Iga.Report 44 - Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation - Initiative Gesundheit und Arbeit
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iga.Report 44 Themenschwerpunkt New Work Evolution der Unternehmens- Die Initiative Gesundheit und Arbeit und Arbeitsorganisation In der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) arbeiten gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung zusammen, um arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vorzubeugen. Gemeinsam werden Präventions- ansätze für die Arbeitswelt weiter- Neue Perspektiven für Prävention und Gesund- entwickelt und vorhandene Methoden oder Erkenntnisse für die Praxis heitsförderung durch Arbeit 4.0 nutzbar gemacht. iga ist eine Kooperation von Arjan Kozica, Madlen Müller und Pia Roser BKK Dachverband, der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), dem AOK-Bundesverband und dem Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek). www.iga-info.de
iga.Report 44 Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation Neue Perspektiven für Prävention und Gesund- heitsförderung durch Arbeit 4.0 Arjan Kozica, Madlen Müller und Pia Roser
Zusammenfassung Technologische und gesellschaftliche Entwicklungen, wie die digitale Transformation, der demographische Wandel oder die zunehmende Individualisierung von Lebensverläufen, verändern die Arbeitswelten. Zahlreiche Organisationen ge- stalten entsprechend ihre Arbeitsorganisationen um. Als neue Leitvorstellung gilt das agile Unternehmen, in dem der Mensch mit seinen kommunikativen und kreativen Fähigkei- ten in den Mittelpunkt rückt. Miteinher gehen allerdings ge- sundheitliche Risiken, die der Aufmerksamkeit bedürfen. Be- rater und Beraterinnen, die die verschiedenen Konzepte und die richtigen Ansatzpunkte für Sicherheit und Gesundheit in neuen Arbeitswelten kennen, können die Risiken gezielt ad- ressieren. Die vorliegende Studie unterstützt Beratende da- bei, indem verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung von Arbeitsorganisation vorgestellt und Ansatzpunkte für die Präventionsarbeit und die Betriebliche Gesundheitsförde- rung (BGF) abgeleitet werden. Unter dem zusammenfassenden Begriff Arbeit 4.0 stellt die- ser Report die agile Organisation, die Soziokratie und die Holokratie, sowie die evolutionäre Organisation vor. Gemein ist diesen Konzepten die Betonung von Selbstorganisation und Selbstverantwortung der Beschäftigten, die Abflachung von Hierarchien, die stärkere Sinnorientierung und Flexibili- tät sowie die umfassendere Integration von Leistungspoten- tialen der Beschäftigten. Bezogen auf diese Konzepte wer- den drei Ansatzpunkte für die Präventionsarbeit und die BGF ausgearbeitet: Erstens bieten die Merkmale der neuen For- men der Arbeitsorganisation Anknüpfungspunkte für die Prä- ventionsarbeit und die BGF. Zentraler Gedanke ist es, die (Gesundheits-)Kompetenzen der Beschäftigten zu entwi- ckeln. Die steigende Selbstverantwortung führt dazu, dass gesundheitliche Themen zunehmend eigenverantwortlich wahrgenommen werden, wofür entsprechende Kompeten- zen erforderlich sind. Zweitens ergibt sich ein Ansatz für die Präventionsarbeit und die BGF aus den Veränderungsprozes- sen im Zuge der Umgestaltung von Arbeitsorganisationen. Gesundheitliche Belastungen sind in Phasen der Verände- rung besonders hoch und Präventionsthemen müssen dann entsprechend direkt eingebracht werden. Drittens müssen sich Beratende für Prävention und BGF in den neuen Formen von Arbeitsorganisation zurechtfinden und wissen, wie sie Gesundheitsthemen gezielt einbringen können. Dies gelingt vor allem dann, wenn sich diese Fachleute selbst agile Ar- beitsmethoden aneignen.
Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung 4 1 Einleitung 7 2 Arbeit 4.0 und neue Konzepte der Arbeitsorganisation 8 2.1 Treiber und integrative Konzepte neuer Arbeitswelten 8 2.1.1 Treiber für neue Arbeitswelten 8 2.1.2 Ursprung und Bedeutung von New Work 9 2.1.3 Ursprung und Bedeutung von Arbeit 4.0 9 2.1.4 Arbeit 4.0 und New Work im Vergleich 10 2.2 Neue Konzepte der Unternehmens- und Arbeitsorganisation 11 2.2.1 Agile Organisation 11 2.2.2 Soziokratie und Holokratie 12 2.2.3 Evolutionäre Organisation 17 2.3 Gemeinsamkeiten neuer Organisationskonzepte 20 3 Gesundheitliche Auswirkungen von Arbeit 4.0 21 3.1 Wandel betrieblicher Prävention und Gesundheitsförderung durch Arbeit 4.0 23 3.2 Neue Perspektiven und Ansatzpunkte für die Beratung 23 3.2.1 Gestaltungsmöglichkeiten in Veränderungsprozessen 24 3.2.2 Chancen und Risiken für die Beratung 24 3.2.3 Erweiterung der Beratungsthemen 28 4 Fazit und Ausblick 29 5 Literaturverzeichnis 30 6 Abbildungsverzeichnis 36 7 Tabellenverzeichnis 36
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation 1 Einleitung Arbeit 4.0, New Work, Holacracy, agiles Arbeiten und die bereich verankert, sondern vollständig unternehmensextern evolutionäre Organisation: Diese und andere aktuell disku- sind. Die vor Ort geltenden Regeln und Abläufe müssen dann tierte Begriffe verdeutlichen, dass sich die Organisation von erst erschlossen, die damit verbundenen Risiken identifiziert Arbeit verändert. Gründe dafür sind der technologische Wan- und Ansatzpunkte für Prävention und BGF erarbeitet wer- del, die zunehmende Internationalisierung, beschleunigte den. Die klassischen Konzepte der Arbeitsorganisation (z. B. Innovations- und Produktzyklen sowie innovative Dienstleis- hierarchische Organisation) sind Beratern und Beraterinnen tungen, beispielsweise auf Grundlage umfangreicher und in der Regel bekannt. Mittlerweile müssen sie aber vermehrt unstrukturierter Daten (Ewinger et al., 2016; Hackl et al., in Organisationen wirken, die sich an Ideen der Arbeit 4.0 2017). Kundenwünsche werden intensiver berücksichtigt orientieren. Um die Präventionsarbeit und die BGF auf jene und die Wertschöpfungsprozesse in den Unternehmen verän- neuen Konzepte und deren Risiken abstimmen zu können, ist dern sich substantiell. Das hierarchische Organisationsprin- es förderlich, wenn sie neue Arbeitsorganisationskonzepte in zip stößt an seine Grenzen, da es zu wenig Flexibilität und ihrer Beratung einordnen und deren Relevanz für ihre Arbeit Innovation ermöglicht (Hackl et al., 2017). Als neue Leitvor- im jeweiligen Kontext bewerten können. stellung gilt das agile Unternehmen. In diesem rückt der Mensch mit seinen kommunikativen und kreativen Fähigkei- Der vorliegende Bericht ermöglicht eine Auseinandersetzung ten in den Mittelpunkt, der Grad der Selbstorganisation in mit neuen Formen der Arbeitsorganisation und deren Bedeu- Teams steigt und die individuelle Selbstverantwortung der tung für die betriebliche Prävention und Gesundheitsförde- Beschäftigten wird wichtiger (Hofert, 2018; Kühl, 2015). rung. Zunächst werden die in der Praxis existierenden Aus- prägungen neuer Arbeitsorganisationsformen vorgestellt. Die neue Art und Weise, Arbeit zu organisieren, bringt Chan- Neben den integrativen Begriffen Arbeit 4.0 und New Work cen mit sich. So können die Beschäftigten ihr Berufs- und rücken hier auch das agile Arbeiten, die Soziokratie/Holokra- Privatleben besser miteinander vereinbaren, wenn die zeitli- tie sowie die evolutionäre Organisation in den Fokus. An- che und räumliche Flexibilität steigt (Gálvez et al., 2011; schließend werden drei Ansatzpunkte für die Präventionsar- Troup & Rose, 2012). Sie können zudem stärker mitentschei- beit und die BGF diskutiert. Der erste Ansatzpunkt adressiert den, auch bei betrieblichen Strategien oder beim Gehalt die individuellen (Gesundheits-)Kompetenzen. Die steigende (Franke et al., 2019; Kühl, 2015). Stichworte wie Demokrati- Selbstverantwortung von Individuen und Teams verlagert sierung und Augenhöhe verdeutlichen diesen Aspekt (Sattel- auch die gesundheitlichen Themen zunehmend in die Eigen- berger et al., 2015). Neben den Chancen bergen die neuen verantwortung der Beschäftigten. Doch damit diese stärker Formen der Arbeitsgestaltung allerdings auch Risiken. Dazu selbstverantwortlich für ihre Gesundheit sorgen können, sind zwei Beispiele: Steigt der Grad der Selbstorganisation an, besondere Kompetenzen erforderlich. Der zweite Ansatz- sind Mitarbeitende stärker als bislang gefordert, ihre Arbeit punkt nimmt betriebliche Veränderungsprozesse in den Blick, selbst zu gestalten. Fehlen ihnen die entsprechenden Kompe- da die gesundheitlichen Belastungen für Beschäftigte in die- tenzen, können sie mit den neuen Anforderungen überfor- ser Phase besonders hoch sind. Präventionsthemen müssen dert sein (Schubert, 2016). Selbstorganisation auf Teamebe- in dieser Zeit bewusst eingebracht werden. Der dritte Ansatz- ne kann dazu führen, dass soziale Konflikte weniger als punkt bezieht sich auf veränderte Anforderungen bei der Be- bislang über Hierarchie geklärt werden können. Teaminterne ratung in Unternehmen. Beratende müssen sich in den neuen Auseinandersetzungen können sich dadurch chronifizieren Organisationsstrukturen zurechtfinden und wissen, wie sie und negativ auf die Gesundheit der Teammitglieder auswir- Gesundheitsthemen zielführend einbringen können. Dies ge- ken (Kühl, 2015). lingt besser, wenn sie sich selbst agile Arbeitsmethoden an- eignen und so bei neuen Formen der Arbeitsorganisation Diese Entwicklungen stellen die Präventionsarbeit und die fachlich anschlussfähig bleiben. Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) vor neue Heraus- forderungen. Beratende kommen in der Regel von außen in die zu unterstützenden Unternehmen, Abteilungen und Teams. Dies gilt insbesondere, wenn sie nicht in einem Stabs- iga.Report 44 | 7
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation 2 Arbeit 4.0 und neue Konzepte der Arbeitsorganisation Aktuell diskutiert die Fachwelt unterschiedliche Konzepte für Die demografischen Entwicklungen wirken sich weitreichend neue Formen der Arbeitsorganisation. In diesem Kapitel wer- auf die Organisationen aus. Die seit ca. 30 Jahren relativ kon- den zunächst die Treiber neuer Arbeitswelten sowie die inte- stante Geburtenrate sowie eine immer weiter ansteigende grativen Konzepte New Work und Arbeit 4.0 erläutert. An- Lebenserwartung führen dazu, dass die Erwerbsbevölkerung schließend werden drei neue Arbeitsformen vorgestellt, die bei ansteigendem Durchschnittsalter abnimmt. Unterneh- momentan in der Praxis, die meiste Resonanz erzeugen: Agi- men müssen zunehmend mit einer sinkenden Anzahl an Be- les Arbeiten, Soziokratie, deren spezifische Weiterentwick- werbungen, einem Fachkräftemangel sowie mit einer älter lung Holokratie, sowie die evolutionäre Organisation. werdenden Belegschaft umgehen (BPM, 2018). Das bedeu- tet, dass Organisationen für potentielle Arbeitskräfte mög- lichst attraktiv sein und ihren Beschäftigten beispielsweise 2.1 Treiber und integrative Konzepte flexible Arbeitsmodelle ermöglichen müssen. Letztere wer- neuer Arbeitswelten den vor allem von jüngeren Bewerbern und Bewerberinnen gefordert. Der demografische Wandel sorgt somit dafür, dass Organisationen auf neue Arbeitsmodelle umsteigen. Gesellschaftliche und technologische Veränderungen führen derzeit dazu, dass Konzepte wie Arbeit 4.0 und New Work an Der Wertewandel in der Gesellschaft führt dazu, dass Le- Bedeutung gewinnen. Die Begriffe werden in Wissenschaft bensentwürfe stärker individualisiert werden (Ewinger et al., und Praxis derzeit intensiv diskutiert und bezeichnen eine 2016). Unternehmen müssen sich künftig zunehmend mit grundlegende und nachhaltige Veränderung der Arbeitswelt heterogenen Werten und Anforderungen an die Arbeit ausei- (Hackl et al., 2017). Beide Begriffe sind breit gefasst und nandersetzen. Vor allem den jüngeren Generationen sind schließen unterschiedliche Entwicklungen ein, wie Arbeit zu- Work-Life-Balance, individualisierte Arbeitszeiten sowie kunftsfähig gestaltet werden kann. Nachhaltigkeit wichtig (Hesse, 2014). Während aber die ei- nen unter Work-Life-Balance einen Gleichgewichtszustand 2.1.1 Treiber für neue Arbeitswelten zwischen Arbeit und Freizeit verstehen, verstehen Andere darunter, Arbeit und Privatleben strikt zu trennen. Darüber Mehrere Rahmenbedingungen und Entwicklungen fördern hinaus existiert das Konzept des Work-Life-Blending. Darun- die Veränderungen der Arbeitswelt und damit die Popularität ter versteht sich die ständige Erreichbarkeit für Privates in von New Work und Arbeit 4.0. Drei Punkte werden nachfol- der Arbeit und für Arbeitsbelange im Privaten. Für solch un- gend stellvertretend für diverse Entwicklungen thematisiert: terschiedliche Wertvorstellungen sind klassische Organisati- die Digitalisierung, die demografischen Veränderungen und onsmodelle nicht flexibel genug (Ameln & Wimmer, 2016). der gesellschaftliche Wertewandel. Die Herausforderung besteht somit darin, Arbeitsorganisati- on stärker zu flexibilisieren und Möglichkeiten zu bieten, die Die Digitalisierung ermöglicht digitale Arbeitsprozesse, in de- den unterschiedlichen Wertvorstellungen der Beschäftigten nen Arbeitsaufgaben über digitale Tools zu jeder Zeit und an entsprechen (Hackl et al., 2017). jedem beliebigen Ort außerhalb des Büros bearbeitet werden können. Arbeitsaufgaben können über Laptops, Tablets oder Es gibt bislang keine belastbaren Daten, wie die genannten Smartphones erledigt werden und erfordern nicht mehr Treiber zur Verbreitung von Arbeit 4.0 und New Work beitra- zwingend eine physische Anwesenheit der Beschäftigten. gen. Offizielle Erhebungen, aber auch nichtwissenschaftliche Dadurch wird die zeitliche und örtliche Entgrenzung der Ar- Online-Umfragen (z.B. Kununu, 2020) beschränken sich auf beitswelt vorangetrieben (Pfeiffer, 2012; Picot & Neuburger, einzelne Aspekte von Arbeit 4.0 und New Work, wie etwa mo- 2008; Kaiser & Kozica, 2014). Organisationen können zuneh- biles Arbeiten beziehungsweise Homeoffice (Grunau et al., mend transparent agieren, indem digitale Informationen frei 2019). Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Ide- zugänglich gemacht werden. Hierdurch entstehen neue For- en von Arbeit 4.0 und New Work in zahlreichen Unternehmen men der Beteiligung der Beschäftigten. diskutiert werden und vielfach Veränderungen auslösen. 8 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation 2.1.2 Ursprung und Bedeutung von New Work Das im Themenschwerpunkt vorliegende Verständnis von New Work geht von Veränderungen in der Arbeitswelt aus, Der ursprüngliche Begriff der Neuen Arbeit geht auf den So- die in Schwerpunktthemen behandelt werden. Drei wesentli- zialphilosophen Frithjof Bergmann zurück, der bereits vor che Veränderungsdimensionen werden durch New Work ad- über 20 Jahren ein alternatives Modell zur klassischen Lohn- ressiert, und zwar People, Place und Technology (siehe auch arbeit entwickelte. Bergmanns Modell der Neuen Arbeit sieht www.iga-info.de/themen/new-work/). Die iga bezieht die Di- vor, dass jeder Einzelne zu je einem Drittel klassischer Er- mension People auf die Beschäftigten und deren Einstellun- werbsarbeit nachgeht, Arbeit verrichtet, die er persönlich gen, Werte, Sinnorientierung und Anforderungen an Organi- wirklich möchte, und sogenannte „High-Tech-Eigen-Produk- sationen sowie auch auf verschiedene Formen von Führung. tion“ (Technologien für die Eigenherstellung von lebensnot- Als neue Anforderungen an New Work nennen Hackl et al. wendigen Dingen) betreibt (Hackl et al., 2017). Der heutige (2017) oder Hofmann et al. (2019) etwa die Möglichkeit zur Begriff New Work geht über dieses Verständnis hinaus und Selbststeuerung, Partizipation und Selbstentwicklung, zur wird allgemeiner als der spezifische Begriff der Neuen Arbeit freien Gestaltung von Arbeit sowie zur Sinnstiftung. Außer- nach Frithjof Bergmann verwendet. dem solle die Arbeit ein soziales Umfeld für die Beschäftigten darstellen. Die Dimension Place umfasst die Rahmenbedin- New Work dient heute vielmehr als Oberbegriff für neue An- gungen von Arbeit, so beispielsweise die Arbeitszeit und den forderungen an Arbeit und eine damit einhergehende inno- Arbeitsort (DGUV, 2016). Als ein wesentliches Merkmal von vative Arbeitsgestaltung (Hackl et al., 2017). Vertreter und New Work gilt die zeitliche und örtliche Flexibilisierung von Vertreterinnen von New Work beziehen den Begriff auf ver- Arbeit (Hofmann et al., 2019), die durch die Digitalisierung schiedene Aspekte, wie beispielsweise Personalbeschaffung von Arbeitsprozessen immer mehr ermöglicht wird (Reddy & (Rekrutierung), Motivation, Zusammenarbeit, Unterneh- Reinartz, 2017; Picot & Neuburger, 2008). Zur Veränderungs- menskultur, Kommunikation, Personalentwicklung und Ler- dimension Technology zählen schließlich die technologischen nen sowie Führung und Organisationsformen (Brommer et Rahmenbedingungen innerhalb von Organisationen, die al., 2019). Nicht immer sind die mit New Work verbundenen ebenfalls durch die voranschreitende Digitalisierung der Ar- Ansätze und Ideen grundlegend neu (Brommer et al., 2019; beitswelt beeinflusst werden (Rau & Hoppe, 2020). Hierzu Martela, 2019) und häufig wird der Begriff recht unspezifisch zählen beispielsweise die genutzte Hard- und Software im Un- verwendet. Trotz reger Diskussionen auf Konferenzen und ternehmen, die Umstellung von analogen auf digitale Arbeits- anderen Tagungsformaten wie Meet-Ups oder Open Spaces prozesse, oder die Vernetzung und Integration von Arbeits- gibt es zudem kein einheitliches Verständnis von New Work. schritten oder Maschinen. 2.1.3 Ursprung und Bedeutung von Arbeit 4.0 New Work – Aktueller Themenschwerpunkt in iga In engem Zusammenhang mit der Digitalisierung der Arbeits- iga greift das Thema New Work derzeit auf und initiiert welt steht der Begriff Arbeit 4.0, der häufig im selben Kon- eine Reihe von Einzelprojekten unter dem Themen- text wie New Work verwendet wird. Der Begriff Arbeiten 4.0 schwerpunkt „New Work“. Im Fokus der Projekte stehen wurde durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Veränderungsprozesse, mit denen Unternehmen und (BMAS) im Jahr 2015 geprägt und schließt sich begrifflich an Beschäftigte konfrontiert sind, und dazu passende neue die früheren Stufen der Entwicklung von Arbeit an (siehe Ansätze für die Prävention und betriebliche Gesundheits- hierzu Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2015): förderung. Die Ergebnisse sollen die Beratung zu – Arbeiten 1.0 beschreibt die beginnende Industriegesell- Sicherheit und Gesundheit in Unternehmen unterstützen. schaft und die ersten Arbeiter-Organisationen. Neuerun- gen in der Produktionsweise, der Organisation von Arbeit www.iga-info.de > Themen > New Work und auch den Gesellschaftsstrukturen gehen v.a. auf die Einführung der Dampfmaschine am Ende des 18. Jahrhun- derts zurück. – Arbeiten 2.0 zeichnet sich durch die beginnende Massen- produktion im Zuge der Industrialisierung sowie die An- iga.Report 44 | 9
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation fänge des Wohlfahrtsstaates am Ende des 19. Jahrhunderts 2.1.4 Arbeit 4.0 und New Work im Vergleich aus. – Arbeiten 3.0 beschreibt die anschließende, auf sozialer Für die Begriffe Arbeit 4.0 und New Work existieren keine Marktwirtschaft basierende, Konsolidierung des Sozialstaa- einheitlichen Definitionen und sie werden häufig synonym tes und der Arbeitnehmerrechte im Laufe des 20. Jahrhun- verwendet. Dennoch können Anhaltspunkte identifiziert wer- derts. den, anhand derer die Begriffe unterschieden werden kön- – Arbeiten 4.0 ist durch eine zunehmende Flexibilisierung, nen. So wurde der Begriff New Work insbesondere durch in- Dezentralisierung und Virtualisierung von Arbeit und Ar- teressierte Personen und Unternehmen (v.a. Beratungs- beitswelten zu Beginn des 21. Jahrhunderts gekennzeich- unternehmen, Vortragsredner und -rednerinnen („Speaker“), net (Hackl et al., 2017). Die Entgrenzung von Zeit und Einzelberatende und die Start-Up-Szene) populär (vgl. Tabelle Raum sowie eine immer weitreichendere Vernetzung füh- 1). Der Wunsch nach demokratischen Unternehmensstruktu- ren dazu, dass die Beschäftigten permanent erreichbar ren und unmittelbarer Mitbestimmung, nach Zeit- und Orts- sind und so die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben autonomie und einer besseren Work-Life-Balance steht im zunehmend verschwimmen. Gleichzeitig entstehen durch Mittelpunkt. Der Fokus von New Work liegt auf den Individu- den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel neue An- en in der Organisation, deren Werte und Anforderungen an sprüche an Dienstleistungen, Produkte und der Arbeit gute Arbeit sowie die sich daraus ergebende Gestaltung neu- selbst, die es zukünftig zu gestalten gilt. Bisher ist noch er Arbeitswelten. New Work bezieht sich dabei besonders auf offen, wie Organisationen und Arbeitswelten in Zukunft positive Aspekte neuer Arbeitswelten und wird häufig über aussehen werden. zusammenstellende Listen „guter“ Elemente von „New Work“ charakterisiert. Hierzu gehören z. B. Mitbestimmung, Selbst- Basierend auf den grundlegenden Merkmalen, wird in die- organisation und neue Vergütungsmodelle („New Pay“). sem Report Arbeit 4.0 als erwerbsorientierte Arbeit verstan- den, die sich durch ein hohes Maß an Virtualisierung von Ar- Arbeiten 4.0 wurde hingegen in öffentlichen Institutionen beitsmitteln, Vernetzung von Personen und Flexibilisierung wie dem BMAS geprägt und hat damit seinen Ursprung auf von Arbeitsorten, -zeiten und inhalten auszeichnet. Arbeit 4.0 der Governance-Ebene. Dementsprechend wird Arbeit 4.0 bzw. Arbeiten 4.0 steht zudem für die veränderten Erwartun- stärker von Ministerien, in öffentlichen Ausschreibungen gen der Beschäftigten in Bezug auf Beteiligung, Autonomie oder Forschungseinrichtungen verwendet (vgl. Tabelle 1). Ar- und Sinnstiftung durch die Arbeit. beitsgestaltung wird hier umfassender verstanden und es Tabelle 1: Gegenüberstellung von New Work und Arbeit 4.0 New Work Arbeit 4.0 Verbreitung In Unternehmen, der Start-Up-Szene Auf Governance-Ebene entstanden, und in der Beratung Verwendung des Begriffs in offiziellen Veröffentlichungen Fokus Individuen, Anforderungen an gute Neue Technologien, Entgrenzung von Arbeit aus Sicht der Einzelnen, eklektische Arbeit, konkrete Themen neuer Arbeits- Themensammlung zur Charakterisierung welten (z. B. Homeoffice) von New Work Akteure Freie Beratende, interessierte Führungs- Ministerien, Forschungseinrichtungen, kräfte z. B. in Foren zunehmend Unternehmen Begriff Auf positive Aspekte fokussiert, eklektisch Neutraler, integrativer und an konkreten Konzepten (Homeoffice, Arbeitszeit) orientiert 10 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation werden neben den positiven Aspekten ebenso die negativen reichste Konzept für moderne Formen der Arbeitsorganisation. Aspekte in den Blick genommen. So kann eine aus der Die agile Organisation grenzt sich von klassischen Organisati- New-Work-Bewegung geforderte gesetzliche Änderung beim onsformen ab, die durch feste Machtstrukturen und langwieri- Arbeitszeitgesetz für abhängige Beschäftigte erhebliche Risi- ge Entscheidungsprozesse geprägt sind (Brückner & Ameln, ken bergen. Die integrative und neutrale Bedeutung von Ar- 2016). In agilen Organisationen besitzen Teams ein hohes beit 4.0 liegt auch diesem Report zugrunde. Maß an Eigenverantwortung bezüglich der Arbeitsorganisa- tion und Bottom-up-Vorgehensweisen stehen im Vorder- grund (Hofert, 2018; Kaltenecker, 2017). 2.2 Neue Konzepte der Unternehmens- und Arbeitsorganisation Erstmals beschrieben wurde die Grundidee in den 1970er Jahren durch den ehemaligen McKinsey-Vorstand Tom Peters und die Professorin Rosabeth Moss Kanter (Hofert, 2018; Die veränderten Anforderungen an Arbeit führen dazu, dass Summerer & Maisberger, 2018). Mit Agilität bezeichneten sie unter dem Leitgedanken der Arbeit 4.0 zunehmend innovati- die flexible und aktive Anpassungsfähigkeit von Unterneh- ve Konzepte der Arbeitsorganisation aufgegriffen werden. Zu men an Marktveränderungen (Hofert, 2018). Aufgrund im- den bekanntesten Ansätzen zählen die Konzepte der Agilität, mer dynamischer werdender Märkte entwickelte sich das Soziokratie und Holokratie sowie der evolutionären Organi- Konzept der Agilität in den darauffolgenden Jahren weiter. sation. Diese Konzepte stellen (anders als der umfassendere Im Jahr 2001 veröffentlichte ein Softwareentwickler-Team Begriff der Arbeit 4.0) spezifische Ansätze der Arbeitsorgani- um Kent Beck das sogenannte agile Manifest (Beck et al., sation dar. Der Begriff Arbeitsorganisation umfasst laut Nis- 2020), das die Grundannahmen des agilen Arbeitens bein- sen & Bartscher, 2018 (o. S.) die haltet. Zu diesen Grundsätzen zählen: 1. Die Autonomie von und Interaktion zwischen Individuen „Gestaltung nach Art, Umfang und Bedingungen aller stehen über Prozessen. Elemente des Arbeitens. Von zentraler Bedeutung ist 2. Gleichberechtigung von Individuen und Zusammenarbeit hierbei, wie Menschen mittelbar oder unmittelbar mit erhalten Vorrang vor Verhandlungen. anderen Menschen zusammenarbeiten.“ 3. Flexibilität gegenüber sich ändernden Umständen steht über der Einhaltung eines Plans. Arbeitsorganisationskonzepte geben somit vor, wie Unter- nehmen Arbeitsprozesse zukunftsfähig organisieren sollen. Das agile Manifest bildet den Startpunkt einer Reihe von In den genannten Konzepten gibt es jeweils grundlegende Weiterentwicklungen des Konzepts, z. B. konkretere Hand- Prämissen, die in initialen Publikationen festgehalten wur- lungsrahmen oder Methoden wie Scrum und Kanban (Hofert, den, wie zum Beispiel dem agilen Manifest (https://agilema- 2018). nifesto.org) oder den Vorgaben für die Holokratie (Robert- son, 2015b). Die Konzepte sind daher in dem Sinne normativ, Die Kernidee agilen Arbeitens ist es, in interdisziplinären als dass sie konkrete Vorgaben dafür machen, wie die Kon- Teams selbstorganisiert zusammenzuarbeiten und so das zepte in der Praxis angewandt werden sollen. Beratende, die verteilte Wissen der Teammitglieder besser zu nutzen. Dies in Unternehmen tätig sind, können das betriebliche Gesche- soll eine schnellere Reaktion auf Umweltveränderungen und hen vor Ort besser bewerten und adäquate Ansätze für die Entscheidungen ermöglichen und so den Kundennutzen stär- Präventionsarbeit und die BGF identifizieren, wenn sie die ken (Brückner & Ameln, 2016). Die Agilität soll über unter- gängigen Konzepte für die neuen Arbeitsorganisationen ken- schiedliche Dimensionen erreicht werden. Besonders betont nen. Nachfolgend werden daher die agile Organisation, die wird, dass agiles Arbeiten ein bestimmtes Mindset voraus- verwandten Konzepte der Soziokratie und Holokratie sowie setzt, also eine bestimmte Haltung der Beschäftigten (Hofert die evolutionäre Organisation vorgestellt. & Thonet, 2019). Mindset lässt sich als Denk- und Hand- lungslogik beschreiben, als eine Einstellung des Denkens, die 2.2.1 Agile Organisation nicht vom Handeln getrennt werden kann. Sowohl Menschen als auch Organisationen haben ein Mindset, wobei Individuen Elemente des agilen Arbeitens werden in zahlreichen Organi- im Arbeitsumfeld häufig das organisationale Mindset über- sationen genutzt, und es ist das derzeit vermutlich einfluss- nehmen (Hofert & Thonet, 2019). Daher wird über die gesamte iga.Report 44 | 11
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation Organisation hinweg eine bestimmte Kultur gefordert, die Ein zentraler Aspekt agiler Organisationen ist es, die Be- das organisationale Mindset widerspiegelt. Neben dem schäftigten auch teamübergreifend stärker zu vernetzten. Mindset und der Kultur zeichnet sich agiles Arbeiten durch John Stepper (2020) entwickelt hierfür die Methode des konkrete Vorgehensweisen (Frameworks) und Werkzeuge Working Out Loud (WOL). Das „laute Arbeiten“ hilft dabei, aus (beispielsweise Stand-up-Meetings, Kanban-Board). Eine Arbeitsbeziehungen aufzubauen und zu vertiefen und so in- beispielhafte Definition von Agilität verdeutlicht dies: dividuelle und gemeinsame Ziele leichter zu erreichen. Dies geschieht mithilfe von Geschichten, Praktiken und Übungen, „Agilität ist eine Haltung, eine Unternehmenskultur mit die in sogenannten WOL-Zirkeln angewandt werden. Dazu gelebten Werten. Es gibt klare Vorgehensweisen und treffen sich die Beschäftigten 12 Wochen lang (persönlich Werkzeuge, die die Selbstorganisation von Einzelper- oder digital) in Kleingruppen und bearbeiten ihre jeweiligen sonen, Teams und Organisationen unterstützen. Ziele Ziele gemeinsam. der agilen Zusammenarbeit […] sind: die Kundenzufrie- denheit [...], bessere Produkte in kürzerer Zeit […], die Agile Arbeitsmethoden sind in der Praxis weit verbreitet und Mitarbeiterzufriedenheit [...] und eine hohe Attraktivität werden für einzelne Projekte oder im ganzen Unternehmen des Unternehmens für junge Mitarbeiter“ angewandt. Ein bekanntes Beispiel ist eine Online-Bank, die (Summerer & Maisberger, 2018, S. 8). seit einiger Zeit auf agile Strukturen umstellt (ING, 2020). Die Bank reagiert damit auf veränderte Anforderungen von Kund- Als bekanntestes Framework agilen Arbeitens gilt der Pro- schaft und Umwelt. Die Umsetzung von agilen Arbeitsmetho- duktentwicklungsprozess Scrum, der mit fest vorgegebenen den orientiert sich am internen Leitfaden „One Agile Way of Rollen und Regeln versucht, eine agile Arbeitsweise zu er- Working“, der auf den Prinzipien „Eigenverantwortlichkeit der möglichen (Brückner & Ameln, 2016). Die Mitglieder eines Mitarbeiter“, „Einbeziehung der Kunden“ und „Einheitliches multidisziplinären Teams nehmen eine von drei festen Rollen Organisationsdesign und einheitliche Arbeitsweisen“ basiert. ein, die jeweils einen bestimmten Zweck erfüllen. Der Prod- uct Owner ist für die Beschaffenheit und die Güte des Pro- Agiles Arbeiten kann sich positiv auf die Zufriedenheit und dukts zuständig, während das Entwicklungsteam das Pro- Produktivität auswirken, Innovationen fördern und den Nut- dukt eigenständig und selbstorganisiert anfertigt (Brückner zen der Kundschaft steigern. Agile Arbeitsmethoden bergen & Ameln, 2016). Zudem existiert die Rolle des Scrum Mas- jedoch auch Risiken. So können leistungsschwächere Be- ters, der die Einhaltung der Scrum-Regeln beaufsichtigt und schäftigte durch die neuen Arbeitsweisen überlastet werden. eventuelle Hindernisse für das Team beseitigt (Hofert, 2018). Zudem wird durch die hohe Transparenz erkennbar, wer wie Durch eine iterative Vorgehensweise und die inkrementelle viel in welcher Zeit erreicht. Dies kann Beschäftige psychisch Auslieferung von Produkten besteht die Möglichkeit, Anpas- belasten (Hofert, 2018). Trotz dieser Risikofaktoren sind agile sungen und Veränderungen schneller vorzunehmen (Brück- Arbeitsmethoden in der Praxis bereits weit verbreitet (siehe ner & Ameln, 2016). Neben dem Scrum ist unter anderem die auch Tabelle 2). Methode des Design Thinking verbreitet, die zur Entfaltung von Kreativität in komplexen Sachverhalten dienen soll. Die- 2.2.2 Soziokratie und Holokratie se ebenfalls iterative Vorgehensweise basiert auf der Arbeit in multidisziplinären Teams, in multifunktionalen Räumen und Ein zentrales Merkmal von Arbeit 4.0 ist die Mitbestimmung mit variierenden Perspektiven und Aufgaben (Brückner & und Selbststeuerung der Beschäftigten. Die Organisationsform Ameln, 2016). Des Weiteren hat die Visualisierungsmethode der Soziokratie zielt darauf, Beschäftigte möglichst weitrei- Kanban (japanisch für „Karte“ oder „visuelles Zeichnen“) zu- chend in unternehmensbezogene Entscheidungen einzubezie- nehmend an Popularität gewonnen. Die Methode stammt ur- hen. Sie geht ursprünglich auf den französischen Philosophen sprünglich aus der Produktion und ist Teil der sogenannten August Compte zurück und wurde erstmals 1970 von Gerard Lean Production, die den Ressourcenverbrauch in der Produk- Endenburg, einem niederländischen Ingenieur, in dessen Un- tion minimieren soll (Hofert, 2018). Heute wird die Methode ternehmen praktisch umgesetzt (Strauch & Reijmer, 2018). Die auch in der Wissensarbeit genutzt, um Abläufe in die drei ein- Organisationsform der Soziokratie erlaubt es den Beschäftig- fachen Schritte zu unterteilen: zu erledigen, in Arbeit und erle- ten, sich weitgehend selbst zu führen und zu organisieren und digt. Kanban fördert so die Transparenz von Arbeitsprozessen kann durch den Grundgedanken der Gleichheit aller Beteilig- und ermöglicht es Zuständigkeiten schnell zu überblicken. ten charakterisiert werden. Dies drückt sich auch in der Etymo- 12 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation Tabelle 2: Die wichtigsten Begriffe für Agiles Arbeiten Begriff Erklärung Agilität Unternehmen mit spezifischem agilen Mindset (Unternehmenskultur), klaren Vorgehensweisen und Werkzeugen zur Selbstorganisation von Einzelpersonen, Teams und Organisationen. Ziele: Kundenzufriedenheit steigern, bessere Produkte in kürzerer Zeit liefern, Beschäftigtenzufrieden- heit erhöhen, Attraktivität als Unternehmen steigern Scrum Produktentwicklungsprozess mit fest vorgegebenen Rollen und Regeln; Teammitglieder nehmen eine von drei Rollen ein: – Product Owner: zuständig für Beschaffenheit und die Güte des Produkts – Entwicklungsteam: fertigt das Produkt eigenständig und selbstorganisiert an – Scrum Master: beaufsichtigt Einhaltung der Scrum Regeln und beseitigt Hindernisse Iterative Vorgehensweise und inkrementelle Auslieferung von Produkten ermöglichen schnelle Anpassungen und Veränderungen Design Thinking Kreativitätsmethode für komplexe Sachverhalte; Arbeit in multidisziplinären Teams, in multifunktio- nalen Räumen und mit variierenden Perspektiven und Aufgaben Kanban Visualisierungsmethode für Arbeitsprozesse; Einteilung von Arbeitsaufgaben in die drei Kategorien zu erledigen, in Arbeit, und erledigt Transparenz von Arbeitsprozessen, Überblick über Zuständigkeiten Working Out Loud Vernetzungsmethode, um relevante Arbeitsbeziehungen aufzubauen, Ziele leichter zu erreichen und selbstorganisierter zu arbeiten. + = Abbildung 1: Kreisstruktur Soziokratie (Eigene Darstellung, in Anlehnung an Rüther, 2017) logie des Begriffs Soziokratie aus: Er setzt sich aus dem Latei- sogenannten Konsent-Prinzip getroffen (Strauch & Reijmer, nischen socius = der Gefährte, und dem Griechischen kratein = 2018). Der Konsent unterscheidet sich von Konsens dadurch, Macht zusammen und bedeutet zusammengesetzt die Macht dass nicht jede beteiligte Person einen Vorschlag befürwor- der Gruppe (Schallhart, 2017). ten muss, sondern lediglich keinen schwerwiegenden Ein- wand dagegen haben darf (Schallhart, 2017; Rüther, 2017). Entscheidungen werden in soziokratischen Modellen auf Ba- Das Resultat muss also keine Übereinstimmung sein, son- sis von Gleichgewicht, Feedback und Transparenz nach dem dern es geht vielmehr darum, die Gegenargumente und Be- iga.Report 44 | 13
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation dürfnisse aller zu berücksichtigen. Trotz der Mitbestimmung sich auch der Vorreiterbetrieb von Gerard Endenburg mittler- der Beschäftigten bleiben in soziokratischen Organisationen weile wieder von dem Modell entfernt (Rüther, 2017). hierarchische Linienstrukturen erhalten. Diese werden je- doch durch Kreise ergänzt, die ebenfalls hierarchisch ange- Soziokratie gilt als Grundlage für ein neueres und radikaleres ordnet sind (siehe Abbildung 1). Konzept der Unternehmensorganisation: die Holokratie. Im Gegensatz zu anderen Managementsystemen, die ihren zent- Die Kreise entscheiden innerhalb ihrer Grenzen autonom und ralen Fokus auf die Führungskräfte legen, steht die Holokratie verfolgen dabei gemeinsame Ziele. Alle Beteiligten im Kreis für eine radikale Neuerfindung der Unternehmensstruktur. agieren auf Augenhöhe und tragen gleichberechtigt zur Lö- sungsfindung bei. Die Kreise sind durch eine doppelte Kopp- Das Organisationskonzept der Holokratie geht auf den ame- lung an den nächsthöheren Kreis gebunden. Jeder Kreis ver- rikanischen Unternehmer Brian Robertson zurück, der ge- fügt über eine leitende und eine delegierende Person, die meinsam mit zwei Kollegen die Marke Holacracy gründete jeweils im Entscheidungsprozess des nächsthöheren Kreises und patentieren ließ. Angelehnt an Elemente der Soziokratie eingebunden ist und dort die Interessen des eigenen Kreises (zum Beispiel Kreisstruktur mit doppelter Kopplung) entwi- vertritt. Eine im Voraus gemeinsam entwickelte Vision kann ckelten sie eine Verfassung, die die Grundlagen der Holokra- dabei helfen, die individuelle Motivation für Gemeinschafts- tie beschreibt. Brian Robertson vergleicht die Holokratie be- interessen zu stärken (Geschwill & Nieswandt, 2020). ziehungsweise die Verfassung mit einem Betriebssystem oder mit Spielregeln, die als Grundlage (bestehend aus Re- Laut den Vertretern und Vertreterinnen des Konzepts, ist es geln, Strukturen und Prozessen) für ein System dienen und unabhängig von der Größe, Branche und Ausrichtung des als Ganzes übernommen werden müssen (Rüther, 2017). Unternehmens möglich, das Konzept zu implementieren. Er- folgreiche soziokratische Führungsstrukturen setzen, genau Der holokratische Ansatz stützt sich auf drei organisatorische wie agile Organisationen, ein neues Mindset und einen Men- Reformen (Bodie, 2018): talitäts- und Kulturwechsel voraus (Lobodda & Schlachte, 1. Eine komplexe interne Governance-Struktur, welche 2018). Führungskräfte müssen bereit sein, Macht abzugeben, Macht auf nicht-hierarchische Gruppen verteilt; und Mitarbeitende müssen die neue Verantwortung anneh- 2. Prozesse zur Aufbringung und Lösung von Problemen men. Neben dem Ursprungsbetrieb von Gerard Endenburg innerhalb der Governance-Struktur; führten weltweit zahlreiche Organisationen das soziokratische 3. und eine Fokussierung auf den organisationalen Zweck. Modell ein. Dazu zählen beispielsweise eine innovative Soft- ware-Beratung (Oestereich, 2015), eine niederländische Dach- Die Organisationsstruktur der Holokratie besteht aus einer organisation für Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen Holarchie von selbstorganisierenden Teams, den sogenann- sowie eine niederländische regionale Pflegeorganisation ten Kreisen (siehe Abbildung 2). Die Holarchie der Kreise ent- (Rüther, 2017). Obwohl verschiedene Soziokratiezentren be- steht prozessual und entwickelt sich über die Zeit hinweg. stehen (https://soziokratiezentrum.org/), über die das Orga- Das Ziel ist es, auf diese Weise eine natürliche Hierarchie zu nisationsmodell der Soziokratie durch Beratung und Ausbil- kreieren, die ihren Fokus auf die Arbeit und nicht auf Einzel- dung verbreitet wird, ist es schwer einzuschätzen, wie viele personen richtet (van de Kamp, 2014). Jeder Kreis verfolgt Organisationen das Modell implementiert haben. ein Ziel und besitzt einen eigenen Anwendungsbereich sowie die Befugnis, eigene Rollen und Verantwortlichkeiten zu defi- Einerseits kann der Grundgedanke von Gleichberechtigung nieren. Wie in der Soziokratie, sind auch die Kreise der Holo- und Mitbestimmung positiv bewertet werden, da die Konzepte kratie über eine Doppelverbindung miteinander verknüpft. mehr Flexibilität und Autonomie der Mitarbeitenden zulassen Zu den Kernpraktiken der Holokratie gehören regelmäßige (Lübbers & Johannsen, 2018). Auf der anderen Seite ist ein Kreisbesprechungen zur Strukturierung und Erledigung der grundlegendes Umdenken von Führungskräften und Mitarbei- Arbeit. Zusätzlich zu den Kernpraktiken beinhaltet die Holo- tenden oft schwierig und kann viel Zeit in Anspruch nehmen kratie Zusatzpraktiken oder Module, die viele spezifische Un- (Geramanis & Hutmacher, 2018). In der Praxis zeigt sich, dass ternehmensprozesse abdecken (zum Beispiel Einstellungen, nur wenige Betriebe das Organisationssystem der Soziokratie Budgetierungen, Projektmanagement) und je nach Bedarf über einen längeren Zeitraum hinweg aktiv umsetzen. So hat angewandt werden können (Robertson, 2007). 14 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation Praxisbeispiel 1: Endenburg Elektrotechnik (www.endenburg.nl) – Gerard Endenburg entwickelt und implemetiert als Erster die Soziokratie in seinem Unternehmen. – Er stellt die vier Grundprinzipien der Soziokratie auf: 1. Das Konsent-Prinzip; 2. Kreisstruktur r 0e der Organisation; 3. Doppelte Verknüpfung der Kreise; und 4. Besetzung von Funktionen und 197 Aufgaben im Konsent. – Endenburg gründet das Soziokratische Zentrum der Niederlande, um den soziokratischen Ansatz 8 auch anderen Unternehmen näher zu bringen. 1 97 r – Im Sinne einer vollständigen Soziokratie wird die Eigentümerschaft von Endenburg Elektrotechnik e 980 auf eine Stiftung übertragen. 1 7 er – Endenburg zieht sich aus dem Unternehmen zurück. 1 99 – Neuer Geschäftsführer Job Knoester übernimmt die Leitung. 09 20 – Im Laufe der Jahre hat Knoester mit Zustimmung des Top-Kreises einige Veränderungen durchgesetzt, is die die Soziokratie teilweise einschränken. So gibt es bspw. keine doppelten Verknüpfungen mehr 09b zwischen den Kreisen und der Geschäftsführer kann ohne Zustimmung des Konsent Beschäftigte 20 ute einstellen oder entlassen, was eigentlich Aufgabe der jeweiligen Kreise ist. Dies macht deutlich, wie he viel Einfluss die Geschäftsführung auf die Umsetzung neuer Organisationskonzepte hat. (Rüther, 2017) iga.Report 44 | 15
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation sert. Es ist hilfreich, Entscheidungen schnell und schrittweise unter Einbezug möglichst vieler und ggf. im Prozess neu auf- n ne tretender Informationen zu treffen, sodass der gewählte Weg rso e Pe eis Kr kontinuierlich angepasst werden kann. Im Falle von Unklar- heiten bezüglich der zu treffenden Entscheidung sollen indi- viduelle Maßnahmen nach eigenem Ermessen ergriffen und llen die daraus folgenden Auswirkungen akzeptiert werden, um Ro anschließend aus der Erfahrung zu lernen (Robertson, 2007). Neben den positiven Aspekten wird das Konzept der Holo- kratie auch kritisiert: – Ähnlich wie bei der Soziokratie und der agilen Organisa- tion erfordert auch das holokratische Konzept ein Umdenken von Führungskräften und Mitarbeitenden, was zu Ablehnung oder Überforderung bei den Beteilig- ten führen kann (Rüther, 2017). Abbildung 2: Kreisstruktur Holokratie (Eigene Darstellung, in – Aufgrund der strengen Regelungen und starren Abläufe Anlehnung an Rüther, 2017) des holokratischen Modells besteht die Gefahr einer Überregulation, wobei gleichzeitig soziale Komponenten Einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen einer tra- in den Hintergrund treten. Csar (2017) merkt dazu an, ditionellen Organisation und der Holokratie ist, dass Einzel- dass teilweise eine Verschleierung in Hinblick auf personen keine Berufsbezeichnungen mehr tragen. Das be- hierarchische Strukturen innerhalb von Gruppen stattfin- deutet, dass auch keine Managementtitel mehr existieren, da det. So liegt der Fokus nicht auf Einzelpersonen und Berufsbezeichnungen oft statusbezogen sind und lediglich deren Persönlichkeiten oder Teams, sondern lediglich auf einen vagen Zusammenhang mit der eigentlich erbrachten den Rollen und Zwecken, die diese Personen für die Arbeit des oder der Einzelnen besitzen. Die Holokratie defi- Organisation erfüllen. Es gibt in holokratischen Systemen niert Rollen mit einem klaren Zweck und nur dann, wenn sie demnach keinen Platz mehr für informellen Austausch, zum organisatorischen Zweck und zum Ziel des Kreises bei- der nicht in direktem Arbeits- oder Rollenbezug steht. tragen. Die Rollen entstehen also durch die zu erledigende Problematisch hieran ist, dass sich solch informelle Arbeit. Durch die Zuweisung von Befugnissen und Verant- Beziehungspflege auch auf formale Tätigkeiten in der wortlichkeiten wird die Entscheidungsfindung auf das ge- jeweiligen Rolle auswirkt beziehungsweise auswirken samte Unternehmen verteilt (van de Kamp, 2014). kann (Goyk & Grote, 2018). Arbeitsplatzbezogene soziale Beziehungen beeinflussen das Leistungsvermögen, die Im Jahr 2015 existierten weltweit ca. 300 Unternehmen, die Arbeitszufriedenheit und somit auch die Gesundheit der das Konzept der Holokratie längerfristig anwendeten (Robert- Beschäftigten (Drössler et al., 2016). son, 2015a). Zudem experimentieren zahlreiche Unternehmen – Zudem finden sich in den holokratischen Regeln keine mit holokratischen Methoden (siehe z. B. Andrey & Jung, 2016; oder nur schwer in der Realität anwendbare Hinweise Universität St. Gallen, 2017) und es gibt einige lizensierte Be- zum Umgang mit Streitigkeiten oder unkooperativen ratungsunternehmen zur Holokratie. Als wohl bekanntestes Beschäftigten (Csar, 2017). Dies ist darauf zurückzufüh- und erfolgreichstes Beispiel für die Implementierung von Holo- ren, dass in den strengen Sitzungsregeln und im Organi- kratie innerhalb eines Unternehmens dient die Tochtergesell- sationsmodell der Holokratie Emotionalität nicht schaft eines amerikanischen Online-Versandhändlers (Kumar zugelassen oder thematisiert wird (Rüther, 2017). & Mukherjee, 2018). Diese Firma wird in vielen Publikationen, Fallstudien und Vorträgen aufgegriffen. Tatsächlich gibt es Unternehmen, die bei der Einführung ho- lokratischer Konzepte und den damit einhergehenden, tief- Holokratie steigert die organisatorische Agilität (die hier greifenden Machtveränderungen scheiterten (zum Beispiel auch als sprachlicher Bezugspunkt dient), indem es die Me- eine digitale Plattform im Bereich Insurance Technology) thoden zur Kontrolle organisatorischer Aktivitäten verbes- (Rüther, 2017). 16 | iga.Report 44
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation Praxisbeispiel 2: Online-Versandhändler für Schuhe und Kleidung (www.zappos.com) Seit Januar 2014 ist das Unternehmen offiziell Seither erfolgreiches Beispiel für eine holokratisch organisiert (Zappos Insights, 2020). holokratische Organisation Die Beschäftigten arbeiten in selbtsorganisierten Kreisen zusammen und nehmen dabei verschie- dene Rollen ein (Zappos Insights, 2020). Die Einführung der Ca. 18 % der Be- Kumar und Mukherjee Auch das Unternehmen Holokratie erfolgte schäftigten verließen (2018) nennen die selbst betont die radikal, wobei die daraufhin das Unter- Anpassung der Unter- Wichtigkeit der Beschäftigten sich nehmen (Kumar & nehemskultur als Unternehmenswerte entscheiden konnten, Mukherjee, 2018). Auf zentralen Erfolgsfaktor und -kultur: „We all ob sie weiterhin in der diese Weise konnte für die Einführung know that our culture neuen Organisation sichergestellt werden, neuer Organisations- and our core values arbeiten wollen oder dass die verbliebenen konzepte wie das der are THE secret sauce nicht (Kumar & sich mit den neuen Holokratie. behind not only our Mukherjee, 2018). Unternehmenswerten success, but our love und der Unterneh- for this company and menskultur identifi- for being a part of it.“ zieren. (Zappos Insights, 2020) 2.2.3 Evolutionäre Organisation herausfiltern, was innovative und erfolgreiche Unternehmen gemeinsam haben und was die dann später „evolutionär“ ge- Ausgehend von einem tiefgreifenden Wandel der Arbeitswelt nannten Organisationen von den Klassischen unterscheidet. diskutiert Frederic Laloux in seinem Buch „Reinventing Or- Laloux stellte dabei fest, dass die Organisation der Zukunft ganizations“ (2015) die Frage, wie Organisationen im 21. Jahr-nicht darauf basiert, alte Modelle zu adaptieren. Vielmehr findet ein radikaler Paradigmenwechsel statt, in dem es kei- hundert gestaltet werden können. Dabei stellt er die klassischen Organisationsformen, die primär auf Hierarchie ausgelegt sind,nen Platz für starre Hierarchien gibt. infrage und arbeitet zentrale Merkmale zukunftsfähiger, evoluti- onärer Organisationen aus. Im Rahmen seiner Untersuchung identifizierte Laloux drei wesentliche Charakteristiken evolutionärer Organisationen. Laloux zufolge haben die heute vorherrschenden Strukturen In seinem Modell unterscheidet er zwischen verschiedenen ihre Grenzen erreicht, weshalb eine neue produktive und er- Entwicklungsstufen von Organisationen, die sich danach be- füllende Organisationsform, die sogenannte evolutionäre messen lassen, in welchem Maße sich die drei folgenden Organisation benötigt wird. Das Ziel besteht darin, Organisa- Prinzipien einer evolutionären Organisation in den Unter- tionen zu schaffen, die frei von Burnout, Stress, Konkurrenz nehmen widerspiegeln: und Bürokratie sind. – Selbstorganisation: Die Selbstorganisation zeichnet sich dadurch aus, dass externe Führung durch Selbstführung Grundlage für Laloux’ Konzept sind zwölf ausgewählte Unter- und Eigenverantwortung ersetzt wird. Evolutionäre nehmen unterschiedlicher Branchen und Größen, die er durch Organisationen funktionieren vollständig ohne Hierarchi- seine Tätigkeit als Berater kennengelernt und anschließend en und ohne das lähmende Konsensprinzip in der näher analysiert hat. Anhand dieser Praxisbeispiele konnte er Entscheidungsfindung. Für Laloux ist die konsultative iga.Report 44 | 17
Evolution der Unternehmens- und Arbeitsorganisation Einzelentscheidung das Kernelement der Selbstorganisa- Obwohl beide Unternehmen erfolgreich sind, kritisiert Rüther tion. Entscheidungen werden demnach dezentral an den (2017), dass Frederic Laloux sich zu sehr auf die positiven betroffenen Stellen getroffen und nicht an der Spitze der Aspekte der in die Analyse einbezogenen Organisationen fo- Hierarchie. Demzufolge kann jede Person Entscheidungen kussiert. Negative Aspekte, Schwierigkeiten bei der Umset- für ihren Aufgabenbereich treffen, sobald sie sich im zung oder Elemente aus traditionellen Organisationsmodellen Vorfeld den Ratschlag aller Beteiligten eingeholt hat. werden nicht diskutiert. Die Grundgedanken von Selbstorgani- Diese Art des Entscheidungsprozesses fördert den sation, Mitbestimmung und Ganzheitlichkeit können sich posi- Informationsaustausch und die Transparenz innerhalb der tiv auf die Produktivität, die Zufriedenheit und die Gesundheit Organisation. der Beschäftigten auswirken (Geramanis & Hutmacher, 2018; – Ganzheitlichkeit: Ganzheitlichkeit meint, dass die Laloux, 2015; Lübbers & Johannsen, 2018). Dennoch muss, Beschäftigten mit all ihren Eigenschaften, Emotionen genau wie bei den anderen neuen Organisationsmodellen, und Zweifeln partizipieren können. Die eigene Persön- auch bei der evolutionären Organisation angemerkt werden, lichkeit soll eingebracht werden, da der oder die Beschäf- dass das erforderliche radikale Umdenken von Führungskräf- tigte als ganzheitlicher Mensch und nicht nur als ten und Mitarbeitenden nur sehr schwer zu erreichen ist. Produktionsfaktor betrachtet wird. Evolutionäre Organi- Auch können Mitarbeitende von der neuen Selbstorganisati- sationen fördern die Authentizität der Beschäftigten, die on und Eigenverantwortung überfordert sein (Geramanis & in klassischen Organisationen häufig „Masken tragen“ Hutmacher, 2018; Lübbers & Johannsen, 2018). Auch in den und einen Teil ihres Selbst verdrängen. Außerdem werden von Laloux untersuchten Organisationen treten Schwierig- Konkurrenzdenken und Selbstdarstellung unbedeutend, keiten in der Praxis auf. Diese werden allerdings aufgrund da kollektive Intelligenz und rechtzeitiges Feedback des Erkenntnisinteresses nicht weiter diskutiert (Rüther, Konflikte lösen und verhindern. 2017). In Bezug auf das Organisationsmodell äußert Rüther – Evolutionärer Zweck: Heutige Organisationen wirtschaf- (2017) außerdem den Kritikpunkt, dass die Kernideen – Selb- ten häufig mit dem Ziel der Gewinnmaximierung und storganisation, Ganzheitlichkeit und der evolutionäre Sinn – dem Erlangen von Wettbewerbsvorteilen. Laloux plädiert zunächst sehr abstrakt beschrieben werden und nicht über- dafür, dass jede Organisation eine bestimmte Daseinsbe- schneidungsfrei sind. Die folgende Tabelle beschreibt praxisnah rechtigung und somit einen Auftrag für die Welt haben Herausforderungen bei der Etablierung und gibt Hinweise zur sollte und dass der Sinn in evolutionären Organisationen Umsetzung der Selbstorganisation in Teams. nicht mehr nur an der Gewinnmaximierung ausgerichtet werden sollte. Diese drei Prinzipien umzusetzen bedeutet, die bisherigen Vorstellungen über die Funktion einer Organisation zu hin- terfragen und sich gegenüber neuen Denkweisen zu öffnen. In seinem Buch beschreibt Frederic Laloux (2015) mehrere Unternehmen, die bereits Grundideen von evolutionären Or- ganisationen umsetzten. Dazu zählen beispielsweise ein nie- derländischer Pflegedienst oder eine französische Gießerei (Laloux, 2015). Der Pflegedienst zeichnet sich vor allem durch kleine, selbstorganisierte Teams aus, die ohne Füh- rungskräfte arbeiten und lediglich durch eine kleine Zentrale unterstützt werden. Die Beschäftigten kümmern sich weitge- hend autonom um die ihnen zugewiesenen Pflegebedürfti- gen, wodurch der Ansatz der Ganzheitlichkeit verfolgt wird. Auch in der französischen Gießerei gibt es keinen Vorstand, sondern die wenigen Besprechungen finden jeweils in oder zwischen den Teams statt. Die Unternehmenskultur ist ver- trauensvoll und lehnt strikte Kontrollen oder Hierarchien ab. 18 | iga.Report 44
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