Arktische Indigene Völker - Deutsches Arktisbüro
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Arktische Indigene Völker Über diese Publikation Lebensweise und die Weiterentwicklung des indigenen Dieses Gemeinschaftsprojekt vom Saami Council und Wissens beeinflussen. Dieser Text beschreibt, wie die dem Deutschen Arktisbüro beschreibt die Lebensweise arktischen indigenen Völker ihr über Generationen der indigenen Völker der Arktis. Als resiliente Kulturen gesammeltes Wissen nutzen, um die Entwicklung ihrer verfügen die arktischen indigenen Völker über ein Kulturen und ihre Lebensgrundlage zu sichern und ausgeprägtes Wissen zur verantwortungsvollen illustriert ihre kreisläufige Lebensweise, bei der die Nutzung der Natur und zur Koexistenz mit dem Umwelt nachhaltig genutzt und nicht dominiert wird. Ökosystem. Obwohl diese Resilienz in ihren Das indigene Wissen als Grundlage dieser Lebensweise Kulturen fest verankert ist, stehen sie sowohl durch ist für die indigenen Völker der Arktis von zentraler Umweltveränderungen als auch durch innerstaatliche Bedeutung und sichert den Erhalt der Stabilität der Regelungen vor neuen Herausforderungen, die ihre arktischen und sub-arktischen Umwelt.
Globale politische, ökonomische und soziale Interessen Das Eindringen in den Kreislauf der Natur spielt haben die Arktis in den letzten Jahrzenten zu einer eine entscheidende Rolle im Wandel der arktischen begehrten Region gemacht. Regionale und globale und subarktischen Regionen. Mit Bezug auf diese Interessensgruppen formulieren immer wieder Ziele, Veränderungen ist es wissenschaftlich belegt, dass in um die Arktis und ihre Regionen nach bestimmten indigenen Territorien der Rückgang der Biodiversität Vorstellungen zu gestalten1. Entgegen der Auffassung wesentlich langsamer voranschreitet als in Regionen, dieser Akteure ist die Arktis jedoch kein neuentdecktes die nicht von Indigenen kultiviert werden. Durch Terrain, welches durch unilaterale Interessen geprägt die äußeren Einflüsse des Klimawandels und innen- wird. Lange bevor die moderne Zivilisation entstand, oder außenpolitisch motivierte Entscheidungen werden nannten Indigene Kulturen die Arktis bereits ihr indigene Lebensweisen und das Wissen der Völker der Zuhause und bevölkerten die Region mit ihren ureigenen Arktis oft in ihrer Belastbarkeit geprüft4. Das größte Lebensweisen. Ihre Kulturen entwickelten sich über Problem stellen hierbei industrielle Investitionen und Tausende von Jahren und sind an die natürlichen innenpolitische Entscheidungen dar, die sich meist auf Einflüsse der Arktis angepasst. einzelne Teile eines Ökosystems fokussieren und es damit der indigenen Bevölkerung schwer machen, ihren Indigene Völker unterscheiden sich von anderen gesell- traditionell kreisläufigen Ansatz zur Nachhaltigkeit in schaftlichen Minderheiten, denn sie repräsentieren der Arktis auszuüben6. Indigenes Wissen hat sich aus eine Bevölkerungsgruppe, die sich explizit auf ein der nachhaltigen Nutzung der Natur durch empirische spezifisches Territorium bezieht und identifizierbare Beobachtungen über Jahrtausende entwickelt. Neben Lebensweisen praktiziert2. Daher sind die Grundlagen praktischen Anwendungen wie Jagen, Fischen und Ernten dieser Lebensweisen auch direkt mit dem Territorium steht ein Verständnis von wechselnden Jahreszeiten, verbunden, welches indigene Völker bewohnen. Das Nahrungserhaltung, Biodiversität und Landnutzung im bewohnte Gebiet stellt für Indigene die Verbindung Vordergrund7. zu diversen Aspekten ihrer Kultur und Sprache her und repräsentiert hiermit auch eine Brücke zu einer gemeinsamen Geschichte der Ausgrenzung, Koloniali- Arktische Indigene Völker sierung, Assimilierung and Anpassungsfähigkeit. Die indigenen Völker in der Arktis konnten nur so lange in Der Arktische Rat ist die wichtigste Institution für die dieser von der Natur so extrem abhängigen Umgebung multilaterale Zusammenarbeit in der Arktis. Er dient überleben, indem sie ihre Kultur an ihr Wissen angelehnt den Regierungen der Anrainerstaaten als Forum für haben. Durch gesammeltes Wissen, welches ständig die Kooperation im Hinblick auf den Schutz und die erweitert und kultiviert wird, ist es ihnen gelungen nachhaltige Entwicklung der Arktis, wobei alle Ent- den natürlichen Bedingungen der Arktis zu trotzen und scheidungen immer auf Basis von Rat und Verhandlung eine robuste Kultur zu schaffen. mit den indigenen Völkern getroffen werden, die im Rat als Ständige Teilnehmer (,,Permanent Participants‘‘) In der Arktis ist der Klimawandel allgegenwärtig und vertreten sind. Die indigenen Völker werden im Rat durch bedeutet in vielerlei Hinsicht die größte Bedrohung die folgenden sechs Organisationen repräsentiert: Aleut für die arktische Biodiversität, aber auch für arktische International Association, Arctic Athabaskan Council, Lebensweisen. Die Veränderung der Regionen führt Gwich’in Council International, Inuit Circumpolar Council, allerdings zu Veränderungen der indigenen Lebens- Russian Association of Indigenous Peoples of the North, weisen, indem es das Jagen, Fischen und Sammeln Siberia, and the Far East und das Saami Council8. Durch massiv beeinflusst3. Die Beanspruchung von indigenem die bereits erwähnten Unterschiede zwischen den Territorium und hiermit die Zunahme von staatlichen einzelnen Bevölkerungsgruppen kann allerdings eine und ökonomischen Interessen an der Arktis birgt eine adäquate Repräsentation aller Völker selbst durch diese zusätzliche Bedrohung für die indigenen Völker der sechs Organisationen nicht voll-ständig gewährleistet Arktis4,5. werden. Anmerkung: Dieser Text ist eine gegenwärtige Erfassung der Situation von Indigenen Arktischen Völkern und deren Lebensweisen. Da die indigenen Völker der Arktis in den weiten Territorien der Arktis leben, sind demnach auch fundamentale Unterschiede in ihren Lebensweisen zu erkennen. Dieser Text kann daher nicht als umfassende Darstellung der Lebensweisen aller indigenen arktischen Völker angesehen werden. Des Weiteren macht der Text Gebrauch von individuellen Perspektiven, die daher als individuelle Erfahrungen und Beobachtungen aufgefasst werden sollten; und nicht als kollektiv-repräsentativ für alle Völker und Kulturen der Arktis gelten.
Die verschiedenen Gebiete indigener Völker in der Karte der Territorien der Ständigen Teilnehmer („Permanent Arktis reichen über 30 Millionen Quadratkilometer Participants“) des Arktischen Rats (https://www.grida.no/ weit und erstrecken sich über sieben Länder und drei resources/13341, Levi Westerveld und Philippe Rekacewicz) Kontinente9. Fennoskandinavien, also der nördliche Teil Norwegens, Schwedens und Finnlands inklusive der Kola Halbinsel, wird von den Saami bevölkert und Genauso wie Saami und Inuit, sind Gwich’in und in deren Sprache Sápmi genannt. Inuit Nunaat, das Athabasken in mehreren Staaten angesiedelt. In den Land der Inuit, erstreckt sich über Chukotka (Russland), Weiten des russischen Territoriums leben zum Beispiel Alaska (USA), Kanada und Kalallit Nunaat (Grönland). Nenzen, Chanten, Mansen, Ewenen, Ewenken, Jukagiren Einige weitere Beispiele indigener Völker, die im Norden und Tschuktschen. Hier erstrecken sich die indigenen des amerikanischen Kontinents leben sind Aleuten, Regionen von der Kola Halbinsel im Westen über Sibirien Yup’ik, Alutiiq, Dene, Gwich’in und Athabasken. bis zum fernen Osten10.
Obwohl es demographische Zahlen zur indigenen Bevölkerung gibt, ist allgemein anerkannt, dass ,,Als systematische Denkweise wird indigenes die genaue Anzahl der indigenen Bewohner nicht Wissen auf biologischen, physikalischen, definitiv belegbar ist. Dies liegt nicht nur an kulturellen und linguistischen Ebenen ange- nicht vorhandenen Statistiken, sondern auch an den unterschiedlichen Auffassungen einzelner wandt und erweitert. Indigenes Wissen wird Staaten, wer als ,,indigen‘‘ bezeichnet wird und durch die indigenen Sprachen weitergegeben wer nicht. Obwohl die Vereinten Nationen die und ist das kollektive Eigentum von den Selbstbestimmung der Identität als zentrales Recht prägenden Wissensträgern. Das System dieses ausgesprochen haben, wird in den acht Arktischen Wissens basiert auf kulturellen Praktiken, Staaten und anderen innenpolitischen Institutionen Lehren, Fähigkeiten und Lebenserfahrungen, entschieden, welche Kriterien und Definition eine welche über Generationen entwickelt wurden. Ein- und Ausgrenzung für die indigene Bevölkerung Indigenes Wissen wird durch diese Jahr- bestimmen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die tausende lange Anwendung verifiziert und tatsächliche Anzahl der Indigenen deutlich höher ist ständig durch neue Einflüsse erweitert und an als die Schätzungen von ca. 400.00011,12. neue Generationen weitergegeben.‘‘ Ottawa Prinzipien Indigenen Wissens (Ottawa Indigenous Genauso wie die verschiedenen Regionen der Ark- tis sich in ihrer natürlichen Konstellation gänzlich Knowledge Principles)14 voneinander unterscheiden, sind große Unterschiede zwischen den verschiedenen indigenen Völkern der Arktis in ihren Lebensweisen, Territorien, Sprachen, Sprache spielt in der Anwendung von indigenem Wissen Kulturen und ihrer Geschichte zu erkennen9. Zwei eine große Rolle. In der Arktis sind indigene Sprachen Dinge, die alle indigenen Völker der Arktis verbinden, oft so weit ausgeprägt, dass sich alltägliche Dinge viel sind jedoch zum einen ihre holistische Auffas- umfassender beschreiben lassen als in Sprachkulturen, sung der Komplexität der arktischen Ökosysteme die nicht so sehr auf die Natur fokussiert sind. In und zum anderen die gemeinsame Geschichte der der Sprache der Saami gibt es beispielsweise über Kolonialisierung durch externe Mächte und die 300 verschiedene Wörter um Schnee und bestimme darauffolgende kulturelle Assimilierung. Die Weiter- Schneezustände zu beschreiben3. Auch Inuit nutzen gabe und Entwicklung von indigenem Wissen sind Sprache oft um essentielle Dinge klar, deutlich und daher die wichtigsten Aspekte für die Erhaltung effizient zu kommunizieren. Während die deutsche indigener arktischer Kulturen. Indigenes Wissen ist Sprache zum Beispiel einen Weißwal (Beluga) lediglich tief verwurzelt in indigener Kultur und stützt sich als ,‚Weißwal‘‘ oder ‚,Beluga‘‘ beschreibt, unterscheiden auf über Generationen erfasste Beobachtungen, die Inuit die Wale mit verschiedenen Worten für Geschlecht, kontinuierlich weiterentwickelt werden. Alter, Farbe, speziellen Merkmalen und können sogar individuelle Wale mit mehreren Wörtern differen- Indigenes Wissen zieren15. Die harten natürlichen Bedingungen der Indigenes Wissen ist empirisch validiertes Wissen, Arktis und Subarktis machen diese effiziente Form der das über Jahrtausende von Generation zu Generation Kommunikation unentbehrlich. weitergegeben wird und auch heute noch erweitert wird. Beobachtungen, Sitten, Gewohnheiten und Das arktische Ökosystem hat über Generationen nicht Fortführungen spielen eine wichtige Rolle und haben nur das Sprachverhalten der indigenen Völker der Arktis indigenes Wissen zu einem holistischen System beeinflusst. Nahrung, welche im weitesten Sinne eine entwickelt, welches es den Nutzern ermöglicht, sich Kultur von Jagen, Fischen und Sammeln miteinschließt, rapiden natürlichen Veränderungen anzupassen13. ist hierbei ein essentieller Bestand der Anwendung von Dabei geht es bei diesem Wissen nicht allein um die indigenem Wissen. Um in der Arktis leben zu können, Verbindung zur Natur und zum Ökosystem. Es geht viel bedarf es eines gegenseitigen Austauschs zwischen mehr um die Anwendung in Form von Sprache, Werten, Natur und Mensch, der auf Nachhaltigkeit und Ko- spirituellen Systemen und Nahrungskulturen7. Um daher existenz basiert. Nahrungskultur bedeutet deswegen besonnene und auch ausgeglichene Entscheidungen weit mehr als nur den Drang zum Überleben. in Bezug auf Biodiversität, natürliche Ressourcen und das Ökosystem treffen zu können, bedarf es einer Inklusion von indigenem Wissen, welches die holistische Perspektive der Natur mit einbezieht.
Indigene Lebensweisen in der Arktis – ein Die heutigen knapp 100.000 Rentierhirten praktizieren holistisches Verständnis die Haltung der Tiere alle auf die gleiche Weise, indem sie ihnen die Territorien zum grasen bieten. Umgekehrt Rentierhaltung entsteht dadurch eine nomadische Abhängigkeit Als ein arteigener Bestandteil des arktischen Öko- von den Routen der Tiere, da diese essentiell für die systems sind Rentiere auch ein essentieller Teil Nahrungserhaltung der Völker sind19. indigener Kultur. Rentiere sind Herdentiere und brauchen daher umfangreiche Gebiete, in denen sie ungestört grasen können. Auf der ganzen Welt gibt es etwa 24 verschiedene Völker, die Rentierhaltung als essentiellen Bestandteil ihrer Kultur betrachten. Die meisten von ihnen leben in den Arktisregionen von Fennoskandinavien, Sibirien und im fernen Osten Russlands. Alle Rentierarten gehören allgemein zu einer Spezies, Rentierhirten unterscheiden jedoch zwischen Tundra-, Wald-, und Bergrentieren. Während Tundrarentiere das weiteste Territorium benötigen und zwischen Sommer- und Winterweiden der sub- arktischen Tundra wechseln, grasen Waldrentiere das ganze Jahr über in den Wäldern der arktischen Taiga16. Heutzutage werden moderne Fahrzeuge wie Motor- räder, Schneemobile oder sogar Helikopter von Rentierhirten benutzt, um die Herden zusammen- zuhalten und zu koordinieren. In manchen Gegenden sind diese Hilfsmittel jedoch nicht verfügbar, weshalb Rentierhirten dort noch wie seit Hunderten von Jahren Waldrentiere in Sápmi, Schweden (Foto: Susanna Israelsson) mit Rentierschlitten arbeiten17; anderswo reiten die Hirten sogar auf den Tieren16. Allerdings bedeuten Während die indigenen Völker in Sápmi und Russland Rentiere als Nutztiere für die indigenen Völker der Arktis meist die beschriebene Form der Rentierhaltung nicht nur eine finanzielle oder berufliche Absicherung. betreiben, sind Gwich’in, Athabasken und Inuit in Kanada Die indigene Lebensweise der Rentierhirten ist eine und Alaska auf die Jagd von Karibus spezialisiert. Als essentielle Komponente arktischer Zivilisationen18 Unterart der Rentiere sind Karibus ein essentieller und bietet den Menschen eine Verbindung zu ihrer Bestandteil des lokalen Ökosystems und der Ökonomie. Jahrtausende alten Kultur und auch zu anderen Rentier- Die Tiere bieten eine nachhaltige Nahrungs- und haltung betreibenden Völkern. Rentierhaltung hat Kulturressource für viele arktische Völker und nicht daher nicht nur die ursprüngliche Kultur arktischer wenige Indigene verdienen ihren Lebensunterhalt mit Zivilisationen geprägt, sondern verkörpert auch heute der Karibujagd21. noch eine Identität für viele Menschen in der Arktis. In den verschiedenen Ländern der Arktis variieren ,,Begriffe wie Lebensweise und Kultur allein können zwar die Umstände, unter denen arktische Völker die umfassende Bedeutung der Rentierhaltung für die Rentierhaltung praktizieren können, jedoch wird arktische Völker nicht beschreiben. Die Rentiere, Rentierhaltung meist von Menschen einer Familie, nicht die Menschen, treffen die Entscheidungen. eines Bezirks, eines Dorfes oder seit der russischen Re- Wir folgen den Tieren, nicht umgekehrt, so war volution auch in Form einer kollektiven Landwirtschaft es schon immer‘‘20. Anders Oskal, Direktor des organisiert16. Allgemein lässt sich feststellen, dass International Centre for Reindeer Husbandry sich diese Art der Rentierhaltung, bei der Mensch und Tier voneinander abhängig sind, auf die Resilienz Bei indigenen arktischen Völkern gilt die Beziehung des Ökosystems auswirkt22. Die Anpassung an durch zwischen Mensch und Tier als elementarer Bestand- den Klimawandel bedingte Veränderungen stellt die teil der Erziehung. Beide Seiten stehen in der Pflicht Rentierhaltung betreibenden arktischen Völker aller- dem anderen ihre Lebensweisen zu ermöglichen und zu dings vor Herausforderungen und verursacht Kosten23. erleichtern. Da Rentierhirten den Rentieren ganzjährig Gerade der Verlust von Weideland aufgrund von folgen und die meisten Völker daher als Nomaden menschlich herbeigeführten Entwicklungen gefährdet leben, schließt die Rentierhaltung andere Aspekte die Flexibilität der arktischen Völker durch die stei- wie Fischen, Jagen und Handwerkskunst mit ein. gende Verwundbarkeit der Rentierherden24,25.
Rentierhaltung in der heutigen Gesellschaft Veränderungen haben daher automatisch direkte Eine der größten Herausforderungen für Rentierhirten Auswirkungen auf ihre indigenen Traditionen, den heutzutage ist der Verlust von Weideland. Bedingt Nahrungserhalt und das Allgemeinwohl der Gemein- durch die Folgen des Klimawandels und anhaltende schaft21,29. Industrialisierung gibt es zum Beispiel in Sibirien weni- ger Winterweiden. Das hat zur Folge, dass die Anzahl Die vom Menschen herbeigeführten Veränderungen der Rentiere in der Region rückläufig ist. Insbesondere sind in der Arktis allgegenwärtig und es gibt kaum der Abbau von mineralischen Rohstoffen und die Nutz- Gegenden in denen der menschliche Einfluss nicht ung von Öl- und Gasressourcen belasten das empfind- zu spüren ist30. Es ist jedoch das Ausmaß und die liche Ökosystem der Tundra massiv26. Die Nenzen, Geschwindigkeit der Veränderungen der letzten als eines der indigenen Völker der Region, folgen den Jahrzehnte, welche den indigenen Völkern Sorgen Rentierherden, da sie Nahrung, Bekleidung und andere bereiten. Rentierhaltung als holistische Lebensweise Dinge liefern und individuelle und finanzielle Sicher- ist ein integrativer Prozess, der dem Ökosystem heit bedeuten. Während das umliegende Land zum nachhaltig zugutekommt und es nicht langfristig in Jagen und Fischen benutzt wird, lassen industrielle Gefahr bringt. Nahrungskulturen und deren Erhaltung Entwicklungen immer weniger Raum für solche Dinge spielen eine große Rolle in der Nachhaltigkeit der und sorgen für eine Reduzierung der Wasserqualität Rentierhaltung, um den Gemeinschaftserhalt der und der Jagdfauna. Durch diese Fragmentierung werden indigenen Völker zu sichern, aber auch, um das arktische wichtige Wissensstränge der indigenen Bevölkerung Umfeld besser verstehen zu können. in Verbindung mit Biodiversität nicht mehr gefördert und laufen Gefahr verloren zu gehen27,28. Insbeson- Heutzutage sind Rentierprodukte global gefragt und dere in Fennoskandinavien ist diese Entwicklung zu dies verschafft Rentierhirten den Status eines wichtigen beobachten. Bestandteils der arktischen Wirtschaft. Immer mehr junge indigene Menschen beschäftigen sich daher ,,Da unsere Lebensräume für die Anpassung auch mit indigenem Wissen und der Nahrungskultur schrumpfen, sinkt auch unsere Kapazität, sich an eines kreisläufigen Ökosystems. Die Indigenen Völker die sich ständig verändernden Umstände der Arktis haben sich dadurch beispielsweise einen Namen in anzupassen‘‘20. Anders Oskal der internationalen Küche gemacht und Rentierfleisch sowie andere Spezialitäten sind als kulinarische Delika- tessen bekannt31. Jagen, Fischen und Ernten Für die indigene arktische Bevölkerung hat der nach- haltige Umgang mit der Umwelt durch Jagen, Fischen, Rentierhaltung und Ernten eine kulturelle, soziale und spirituelle Bedeutung. Indigene Völker schützen mit der Erhaltung dieser Praktiken zum einen ihre Existenz, zum anderen vertiefen sie ihre Verwurzelung inmitten des Ökosystems. Unter den meisten Völkern gelten daher Land- und Meeressäugetiere, genauso wie die Menschen, als gleichwertiger Teil des Ökosystems. Diese holistische Denkweise prägt die Lebensweise dieser Völker und wirkt sich auf ihre Anpassungsfähigkeit an das Ökosystem aus. Der entgegengesetzte Ansatz, nur einen einzelnen Teil des Ökosystems zu bewirtschaften, wird kritisiert. Während indigene arktische Völker die Kajaklager in Ilulissat, Grönland (Foto: Volker Rachold) Balance mit dem Ökosystem suchen, beeinflusst ein Fokus auf einen individuellen Teil des Systems die In den Arktisregionen Nordamerikas haben sich natürliche holistische Herangehensweise negativ. indigene Jäger darauf eingestellt, dass es große Beispiele dafür sind die Vorschriften, die Lachsfischer Schwankungen in der Karibu-Population geben kann am Deatnu Fluss in Sápmi einhalten müssen32, und die und dass alljährliche Migrationsterritorien nicht immer lokalen Normen, denen sich Belugajäger in Inuit Nunaat gleich beschaffen sind. Gwich’in, die sich als ‚,Volk der anpassen müssen. Karibu‘‘ identifizieren, sehen das Jagen nicht nur als Lebensunterhalt sondern als Verbindung zu ihrer Kultur Beobachtungen aus Nordgrönland zeigen hierbei, wie und Herkunft an. Wirtschaftliche und klimabedingte sich Veränderungen der Jagdvorschriften in Kombination
mit der sich verändernden Landschaft auf die Lebensweise der indigenen Bevölkerung auswirken. ‘’Nahrungserhaltung bedeutet zu verstehen, Da allgemeine Jagdvorschriften sich auf ganz dass Nahrung eine Verbindung zwischen ver- Grönland beziehen und lokale Gegebenheiten keine gangener und gegenwärtiger Identität ist.‘‘ Berücksichtigung finden, werden dabei nicht nur die Nahrungserhaltungs-Bericht ICC Alaska (Food spirituellen und sozialen Verbindungen der indigenen Sovereignty and Self-Governance – Inuit Role Bevölkerung ignoriert, sondern auch die finanzielle in Arctic Marine Resource Management, ICC Abhängigkeit vom Jagen. Sich rapide verändernde Alaska“)41 Umstände, wie zum Beispiel die unvorhersehbare Dicke des Meereises, erschweren das Leben der Jäger zusätzlich. Darüber hinaus müssen vorgegebene Zeitperioden In der indigenen Kultur wird Jagen und Fischen eine eingehalten werden, in denen überhaupt gejagt weitaus größere Bedeutung verliehen als nur die der werden darf. finanziellen Absicherung oder Nahrungsquelle. Bei den Inuit ist es ein kultureller Brauch beinahe jeden Teil eines „Innenpolitische Vorschriften, die das Jagen erlegten Tieres zu verwenden. Dies wird als Privileg einschränken, haben große Auswirkungen auf unsere angesehen und die Dankbarkeit, die das Volk gegenüber Kultur. Wir dürfen, zum Beispiel, nur in eineinhalb dem Tier verspürt, wird in ihrer spirituellen Beziehung Monaten des Jahres den Appa [Dickschnabellumme] zu den Tieren sichtbar. Auch wenn heutzutage immer jagen. Im Norden Grönlands ist die Polareisdicke zu mehr Vorschriften das Jagen erschweren, bleiben die diesem Zeitpunkt jedoch schon so weit angewachsen, Gesellschaften der Inuit egalitär – was bedeutet, dass dass dies nicht mehr möglich ist. Der Appa kommt es keine Hierarchien im System gibt, sondern nach einer meist im Sommer zurück, dann verbieten uns die Jagd jeder Teil des erlegten Tieres gemeinschaftlich Vorschriften jedoch ihn zu jagen. Meine Generation geteilt wird. Die intensive Beziehung zwischen Tier hat sich noch nie von diesem Vogel ernähren und Mensch wird durch die soziale und spirituelle können.“33,34 Tukumminnguaq Nykjaer Olsen, Büro- und Bedeutung vermittelt, welche bei einer Jagd entsteht, Projektmanager, Inuit Circumpolar Council die oft gemeinschaftlich durchgeführt und zelebriert wird. Da sich die gesamte Gemeinschaft auf diese Um die indigenen Völker der Inuit und deren Kultur zu Werte einlässt, ist es so wichtig, dass indigenes Wissen unterstützen, setzt sich das Inuit Circumpolar Council angewandt werden kann. Andernfalls ist nicht nur die dafür ein, dass das holistische Verständnis im Bezug Nahrungserhaltung gefährdet, sondern auch der soziale auf das arktische Ökosystem international als essentiell Frieden innerhalb der Gesellschaft. anerkannt wird. Im Arktischen Rat wird daher eine Kon- vergenz zwischen indigenem Wissen und Wissenschaft „Um indigenes Wissen zu erlernen, muss man es anvisiert, um umfassendere und informierte Entschei- selbst anwenden. Dafür gibt es nun immer weniger dungen in der Arktis treffen zu können35. Im Vergleich Möglichkeiten.“33,34. Tukumminnguaq Nykjaer Olsen zu den dominierenden Kulturen haben indigene Völker hierbei einen Weg gefunden, sich in das Ökosystem der Arktis zu integrieren. Nahrungskultur und -erhaltung sind daher die wichtigsten Aspekte dieses Systems und verbinden indigenes Wissen oft mit praktischen Anwen- dungen und dienen als Quelle der sozialen und spirituel- len Verbindung zur Natur36. Nahrungserhaltung Nahrung bedeutet für die indigenen Völker der Arktis nicht nur Ernährung und Kalorienaufnahme. Seit vielen Generationen definiert Nahrungserhaltung die Identität der indigenen Völker, indem sie dafür sorgt, dass be- kannte Lebensweisen fortgeführt und weiterentwickelt werden können37,38. Das Wissen über die zirkulären Prozesse in der Natur, welches über Jahrtausende gesammelt wurde, bestimmt die Nahrungsaufnahme und -varietät39 und gilt als essentiell um kulturelles Überleben zu sichern40,37. Nahrungserhaltung bezeichnet den respektvollen Umgang mit der Natur, während es gleichzeitig auch das Überleben indigener Kultur sichert4. Jäger bei der Rückkehr nach Ilulissat, Grönland (Foto: Nina Döring)
Nahrungserhaltung und der Klimawandel sondern auch den gemeinschaftlichen Effekt (Kommu- Die Menschen der Arktis, die auf die Wasserversorgung nitarismus) aufzeigt. Es verkörpert hierbei die spirituelle aus den Gewässern der Arktis angewiesen sind, und persönliche Bindung zur Natur, welche indigene werden durch den Klimawandel besonders in ihrer Völker aber auch andere Menschen der Arktis pflegen. Nahrungserhaltung herausgefordert und müssen Was die Beerenernte jedoch am meisten zu einer sich anpassen. Als Vorteil gelten beispielsweise arktischen Tradition macht ist, dass es eine der leich- steigende Temperaturen im arktischen Winter, denn sie testen, beliebtesten und erschwinglichsten Praktiken erleichtern das Jagen und Fischen. Durch industrielle in der Arktis ist und nicht nur von indigenen, sondern Fischerei wird aber ein Ungleichgewicht zwischen auch anderen Bewohnern der Arktis praktiziert wird45. den Reproduktionsmechanismen der Fischbestände herbeigeführt und das arktische Ökosystem gerät ins Wanken42. Indigene Völker müssen sich daher natür- lichen und von Menschen herbeigeführten Bedingungen anpassen. Seit vielen Generationen sorgen die Fluss-systeme des Bering Flusses im Norden Amerikas für die Nahrungserhaltung und Versorgung indigener Völker. Die Lachsbestände bilden die Lebensgrundlage indigener Völker der Aleutischen Inseln und Alaskas. Entlang des Flusses Yukon, der allgemein als der Fluss mit dem größten Lachsbestand in Alaska und Kanada gilt, fischen die Völker der Yup’ik, Athabasken und Gwich’in den Lachs bereits seit mindestens 11.500 Jahren43. Der Lachs ist daher ein essentieller Bestand- teil indigenen Lebens und der Nahrungserhaltung. Die jährlich wiederkehrenden Fischbestände verdeutlichen diesen Völkern zudem auch, wie die Zyklen des Ökosystems funktionieren und in welcher Weise sie sich anpassen müssen44. Auch in der Republik Sacha (Jakutien) im Osten Sibiriens werden die indigenen Völker der Ewenen, Jukagiren und Ewenken immer mehr in ihren Nahrungserhaltungs- praktiken und Lebensweisen gestört, weil sie ihr indigenes Wissen bedingt durch den Klimawandel nicht mehr anwenden können42. In anderen Regionen der Arktis wie in Alaska und dem Norden Kanadas sind Inuit durch die Folgen des Klimawandels ebenfalls in ihren Lagerfeuer in Sápmi, Schweden (Foto: Susanna Israelsson) traditionellen Lebensweisen beeinträchtigt. Neben den behördlichen Vorschriften erschweren unvorherseh- Eine essentielle Voraussetzung für die Beerenernte in bare und sich ändernde Eisverhältnisse (längere eisfreie der Arktis ist es, dass sich die Menschen auf die Zyklen Zeit, dünneres Eis und das Fehlen von Packeis im Som- des Ökosystems verlassen können. Der Rückgang der mer) die traditionellen Jagdpraktiken und das Erreichen Biodiversität führt dazu, dass die Beerenerntezeit der Nahrungsquellen. Wie bereits erwähnt haben diese mittlerweile nicht mehr vorausgesagt werden kann, Umstände nicht nur Folgen für den Lebensunterhalt weil die Befruchtung durch frühere Schneeschmelze der indigenen Völker, sondern wirken sich auch massiv im Frühjahr gestört wird. auf das individuelle und gemeinschaftliche Wohl aus. Während das Anpassungsvermögen, angeeignet durch Kreisläufige Lebensweisen die sich ständig verändernde Natur, eine der wichtig- Dadurch dass indigene Lebensweisen in der Arktis sten Qualitäten der indigenen Völker der Arktis ist, sind zwangsläufig eng mit den Zyklen der Natur verbunden die rapiden Folgen des Klimawandels und die industri- sind, sind die Veränderungen durch wirtschaftliche elle Entwicklung Dinge, mit denen sich diese Völker nicht Aktivitäten und Klimawandel stark spürbar. Es wird je- leicht arrangieren können. Plötzliche Veränderungen im doch mittlerweile immer mehr Interessensgruppen be- Rhythmus der Jahreszeiten gefährden und verändern wusst, wie wichtig die Berücksichtigung von indigenem die Migrationsrouten der Tiere, wiederkehrende Fisch- Wissen ist. Die Beerenernte ist hierbei ein weiteres bestände, Bestäubung und Befruchtung der Pflanzen- Beispiel, welches nicht nur die Nahrungserhaltung, welt und können langfristig dazu führen, dass die
indigenen Völker sich ihrer Umgebung nicht mehr zu schaffen, um das interkulturelle Verständnis zu anpassen können und indigenes Wissen mit einer verbessern. Dieses fördert die Sichtbarkeit des Werts holistischen Perspektive verschwindet4. indigenen Wissens und dessen Bedeutung für die Aktuelle wissenschaftliche Studien belegen, dass die internationale Gesellschaft1. globale Biodiversität in den letzten Jahren stark zurück- In den vergangenen Jahrzenten hat sich die Arktis mehr gegangen ist. Was jedoch auch klar dargestellt wird und mehr in die globalisierte Welt integriert und ist ist, dass dieser Rückgang auf indigenem Land in einer zum Knotenpunkt für viele nationale, internationale, wesentlich langsameren Geschwindigkeit vor sich geht4. industrielle und andere Interessensgruppen geworden. Während es mittlerweile auch in ökonomischen und Hierdurch wächst nicht nur das Interesse an der industriellen Interessensgruppen immer mehr Ansätze Region, sondern auch die Verwundbarkeit der empfind- gibt, eine kreisläufige Wirtschaft anzustreben, waren lichen Ökosysteme. Nicht-arktische Interessensgruppen die traditionellen Lebensweisen der indigenen Völker können die Komplexität dieser Ökosysteme oft nicht der Arktis schon immer kreisläufig46. einschätzen, wodurch die Rolle von Entscheidungs- trägern in der Arktis, den Mehrwert des Erhalts indigener Ausblick Lebensweisen zu erkennen, umso wichtiger wird. Da indigenes Wissen in den internationalen Organisationen Heutzutage werden die indigenen Völker der Arktis der Arktis nicht nur anerkannt, sondern auch angewandt vor die Herausforderung gestellt, sich den rapiden wird, wächst das Interesse an den Lebensweisen der Veränderungen des Klimawandels und der industri- indigenen Völker der Arktis. Es wird erkannt, dass das ellen Entwicklungen anzupassen, um ihre traditionellen Wissen über nachhaltige Landnutzung, kreisläufige Lebensweisen aufrechtzuerhalten. Über Jahrhunderte Wirtschaft und Nahrungserhaltungskulturen wertvoller geprägte Praktiken wie die traditionelle Landnutzung, Bestandteil sein kann, um gemeinsam eine stabile die Weitergabe von indigenem Wissen und die Fähigkeit arktische Zukunft zu gestalten. Wenn sich das indigene die Biodiversität des arktischen Ökosystems durch Wissen durch ihre Wissensträger in internationalen holistische Lebensweisen zu erhalten, laufen Gefahr Organisationen weiter etabliert, können diese positiven durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu Einflüsse möglicherweise auch für eine globale Gemein- vergehen. schaft relevant werden. Während sich indigene Stimmen durch die Repräsen- tanten im Arktischen Rat immer stärker etablieren, wird Danksagung die Weiterentwicklung und Einbindung von indigenem Wissen oft innenpolitisch verkompliziert. Indigenes Für wertvolle Beiträge und Hinweise bei der Erstellung Wissen ist jedoch international anerkannt und wird dieses Dokuments bedanken wir uns bei Anders Oskal oft als andere Denkweise in Ergänzung zu traditio- (International Centre for Reindeer Husbandry) und nellen wissenschaftlichen Methoden benutzt, um dem Tukumminnguaq Nykjaer Olsen (Inuit Circumpolar Rückgang der Biodiversität vorzubeugen und sich den Council). Unser Dank geht ebenfalls an Anna Degteva klimatischen Bedingungen der Arktis anzupassen. Für and Rosa-Máren Magga vom Arctic Council Indigenous die indigene Bevölkerung der Arktis ist es wichtig, Peoples Secretariat für die Unterstützung des Projek- eine Brücke zwischen den zwei Wissenssträngen von tes, insbesondere für die Hilfe beim Sammeln der indigenem und traditionell-wissenschaftlichem Wissen Titelbildfotos. Imprint: Deutsches Arktisbüro am Alfred-Wegener-Institut Redaktion: Sebastian Plate (Praktikant am AWI), Susanna Israels- Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung son (Trainee bei Saami Council), Heike Midleja (AWI), Gunn-Britt Telegrafenberg A5 Retter (Saami Council) und Volker Rachold (AWI). 14473 Potsdam Front cover photos: www.arctic-office.de SÁMIRÁĐĐI / SAAMI COUNCIL Postboks 162 N-9735 Kárášjohka/Karasjok NORWAY www.saamicouncil.net/ Die Quellen 1-46 finden Sie unter: https://www.arctic-office.de/publikationen/ indigene-voelker-der-arktis/ Published September 2021
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