdienste gezielt über die Möglichkeiten des                          Schulen abgewiesen, so dass eine Intervention durch
     Dienstes auf.                                                                die bezirklichen Schulämter notwendig wird. Viele
          Die strukturellen Probleme, die gleichzeitig Gren-                      Kinder müssen Monate warten, bis sie einen Platz in
     zen der Unterstützungsmöglichkeiten der Anlaufstelle                         einer sogenannten »Willkommensklasse« zugewie-
     markieren, sind weiterhin insbesondere in der fehlen-                        sen bekommen, auch wenn sie kilometerweit von ih-
     den Umsetzung der EU-Vorschriften bezüglich EHIC22                           rem Wohnort entfernt ist.
     und gegebenenfalls in der Forderung des Nachweises                                Im Jahr 2017 veröffentlichte das Berliner Institut
14
     von Vorversicherungszeiten in einer gesetzlichen Kran-                       für empirische Forschung die Studie »Die Beschulung
     kenkasse zu sehen. In den Fällen, in denen die Bera-                         neu zugewanderter und geflüchteter Kinder in Berlin.
     tungssuchenden in den Herkunftsländern nicht versi-                          Praxis und Herausforderungen«. Das Institut stellte
     chert waren beziehungsweise sind, können diese Vor-                          fest, dass der Leitfaden zur Integration von neu zuge-
     versicherungszeiten nicht nachweisen werden.                                 wanderten Kindern und Jugendlichen in die Kinder-
          Die von Amaro Foro e. V. dokumentierten diskri-                         tagesförderung und die Schule der Senatsverwaltung
     minierenden Vorfälle »…deuten auf einen struktu-                             für Bildung, Jugend und Familie »großen Spielraum
     rell erschwerten Zugang zum deutschen gesetzlichen                           für die konkrete Ausgestaltung der Beschulung (lässt),
     Krankenversicherungssystem für Unionsbürger*innen                            und damit variiert die Beschulung in Willkommens-
     hin. Dabei sind Arbeitssuchende, Selbstständige,                             klassen in Bezug auf Ausstattung, räumliche Unterbrin-
     geringfügig Beschäftigte und nicht erwerbstätige                             gung, Einsatz und Qualifikation der Lehrkräfte, Unter-
     Unionsbürger*innen besonders gefährdet, denn ihre                            richtsinhalte, Einbindung in die Regelklassen und Ab-
     Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung wird                         läufe etc. von Schule zu Schule«.24
     oft abgelehnt bzw. verläuft sehr schleppend«.23                                   Nach wie vor ist die Situation von Jugendlichen,
          Weiterhin bleiben die Versorgungslücken für Nicht-                      die nicht mehr schulpflichtig oder an der Altersgren-
     Versicherte (insbesondere chronisch kranke Menschen                          ze sind, schwierig. Die Teilnahme an Sprachkursen ist
     und Kinder) ein Problem. Durch das verschärfte Frei-                         für Jugendliche aus Familien mit prekärer finanziel-
     zügigkeitsgesetz-EU ist auch eine Verschärfung des                           ler Situation und ohne sozialrechtliche Ansprüche oft
     Aufnahmeverfahrens bei den gesetzlichen Kranken-                             nicht möglich. Gleichzeitig ist die Teilnahme an Be-
     kassen zu beobachten. Viele Klient*innen, vor allem                          rufs- und Qualifizierungskursen an ein Sprachniveau
     diejenigen, die durch die Aufsuchende Arbeit ange-                           gebunden, das die Jugendlichen anfangs nicht beherr-
     troffen werden, sind nach wie vor auf die nicht ausrei-                      schen. Somit sind viele Jugendliche auf Angebote von
     chenden Angebote für medizinische Versorgung von                             Vereinen angewiesen oder auf Erwerbstätigkeiten im
     nicht krankenversicherten Personen angewiesen.                               Niedriglohnsektor.

     22 European Health Insurance Card: Europäische Krankenversicherungskarte,
        bei bestehender Krankenversicherung in einem anderen EU-Mitgliedsstaat.
                                                                                  24 Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung: »Die Beschulung neu
     23 Amaro Foro e. V.: »Dokumentation antiziganistischer                          zugewanderter und geflüchteter Kinder in Berlin – Praxis und Herausforderungen«, 2017:
        und diskriminierender Vorfälle in Berlin«, 2017.                             https://www.bim.hu-berlin.de/media/Beschulung_Bericht_final_10052017.pdf
Im Bereich Rechtssicherheit geht                                                          So wird beispielsweise trotz Paragraf 20 Abs. 3
es oft um die Beratung zum Frei-                                                     SGB X die Annahme von Anträgen vermehrt verwei-
zügigkeitsrecht. Die erwartete                                                       gert, mit der Begründung, dass die Antragssteller*innen
ansteigende Tendenz bezüglich                                                        keinen Anspruch hätten, der deutschen Sprache nicht
Überprüfungen des Aufenthalts-                                                       mächtig seien, die Behörde nicht zuständig sei oder
rechtes bulgarischer und rumäni-                                                     die Anträge nicht vollständig. Ferner ist zu beob-
scher Staatsbürger*innen durch die Ausländerbehörde                                  achten, dass Arbeitsverträge und darüber hinaus der
hat sich im Laufe der Zeit nicht bestätigt.25 Im Bereich                             Arbeitnehmer*innenstatus von bulgarischen und ru-
Rechtssicherheit ging es auch um andere aufenthalts-                                 mänischen Antragssteller*innen oft in Frage gestellt
rechtliche Anliegen oder um die Notwendigkeit von                                    wird. Leistungsberechtigte Personen werden durch
Rechtsberatung und/oder rechtlicher Vertretung für                                   Sachbearbeiter*innen beziehungsweise durch Dienst-
Verfahren (Mietrecht, Strafrecht, Sozialleistungs-                                   anweisungen kriminalisiert, nicht sachrelevante Äuße-
recht waren hierbei die häufigsten Themenkomplexe).                                  rungen sind oft Teil des Gesprächs mit den Kunden,
                                                                                     denen oft mit der Einschaltung der Ordnungsbehör-
Bei finanziellen Anliegen geht                                                       den gedroht wird.
es zumeist um die Vereinbarung                                                            Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes veröf-
von Ratenzahlungen und sonsti-                                                       fentlichte im Jahr 2017 die Studie »Diskriminierungs-
gen Belange bei Schulden. Viele                                                      risiken in der öffentlichen Arbeitsvermittlung«, welche
Klient*innen benötigen zunächst                                                      eine Reihe von strukturellen Barrieren in Bezug auf
allgemeinen Rat bezüglich ihrer                                                      Kommunikation für zugewanderte Menschen, die der
Verschuldung. Es ist festzustellen, dass ein Groß-                                   deutschen Sprache nicht mächtig sind, identifiziert:
teil der Beratungssuchenden verschuldet ist. Die                                     »Fehlende oder geringwertigere Beratung und Integra-
Schuldenproblematik ist dann besonders akut, wenn                                    tionsunterstützung, die auf Verständigungsproblemen
                                                                                                                                                                              15
Stromschulden, Gasschulden oder gar Mietschulden                                     beruhen, können zu einer unmittelbaren Diskriminie-
entstanden sind. Viele prekäre Wohnverhältnisse ha-                                  rung wegen der Sprache und damit auch zu einer mit-
ben ihren Ursprung in der finanziellen Notlage der                                   telbaren Diskriminierung wegen der ethnischen Her-
Beratungssuchenden.                                                                  kunft führen.«26 Eine weitere Erkenntnis der Studie ist,
     Oft findet eine allgemeine Erstberatung zur finanzi-                            dass Personen mit türkisch oder rumänisch klingen-
ellen Planung statt. Darüber hinaus interveniert das Pro-                            den Namen, die um Informationen bitten, »qualitativ
jekt oft bei der Eröffnung eines Bankkontos. Trotz der                               schlechtere Auskünfte« als Menschen mit einem deut-
Einführung des gesetzlichen Anspruchs auf ein Basis-                                 schen Namen bekommen.
konto nach dem Zahlungskontogesetz im Jahr 2016 wird                                      Solche und zusätzliche Diskriminierungsrisiken
die Kontoeröffnung nach wie vor mit nicht gesetzeskon-                               unter anderem beim Kontakt zu Leistungsbehörden,
formen Begründungen Menschen aus Bulgarien und                                       darunter Bürgerämter, Familienkassen, Jugendämter,
Rumänien verweigert. Das Zahlungskontogesetz soll                                    Unterhaltsvorschussstellen, Sozialämter, können sowohl
die Richtlinie 2014/92/EU zum diskriminierungsfreien                                 aus den Erfahrungen in der Beratung als auch von der
Zugang zu Zahlungskonten für alle Verbraucher*innen,                                 von Amaro Foro e. V. jährlich vorgelegten Auswertung
unabhängig von ihrer sozialen Stellung, einschließlich                               der dokumentierten diskriminierenden Vorfälle in Ber-
Personen ohne Wohnsitz, umsetzen.                                                    lin bestätigt werden. »Insgesamt sind die Kontakterfah-
     Oft geht es auch um das Beantragen von Kinder-                                  rungen von Unionsbürger*innen aus Rumänien und
geld, Elterngeld oder Leistungen zur Sicherung des Le-                               Bulgarien mit den Berliner Leistungsbehörden von ei-
bensunterhaltes nach SGB II. Durch die Gesetzesän-                                   nem pauschalen Betrugsverdacht geprägt.«27
derungen wurde der Kreis der leistungsberechtigten
EU-Bürger*innen eingeschränkt. Die Schikanen und
                                                                                     26 Antidiskriminierungsstelle des Bundes: »Diskriminierungsrisiken in der öffentlichen
die Unterstellungen durch die Jobcenter gegenüber                                       Arbeitsvermittlung«, 2017: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/
                                                                                        Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Diskriminierungsrisiken_in_der_oeffentlichen_
Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die Ansprü-                                        Arbeitsvermittlung.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S.1 41.

che auf aufstockende Leistungen nach SGB II haben,                                   27 Amaro Foro e. V.: »Dokumentation antiziganistischer
                                                                                        und diskriminierender Vorfälle in Berlin«, 2017.
nehmen zudem zu.

25 Meldepflicht aller Behörden (außer Schulen u. Ä.) an die Ausländerbehörden nach
   Paragraf 87 Abs. 2 S. 1 Nr. 2a AufenthG.
STATISTIK AUS DER
     BERATUNGSARBEIT

     Die Dokumentation der Projektarbeit erfolgt durch eine Warteliste für die
     Klient*innen, die gleichzeitig als Erhebungsbogen verwendet wird, durch
     den die statistische Auswertung der Geschlechterverteilung, der Nationa-
     lität sowie des Alters möglich ist. Darüber hinaus können auch die Bera-
     tungsanliegen und deren Häufigkeit erfasst werden. Doch nicht alle Tä-
     tigkeiten innerhalb des Projektes können anhand des Erhebungsbogens
     erfasst werden. Viele kurze Telefonate beispielsweise wurden oft nicht do-
     kumentiert. In den vergangenen fünf Jahren (2013–2017) gab es bei der
     Anlaufstelle durchschnittlich 6.450,6 Beratungseinheiten pro Jahr.

     Die meisten Klient*innen nutzten das Angebot der Anlaufstelle mehr-
     mals. Durchschnittlich kommen 595,6 Personen im Jahr neu dazu. Durch-
     schnittlich hatten 64,8 Prozent der Klient*innen der Jahre 2013 bis 2017
     die rumänische Staatsangehörigkeit, 33,8 Prozent die bulgarische und 1,4
     Prozent eine andere Staatsangehörigkeit (Bosnisch, Kroatisch, Mazedo-
     nisch, Polnisch, Serbisch).
16        Der Blick auf die Projektstatistik erlaubt es, von einer relativ gleich
     starken Beteiligung von männlichen und weiblichen Klient*innen zu spre-
     chen. Durchschnittlich waren 51,4 Prozent aller Klient*innen männlich
     und 48,6 Prozent weiblich. Wir gehen somit davon aus, dass die Anlauf-
     stelle für Frauen und Männer gleichermaßen zugänglich ist.
          Der Statistik ist allerdings zu entnehmen, dass der Anteil der weibli-
     chen Beratungssuchenden ab dem Projektjahr 2016 den Anteil der männ-
     lichen überschreitet.

     Die Anliegen der Klient*innen, die zu unserer Beratungsstelle kommen,
     sind vielfältig. Die Zahl der Anliegen ist größer als die Zahl der Be-
     ratungseinheiten, da fast alle Klient*innen mit mehreren Anliegen in
     die Beratung kommen. Durchschnittlich ging es pro Beratung um zwei
     Anliegen. Das größte Thema in der Anlaufstelle ist mit durchschnittlich
     39 Prozent die finanzielle Situation der Klient*innen geblieben.
          Die Beratungsangebote des Projektes werden von Klient*innen aus
     allen Berliner Bezirken in Anspruch genommen. Dennoch ist zu beob-
     achten, dass Klient*innen in bestimmten Bezirken beziehungsweise Stadt-
     teilen konzentriert sind oder waren (2013–2017).
BERATUNGSARBEIT                                                                             DURCHSCHNITTLICH

AMARO FORO E.V.
                                                                                         595,6
                                                                                                                           8000

2013 – 2017
                                                                                            PERSONEN IM JAHR
                                                                                            MIT ERSTKONTAKT                6000

                                                                                                                           4000

                                                                                                                           2000

                              2013                 2014                2015                        2016                 2017
BE RAT UNGSEIN HEITEN
UND GE S CH LECHT                                                          männlich          weiblich         =ˆ 50%

ANLI EGE N IN %                                    NAT IONA LIT Ä T IN %

                                                                                 Rumänisch                Bulgarisch    Andere
                                                    2013              75                                           21
             14,5
                        18                          2014              61                                          39
    14
                                                    2015              73                                          26
         7
              6                                     2016              60                                          39

                                                    2017              55                                          44

                                   39

   Wohnen
   Arbeit                                          BEZIR K S AU FT EILU NG
   Bildung
   Gesundheit
   Rechtssicherheit
   Finanzielle Sicherheit                                                  6,5

              DURCHSCHNITTLICH                                7,8

   6.450,6
                                                                                  11,8
                                                                                             7,8
                                                                       11,0

                                                                                      6,6
             BERATUNGSEINHEITEN
                                                                                            30,5

65 34 1
% RUMÄNISCH         % BULGARISCH        % ANDERE     Ø < 5%         Ø > 5%        Ø > 10%           Ø > 20%
FAZIT UND AUSBLICK

     Die Angebote des Projektes werden von Klient*innen         Durch die ohnehin angespannte Wohnsituation in der
     sehr stark nachgefragt, ohne innerhalb der Commu-          Stadt sind viele Beratungssuchende seit Jahren in Not-
     nities gezielte Werbemaßnahmen durchzuführen. Die          unterkünften, Hostels, Pensionen und anderen Pro-
     Rückmeldungen der Klient*innen sind größtenteils           visorien »zu Hause«. Die Wohnbedingungen entspre-
     positiv, sodass das Angebot weiterempfohlen wird.          chen in vielen Einrichtungen, besonders in den priva-
     Insgesamt können unzählige Erfolge in den einzelnen        ten, nicht den Standards und zum Teil auch nicht den
     Fällen erzielt werden. Eine Vielzahl von Familien und      Bedürfnissen der Bewohner*innen. Da aber meistens
     Einzelpersonen konnte durch die Unterstützung der          keine Alternative vorhanden ist, sind die Betroffenen
     Anlaufstelle eine erste Konsolidierung der Situation       auf diese Einrichtungen angewiesen.
     erreichen, beispielsweise durch Zugang zum Kranken-
     versicherungsschutz, zu Sprachkursen und Bildungs-         Dafür bedarf es niedrigschwelliger Unterstützung bei
     angeboten, durch die Motivation zu selbstbewusstem         der Wohnungssuche, der Öffnung der Hilfen nach Pa-
     Auftreten bei der Durchsetzung ihrer Rechte, durch         ragraf 67 ff. SGB XII (auch ohne Leistungsbezug nach
     Entschärfung der prekären Wohnsituation, um nur            SGB II), angepasster rechtlicher Maßnahmen zur Be-
     einige Beispiele zu nennen. Allein diese Basis ermög-      kämpfung von Diskriminierung auf dem Wohnungs-
     licht den Menschen eine weitere erfolgreiche Teilhabe      markt, der Sensibilisierung und Aufklärung nicht nur
18   auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem und auf al-        der kommunalen, sondern auch der privaten Wohnungs-
     len gesellschaftlichen Ebenen.                             unternehmen.
                                                                     Auch der Zugang zur gesetzlichen Krankenversi-
     Oftmals sehen sich allerdings Mitarbeiter*innen der        cherung muss optimiert und vereinfacht werden. Häu-
     Anlaufstelle auch mit Notsituationen konfrontiert, ohne    fig scheitert es daran, die Vorversicherungszeiten in ei-
     auf andere angemessene Unterstützungsangebote ver-         ner anderen gesetzlichen Krankenkasse nachzuweisen.
     weisen zu können. Beispielsweise ist die Unterstüt-        So müssen viele Menschen sich verschulden, werden
     zung von obdachlosen Familien ein Thema, welches           an private Krankenkassen verwiesen oder bleiben ganz
     immer wieder auftaucht. Immer wieder bitten obdach-        ohne Krankenversicherungsschutz. Dabei bleibt die
     lose Familien um Unterstützung zur Beendigung der          medizinische Versorgung für nicht-krankenversicher-
     Obdachlosigkeit. Es ist einen Anstieg von Fällen im        te EU-Bürger*innen nach wie vor unzureichend. Eine
     Bereich Obdachlosigkeit zu verzeichnen und darüber         Befragung zu der aktuellen Situation der Klient*innen
     hinaus an Interventionsbedarf im öffentlichen Raum.        in der Anlaufstelle im Jahr 2016 ergab, dass mehr als
     Die Verschärfung des Freizügigkeitsgesetzes-EU, der        die Hälfte der Befragten nie einen Sprachkurs besucht
     Ausschluss von arbeitssuchenden EU-Bürger*innen            hat. Das liegt zum Teil daran, dass viele nicht im Leis-
     aus jeglicher Art von sozialen Leistungen sowie die        tungsbezug sind und sich als Selbstzahler*innen die
     nicht ausreichende Umsetzung der gegebenen Ermes-          Kurse nicht leisten können.
     sensentscheidungen tragen dazu bei, dass die Anzahl
     der Fälle von Obdachlosigkeit weiter steigen wird und      Gleich 70 Prozent der Befragten mit Kindern im Vor-
     damit auch die falsche Wahrnehmung in der Öffent-          schulalter gaben an, dass ihre Kinder keine Kita besu-
     lichkeit verstärkt wird.                                   chen und verwiesen auf die fehlenden Kitaplätze. Die
         Nach wie vor besteht Bedarf an Unterbringungsmög-      erfolglose Suche nach einem freien Kitaplatz ist für sehr
     lichkeiten für Familien mit Kindern, Erkrankte sowie       viele Klient*innen der Beratungsstelle von Amaro Foro
     Menschen im fortgeschrittenen Alter. EU-Bürger*innen       e. V. ein zentrales Anliegen. Aufgrund dieses Missstan-
     ohne festen Wohnsitz sollten erleichterten Zugang zu den   des lässt sich außerdem vermuten, dass viele Eltern und
     administrativen Voraussetzungen für die Arbeitsaufnah-     vor allem Mütter kaum die Möglichkeit haben, selber
     me haben, zum Beispiel bei der Erteilung von Steueri-      einen Sprachkurs zu besuchen beziehungsweise eine
     dentifikations- sowie Sozialversicherungsnummer.           berufliche Perspektive zu erarbeiten und zu realisieren.
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