Armes Deutschland Warum wir Perspektiven brauchen

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Armes Deutschland
Warum wir Perspektiven brauchen
■ Ulrich Schneider

Die Armut in Deutschland wächst, der         hatte und dies dank Hartz IV auch nicht                     So tief gespalten wie noch nie
Reichtum auch. Die Perspektivlosigkeit       müsse. (3) Westerwelles schrille Ausfälle
nimmt zu, die Architektur der Sozialversi-   zur »spätrömischen Dekadenz« und zum                           14,6 Prozent der Bevölkerung in
cherungssysteme trägt nicht mehr und der     »anstrengungslosen Wohlstand« fügten                        Deutschland waren im Jahr 2009 ar-
gesellschaftliche Konsens erodiert. Vor      sich nahtlos ein in diese in ihrer Unver-                   mutsgefährdet. (6) Ihr Einkommen lag
diesem Hintergrund ist es Zeit zum Han-      hohlenheit und Massivität bisher nicht er-                  unter 60 Prozent des Durchschnittsein-
deln und es gibt auch durchaus vernünfti-    lebte neoliberale Stimmungsmache.                           kommens. Dies sind zwölf Millionen
ge Optionen dafür.                              Dem nachdenklicheren und fachkundi-                      Menschen – ein Höchststand in der Ge-
                                             geren Publikum blieb nur Kopfschütteln.                     schichte der Bundesrepublik und des
Was war nur los im Frühjahr 2010?            Doch ließ die Aufgeregtheit ahnen: Es                       wiedervereinten Deutschlands. Bei nach
Kaum war der Termin durchgesickert, zu       ging nicht lediglich um 20 der 30 Euro                      wie vor über sechs Millionen Hartz IV-
dem das Bundesverfassungsgericht sein        mehr »Stütze«. Wir dürfen nicht überse-                     Beziehern, über eine Million Menschen in
Regelsatzurteil verkünden wollte, setzte     hen: Hartz IV war nicht einfach die Zu-                     der Sozialhilfe und fast 300.000 Kindern
eine in Teilen geradezu hysterisch anmu-     sammenlegung von Arbeitslosenhilfe und                      in Familien, die wegen ihres Niedrigein-
tende Medienberichterstattung ein. (1)       Sozialhilfe. Hartz IV war von zentraler                     kommens einen Kinderzuschlag erhalten,
   Sollten die Regelsätze infolge des dro-   strategischer Bedeutung für die weitere                     sind derlei Zahlen durchaus plausibel.
henden Richterspruchs erhöht werden,         Ausdehnung des Niedriglohnsektors, der                         Theoretisch müsste dieses gewaltige
werde sich Arbeit kaum noch lohnen,          über 20 Prozent der abhängig Beschäftig-                    Ausmaß an Einkommensarmut nicht ein-
warnten aufgeregt die einschlägigen Ga-      ten umfasst. Schon Jahre vor Agenda                         mal erschrecken. Dann nämlich nicht,
zetten von FAZ bis Bild. Vom Chef der        2010 und Hartz IV predigten die soge-                       wenn sich die Quoten seit Jahren im
Wirtschaftsweisen, Wolfgang Franz, bis       nannten Wirtschaftsweisen die vermeint-                     Sturzflug befänden oder aber die Ein-
hin zum Forschungsinstitut des Bundes        lich arbeitsmarktpolitisch schädliche Wir-                  kommensarmen jedes Vierteljahr andere
der Steuerzahler reichte der Chor der        kung zu hoher Sozialleistungen. (4)                         zwölf Millionen wären. Doch sieht die
Warner und Mahner, der da auf die Büh-          Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe                    Realität anders aus (7): Um rund 50 Pro-
ne getrieben wurde. Hektisch drängte es      und die Verkürzung der Bezugsdauer des                      zent hat die Armut in den letzten Jahren
das Kieler Institut für Weltwirtschaft mit   Arbeitslosengeldes waren Programm. Mit                      zugenommen. Der langfristige Trend
einer »Vorabversion« einer eigentlich erst   der »Agenda 2010« sah man sich offen-                       zeigt nach oben. Zwar ist es in den wirt-
für einen späteren Zeitpunkt vorgesehe-      sichtlich am Ziel. Die Arbeitslosenhilfe                    schaftlich guten Jahren zwischen 2004
nen Studie zum Lohnabstand in die Öf-        war abgeschafft, der Kreis der An-                          und Ende 2008 gelungen, diesen Trend
fentlichkeit. (2)                            spruchsberechtigten auf Arbeitslosengeld I                  zu stoppen. Doch reichte es nicht, um die
   Die Botschaft war immer die gleiche:      deutlich verkleinert und die Regelsätze                     Einkommensarmut tatsächlich spürbar
Hartz IV macht faul! Oder vornehmer:         bei Hartz IV trickreich klein gerechnet.                    abzubauen. (8) Arm und Reich ent-
Eine Erhöhung der Regelsätze nimmt den       Mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil                     wickeln sich immer weiter auseinander.
Arbeitsanreiz. Zum Zwecke der Illustra-      drohte ein herber Rückschlag auf diesem                     Immerhin verfügen acht Prozent der Be-
tion zerrten Talkshows von Beckmann          Weg.                                                        völkerung seit Jahren über das Doppelte
bis Maischberger einen gewissen Arno            Die Akteure schienen zu spüren:                          und mehr des Durchschnittseinkommens.
Dübel ins Rampenlicht, einen etwas skur-     Deutschland befindet sich vor einem                         (9)
rilen Menschen mit einschlägiger RTL-        Scheideweg. Weil es so tief gespalten ist                      In einem Land, das auf eine Vermö-
Doku-Soap-Karriere, der nach eigenen         wie nie zuvor, weil auf sozialpolitisch                     genssteuer verzichtet wird und in dem die
Angaben so gut wie noch nie gearbeitet       ausgetretenen Pfaden anscheinend nichts                     Erbschaftssteuer faktisch keine Rolle
                                             mehr gehen will, weil die Systeme der so-                   spielt, führen solche Einkommensdiskre-
                                             zialen Sicherung mehr und mehr versagen                     panzen zwangsläufig zu einer noch stär-
                                             (5) und weil der Glaube in die Systeme                      keren Spreizung der Vermögen. Und so
                                             schwindet, ebenso wie der Glaube in eine                    wundert es nicht, dass das Durchschnitts-
                                             Politik des »Weiter so«. Deutschland                        vermögen der Menschen in Deutschland
Dr. Ulrich Schneider ist                     steht vor gesellschaftspolitischen Rich-                    zwischen 2002 und 2007 um erfreuliche
Hauptgeschäftsführer des Paritätischen       tungsentscheidungen. Dabei geht es auch                     zehn Prozent auf 88.000 Euro gestiegen
Wohlfahrtsverbandes.                         um Vorteile und Privilegien. Deshalb die                    ist, doch 27 Prozent der Bevölkerung gar
Internet http://www.der-paritaetische.de     Aufregung.                                                  nichts hatten oder aber sogar verschuldet

                                                      https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71
Blätter der Wohlfahrtspflege 2/2011            Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33.                                      71
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waren. (10) Laut dem Finanzdienstleister         Jahrzehnten gelebten Routinen und                           Wir können uns heute noch gar keine
Creditrefom war 2010 fast jeder zehnte           Selbstbildern. (15)                                         rechte Vorstellung davon machen, was es
Erwachsene überschuldet. Das sind 6,5               Entscheidend dafür, wie dieser Absturz                   für die Entwicklung eines Kindes bedeu-
Millionen Menschen, die ihren Zahlungs-          wahrgenommen wird, ist die Perspektive,                     tet, wenn nicht nur die eigenen Eltern und
verpflichtungen nicht nachkommen kön-            die der Einzelne hat. Ob es sich lediglich                  die Nachbarn jahrelang ohne Arbeit sind,
nen, und zwar ohne irgendeine absehbare          um eine »Durstrecke« handelt, deren                         sondern der halbe Stadtteil; wenn Ar-
Perspektive. (11)                                Ende bereits absehbar ist oder ob keiner-                   beitslosigkeit und Hartz IV der Normal-
                                                 lei Ausweg in Sicht ist, ist entscheidend                   fall sind und die Erwerbstätigkeit die
                                                 für das Erleben und die persönliche Ent-                    Ausnahme bleibt.
Zunehmende                                       wicklung, die nicht selten von Existenz-                       Wir sollten uns vor Augen halten, dass
Perspektivlosigkeit                              ängsten geprägt ist und irgendwann dem                      in Deutschland in großer Zahl Kinder
                                                 Gefühl, einfach nicht mehr dazuzugehö-                      heranwachsen, die die Situation, dass
   Zunehmende Perspektivlosigkeit ist es         ren.                                                        morgens alle das Haus verlassen, weil sie
damit auch, die die neue Einkommensar-              Gerade Kinder brauchen das Gefühl                        zur Arbeit oder zur Schule gehen, am
mut kennzeichnet und ihre besondere Bri-         der Zugehörigkeit und die verheißungs-                      ehesten noch aus dem Fernsehen kennen,
sanz begründet.                                  volle Perspektive für ihre Entwicklung                      aber nicht aus dem persönlichen Umfeld.
   Gelang es nach einer Studie des Deut-         wie die Luft zum Atmen. »Der Mensch
schen Instituts für Wirtschaftsforschung         kann auf der Welt nicht leben, wenn
zwischen den Jahren 1996 und 2000                nichts Erfreuliches vor ihm liegt«, er-                     Das überforderte (Leistungs-)
immerhin noch fast der Hälfte, aus der           kannte der russische Pädagoge Anton                         System
Einkommensunterschicht wieder in die             Semjonowitsch Makarenko bereits in den
Mittelschicht aufzusteigen, war es zwi-          1930er Jahren. »Die Freude auf das Mor-                        Es gibt keine Alternative zur Perspekti-
schen 2002 und 2006 gerade noch ein gu-          gen ist die wahrhafte Stimulanz im                          ve – nicht für den Einzelnen und im
tes Drittel. (12) Die Hartz IV-Statistik be-     menschlichen Leben.« (16) Über seine Pä-                    Grunde auch nicht für weite Teile unseres
stätigt den Trend. 71,1 Prozent der              dagogik folgerte er daraus: »Einen Men-                     sozialen Sicherungssystems. Mit ihrem
Hartz-IV-Bezieher waren Ende 2009 be-            schen erziehen, heißt in ihm Perspektiven                   Äquivalenzprinzip haben die tragenden
reits ein Jahr und länger auf diese Hilfe        herausbilden.« »Der morgige Tag muss                        Säulen dieses Systems – die Arbeitslosen-
angewiesen. 54,8 Prozent waren es sogar          unbedingt besser erscheinen als der heu-                    und Rentenversicherung – keine Antwort
bereits zwei Jahre und länger. (13) Mit          tige«, wurde zum Leitsatz seines erziehe-                   auf Perspektivlosigkeit. Auf dauerhafte
dem »Trampolin« oder dem »Sprung-                rischen Handelns. (17)                                      Ausgrenzung sind sie einfach nicht einge-
brett in den Arbeitsmarkt«, als das uns             Viele Pädagogen werden es bestätigen:                    stellt. Schutz vor Armut bieten sie dem,
Hartz IV politisch schöngeredet werden           Erst die Orientierung auf die Zukunft                       der ohnehin ein gutes Erwerbseinkom-
sollte, haben diese Zahlen nichts zu tun.        und die Freude auf den morgigen Tag                         men hat und nur kurzzeitig arbeitslos ist.
(14)                                             schaffen die Energie und die seelische Be-                  (18) Eine zunehmende Zahl von Mehr-
   Es ist eine zerstörerische Wirkung, die       wegung, die das Kind zu seiner Entfal-                      fach- und Langzeitarbeitslosen und ein
von dieser Perspektivlosigkeit ausgeht.          tung braucht. Die subjektive Vorwegnah-                     wachsender Niedriglohnsektor lassen die-
Auf der individuellen Ebene belastet sie         me künftiger Optionen durch das Kind ist                    ses System dagegen zunehmend ins Leere
psychisch, macht krank. Kindern nimmt            ständiger Antrieb und Motor von Ent-                        laufen.
sie Lebensmut und Energie. Gesellschaft-         wicklung. Wer Kindern jedoch den Glau-                         Als in der Krise Mitte der 1970er Jahre
lich führt sie zur systematischen Überfor-       ben an die Perspektive und die Freude auf                   die Arbeitslosenzahl auf über eine Million
derung unserer Sicherungssysteme und             das Morgen nimmt, lässt Energien versie-                    hochschnellte, erhielten immerhin zwei
schließlich zur Erosion der normativen           gen, raubt dem Kind die Kindheit und                        Drittel von ihnen Arbeitslosengeld. 1990
Grundlagen dieser Arbeitsgesellschaft            nimmt dem Pädagogen jede Chance zur                         war es mit 42 Prozent nicht einmal mehr
selbst.                                          Bildung und Erziehung.                                      die Hälfte und heute ist es gerade noch
   Arbeit ist bekanntermaßen mehr als               Fraglich ist jedoch, woher Kinder und                    ein Drittel der registrierten Arbeitslosen –
Gelderwerb. Arbeit strukturiert unseren          Jugendliche ihren Glauben an Perspekti-                     Resultat einer sich zunehmend verhärten-
Alltag, Arbeit prägt unsere Familien-            ven nehmen sollen, wenn sie miterleben,                     den Arbeitslosigkeit und politisch restrik-
strukturen, Arbeit gibt uns Rollenbilder,        wie ihre älteren Geschwister sich hun-                      tiver Eingriffe in die Arbeitslosenversiche-
Arbeit ist mit Status verbunden und prägt        dertfach erfolglos bewerben, und wie sie                    rung selbst. (19)
einen Großteil unserer Eitelkeiten. Nach         zu der Überzeugung gelangen sollen, ihre                       Und selbst für das verbleibende Drittel
wie vor leben wir in einer Arbeitsgesell-        Zukunft selbst in der Hand zu haben,                        gilt: Wer im Niedriglohnsektor von Löh-
schaft mit ausgesprochenem Arbeits-              wenn sie erleben müssen, wie ihre Eltern                    nen leben muss, mit denen er bereits als
ethos. Alternative Orientierungen und            schon über Jahre erfolglos versuchen, aus                   Erwerbstätiger kaum über Hartz IV liegt,
Rollenmuster stehen dem Einzelnen nicht          Hartz IV herauszukommen, aber immer                         den wird im Falle des Arbeitsplatzverlus-
ohne weiteres zur Verfügung. Der Fall in         wieder scheitern? Wie sollen diese Kinder                   tes das Arbeitslosengeld I nicht vor der
die Arbeitslosigkeit bedeutet daher weit         Lebensmut entwickeln, wenn zu Hause                         Hartz-IV-Armut schützen.
mehr als Einkommensverlust. Der Fall in          Resignation und Frust herrschen?                               Ganz ähnlich sieht es bei der gesetz-
die Arbeitslosigkeit bedeutet geradezu ei-          Wir haben Regionen in Deutschland, in                    lichen Rentenversicherung aus, nur dass
nen Zusammenbruch von zum Teil seit              denen jedes dritte Kind von Hartz IV lebt.                  die Auswirkungen von Langzeitarbeitslo-

                                                     https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71
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Thema

sigkeit, prekären Beschäftigungsverhält-       wechslung wird der ohnehin schon kurio-                     sicherungssysteme trägt nicht mehr, der
nissen und Niedriglohnsektor hier natur-       se Wert Leistungsgerechtigkeit endgültig                    gesellschaftliche Konsens erodiert. Vor
gemäß erst mit zeitlichem Abstand durch-       zur Ideologie im schlechten Sinne, zur                      diesem Hintergrund sind verschiedene
schlagen.                                      Werte-Lüge im Interesse von Vorteilsneh-                    Optionen und Szenarien denkbar.
   Die ausgesprochen niedrige Quote von        mern.                                                          So könnten wir einfach so weiterma-
2,4 Prozent der älteren Menschen, die             War das Leistungsideal damit als nor-                    chen wie bisher: Niveausenkungen und
derzeit auf Grundsicherung angewiesen          matives Grundkonzept der bundesrepu-                        Leistungskürzungen für diejenigen, die ei-
sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen,       blikanischen Gesellschaft immer schon                       gentlich am dringendsten auf sozialen
dass eine rapide Zunahme der Altersar-         fragil, so trug es doch. Selbst diejenigen                  Schutz angewiesen sind. Sie bekommen
mut in den nächsten 15 bis 20 Jahren fast      schienen sich an die ideologische Werte-                    einen Demographiefaktor in der Renten-
schon unausweichlich ist, wenn nicht           lüge von der Leistungsgerechtigkeit ge-                     versicherung, eine verkürzte Bezugsdauer
massiv gegengesteuert wird. Je mehr ehe-       wöhnt zu haben, die sich ganz unten auf                     im Arbeitslosengeld oder aber bis zur Lä-
mals Langzeit- und Mehrfacharbeitslose         der Leistungs-, Erfolgs- oder Einkom-                       cherlichkeit klein gerechnete Hartz IV–
und Niedriglohnbezieher oder prekär Be-        menstreppe befanden. Bescheidenheit                         Regelsätze. Auf der anderen Seite eine an-
schäftige das Rentenalter erreichen, umso      war schon immer ihre Tugend, das Mot-                       spruchsvolle Sozialpolitik für die soge-
schärfer stellt sich erneut das Problem der    to »Geld allein macht nicht glücklich« ihr                  nannte       Mitte,    die     sogenannten
Altersarmut und umso deutlicher wird           Trost, die Ziehung der Lottozahlen ihre                     Leistungsträger dieser Gesellschaft. Sie
der armutspolitische Funktionsverlust der      Hoffnung. Die Empörung über die tat-                        bekommen Elterngeld, bessere Kinder-
gesetzlichen Rentenversicherung.               sächlichen Einkommensungerechtigkei-                        freibeträge, einen Zuschuss zur Riester-
   Die tradierten Prinzipien des bundes-       ten hat sich viele Jahre lang allenfalls im                 Rente oder Steuervergünstigungen für
deutschen Sozialstaates sind in jeder Hin-     Stammtisch-Geschimpfe über »die da                          ihre Haushaltshilfen.
sicht an ihre Grenzen gestoßen. Nicht          oben« Luft gemacht, womit »die da                              Es ist eine Strategie des sukzessiven
nur, dass sie in immer weniger Fällen vor      oben« ganz gut leben konnten.                               Rückzugs des Staates aus seinen sozial-
Armut schützen. Die Legitimation der Ar-          Dass das Leistungsgerechtigkeitsideal                    staatlichen Verpflichtungen. (21) Es ist
beitslosen- und Rentenversicherung selbst      gesellschaftlich tragen konnte, dürfe we-                   ein staatliches Problemlösungsverhalten,
steht auf dem Spiel. Insbesondere für          sentlich damit zusammenhängen, dass                         das bereits Ende der 1970er Jahre Einzug
Menschen im Niedriglohnsektor gilt, dass       sein Grundversprechen im Großen und                         in die bundesrepublikanische Sozialpoli-
ihnen Beiträge abverlangt werden, wohl         Ganzen noch halbwegs funktionierte: Je-                     tik hielt und seitdem immer stärker und
wissend, dass sie weder bei Arbeitslosig-      der, der guten Willens ist und sich an-                     unverblümter zum Muster unterschied-
keit noch im Alter durch diese Kassen vor      strengt, hat eine Perspektive. Spätestens                   licher familien- und sozialstaatlichen Ent-
Armut geschützt werden. Da Möglichkei-         jedoch, wenn Menschen in großer Zahl                        scheidungen wurde: die weitere Margina-
ten der privaten Vorsorge in aller Regel       zwar Leistungen erbringen wollen, aber                      lisierung ohnehin marginalisierter Grup-
ebenfalls nicht gegeben sind, werden sie       nicht die Chance dazu erhalten, verliert                    pen, damit für den Rest der Gesellschaft
zu ihrem Arbeitslosengeld oder ihrer klei-     ein soziales Gerechtigkeitsideal, das sich                  und damit vor allem für den Staat selbst
nen Rente zusätzlich auf Hartz IV und          aus dem Leistungsprinzip speist, seine Le-                  alles beim Alten bleiben kann. 40 Euro
Altersgrundsicherung beantragen müs-           gitimation, seine Akzeptanz und damit                       mehr Steuerersparnis monatlich pro Kind
sen. Damit jedoch verfügen sie über das        letztlich seine Fähigkeit, gesellschaftlichen               für den Spitzenverdiener, 20 Euro mehr
gleiche Einkommen, als wenn sie niemals        Konsens zu erzeugen. Wenn Millionen                         Kindergeld für den Normalverdiener und
in die Kassen eingezahlt hätten.               von Menschen keine befriedigende Per-                       den Hartz IV-Beziehern wird das Eltern-
   Schließlich gefährdet die Perspektivlo-     spektive mehr sehen und wenn Millionen                      geld gestrichen. Es ist nur ein Beispiel aus
sigkeit den notwendigen ideellen Grund-        von Kindern nicht erlernen, an Perspekti-                   jüngster Zeit für diese opportunistische
konsens dieser Arbeitsgesellschaft. Es ist     ven glauben zu können, verliert das Leis-                   und damit durchaus mehrheitsfähige
die Leistungsnorm, die ihr ideelles Funda-     tungsideal seine integrierende Kraft.                       Rückzugsstrategie auf Kosten der Ärm-
ment bildet. Wer etwas leistet, verdient       Menschen und unter ihnen vor allem die                      sten.
Belohnung. Wer guten (Leistungs-)wil-          Kinder und Jugendlichen ohne Chancen                           Im Ergebnis der vielen Einzelentschei-
lens ist, bekommt sogar sozialen Schutz;       brechen aus, suchen sich ihre eigenen                       dungen koppelt sich der Staat mehr und
Jeder nach seiner Leistung, jeder nach sei-    Normen, schaffen sich ihre eigenen Wel-                     mehr ab von den realen sozialen Proble-
nen (Versicherungs-)beiträgen. (20) Die        ten und ihre eigenen Prinzipien. Es ist eine                men in dieser Gesellschaft und ersetzt tat-
Solidargemeinschaft ist eine Gemein-           eigene Ordnung, ein eigenes Werte- und                      sächliche Problemlösung durch Symbol-
schaft von Leistungserbringern. Wer hin-       Beziehungsgeflecht, das es ihnen wieder                     politik, die entschiedenes Handeln sugge-
gegen nichts leistet, schließt sich aus. Un-   erlaubt subjektiv erfolgreich zu sein. Die                  rieren soll. Wo eine Bildungsoffensive für
verhohlen wertend sprechen wir von             Gesellschaft zerfällt.                                      die ärmsten Kinder angezeigt wäre, eine
Leistungswilligen, Leistungsträgern oder                                                                   echte Offensive in der Schulpolitik und
Leistungsverweigerern.                                                                                     der Jugendhilfe, werden Zehn-Euro–Gut-
   Im Grunde belügen wir uns mit dem           Was wir tun müssen                                          scheine angeboten und diese Farce auch
Leistungsbegriff jedoch gleich doppelt.                                                                    noch als Paradigmenwechsel in der Ar-
Sagen wir Leistung, meinen wir eigentlich        Die Einkommensarmut wächst, der                           menpolitik verkauft. Wo eine Pflegeof-
Erfolg. Und sagen wir Erfolg, meinen wir       Reichtum auch, die Perspektivlosigkeit                      fensive und eine echte Aufwertung von
in Wirklichkeit Geld. Mit dieser Ver-          nimmt zu, die Architektur der Sozialver-                    Pflegeberufen angezeigt wären, werden

                                                        https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71
Blätter der Wohlfahrtspflege 2/2011              Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33.                                         73
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Thema

Anmerkungen                                       (16) Siehe Makarenko, Anton Semjo-                           (22) Vgl. beispielsweise die Aufsätze
                                                nowtsch: Pädagogische Texte. Ein Päda-                      von Alfred Boss (Reform der Alterssiche-
   (1) Der Beitrag stellt die Zusammenfas-      gogisches Poem. Der Weg ins Leben. Pa-                      rung), Rüdiger Soltwedel (Reform der Ar-
sung einiger Thesen aus dem Buch »Ar-           derborn 1976 (erstmals 1933) S. 48.                         beitslosenversicherung) und Eckhard
mes Deutschland« dar (vgl. Abbildung).            (17) Makarenko, Anton Semjono-                            Knappe (Reform der Krankenversiche-
   (2) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi-         witsch: Pädagogische Werke. Erster                          rung) in dem bereits 1983 erschienen
tel »Weichenstellungen«, S. 196 ff.             Band. Pädagogische Schriften 1922–                          Sammelband des damaligen Präidenten
   (3) Siehe »Armes Deutschland«, Ex-           1936. Berlin S. 468.                                        des Instituts für Weltwirtschaft Herbert
kurs »Stille Helden und Arno Dübel«, S.           (18) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-                       Giersch (Hg.): Wie es zu schaffen ist.
209 ff.                                         pitel »Unser Sozialstaat an den Grenzen:                    Agenda für die deutsche Wirtschaftspoli-
   (4) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi-         Warum Armut hier keinen Platz hat«, S.                      tik. Stuttgart.
tel »Allzweckwaffe Neoliberalismus –            52 ff.                                                         (23) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-
Die Leitbilder des Rückzugs«, S. 125 ff.          (19) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-                       pitel »Wie wir den Sozialstaat umbauen
   (5) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi-         pitel »Operation gelungen, Patient tot:                     müssen«, S. 212 ff.
tel »Unser Sozialstaat an den Grenzen –         Die Renten sind unsicher«, S. 86 ff.                           (24) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-
warum Armut hier keinen Platz hat«, S.            (20) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-                       pitel »Armutsfeste Rente«, S. 216 ff.
52 ff.                                          pitel »Das Ende des Prinzips sozialer Ge-                      (25) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-
   (6) Siehe Internet http://www.amtliche-      rechtigkeit«, S. 183 ff.                                    pitel »Armutsfestes Arbeitslosengeld«, S.
sozialberichterstattung.de/Tabellen/tabel-        (21) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-                       218 ff.
leA11.html (Internetabfrage 01/2011).           pitel »Wenn alles zu viel wird: Die Strate-                    (26) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-
   (7) Siehe »Armes Deutschland«, Kapi-         gie des Rückzugs«, S. 110 ff.                               pitel »Perspektiven schaffen«, S. 222 ff.
tel »›Weniger Arme in Deutschland?‹ –
Was uns die Statistik verrät und wo sie
blufft«, S. 37 ff.
   (8) Vgl. Frick, Joachim/Grabka, Mar-
kus: »Weiterhin hohes Armutsrisiko in
Deutschland: Kinder und junge Erwach-
sene sind besonders betroffen« In: DIW
Wochenbericht Nr. 100/2008 S. 2 ff.
   (9) Siehe Statistische Ämter des Bundes
und        der        Länder,      Internet
http://www.amtliche-sozialberichterstat-
tung.de/Tabellen/tabelleA41bund.html
(Internetabfrage 01/2010).
   (10) Vgl. Frick, Joachim/Grabka, Mar-
kus: Gestiegen Vermögensungleichheit in
Deutschland. In: DIW Wochenbericht
4/2009 S. 54 ff.
   (11) Vgl. Creditreform: Schuldner At-
las Deutschland 2010, S. 4. Internet
http://www.creditreform.de/Deutsch/Cre-
ditreform/Presse/Archiv/SchuldnerAt-
las_Deutschland/2010/Analyse_Schuld-
nerAtlas_Deutschland_2010.pdf (Abfra-
ge 01/2011).
   (12) Vgl. Frick, Joachim/Grabka, Mar-
kus 2008: »Schrumpfende Mittelschicht
– Anzeichen einer dauerhaften Polarisie-
rung der verfügbaren Einkommen?« In:            Deutschland steht vor dem Scheideweg. Noch nie lebten so viele Menschen in Armut.
DIW-Wochenbericht 100/2008.                     Statt die Probleme energisch anzupacken, geht die Politik den kalten Weg der Aus-
   (13) Vgl. Bundesagentur für Arbeit:          grenzung. Doch wo Millionen von Menschen ausweglos im Abseits belassen werden,
Grundsicherung für Arbeitssuchende in           geraten die Fundamente der Bundesrepublik selbst ins Wanken. Ulrich Schneider ana-
Zahlen. November 2010 S. 23.                    lysiert die Spaltung der Gesellschaft. Er beschreibt das politische Scheitern und die
   (14) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-          Strategien und Tricks, mit denen sich die Akteure aus der Verantwortung stehlen. Und
pitel »Das war’s dann: Das Scheitern von        er sagt, wie eine andere Politik aussehen könnte und müsste. Es geht um Perspektiven
Hartz IV«, S. 178 ff.                           – für jeden einzelnen Menschen und für das Land.
   (15) Siehe »Armes Deutschland«, Ka-          Ulrich Schneider: Armes Deutschland. Neue Perspektiven für einen anderen Wohl-
pitel »Ausgegrenzt und ohne Perspekti-          stand. Verlag Westend, Frankfurt am Main. 256 Seiten. 16,95 Euro. ISBN 978-3-
ve«, S. 168 ff.                                 938060-57-5.

                                                    https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71
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Thema

Berichte erstellt, Diskussionen über            zugrundeliegenden Ideen stehen mag, in                      träge am Ende der Erwerbsphase so hö-
Transparenz geführt und Imagekampag-            absehbarer Zeit aus zwei Gründen ziem-                      her bewertet werden, dass sich dieser Ef-
nen initiiert. Verteilungspolitisch kann so     lich ausgeschlossen:                                        fekt ergibt. Die Differenz wäre aus Steu-
ebenfalls alles beim Alten bleiben – unter      • Zum einen gilt zumindest für die Ren-                     ermitteln zu finanzieren, da dieser
Inkaufnahme der langsamen, aber unauf-             tenversicherung, dass die erworbenen                     Schritt das rigide Äquivalenzprinzip ver-
haltsamen Erosion unseres gesellschaft-            Rentenansprüche des Beitragszahlers                      lässt und somit der fürsorgerischen Ar-
lichen Zusammenhalts und unserer ge-               verfassungsrechtlich geschützten Eig-                    mutspolitik zuzurechnen ist. Für alle, die
sellschaftlicher Grundlagen.                       entumscharakter haben. Eine Radikal-                     die notwendigen Beitragsjahre nicht er-
   Die Alternative bestünde in Radikalre-          reform müsste daher alle bereits aufge-                  reicht haben, aber durchaus ihre kleinen
formen       unterschiedlicher     Couleur.        laufenen Altansprüche bedienen, und                      Renten oder auch andere kleine Rük-
Schluss mit staatlichen Kassen, staat-             gleichzeitig ein neues System aufbauen                   kflüsse aus ihrer Altersvorsorge erhal-
lichen Versicherungen, Äquivalenzprinzip           – ein in der politischen Praxis kaum                     ten, wäre ein entsprechender Einkom-
und Beitragsfinanzierung. Statt dessen             vorstellbarer Vorgang.                                   mensfreibetrag in der Altersgrundsiche-
Existenzsicherung für die »wirklich Be-         • Zum anderen ist das schon beschriebe-                     rung einzuräumen. Die vollkommene
dürftigen« auf schmalstem Niveau und               ne Leistungsprinzip, das unserer Sozial-                 Anrechnung all dieser Einkommen auf
alles, was darüber hinaus geht, ist Privat-        versicherung zugrunde liegt, keine blo-                  die Altersgrundsicherung wird von den
sache. Weitgehende Privatisierung ist das,         ße technische Größe, sondern schlägt                     betroffenen Menschen zu Recht als eine
was Marktradikalen ohnehin seit jeher              sich ganz offensichtlich direkt in der                   Aberkennung ihrer Lebensleistung und
vorschwebt. (22) Mit der Abschaffung               Mentalität und – trotz seines ideologi-                  ihrer Bemühungen um Altersvorsorge
der Arbeitslosenhilfe, dem Zurückfahren            schen Gehalts – im Gerechtigkeitsemp-                    empfunden. Die absehbarer quantitative
des Arbeitslosengeldes I und der Einfüh-           finden der Versicherten selbst nieder.                   Zunahme des Problems drängt auf eine
rung der Riesterrente, so ließe sich argu-         Wer über noch so kleine Ansprüche an                     rasche Lösung.
mentieren, sind die Weichen ohnehin in             Arbeitslosen- oder Rentenversicherung                       Ganz ähnlich verhält es sich mit der Ar-
diese Richtung gestellt.                           verfügt, empfindet es in der Regel als                   beitslosenversicherung. (25) Mit Blick auf
   Ähnlich radikal bietet sich in der der-         zutiefst ungerecht, wenn seine Beitrags-                 den Niedriglohnsektor und einer zuneh-
zeitigen Debatte das bedingungslose                leistung in irgendeiner Weise nivelliert                 menden Zahl von Menschen, bei denen
Grundeinkommen an: Wo das Leistungs-               oder auch nur relativiert wird – mit an-                 sich Phasen der Erwerbstätigkeit immer
prinzip nicht mehr trägt, müssen halt              deren Worten: wenn jemand das Glei-                      wieder abwechseln mit Phasen der Ar-
neue Prinzipien her. Angesichts des zu-            che bekommt, obwohl er weniger geleis-                   beitslosigkeit sind drei Maßnahmen nur
nehmenden Versagens unserer tradierten             tet und eingezahlt hat.                                  naheliegend:
Systeme und angesichts eines nach wie              Eine Reform sozialer Sicherungssyste-                       Für ehemals Vollerwerbstätige wäre ein
vor ungebrochenen Bedürfnisses nach so-         me kann jedoch immer nur erfolgreich                        Arbeitslosengeld I auszuzahlen, dessen
zialer Sicherheit in der deutschen Gesell-      sein, wenn sie die Menschen mit ihrer                       Höhe auf jeden Fall über Hartz-IV-Ni-
schaft ist überhaupt nicht erstaunlich,         Mentalität und ihrem Gerechtigkeitsemp-                     veau liegt. Ein solches Mindestarbeitslo-
dass Befürworter eines bedingungslosen          finden mitnimmt.                                            sengeld könnte die meisten Haushalte
Grundeinkommens eine immer stärkere                                                                         ohne Kinder, die aus dem Niedriglohn-
Bewegung bilden. (23)                                                                                       sektor heraus arbeitslos werden, vor dem
   Das bedingungslose Grundeinkommen            Reform der Sozialversicherung                               direkten Fall in Hartz schützen. Sind Kin-
würde nicht nur eine Radikalreform un-                                                                      der in diesen Haushalten, sollte ihnen ge-
serer sozialen Sicherungssysteme darstel-          Was also praktisch bleibt, ist der müh-                  nauso wie erwerbstätigen Familien mit
len. Seine Protagonisten bieten darüber         selige Weg des Reformierens und Weiter-                     geringem Einkommen der Kinderzu-
hinaus ein durchaus neues und positives         entwickelns, um die schleichende Aus-                       schlag zum Kindergeld gewährt werden,
Menschenbild an, das sich wohltuend ab-         höhlung der sozialen Sicherungssysteme                      um sie vor Hartz IV zu schützen.
hebt von der bleiernen Misanthropie,            zu stoppen. Es gilt, auch Arbeitslosen-                        Um Akzeptanz und Funktionsfähig-
welcher Hartz IV zugrunde liegt. Es stellt      und Rentenversicherung neue Perspekti-                      keit der Arbeitslosenversicherung zu si-
nichts Geringeres dar als den Versuch, ein      ven zu geben, anstatt sie dahinsiechen zu                   chern, ist darüber hinaus dafür zu sor-
gänzlich neues Miteinander in dieser Ge-        lassen. Perspektive bekommen sie dann,                      gen, dass der Kreis der Anspruchsbe-
sellschaft zu entwickeln, das von Freiheit-     wenn sie für den Einzelnen einen Sinn er-                   rechtigten wieder deutlich erweitert
lichkeit, Vertrauen, vor allem aber von         geben, und einen Sinn ergeben sie nur                       wird. Im Zusammenhang mit der Ein-
geradezu schrankenlosem Optimismus              dann, wenn sie im Regelfall vor Armut                       führung von Hartz IV wurden durch
getragen ist. Dies ist es wohl, was trotz al-   schützen und Beitragszahler besser stellen                  eine rigorose Verkürzung der Bezugszei-
ler realpolitischer Beschränktheiten und        als Nicht-Beitragszahler.                                   ten des Arbeitslosengeldes I und eine Re-
offener theoretischer Fragen und Wider-            Für die gesetzliche Rentenversiche-                      duzierung der sogenannten Rahmenfrist
sprüchlichkeiten seine Attraktivität aus-       rung heißt das: Es ist sicherzustellen,                     von drei auf zwei Jahre Arbeitslose in
macht. Es ist wenigstens der Versuch oder       dass der Versicherte, der durchschnitt-                     großer Zahl aus dem Bezug des Arbeits-
Beginn, Sozialpolitik radikal neu und po-       lich viele Beitragsjahre beim Rentenzu-                     losengeldes I ausgesteuert oder gleich
sitiv zu denken.                                gang aufweist, eine Rente erhält, die                       ganz ferngehalten. Letzteres meint die
   Doch sind derart durchgreifende Sys-         über Grundsicherungsniveau liegt. (24)                      Frist, innerhalb derer man zwölf Mona-
temwechsel, wie immer man zu den ihnen          Dazu müssten die unzureichenden Bei-                        te versicherungspflichtige Beschäftigung

                                                         https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71
Blätter der Wohlfahrtspflege 2/2011               Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33.                                        75
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Thema

nachweisen muss, um überhaupt Ar-              nichts zu tun, wie die einschlägigen                        schaffen, muss in übergeordnetem Inter-
beitslosengeld I beantragen zu können.         Untersuchungen zeigen. Statt auf einem                      esse der Staat tätig werden. Experten ge-
Diese Rahmenfrist wäre schnellstens            Laufband zum ersten Arbeitsmarkt fin-                       hen 80.000 bis 120.000 fehlenden Lehr-
wieder auf die alten drei Jahre zu erwei-      den sich zu viele im Hamsterrad wieder.                     stellen aus. Wir können nicht einfach auf
tern, um dem zunehmenden Phänomen                 Nicht viel besser sieht es an unseren                    die demographische Entwicklung setzen.
der Mehrfacharbeitslosigkeit gerecht zu        Schulen aus. So wichtig Bildung und Bil-                    Ganz im Gegenteil: Mit zunehmend al-
werden.                                        dungsabschlüsse in dieser Erwerbsgesell-                    ternder Gesellschaft können wir erst recht
  Die Verkürzung der Bezugszeiten wur-         schaft für die Chancen unserer Schüler                      auf keinen Jugendlichen verzichten. Wir
de mit der offiziellen Begründung vorge-       auch sind – es sind abstrakte Möglichkei-                   brauchen deutlich mehr Lehrstellen in
nommen, sie diene der Aktivierung der          ten. Für denjenigen, dem die Schule leicht                  den Betrieben und außerdem mehr »aus-
Arbeitslosen. Doch gerade bei dieser bös-      fällt, der Unterstützung von zu Hause er-                   bildungsbegleitende Hilfen« oder sozial-
gläubigen Argumentation stellt sich die        fährt und für den die Erwerbstätigkeit sei-                 pädagogische Begleitung. Schließlich sind
Frage, weshalb diejenigen, die sich durch      ner Eltern etwas ganz Selbstverständli-                     neben der Ausbildung in den Betrieben
Fortbildung oder andere Maßnahmen              ches ist, scheinen sie während der gesam-                   auch mehr staatlich finanzierte außerbe-
unzweifelhaft um ihre Rückkehr in den          ten Schulzeit greifbar und fast                             triebliche Ausbildungsplätze bei entspre-
ersten Arbeitsmarkt bemühen, überhaupt         selbstverständlich. Wer jedoch keine gu-                    chend spezialisierten Ausbildungsbetrie-
aus dem Arbeitslosengeld-I-Bezug heraus-       ten Startvoraussetzungen mitbringt, wer                     ben notwendig: nicht nur für die, die bei
fallen sollen. Zumindest für diesen Perso-     schon aufgrund der Einkommenssitua-                         der betrieblichen Ausbildung leer ausge-
nenkreis wäre die Bezugsdauer des Ar-          tion seiner Eltern ausgegrenzt ist und mit                  gangen sind, sondern gezielt für solche
beitslosengeldes I zu entfristen.              der Erfahrung der schier aussichtslos wir-                  jungen Menschen, die den Anforderun-
                                               kenden Arbeitssuche seiner Eltern und                       gen eines Betriebes – aus welchen Grün-
                                               der genauso deprimierenden Lehrstellen-                     den auch immer – noch nicht gewachsen
Perspektiven schaffen                          suche seiner älteren Geschwister auf-                       sind. Und da es offensichtlich nicht an-
                                               wächst, für den bleiben sie immer ab-                       ders geht, muss über eine Ausbildungs-
   Doch selbst, wenn wir mit solchen           strakt. Es kann nicht funktionieren, ein                    platzabgabe derjenigen Betriebe nachge-
Maßnahmen unseren Versicherungen               Kind oder einen Jugendlichen zu – aus                       dacht werden, die nichts oder zu wenig
wieder auf die Beine geholfen haben: Wo        seiner Sicht – sinnlosen Anstrengung mo-                    für die Ausbildung ihres Nachwuchses
immer mehr Menschen ohne echte Per-            tivieren zu wollen. Um Kinder- und Ju-                      tun. »Fördern und Fordern« – was für je-
spektiven dastehen, ist es mit Geld allein     gendliche aus sozial unterprivilegierten                    den arbeitslosen Jugendlichen gilt, sollte
nicht mehr getan. Es müssen Perspektiven       Umfeldern zu motivieren, müssen die Per-                    auch für die Betriebe zur Regel werden.
her – nicht abstrakt und allgemein, son-       spektiven konkret und damit glaubhaft                          Ohne ein effizientes System der beruf-
dern in jedem Einzelfall, ganz konkret.        sein.                                                       lichen Ausbildung, das auch die Jugend-
Auf dieses Ziel hin sind unsere bildungs-         Unsere Sozial- und Bildungspolitik                       lichen mitnimmt, die es etwas schwerer
und arbeitsmarktpolitischen Maßnah-            wird nur dann eine Antwort auf die Ar-                      haben, werden wir niemals die nötigen
men wo immer möglich auszurichten,             mutsfrage finden, wenn sie den Armen                        Impulse in den Schulen auslösen können,
sollen sie soziale Probleme nicht nur ver-     ganz konkrete Perspektiven bietet und                       die nötig sind, um tatsächlich so gut wie
walten, sondern lösen. (26)                    nicht lediglich irgendwelche Bildungsin-                    alle Jugendlichen zu einem befriedigen-
   Doch sind wir derzeit von einer solchen     halte vermittelt. Bildung mag die notwen-                   den Lernerfolg zu führen. Auch das Pro-
Sozial- und Bildungspolitik weit entfernt.     dige Bedingung sein, die ganz konkrete                      blem einer fehlenden Ausbildungsreife
Das »Fordern und Fördern« in Hartz IV          Perspektive die hinreichende. Wir können                    einzelner Jugendlicher, über das seitens
entpuppt sich bei näherem Hinsehen als         nur erahnen, was es für das Klima, die                      der Wirtschaft alljährlich geklagt wird,
ein nicht selten aktionistisch anmutendes      Lernbereitschaft und die Leistungsfähig-                    werden wir nur vom Ende her lösen kön-
Maßnahmengewusel, das deshalb so               keit an unseren Hauptschulen bedeuten                       nen: Indem wir nämlich genügend Aus-
stark von Zwang und Sanktionsdruck             würden, wenn wir jedem Schüler und je-                      bildungsstellen und ausreichend flankie-
durchdrungen ist, weil man gerade nicht        der Schülerin einen konkreten Ausbil-                       rende Hilfen bereitstellen, die den jungen
in der Lage ist, wirkliche Perspektiven zu     dungsplatz versprechen könnten, wenn                        Menschen signalisieren: »Du hast eine
bieten.                                        die Leistung halbwegs stimmt. Gleiches                      Perspektive, wenn du dich anstrengst!«
   Menschen verrichten Ein-Euro-Jobs,          gilt genauso für all die sogenannten Maß-                      Unsere Gesellschaft ist im Begriff, re-
obwohl klar ist, dass dieser Weg nur in        nahmen und sozialpädagogischen Hilfen                       gional und sozial auseinanderzubrechen.
Ausnahmefällen in den ersten Arbeits-          für junge Menschen in Hartz IV – vom                        Unsere sozialen Sicherungssysteme sind
markt führt. Sie werden zum Teil zu Jobs       Sprachkurs über Bewerbungstraining bis                      an ihren Grenzen angelangt. Alle bil-
gezwungen, die weit unterhalb ihrer Qua-       hin zum Ein-Euro-Job, wären sie tatsäch-                    dungs-, sozial- und arbeitsmarktpoliti-
lifikation liegen und die sie als weitere      lich auf ein konkretes Ziel hin geplant                     schen Maßnahmen müssen folglich da-
Stufe ihres beruflichen Abstiegs empfin-       und organisiert, nämlich auf den Ausbil-                    nach befragt werden, ob sie die Men-
den. »Aktivierung« wurde mit Hartz IV          dungsplatz oder Arbeitsplatz auf dem er-                    schen vor Einkommensarmut und
versprochen – und mehr ist es wirklich         sten Arbeitsmarkt.                                          Ausgrenzung bewahren und ob sie kon-
nicht. Die Arbeitssuchenden werden »in            Und da der freie Markt offensichtlich                    krete Perspektiven schaffen. Perspektiven
Bewegung gehalten«. Mit Perspektiven           nicht in der Lage ist, die notwendigen                      für die Armen, Perspektiven für diese Ge-
und Zielgerichtetheit hat das erst einmal      Ausbildungsstellen und Arbeitsplätze zu                     sellschaft.                              ◆

                                                   https://doi.org/10.5771/0340-8574-2011-2-71
76                                          Generiert durch IP '46.4.80.155', am 03.02.2024, 02:59:33.
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