Armes Deutschland Warum wir Perspektiven brauchen
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Thema Armes Deutschland Warum wir Perspektiven brauchen ■ Ulrich Schneider Die Armut in Deutschland wächst, der hatte und dies dank Hartz IV auch nicht So tief gespalten wie noch nie Reichtum auch. Die Perspektivlosigkeit müsse. (3) Westerwelles schrille Ausfälle nimmt zu, die Architektur der Sozialversi- zur »spätrömischen Dekadenz« und zum 14,6 Prozent der Bevölkerung in cherungssysteme trägt nicht mehr und der »anstrengungslosen Wohlstand« fügten Deutschland waren im Jahr 2009 ar- gesellschaftliche Konsens erodiert. Vor sich nahtlos ein in diese in ihrer Unver- mutsgefährdet. (6) Ihr Einkommen lag diesem Hintergrund ist es Zeit zum Han- hohlenheit und Massivität bisher nicht er- unter 60 Prozent des Durchschnittsein- deln und es gibt auch durchaus vernünfti- lebte neoliberale Stimmungsmache. kommens. Dies sind zwölf Millionen ge Optionen dafür. Dem nachdenklicheren und fachkundi- Menschen – ein Höchststand in der Ge- geren Publikum blieb nur Kopfschütteln. schichte der Bundesrepublik und des Was war nur los im Frühjahr 2010? Doch ließ die Aufgeregtheit ahnen: Es wiedervereinten Deutschlands. Bei nach Kaum war der Termin durchgesickert, zu ging nicht lediglich um 20 der 30 Euro wie vor über sechs Millionen Hartz IV- dem das Bundesverfassungsgericht sein mehr »Stütze«. Wir dürfen nicht überse- Beziehern, über eine Million Menschen in Regelsatzurteil verkünden wollte, setzte hen: Hartz IV war nicht einfach die Zu- der Sozialhilfe und fast 300.000 Kindern eine in Teilen geradezu hysterisch anmu- sammenlegung von Arbeitslosenhilfe und in Familien, die wegen ihres Niedrigein- tende Medienberichterstattung ein. (1) Sozialhilfe. Hartz IV war von zentraler kommens einen Kinderzuschlag erhalten, Sollten die Regelsätze infolge des dro- strategischer Bedeutung für die weitere sind derlei Zahlen durchaus plausibel. henden Richterspruchs erhöht werden, Ausdehnung des Niedriglohnsektors, der Theoretisch müsste dieses gewaltige werde sich Arbeit kaum noch lohnen, über 20 Prozent der abhängig Beschäftig- Ausmaß an Einkommensarmut nicht ein- warnten aufgeregt die einschlägigen Ga- ten umfasst. Schon Jahre vor Agenda mal erschrecken. Dann nämlich nicht, zetten von FAZ bis Bild. Vom Chef der 2010 und Hartz IV predigten die soge- wenn sich die Quoten seit Jahren im Wirtschaftsweisen, Wolfgang Franz, bis nannten Wirtschaftsweisen die vermeint- Sturzflug befänden oder aber die Ein- hin zum Forschungsinstitut des Bundes lich arbeitsmarktpolitisch schädliche Wir- kommensarmen jedes Vierteljahr andere der Steuerzahler reichte der Chor der kung zu hoher Sozialleistungen. (4) zwölf Millionen wären. Doch sieht die Warner und Mahner, der da auf die Büh- Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe Realität anders aus (7): Um rund 50 Pro- ne getrieben wurde. Hektisch drängte es und die Verkürzung der Bezugsdauer des zent hat die Armut in den letzten Jahren das Kieler Institut für Weltwirtschaft mit Arbeitslosengeldes waren Programm. Mit zugenommen. Der langfristige Trend einer »Vorabversion« einer eigentlich erst der »Agenda 2010« sah man sich offen- zeigt nach oben. Zwar ist es in den wirt- für einen späteren Zeitpunkt vorgesehe- sichtlich am Ziel. Die Arbeitslosenhilfe schaftlich guten Jahren zwischen 2004 nen Studie zum Lohnabstand in die Öf- war abgeschafft, der Kreis der An- und Ende 2008 gelungen, diesen Trend fentlichkeit. (2) spruchsberechtigten auf Arbeitslosengeld I zu stoppen. Doch reichte es nicht, um die Die Botschaft war immer die gleiche: deutlich verkleinert und die Regelsätze Einkommensarmut tatsächlich spürbar Hartz IV macht faul! Oder vornehmer: bei Hartz IV trickreich klein gerechnet. abzubauen. (8) Arm und Reich ent- Eine Erhöhung der Regelsätze nimmt den Mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil wickeln sich immer weiter auseinander. Arbeitsanreiz. Zum Zwecke der Illustra- drohte ein herber Rückschlag auf diesem Immerhin verfügen acht Prozent der Be- tion zerrten Talkshows von Beckmann Weg. völkerung seit Jahren über das Doppelte bis Maischberger einen gewissen Arno Die Akteure schienen zu spüren: und mehr des Durchschnittseinkommens. Dübel ins Rampenlicht, einen etwas skur- Deutschland befindet sich vor einem (9) rilen Menschen mit einschlägiger RTL- Scheideweg. Weil es so tief gespalten ist In einem Land, das auf eine Vermö- Doku-Soap-Karriere, der nach eigenen wie nie zuvor, weil auf sozialpolitisch genssteuer verzichtet wird und in dem die Angaben so gut wie noch nie gearbeitet ausgetretenen Pfaden anscheinend nichts Erbschaftssteuer faktisch keine Rolle mehr gehen will, weil die Systeme der so- spielt, führen solche Einkommensdiskre- zialen Sicherung mehr und mehr versagen panzen zwangsläufig zu einer noch stär- (5) und weil der Glaube in die Systeme keren Spreizung der Vermögen. Und so schwindet, ebenso wie der Glaube in eine wundert es nicht, dass das Durchschnitts- Politik des »Weiter so«. Deutschland vermögen der Menschen in Deutschland Dr. Ulrich Schneider ist steht vor gesellschaftspolitischen Rich- zwischen 2002 und 2007 um erfreuliche Hauptgeschäftsführer des Paritätischen tungsentscheidungen. Dabei geht es auch zehn Prozent auf 88.000 Euro gestiegen Wohlfahrtsverbandes. um Vorteile und Privilegien. Deshalb die ist, doch 27 Prozent der Bevölkerung gar Internet http://www.der-paritaetische.de Aufregung. nichts hatten oder aber sogar verschuldet https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71 Blätter der Wohlfahrtspflege 2/2011 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33. 71 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Thema waren. (10) Laut dem Finanzdienstleister Jahrzehnten gelebten Routinen und Wir können uns heute noch gar keine Creditrefom war 2010 fast jeder zehnte Selbstbildern. (15) rechte Vorstellung davon machen, was es Erwachsene überschuldet. Das sind 6,5 Entscheidend dafür, wie dieser Absturz für die Entwicklung eines Kindes bedeu- Millionen Menschen, die ihren Zahlungs- wahrgenommen wird, ist die Perspektive, tet, wenn nicht nur die eigenen Eltern und verpflichtungen nicht nachkommen kön- die der Einzelne hat. Ob es sich lediglich die Nachbarn jahrelang ohne Arbeit sind, nen, und zwar ohne irgendeine absehbare um eine »Durstrecke« handelt, deren sondern der halbe Stadtteil; wenn Ar- Perspektive. (11) Ende bereits absehbar ist oder ob keiner- beitslosigkeit und Hartz IV der Normal- lei Ausweg in Sicht ist, ist entscheidend fall sind und die Erwerbstätigkeit die für das Erleben und die persönliche Ent- Ausnahme bleibt. Zunehmende wicklung, die nicht selten von Existenz- Wir sollten uns vor Augen halten, dass Perspektivlosigkeit ängsten geprägt ist und irgendwann dem in Deutschland in großer Zahl Kinder Gefühl, einfach nicht mehr dazuzugehö- heranwachsen, die die Situation, dass Zunehmende Perspektivlosigkeit ist es ren. morgens alle das Haus verlassen, weil sie damit auch, die die neue Einkommensar- Gerade Kinder brauchen das Gefühl zur Arbeit oder zur Schule gehen, am mut kennzeichnet und ihre besondere Bri- der Zugehörigkeit und die verheißungs- ehesten noch aus dem Fernsehen kennen, sanz begründet. volle Perspektive für ihre Entwicklung aber nicht aus dem persönlichen Umfeld. Gelang es nach einer Studie des Deut- wie die Luft zum Atmen. »Der Mensch schen Instituts für Wirtschaftsforschung kann auf der Welt nicht leben, wenn zwischen den Jahren 1996 und 2000 nichts Erfreuliches vor ihm liegt«, er- Das überforderte (Leistungs-) immerhin noch fast der Hälfte, aus der kannte der russische Pädagoge Anton System Einkommensunterschicht wieder in die Semjonowitsch Makarenko bereits in den Mittelschicht aufzusteigen, war es zwi- 1930er Jahren. »Die Freude auf das Mor- Es gibt keine Alternative zur Perspekti- schen 2002 und 2006 gerade noch ein gu- gen ist die wahrhafte Stimulanz im ve – nicht für den Einzelnen und im tes Drittel. (12) Die Hartz IV-Statistik be- menschlichen Leben.« (16) Über seine Pä- Grunde auch nicht für weite Teile unseres stätigt den Trend. 71,1 Prozent der dagogik folgerte er daraus: »Einen Men- sozialen Sicherungssystems. Mit ihrem Hartz-IV-Bezieher waren Ende 2009 be- schen erziehen, heißt in ihm Perspektiven Äquivalenzprinzip haben die tragenden reits ein Jahr und länger auf diese Hilfe herausbilden.« »Der morgige Tag muss Säulen dieses Systems – die Arbeitslosen- angewiesen. 54,8 Prozent waren es sogar unbedingt besser erscheinen als der heu- und Rentenversicherung – keine Antwort bereits zwei Jahre und länger. (13) Mit tige«, wurde zum Leitsatz seines erziehe- auf Perspektivlosigkeit. Auf dauerhafte dem »Trampolin« oder dem »Sprung- rischen Handelns. (17) Ausgrenzung sind sie einfach nicht einge- brett in den Arbeitsmarkt«, als das uns Viele Pädagogen werden es bestätigen: stellt. Schutz vor Armut bieten sie dem, Hartz IV politisch schöngeredet werden Erst die Orientierung auf die Zukunft der ohnehin ein gutes Erwerbseinkom- sollte, haben diese Zahlen nichts zu tun. und die Freude auf den morgigen Tag men hat und nur kurzzeitig arbeitslos ist. (14) schaffen die Energie und die seelische Be- (18) Eine zunehmende Zahl von Mehr- Es ist eine zerstörerische Wirkung, die wegung, die das Kind zu seiner Entfal- fach- und Langzeitarbeitslosen und ein von dieser Perspektivlosigkeit ausgeht. tung braucht. Die subjektive Vorwegnah- wachsender Niedriglohnsektor lassen die- Auf der individuellen Ebene belastet sie me künftiger Optionen durch das Kind ist ses System dagegen zunehmend ins Leere psychisch, macht krank. Kindern nimmt ständiger Antrieb und Motor von Ent- laufen. sie Lebensmut und Energie. Gesellschaft- wicklung. Wer Kindern jedoch den Glau- Als in der Krise Mitte der 1970er Jahre lich führt sie zur systematischen Überfor- ben an die Perspektive und die Freude auf die Arbeitslosenzahl auf über eine Million derung unserer Sicherungssysteme und das Morgen nimmt, lässt Energien versie- hochschnellte, erhielten immerhin zwei schließlich zur Erosion der normativen gen, raubt dem Kind die Kindheit und Drittel von ihnen Arbeitslosengeld. 1990 Grundlagen dieser Arbeitsgesellschaft nimmt dem Pädagogen jede Chance zur war es mit 42 Prozent nicht einmal mehr selbst. Bildung und Erziehung. die Hälfte und heute ist es gerade noch Arbeit ist bekanntermaßen mehr als Fraglich ist jedoch, woher Kinder und ein Drittel der registrierten Arbeitslosen – Gelderwerb. Arbeit strukturiert unseren Jugendliche ihren Glauben an Perspekti- Resultat einer sich zunehmend verhärten- Alltag, Arbeit prägt unsere Familien- ven nehmen sollen, wenn sie miterleben, den Arbeitslosigkeit und politisch restrik- strukturen, Arbeit gibt uns Rollenbilder, wie ihre älteren Geschwister sich hun- tiver Eingriffe in die Arbeitslosenversiche- Arbeit ist mit Status verbunden und prägt dertfach erfolglos bewerben, und wie sie rung selbst. (19) einen Großteil unserer Eitelkeiten. Nach zu der Überzeugung gelangen sollen, ihre Und selbst für das verbleibende Drittel wie vor leben wir in einer Arbeitsgesell- Zukunft selbst in der Hand zu haben, gilt: Wer im Niedriglohnsektor von Löh- schaft mit ausgesprochenem Arbeits- wenn sie erleben müssen, wie ihre Eltern nen leben muss, mit denen er bereits als ethos. Alternative Orientierungen und schon über Jahre erfolglos versuchen, aus Erwerbstätiger kaum über Hartz IV liegt, Rollenmuster stehen dem Einzelnen nicht Hartz IV herauszukommen, aber immer den wird im Falle des Arbeitsplatzverlus- ohne weiteres zur Verfügung. Der Fall in wieder scheitern? Wie sollen diese Kinder tes das Arbeitslosengeld I nicht vor der die Arbeitslosigkeit bedeutet daher weit Lebensmut entwickeln, wenn zu Hause Hartz-IV-Armut schützen. mehr als Einkommensverlust. Der Fall in Resignation und Frust herrschen? Ganz ähnlich sieht es bei der gesetz- die Arbeitslosigkeit bedeutet geradezu ei- Wir haben Regionen in Deutschland, in lichen Rentenversicherung aus, nur dass nen Zusammenbruch von zum Teil seit denen jedes dritte Kind von Hartz IV lebt. die Auswirkungen von Langzeitarbeitslo- https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71 72 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Thema sigkeit, prekären Beschäftigungsverhält- wechslung wird der ohnehin schon kurio- sicherungssysteme trägt nicht mehr, der nissen und Niedriglohnsektor hier natur- se Wert Leistungsgerechtigkeit endgültig gesellschaftliche Konsens erodiert. Vor gemäß erst mit zeitlichem Abstand durch- zur Ideologie im schlechten Sinne, zur diesem Hintergrund sind verschiedene schlagen. Werte-Lüge im Interesse von Vorteilsneh- Optionen und Szenarien denkbar. Die ausgesprochen niedrige Quote von mern. So könnten wir einfach so weiterma- 2,4 Prozent der älteren Menschen, die War das Leistungsideal damit als nor- chen wie bisher: Niveausenkungen und derzeit auf Grundsicherung angewiesen matives Grundkonzept der bundesrepu- Leistungskürzungen für diejenigen, die ei- sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, blikanischen Gesellschaft immer schon gentlich am dringendsten auf sozialen dass eine rapide Zunahme der Altersar- fragil, so trug es doch. Selbst diejenigen Schutz angewiesen sind. Sie bekommen mut in den nächsten 15 bis 20 Jahren fast schienen sich an die ideologische Werte- einen Demographiefaktor in der Renten- schon unausweichlich ist, wenn nicht lüge von der Leistungsgerechtigkeit ge- versicherung, eine verkürzte Bezugsdauer massiv gegengesteuert wird. Je mehr ehe- wöhnt zu haben, die sich ganz unten auf im Arbeitslosengeld oder aber bis zur Lä- mals Langzeit- und Mehrfacharbeitslose der Leistungs-, Erfolgs- oder Einkom- cherlichkeit klein gerechnete Hartz IV– und Niedriglohnbezieher oder prekär Be- menstreppe befanden. Bescheidenheit Regelsätze. Auf der anderen Seite eine an- schäftige das Rentenalter erreichen, umso war schon immer ihre Tugend, das Mot- spruchsvolle Sozialpolitik für die soge- schärfer stellt sich erneut das Problem der to »Geld allein macht nicht glücklich« ihr nannte Mitte, die sogenannten Altersarmut und umso deutlicher wird Trost, die Ziehung der Lottozahlen ihre Leistungsträger dieser Gesellschaft. Sie der armutspolitische Funktionsverlust der Hoffnung. Die Empörung über die tat- bekommen Elterngeld, bessere Kinder- gesetzlichen Rentenversicherung. sächlichen Einkommensungerechtigkei- freibeträge, einen Zuschuss zur Riester- Die tradierten Prinzipien des bundes- ten hat sich viele Jahre lang allenfalls im Rente oder Steuervergünstigungen für deutschen Sozialstaates sind in jeder Hin- Stammtisch-Geschimpfe über »die da ihre Haushaltshilfen. sicht an ihre Grenzen gestoßen. Nicht oben« Luft gemacht, womit »die da Es ist eine Strategie des sukzessiven nur, dass sie in immer weniger Fällen vor oben« ganz gut leben konnten. Rückzugs des Staates aus seinen sozial- Armut schützen. Die Legitimation der Ar- Dass das Leistungsgerechtigkeitsideal staatlichen Verpflichtungen. (21) Es ist beitslosen- und Rentenversicherung selbst gesellschaftlich tragen konnte, dürfe we- ein staatliches Problemlösungsverhalten, steht auf dem Spiel. Insbesondere für sentlich damit zusammenhängen, dass das bereits Ende der 1970er Jahre Einzug Menschen im Niedriglohnsektor gilt, dass sein Grundversprechen im Großen und in die bundesrepublikanische Sozialpoli- ihnen Beiträge abverlangt werden, wohl Ganzen noch halbwegs funktionierte: Je- tik hielt und seitdem immer stärker und wissend, dass sie weder bei Arbeitslosig- der, der guten Willens ist und sich an- unverblümter zum Muster unterschied- keit noch im Alter durch diese Kassen vor strengt, hat eine Perspektive. Spätestens licher familien- und sozialstaatlichen Ent- Armut geschützt werden. Da Möglichkei- jedoch, wenn Menschen in großer Zahl scheidungen wurde: die weitere Margina- ten der privaten Vorsorge in aller Regel zwar Leistungen erbringen wollen, aber lisierung ohnehin marginalisierter Grup- ebenfalls nicht gegeben sind, werden sie nicht die Chance dazu erhalten, verliert pen, damit für den Rest der Gesellschaft zu ihrem Arbeitslosengeld oder ihrer klei- ein soziales Gerechtigkeitsideal, das sich und damit vor allem für den Staat selbst nen Rente zusätzlich auf Hartz IV und aus dem Leistungsprinzip speist, seine Le- alles beim Alten bleiben kann. 40 Euro Altersgrundsicherung beantragen müs- gitimation, seine Akzeptanz und damit mehr Steuerersparnis monatlich pro Kind sen. Damit jedoch verfügen sie über das letztlich seine Fähigkeit, gesellschaftlichen für den Spitzenverdiener, 20 Euro mehr gleiche Einkommen, als wenn sie niemals Konsens zu erzeugen. Wenn Millionen Kindergeld für den Normalverdiener und in die Kassen eingezahlt hätten. von Menschen keine befriedigende Per- den Hartz IV-Beziehern wird das Eltern- Schließlich gefährdet die Perspektivlo- spektive mehr sehen und wenn Millionen geld gestrichen. Es ist nur ein Beispiel aus sigkeit den notwendigen ideellen Grund- von Kindern nicht erlernen, an Perspekti- jüngster Zeit für diese opportunistische konsens dieser Arbeitsgesellschaft. Es ist ven glauben zu können, verliert das Leis- und damit durchaus mehrheitsfähige die Leistungsnorm, die ihr ideelles Funda- tungsideal seine integrierende Kraft. Rückzugsstrategie auf Kosten der Ärm- ment bildet. Wer etwas leistet, verdient Menschen und unter ihnen vor allem die sten. Belohnung. Wer guten (Leistungs-)wil- Kinder und Jugendlichen ohne Chancen Im Ergebnis der vielen Einzelentschei- lens ist, bekommt sogar sozialen Schutz; brechen aus, suchen sich ihre eigenen dungen koppelt sich der Staat mehr und Jeder nach seiner Leistung, jeder nach sei- Normen, schaffen sich ihre eigenen Wel- mehr ab von den realen sozialen Proble- nen (Versicherungs-)beiträgen. (20) Die ten und ihre eigenen Prinzipien. Es ist eine men in dieser Gesellschaft und ersetzt tat- Solidargemeinschaft ist eine Gemein- eigene Ordnung, ein eigenes Werte- und sächliche Problemlösung durch Symbol- schaft von Leistungserbringern. Wer hin- Beziehungsgeflecht, das es ihnen wieder politik, die entschiedenes Handeln sugge- gegen nichts leistet, schließt sich aus. Un- erlaubt subjektiv erfolgreich zu sein. Die rieren soll. Wo eine Bildungsoffensive für verhohlen wertend sprechen wir von Gesellschaft zerfällt. die ärmsten Kinder angezeigt wäre, eine Leistungswilligen, Leistungsträgern oder echte Offensive in der Schulpolitik und Leistungsverweigerern. der Jugendhilfe, werden Zehn-Euro–Gut- Im Grunde belügen wir uns mit dem Was wir tun müssen scheine angeboten und diese Farce auch Leistungsbegriff jedoch gleich doppelt. noch als Paradigmenwechsel in der Ar- Sagen wir Leistung, meinen wir eigentlich Die Einkommensarmut wächst, der menpolitik verkauft. Wo eine Pflegeof- Erfolg. Und sagen wir Erfolg, meinen wir Reichtum auch, die Perspektivlosigkeit fensive und eine echte Aufwertung von in Wirklichkeit Geld. Mit dieser Ver- nimmt zu, die Architektur der Sozialver- Pflegeberufen angezeigt wären, werden https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71 Blätter der Wohlfahrtspflege 2/2011 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33. 73 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Thema Anmerkungen (16) Siehe Makarenko, Anton Semjo- (22) Vgl. beispielsweise die Aufsätze nowtsch: Pädagogische Texte. Ein Päda- von Alfred Boss (Reform der Alterssiche- (1) Der Beitrag stellt die Zusammenfas- gogisches Poem. Der Weg ins Leben. Pa- rung), Rüdiger Soltwedel (Reform der Ar- sung einiger Thesen aus dem Buch »Ar- derborn 1976 (erstmals 1933) S. 48. beitslosenversicherung) und Eckhard mes Deutschland« dar (vgl. Abbildung). (17) Makarenko, Anton Semjono- Knappe (Reform der Krankenversiche- (2) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi- witsch: Pädagogische Werke. Erster rung) in dem bereits 1983 erschienen tel »Weichenstellungen«, S. 196 ff. Band. Pädagogische Schriften 1922– Sammelband des damaligen Präidenten (3) Siehe »Armes Deutschland«, Ex- 1936. Berlin S. 468. des Instituts für Weltwirtschaft Herbert kurs »Stille Helden und Arno Dübel«, S. (18) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- Giersch (Hg.): Wie es zu schaffen ist. 209 ff. pitel »Unser Sozialstaat an den Grenzen: Agenda für die deutsche Wirtschaftspoli- (4) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi- Warum Armut hier keinen Platz hat«, S. tik. Stuttgart. tel »Allzweckwaffe Neoliberalismus – 52 ff. (23) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- Die Leitbilder des Rückzugs«, S. 125 ff. (19) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- pitel »Wie wir den Sozialstaat umbauen (5) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi- pitel »Operation gelungen, Patient tot: müssen«, S. 212 ff. tel »Unser Sozialstaat an den Grenzen – Die Renten sind unsicher«, S. 86 ff. (24) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- warum Armut hier keinen Platz hat«, S. (20) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- pitel »Armutsfeste Rente«, S. 216 ff. 52 ff. pitel »Das Ende des Prinzips sozialer Ge- (25) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- (6) Siehe Internet http://www.amtliche- rechtigkeit«, S. 183 ff. pitel »Armutsfestes Arbeitslosengeld«, S. sozialberichterstattung.de/Tabellen/tabel- (21) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- 218 ff. leA11.html (Internetabfrage 01/2011). pitel »Wenn alles zu viel wird: Die Strate- (26) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- (7) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi- gie des Rückzugs«, S. 110 ff. pitel »Perspektiven schaffen«, S. 222 ff. tel »›Weniger Arme in Deutschland?‹ – Was uns die Statistik verrät und wo sie blufft«, S. 37 ff. (8) Vgl. Frick, Joachim/Grabka, Mar- kus: »Weiterhin hohes Armutsrisiko in Deutschland: Kinder und junge Erwach- sene sind besonders betroffen« In: DIW Wochenbericht Nr. 100/2008 S. 2 ff. (9) Siehe Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Internet http://www.amtliche-sozialberichterstat- tung.de/Tabellen/tabelleA41bund.html (Internetabfrage 01/2010). (10) Vgl. Frick, Joachim/Grabka, Mar- kus: Gestiegen Vermögensungleichheit in Deutschland. In: DIW Wochenbericht 4/2009 S. 54 ff. (11) Vgl. Creditreform: Schuldner At- las Deutschland 2010, S. 4. Internet http://www.creditreform.de/Deutsch/Cre- ditreform/Presse/Archiv/SchuldnerAt- las_Deutschland/2010/Analyse_Schuld- nerAtlas_Deutschland_2010.pdf (Abfra- ge 01/2011). (12) Vgl. Frick, Joachim/Grabka, Mar- kus 2008: »Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisie- rung der verfügbaren Einkommen?« In: Deutschland steht vor dem Scheideweg. Noch nie lebten so viele Menschen in Armut. DIW-Wochenbericht 100/2008. Statt die Probleme energisch anzupacken, geht die Politik den kalten Weg der Aus- (13) Vgl. Bundesagentur für Arbeit: grenzung. Doch wo Millionen von Menschen ausweglos im Abseits belassen werden, Grundsicherung für Arbeitssuchende in geraten die Fundamente der Bundesrepublik selbst ins Wanken. Ulrich Schneider ana- Zahlen. November 2010 S. 23. lysiert die Spaltung der Gesellschaft. Er beschreibt das politische Scheitern und die (14) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- Strategien und Tricks, mit denen sich die Akteure aus der Verantwortung stehlen. Und pitel »Das war’s dann: Das Scheitern von er sagt, wie eine andere Politik aussehen könnte und müsste. Es geht um Perspektiven Hartz IV«, S. 178 ff. – für jeden einzelnen Menschen und für das Land. (15) Siehe »Armes Deutschland«, Ka- Ulrich Schneider: Armes Deutschland. Neue Perspektiven für einen anderen Wohl- pitel »Ausgegrenzt und ohne Perspekti- stand. Verlag Westend, Frankfurt am Main. 256 Seiten. 16,95 Euro. ISBN 978-3- ve«, S. 168 ff. 938060-57-5. https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71 74 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Thema Berichte erstellt, Diskussionen über zugrundeliegenden Ideen stehen mag, in träge am Ende der Erwerbsphase so hö- Transparenz geführt und Imagekampag- absehbarer Zeit aus zwei Gründen ziem- her bewertet werden, dass sich dieser Ef- nen initiiert. Verteilungspolitisch kann so lich ausgeschlossen: fekt ergibt. Die Differenz wäre aus Steu- ebenfalls alles beim Alten bleiben – unter • Zum einen gilt zumindest für die Ren- ermitteln zu finanzieren, da dieser Inkaufnahme der langsamen, aber unauf- tenversicherung, dass die erworbenen Schritt das rigide Äquivalenzprinzip ver- haltsamen Erosion unseres gesellschaft- Rentenansprüche des Beitragszahlers lässt und somit der fürsorgerischen Ar- lichen Zusammenhalts und unserer ge- verfassungsrechtlich geschützten Eig- mutspolitik zuzurechnen ist. Für alle, die sellschaftlicher Grundlagen. entumscharakter haben. Eine Radikal- die notwendigen Beitragsjahre nicht er- Die Alternative bestünde in Radikalre- reform müsste daher alle bereits aufge- reicht haben, aber durchaus ihre kleinen formen unterschiedlicher Couleur. laufenen Altansprüche bedienen, und Renten oder auch andere kleine Rük- Schluss mit staatlichen Kassen, staat- gleichzeitig ein neues System aufbauen kflüsse aus ihrer Altersvorsorge erhal- lichen Versicherungen, Äquivalenzprinzip – ein in der politischen Praxis kaum ten, wäre ein entsprechender Einkom- und Beitragsfinanzierung. Statt dessen vorstellbarer Vorgang. mensfreibetrag in der Altersgrundsiche- Existenzsicherung für die »wirklich Be- • Zum anderen ist das schon beschriebe- rung einzuräumen. Die vollkommene dürftigen« auf schmalstem Niveau und ne Leistungsprinzip, das unserer Sozial- Anrechnung all dieser Einkommen auf alles, was darüber hinaus geht, ist Privat- versicherung zugrunde liegt, keine blo- die Altersgrundsicherung wird von den sache. Weitgehende Privatisierung ist das, ße technische Größe, sondern schlägt betroffenen Menschen zu Recht als eine was Marktradikalen ohnehin seit jeher sich ganz offensichtlich direkt in der Aberkennung ihrer Lebensleistung und vorschwebt. (22) Mit der Abschaffung Mentalität und – trotz seines ideologi- ihrer Bemühungen um Altersvorsorge der Arbeitslosenhilfe, dem Zurückfahren schen Gehalts – im Gerechtigkeitsemp- empfunden. Die absehbarer quantitative des Arbeitslosengeldes I und der Einfüh- finden der Versicherten selbst nieder. Zunahme des Problems drängt auf eine rung der Riesterrente, so ließe sich argu- Wer über noch so kleine Ansprüche an rasche Lösung. mentieren, sind die Weichen ohnehin in Arbeitslosen- oder Rentenversicherung Ganz ähnlich verhält es sich mit der Ar- diese Richtung gestellt. verfügt, empfindet es in der Regel als beitslosenversicherung. (25) Mit Blick auf Ähnlich radikal bietet sich in der der- zutiefst ungerecht, wenn seine Beitrags- den Niedriglohnsektor und einer zuneh- zeitigen Debatte das bedingungslose leistung in irgendeiner Weise nivelliert menden Zahl von Menschen, bei denen Grundeinkommen an: Wo das Leistungs- oder auch nur relativiert wird – mit an- sich Phasen der Erwerbstätigkeit immer prinzip nicht mehr trägt, müssen halt deren Worten: wenn jemand das Glei- wieder abwechseln mit Phasen der Ar- neue Prinzipien her. Angesichts des zu- che bekommt, obwohl er weniger geleis- beitslosigkeit sind drei Maßnahmen nur nehmenden Versagens unserer tradierten tet und eingezahlt hat. naheliegend: Systeme und angesichts eines nach wie Eine Reform sozialer Sicherungssyste- Für ehemals Vollerwerbstätige wäre ein vor ungebrochenen Bedürfnisses nach so- me kann jedoch immer nur erfolgreich Arbeitslosengeld I auszuzahlen, dessen zialer Sicherheit in der deutschen Gesell- sein, wenn sie die Menschen mit ihrer Höhe auf jeden Fall über Hartz-IV-Ni- schaft ist überhaupt nicht erstaunlich, Mentalität und ihrem Gerechtigkeitsemp- veau liegt. Ein solches Mindestarbeitslo- dass Befürworter eines bedingungslosen finden mitnimmt. sengeld könnte die meisten Haushalte Grundeinkommens eine immer stärkere ohne Kinder, die aus dem Niedriglohn- Bewegung bilden. (23) sektor heraus arbeitslos werden, vor dem Das bedingungslose Grundeinkommen Reform der Sozialversicherung direkten Fall in Hartz schützen. Sind Kin- würde nicht nur eine Radikalreform un- der in diesen Haushalten, sollte ihnen ge- serer sozialen Sicherungssysteme darstel- Was also praktisch bleibt, ist der müh- nauso wie erwerbstätigen Familien mit len. Seine Protagonisten bieten darüber selige Weg des Reformierens und Weiter- geringem Einkommen der Kinderzu- hinaus ein durchaus neues und positives entwickelns, um die schleichende Aus- schlag zum Kindergeld gewährt werden, Menschenbild an, das sich wohltuend ab- höhlung der sozialen Sicherungssysteme um sie vor Hartz IV zu schützen. hebt von der bleiernen Misanthropie, zu stoppen. Es gilt, auch Arbeitslosen- Um Akzeptanz und Funktionsfähig- welcher Hartz IV zugrunde liegt. Es stellt und Rentenversicherung neue Perspekti- keit der Arbeitslosenversicherung zu si- nichts Geringeres dar als den Versuch, ein ven zu geben, anstatt sie dahinsiechen zu chern, ist darüber hinaus dafür zu sor- gänzlich neues Miteinander in dieser Ge- lassen. Perspektive bekommen sie dann, gen, dass der Kreis der Anspruchsbe- sellschaft zu entwickeln, das von Freiheit- wenn sie für den Einzelnen einen Sinn er- rechtigten wieder deutlich erweitert lichkeit, Vertrauen, vor allem aber von geben, und einen Sinn ergeben sie nur wird. Im Zusammenhang mit der Ein- geradezu schrankenlosem Optimismus dann, wenn sie im Regelfall vor Armut führung von Hartz IV wurden durch getragen ist. Dies ist es wohl, was trotz al- schützen und Beitragszahler besser stellen eine rigorose Verkürzung der Bezugszei- ler realpolitischer Beschränktheiten und als Nicht-Beitragszahler. ten des Arbeitslosengeldes I und eine Re- offener theoretischer Fragen und Wider- Für die gesetzliche Rentenversiche- duzierung der sogenannten Rahmenfrist sprüchlichkeiten seine Attraktivität aus- rung heißt das: Es ist sicherzustellen, von drei auf zwei Jahre Arbeitslose in macht. Es ist wenigstens der Versuch oder dass der Versicherte, der durchschnitt- großer Zahl aus dem Bezug des Arbeits- Beginn, Sozialpolitik radikal neu und po- lich viele Beitragsjahre beim Rentenzu- losengeldes I ausgesteuert oder gleich sitiv zu denken. gang aufweist, eine Rente erhält, die ganz ferngehalten. Letzteres meint die Doch sind derart durchgreifende Sys- über Grundsicherungsniveau liegt. (24) Frist, innerhalb derer man zwölf Mona- temwechsel, wie immer man zu den ihnen Dazu müssten die unzureichenden Bei- te versicherungspflichtige Beschäftigung https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71 Blätter der Wohlfahrtspflege 2/2011 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33. 75 Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Thema nachweisen muss, um überhaupt Ar- nichts zu tun, wie die einschlägigen schaffen, muss in übergeordnetem Inter- beitslosengeld I beantragen zu können. Untersuchungen zeigen. Statt auf einem esse der Staat tätig werden. Experten ge- Diese Rahmenfrist wäre schnellstens Laufband zum ersten Arbeitsmarkt fin- hen 80.000 bis 120.000 fehlenden Lehr- wieder auf die alten drei Jahre zu erwei- den sich zu viele im Hamsterrad wieder. stellen aus. Wir können nicht einfach auf tern, um dem zunehmenden Phänomen Nicht viel besser sieht es an unseren die demographische Entwicklung setzen. der Mehrfacharbeitslosigkeit gerecht zu Schulen aus. So wichtig Bildung und Bil- Ganz im Gegenteil: Mit zunehmend al- werden. dungsabschlüsse in dieser Erwerbsgesell- ternder Gesellschaft können wir erst recht Die Verkürzung der Bezugszeiten wur- schaft für die Chancen unserer Schüler auf keinen Jugendlichen verzichten. Wir de mit der offiziellen Begründung vorge- auch sind – es sind abstrakte Möglichkei- brauchen deutlich mehr Lehrstellen in nommen, sie diene der Aktivierung der ten. Für denjenigen, dem die Schule leicht den Betrieben und außerdem mehr »aus- Arbeitslosen. Doch gerade bei dieser bös- fällt, der Unterstützung von zu Hause er- bildungsbegleitende Hilfen« oder sozial- gläubigen Argumentation stellt sich die fährt und für den die Erwerbstätigkeit sei- pädagogische Begleitung. Schließlich sind Frage, weshalb diejenigen, die sich durch ner Eltern etwas ganz Selbstverständli- neben der Ausbildung in den Betrieben Fortbildung oder andere Maßnahmen ches ist, scheinen sie während der gesam- auch mehr staatlich finanzierte außerbe- unzweifelhaft um ihre Rückkehr in den ten Schulzeit greifbar und fast triebliche Ausbildungsplätze bei entspre- ersten Arbeitsmarkt bemühen, überhaupt selbstverständlich. Wer jedoch keine gu- chend spezialisierten Ausbildungsbetrie- aus dem Arbeitslosengeld-I-Bezug heraus- ten Startvoraussetzungen mitbringt, wer ben notwendig: nicht nur für die, die bei fallen sollen. Zumindest für diesen Perso- schon aufgrund der Einkommenssitua- der betrieblichen Ausbildung leer ausge- nenkreis wäre die Bezugsdauer des Ar- tion seiner Eltern ausgegrenzt ist und mit gangen sind, sondern gezielt für solche beitslosengeldes I zu entfristen. der Erfahrung der schier aussichtslos wir- jungen Menschen, die den Anforderun- kenden Arbeitssuche seiner Eltern und gen eines Betriebes – aus welchen Grün- der genauso deprimierenden Lehrstellen- den auch immer – noch nicht gewachsen Perspektiven schaffen suche seiner älteren Geschwister auf- sind. Und da es offensichtlich nicht an- wächst, für den bleiben sie immer ab- ders geht, muss über eine Ausbildungs- Doch selbst, wenn wir mit solchen strakt. Es kann nicht funktionieren, ein platzabgabe derjenigen Betriebe nachge- Maßnahmen unseren Versicherungen Kind oder einen Jugendlichen zu – aus dacht werden, die nichts oder zu wenig wieder auf die Beine geholfen haben: Wo seiner Sicht – sinnlosen Anstrengung mo- für die Ausbildung ihres Nachwuchses immer mehr Menschen ohne echte Per- tivieren zu wollen. Um Kinder- und Ju- tun. »Fördern und Fordern« – was für je- spektiven dastehen, ist es mit Geld allein gendliche aus sozial unterprivilegierten den arbeitslosen Jugendlichen gilt, sollte nicht mehr getan. Es müssen Perspektiven Umfeldern zu motivieren, müssen die Per- auch für die Betriebe zur Regel werden. her – nicht abstrakt und allgemein, son- spektiven konkret und damit glaubhaft Ohne ein effizientes System der beruf- dern in jedem Einzelfall, ganz konkret. sein. lichen Ausbildung, das auch die Jugend- Auf dieses Ziel hin sind unsere bildungs- Unsere Sozial- und Bildungspolitik lichen mitnimmt, die es etwas schwerer und arbeitsmarktpolitischen Maßnah- wird nur dann eine Antwort auf die Ar- haben, werden wir niemals die nötigen men wo immer möglich auszurichten, mutsfrage finden, wenn sie den Armen Impulse in den Schulen auslösen können, sollen sie soziale Probleme nicht nur ver- ganz konkrete Perspektiven bietet und die nötig sind, um tatsächlich so gut wie walten, sondern lösen. (26) nicht lediglich irgendwelche Bildungsin- alle Jugendlichen zu einem befriedigen- Doch sind wir derzeit von einer solchen halte vermittelt. Bildung mag die notwen- den Lernerfolg zu führen. Auch das Pro- Sozial- und Bildungspolitik weit entfernt. dige Bedingung sein, die ganz konkrete blem einer fehlenden Ausbildungsreife Das »Fordern und Fördern« in Hartz IV Perspektive die hinreichende. Wir können einzelner Jugendlicher, über das seitens entpuppt sich bei näherem Hinsehen als nur erahnen, was es für das Klima, die der Wirtschaft alljährlich geklagt wird, ein nicht selten aktionistisch anmutendes Lernbereitschaft und die Leistungsfähig- werden wir nur vom Ende her lösen kön- Maßnahmengewusel, das deshalb so keit an unseren Hauptschulen bedeuten nen: Indem wir nämlich genügend Aus- stark von Zwang und Sanktionsdruck würden, wenn wir jedem Schüler und je- bildungsstellen und ausreichend flankie- durchdrungen ist, weil man gerade nicht der Schülerin einen konkreten Ausbil- rende Hilfen bereitstellen, die den jungen in der Lage ist, wirkliche Perspektiven zu dungsplatz versprechen könnten, wenn Menschen signalisieren: »Du hast eine bieten. die Leistung halbwegs stimmt. Gleiches Perspektive, wenn du dich anstrengst!« Menschen verrichten Ein-Euro-Jobs, gilt genauso für all die sogenannten Maß- Unsere Gesellschaft ist im Begriff, re- obwohl klar ist, dass dieser Weg nur in nahmen und sozialpädagogischen Hilfen gional und sozial auseinanderzubrechen. Ausnahmefällen in den ersten Arbeits- für junge Menschen in Hartz IV – vom Unsere sozialen Sicherungssysteme sind markt führt. Sie werden zum Teil zu Jobs Sprachkurs über Bewerbungstraining bis an ihren Grenzen angelangt. Alle bil- gezwungen, die weit unterhalb ihrer Qua- hin zum Ein-Euro-Job, wären sie tatsäch- dungs-, sozial- und arbeitsmarktpoliti- lifikation liegen und die sie als weitere lich auf ein konkretes Ziel hin geplant schen Maßnahmen müssen folglich da- Stufe ihres beruflichen Abstiegs empfin- und organisiert, nämlich auf den Ausbil- nach befragt werden, ob sie die Men- den. »Aktivierung« wurde mit Hartz IV dungsplatz oder Arbeitsplatz auf dem er- schen vor Einkommensarmut und versprochen – und mehr ist es wirklich sten Arbeitsmarkt. Ausgrenzung bewahren und ob sie kon- nicht. Die Arbeitssuchenden werden »in Und da der freie Markt offensichtlich krete Perspektiven schaffen. Perspektiven Bewegung gehalten«. Mit Perspektiven nicht in der Lage ist, die notwendigen für die Armen, Perspektiven für diese Ge- und Zielgerichtetheit hat das erst einmal Ausbildungsstellen und Arbeitsplätze zu sellschaft. ◆ https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71 76 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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