Aus dem Englischen von Susanne Pickard Sonderausgabe zur Leipziger Buchmesse 2020 Limitiert auf 666 Exemplare - Festa Verlag
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Aus dem Englischen von Susanne Pickard Sonderausgabe zur Leipziger Buchmesse 2020 Limitiert auf 666 Exemplare
Die englischen Originalausgaben Octopus und Octopus 2 erschienen 2019 im Verlag Matt Shaw Publications. Copyright © 2019 by Matt Shaw Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig Titelbild: Adobe Stock – cloud7days Buchrückseite: Adobe Stock – ahira Alle Rechte vorbehalten
OKTOPUS TEIL 1
1 MONTAG 12:04 Sie trug nichts als schwarze Seidenunterwäsche, Strapse und schwarze Seidenstrümpfe, sanft schwang sie ihre Hüften im Takt der Musik. Dabei wickelte Jessica-Ann langsam eine Strähne ihres dunkel- braunen Haars um die Finger und fuhr sich manch- mal mit der Zunge über die Lippen, um sie feuchter und üppiger aussehen zu lassen. Ihre tiefbraunen Augen blickten direkt in die alles erfassende Linse der Canon, die der eifrige Fotograf in der Hand hielt und mit der er ein Bild nach dem anderen von ihr schoss. Schließlich wandte sie dem Fotografen den Rücken zu, tanzte aber weiter für ihn und schaute immer wieder verführerisch über die Schulter in seine Richtung. Doch dieser Blick galt nicht dem Fotografen selbst. Er galt den vielen Menschen, die schließlich das Foto sehen würden. Jessica wollte, dass jeder Einzelne von ihnen dachte, dass sie ihn begehrte und nur ihn. Denn sie wollte selbst begehrt werden. Sie wollte, dass man sie liebte. 9
Jess war neu im Modelbusiness, aber alle Fotografen, die bisher das Vergnügen gehabt hatten, mit ihr zu arbeiten, sagten das Gleiche: Sie war ein Naturtalent. Rick Jones war da keine Ausnahme. Als er die Canon sinken ließ, grinste er von einem Ohr zum andern. »Ich denke, jetzt haben wir’s«, meinte er. Jess hörte auf zu tanzen. Sie sah, dass er lächelte, und spürte, dass er zufrieden mit dem war, was sie gemeinsam erreicht hatten. Nicht zuletzt deshalb erwiderte sie das Lächeln. Dabei zeigte sie perfekte, perlweiße Zähne. »Echt?« »Gute Bilder«, bestätigte Rick. Jess hüpfte auf und ab wie ein Kind. »Juhuu!« Die verführerische Frau, die in-und auswendig wusste, was sie wollte, und die wusste, wie sie es bekam, wurde zu einer verspielten 20-Jährigen, die Rick durch einen gemeinsamen Freund, ebenfalls ein Fotograf, kennengelernt hatte. Ein Teil ihres Charmes bestand tatsächlich darin, sich vor der Kamera absolut professionell zu geben, aber zwischen den Shootings charismatisch, unkompliziert und schein- bar sorglos zu sein. Ein junger Geist, der hungrig war nach Leben, das er in Models, die länger im Business waren, gar nicht mehr fand. Solche Models hatten sich bereits einen gewissen Dünkel angewöhnt, der die Arbeit mit ihnen erheblich schwerer machte. »Hast du auch andere Outfits mitgebracht?«, fragte Rick. »Sachen, mit denen du heute noch fotografiert 10
werden wolltest? Ich meine, wir sind schneller fertig als gedacht, also …« »Nein, ich glaube, wir haben alles«, sagte sie nach kurzer Überlegung. Rick lächelte. »Schade.« Obwohl er wenigstens 20 Jahre älter war als Jess, hatte er diese Frage nicht gestellt, um sie anzu- machen, oder weil er sich darauf freute, sie in ande- ren knappen Outfits bewundern zu können. Für ihn war der Job nur das: ein Job. Er hatte sie gefragt, weil er ihr wirklich einen Gefallen hatte tun wollen. Für solche Models, wie Jess eines war, knipste er häufig mehr Bilder, als verlangt war, und das hatte nur einen einzigen Grund: Er liebte seinen Job und Mädchen wie Jess machten ihm diesen Job sehr einfach. Wenn Models mit einer solchen Einstellung zu ihm kamen, konnte daraus eine Win-Win-Situation für sie beide werden. Er bekam mehr Bilder, die er potenziellen Auftraggebern zeigen konnte, damit diese sahen, dass er jede Aufgabe erledigen konnte, die sie mög- licherweise in petto hatten. Und die Models bekamen mehr Bilder für ihre Sedcard. Ein Win-Win. Weil er wusste, wie neu Jess in diesem Business war, fügte Rick als Tipp hinzu: »Bring immer mehr mit, als du brauchst. Man weiß nie, wann das Shoo- ting vorbei ist und wie schnell es geht. Die meisten Fotografen sind da wie ich: Wenn die Zeit es erlaubt, sind sie froh, wenn sie mehr Bilder als nötig mit dir machen können. Ist ja immerhin selten, dass man 11
zwei Shootings am Tag hat. Wie ich schon sagte, man weiß nie, wie lange das mit dem Aufbauen und dem eigentlichen Fotografieren dann geht. Und dieser Shoot heute war wirklich einfach. Manchmal aller- dings …« Er unterbrach sich, um nicht schlecht über die anderen Models reden zu müssen. »Sagen wir, manchmal dauert es eben etwas länger, um ein gutes Foto zu kriegen.« »Okay, das ist gut zu wissen«, antwortete Jess. »Danke!« Sie hielt einen Augenblick inne und fragte dann: »Wie lange, glaubst du, wirst du brauchen, um die Fotos zu bearbeiten?« Rick lachte. »Da wird wohl nicht viel zu bearbeiten sein, denke ich. Aber in ein paar Tagen sollte ich sie dir zuschicken können. Meiner Meinung nach aller- dings kannst du stolz auf dich sein. Ich glaube, die Bilder werden absolut großartig.« »Echt?« Jess wurde rot. Rick musste unwillkürlich lächeln. Da stand ein solches Mädchen, war glücklich damit, vor einem Wildfremden in Strapsen und nicht sehr viel mehr herumtanzen zu dürfen, und war doch nicht selbstbewusst genug, um mit einem Kompli- ment fertigzuwerden. Das war noch so ein liebens- werter Charakterzug an ihr: Sie war bescheiden. »Ja, echt. Keine Sorge. Aber wie dem auch sei. Wenn du dich in Ruhe im Hinterzimmer anziehen willst, dann packe ich schnell meine Sachen zusammen, dann können wir hier verschwinden. Ist dir das recht?« 12
»Absolut. … Brauchst du Hilfe?«, fragte sie dann. Rick musste wieder lachen. »Ich glaube, du bist das erste Model, das mich fragt, ob es beim Aufräumen helfen kann.« »Ach wirklich?« »Wirklich. Danke, aber ganz ehrlich: Das mache ich schon. Ich bin wahrscheinlich schon fertig, wenn du angezogen bist.« »Okay. Dann … na ja, danke für den Shoot.« »War mir ein Vergnügen.« Jess lächelte ihm noch einmal zu und ging dann aus dem Zimmer in den kleinen Verschlag, in dem sie sich bereits für das Shooting umgezogen hatte. Sie hatte die Dessous schon unter ihren Alltags- klamotten getragen, um Zeit zu sparen, als sie in sein Studio kam, und sie würde sie auch auf dem Weg nach Hause tragen. Dort wollte sie sich dann das Make-up abwaschen und alltäglichere Unterwäsche anziehen, bevor sie sich zu ihrem Job als Kellnerin in einem schäbigen Fast-Food-Restaurant aufmachte. Dort bediente sie hauptsächlich irgendwelche Last- wagenfahrer, die auf ihren Langstrecken unterwegs waren. Das war lange nicht so glamourös wie ein Job als Model, aber es war besser als arbeitslos zu sein, bis sich das Modeln irgendwann auszahlte und sie auch die regulären Rechnungen bezahlen konnte. Sich im miesen Sozialsystem, für das die Regierung ohnehin kein Geld übrig hatte, von Scheck zu Scheck zu hangeln, war keine Alternative. 13
Als Jess sich anzog, dachte sie niedergeschlagen darüber und über ihre bevorstehende Schicht im Restaurant nach. Sie hasste den Job, aber sie sagte sich immer wieder, dass er eben die Rechnungen bezahlte. Außerdem versprach sie sich wieder einmal, dass es ja nicht für immer sei. 14
2 MONTAG 12:36 Jess war von ihrem Shooting mit Rick nach Hause zurückgekehrt. Sie betrat den Flur ihrer Wohnung und achtete dabei darauf, nicht auf den Berg aus Briefen zu treten, die auf der Matte herumlagen. Natürlich war sie sicher, dass darunter wichtige Schreiben waren, die nicht sofort in den Papier- korb wandern konnten. Wenn sie bedachte, dass sie im dritten Stock eines schäbigen Wohnhauses in einem verkommenen Viertel der Stadt lebte, war sie immer überrascht, dass der Briefträger sich stän- dig die Mühe machte, ihr Prospekte, Broschüren und ähnlichen Mist bis zur Tür zu bringen, statt das Zeug gleich in den Müll zu werfen. Das hätte ihm die Anstrengung erspart, die Treppen rauf-und runterzulaufen. Auch hätte es den Hauseigentümern erspart, ständig mit einer überlaufenden Altpapier- tonne fertigwerden zu müssen. Vielleicht half ja ein Schild auf der Tür: Keine Reklame einwerfen. Aber wahrscheinlich würde der Briefträger auch weiterhin seinen Schrott loswerden wollen, nur damit er auf 15
dem Rest seiner Tour nicht mehr so viel zu tragen hatte. Jess schloss die Eingangstür und bückte sich, um die Briefe von der Matte aufzuheben. Auf dem Weg in ihre Küche, die sich etwas weiter den Flur entlang befand, blätterte sie durch die Umschläge. Wenigstens hielten es die meisten Unternehmen für nötig, ihre Postwurfsendungen so zu gestalten, dass man schon am Umschlag erkannte, dass die Nachrichten darin wertlos waren. So machte man keine Umstände, und das Ding konnte direkt in die Tonne … Jess hielt inne. Da war ein brauner Umschlag, der von einer Behörde stammte. Diese Briefe waren nie gut und sie waren nie »Müll«, das wusste sie, auch wenn sie sie nicht oft bekam. Und noch schlimmer war jetzt, dass die Botschaft darin noch schäbiger zu sein schien als das Papier, das man durch das Adressfenster sehen konnte: privat und vertraulich. Jess ließ den Rest der Post auf die Arbeitsplatte in der Küche fallen und riss den Umschlag der Behörde auf. Sie zog das einzelne, ordentlich gefaltete Blatt heraus und überflog es rasch. Ihr Herz sank, als sie die Zahlen sah: 108 Pfund dafür, dass sie eine Gebühr einmal nicht gezahlt hatte und nun bekam sie, zumindest diesem Schreiben nach, eine letzte Chance, die Rechnung zu begleichen, bevor das Ganze ans Gericht übergeben wurde. Die letzte Chance? Jess hatte ja schon die erste nicht bekommen. 16
Offenbar hatte der Briefträger keine Probleme damit, Werbeschrott bei ihr einzuwerfen, doch wichtige Post betrachtete er offenbar nicht als seine Aufgabe. »Ist ja echt toll«, murmelte sie, als sie das Schrei- ben auf den Berg der Prospekte warf. Die gute Nach- richt, dass sie ein weiteres Shooting erfolgreich hinter sich gebracht hatte, verblasste vor der schlechten, eine solch unerwartete Rechnung zahlen zu müssen, die so gut wie alles verschlang, was sie heute Morgen verdient hatte. Andererseits … aus solchen Miss- geschicken bestand nun einmal derzeit ihr Leben. Immer wenn es eine gute Nachricht gab, war bei- nahe sicher, dass eine schlechte auf dem Fuß folgte. Murphys Law nannte man das auch. Aber man sagte ja auch, man solle nicht über vergossene Milch weinen. Die Rechnung war fällig und Jess würde sie zahlen, und das war es dann. Das nächste Mal würde sie fällige Gebühren eben innerhalb der üblichen Frist zahlen. Es hatte keinen Sinn, irgendjemand anderem die Schuld zu geben als ihr selbst, ebenso wenig, wie es Sinn hatte, sich über etwas Gedanken zu machen, das sie offenbar einfach hätte vermeiden können, wenn sie aufmerksamer gewesen wäre und die Gebühr nicht einfach übersehen hätte. Sich jetzt noch zu stressen würde diese Mahnung nicht ver- schwinden lassen, sondern nur ruinieren, was als ein guter Tag angefangen und ihr wieder einmal die Hoffnung gegeben hatte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte; nämlich es trotz der 17
Einwände ihrer Eltern mit einer Karriere im Model- business zu versuchen. Es gibt kaum Mädchen, die es schaffen, so verdient man doch nicht anständig, die Leute wollen dich ohnehin nur ausnutzen und außerdem öffnet das doch nur Tür und Tor in ein Lotterleben, in dem Drogen und Alkohol herrschen. Das und noch viel mehr hatten ihre besorgten Eltern von sich gegeben, als sie versucht hatten, ihre ein- zige Tochter zu einem anderen Leben zu bewegen. Aber sie mochte es, fotografiert zu werden, und den Reaktionen nach zu urteilen, waren andere Leute ebenfalls der Ansicht, dass sie dazu taugte. Die Ver- suche ihrer Eltern, sie davon abzubringen, die War- nungen, wie schwer es werden würde, ließen sie nur umso entschlossener daran festhalten. Sie lächelte in sich hinein. Das Gefühl, auf der Gewinnerseite zu stehen, wurde wieder stärker und ließ die miese Erinnerung an die letzte Mahnung, eine vergessene Gebühr zu bezahlen, ganz in den Hintergrund rücken. Dieses Erfolgsgefühl setzte immer direkt nach einem gut verlaufenen Shoot ein und hielt in der Regel ein paar Tage an. Dann wollte sie mehr Arbeit. Mehr Jobs. Diese Rechnung würde ihr diese gute Laune nicht verderben und sie nicht daran hindern, weiter an ihrer Karriere zu arbeiten. Nicht heute. Niemals. 18
3 MONTAG 16:04 »Da bin ich schon, tut mir leid!« Jess schlängelte sich durch die Tische des kleinen Restaurants ins Hinter- zimmer, wo sie ihre Tasche und ihren Mantel fallen lassen konnte. »Wie nett, dass du dich auch mal blicken lässt«, ließ sich Teamleiter Phil hinter der Theke ver- nehmen. Er war ein verklemmter Idiot in den Vier- zigern, der gern so tat, als wäre er derjenige, der den Laden schmiss. Doch er war noch einem anderen Vorgesetzten verantwortlich und kroch diesem dabei regelmäßig bis zum Anschlag in den Arsch. »Tut mir leid«, wiederholte Jess. »Der Verkehr …!« »Darum sollte man immer etwas früher losgehen als unbedingt nötig«, dozierte Phil. »Der frühe Vogel fängt den Wurm!« Jess seufzte und hängte ihren Mantel an einen der Haken an der Wand. Ein Blick auf Phil hatte gereicht, um klarzumachen, dass ihr wieder einmal eine solche Schicht bevorstand. Eine, bei der es weniger darum ging, draußen an den Tischen zu bedienen, als 19
vielmehr in der Küche beim Abwasch zu helfen. Das war wohl die Strafe dafür, dass sie sich vom Scheiß- berufsverkehr hatte aufhalten lassen. »Er hat schon wieder schlechte Laune«, raunte Grace ihr zu. Die Kollegin kam gerade aus ihrer Pause zurück. Auch sie zog die Jacke aus und hängte sie an den Haken neben Jess’ Mantel. »Ignorier ihn einfach. Machen alle anderen ja auch.« »Das war der Verkehr. Zu dieser Tageszeit ist der einfach eine Katastrophe und dann macht er mich so blöd an, dass ich doch früher von zu Hause losgehen soll. Der Witz ist: Ich bin tatsächlich früher weg. Wie früh soll ich denn los?« Jess seufzte noch einmal und nahm sich zusammen, bevor sie mit der Arbeit begann. Sie war noch nicht lange hier, aber hatte recht schnell gelernt, dass man mit einem brummi- gen Gesicht weniger Trinkgeld bekam. Und nach der unerwarteten Rechnung, die sie vorhin im Brief- kasten gehabt hatte, brauchte sie alles Trinkgeld, das sie heute Abend bekommen konnte. »Ich mach mir einfach keinen Kopf«, erklärte sie laut, auch wenn sie sich eher selbst damit Mut zu machen versuchte. »Die gute Nachricht ist, dass er schon den ganzen Nachmittag hier ist«, erwiderte Grace. »Das heißt, dass er wohl bald Schluss macht.« »Das hoffe ich ja wohl schwer.« Grace ging zur Tür. »Okay. Bereit für die Tret- mühle?«, fragte sie dann, bevor sie sie öffnete. »Ja. Bereit.« 20
»Dann mal los.« Grace zog die Tür auf und hielt sie für Jess fest. Jess trat hinaus ins Restaurant. Phil griff sofort ein. »Jess, du wirst in der Küche gebraucht«, rief er ihr zu. »Natürlich braucht man mich da«, murmelte Jess in sich hinein. Sie wandte sich der Küche zu. Grace warf ihr noch ein mitfühlendes Lächeln zu und machte sich in den Bereich des Restaurants auf, für den sie heute ein- geteilt war. »Kopf hoch, Mädchen. Wird nicht lange dauern. Besonders wenn ich den Truckern stecke, dass du heute hier bist. Du weißt ja, wie sehr sie dich lieben.« Jess lächelte. »Danke. … Ich hab so das Gefühl, dass es eine lange Schicht wird«, fügte sie dann noch hinzu. Jess ging in die Küche, wo sie dann, wie sie fairer- weise zugeben musste, feststellte, dass die Küchen- kräfte tatsächlich mit Bestellungen überschüttet wurden. Alle drei liefen sie mit schweißüberströmtem Gesicht hin und her, während sich sehr zu Jess’ Leid- wesen das dreckige Geschirr in der Spüle stapelte. »Hallo, zusammen!«, rief sie in die Runde und gab ihr Bestes, wenigstens so zu tun, als wäre sie glück- lich, die drei zu sehen. »Dann ist der Tellerwäscher wohl wieder nicht gekommen?«, erkundigte sie sich. Normalerweise war hier im Restaurant ein junger Kerl angestellt, der sich um das schmutzige Geschirr 21
zu kümmern hatte, aber man zahlte ihm nur einen Hungerlohn, also fehlte er öfter, als er kam. Wäre das ein Job gewesen, den man leicht hätte besetzen können, wäre er wohl schon lange gefeuert worden, aber in Anbetracht der Tatsache, dass es nicht viele gab, die sich um den Job rissen, war das Restaurant auf ihn angewiesen. An den Tagen, an denen er nicht kam, setzten die Schichtleiter die Mitarbeiter, die sie schief ansahen, ein, um ihn zu ersetzen. Und die waren es dann, die diese verhasste Arbeit erledigen mussten. Jess musste nicht erst fragen, was sie tun sollte. Sie schlängelte sich zur Spüle und zwang sich dabei ein Lächeln ab. Sie würde Phil nicht die Genug- tuung geben, offen zu zeigen, wie genervt sie davon war, hier Tassen und Teller säubern zu müssen, statt vorn zu bedienen … was immerhin das war, wofür man sie in diesem Laden bezahlte. Je weniger sie so wirkte, als ob ihr das etwas ausmachte, desto weniger würde er darauf bestehen, dass sie hier hinten blieb. Wenigstens sagte sie sich das. 22
4 MONTAG 18:30 Jess stand unter dem kleinen Dach, das sich über der Hintertür des Restaurants wölbte, und blickte auf den Parkplatz hinter dem Café. Regen pras- selte auf den Asphalt herab. Ihre Kollegen fanden es etwas seltsam, dass sie ihre Pause immer wieder hier draußen verbrachte, obwohl sie nicht rauchte. Und trotzdem ging sie während jeder Arbeitsunter- brechung raus. Sie stand dann immer hier und beobachtete die Autos auf dem Stück Hauptstraße, das man von hier aus sehen konnte. Nicht nur dass sie sich immer wieder wünschte, sie säße in einem von ihnen, sie mochte es auch, an der frischen Luft zu sein, auch wenn es noch so kalt war. Die Luft hier draußen einzuatmen war so viel angenehmer, als im Geruch des Frittierfetts zu hocken, der das Innere des Restaurants erfüllte. Doch heute Abend war die Luft nicht ganz so frisch. Grace stand neben Jess. Ihre Schicht war gleich vorbei, sie hatte aber versprochen, Jess’ Pause mit der Kollegin zusammen zu verbringen. Ein wenig 23
Gesellschaft für Jess und eine schnelle Zigarette für Grace, bevor sie sich in den Wagen setzen musste. »Glaubst du, die lassen dich mal wieder was machen?«, fragte Grace gerade. Sie sprachen über das Shooting, das Jess an diesem Morgen hinter sich gebracht hatte, und wie erfolg- reich es gelaufen war. Es war Grace, die Jess ihren ersten Job im Modelbusiness vermittelt hatte, indem sie sie einem Freund, einem Fotografen, vorgestellt hatte, der ihr selbst geholfen hatte, ihre Karriere als Webcam-Girl zu starten. »Rick schien echt nett zu sein. Und er schien auch gern mit mir zu arbeiten, also hoffe ich das«, meinte Jess. »Ich hoffe es wirklich«, fügte sie dann hinzu. »Ich meine, ich war kaum zu Hause, als ich schon wieder eine Rechnung in meinem Briefkasten hatte …!« »Eine Rechnung?« »Eine Mahnung für eine Gebühr, die ich nicht gezahlt habe.« »Wie bitte?« »Die letzte Mahnung sogar, wie es aussieht. Ur sprünglich waren es wohl nur 70 Pfund, die diese Gebühr kostete, und mir wäre die Hälfte erlassen worden, wenn ich innerhalb von zwei Wochen gezahlt hätte. Und jetzt sind es schon über 100 Pfund.« »Na, da hab ich doch mal eine Frage«, erwiderte Grace. »Warum hast du denn die Rechnung nicht gleich bezahlt?« 24
»Weil ich sie offenbar komplett vergessen habe! Ich höre jetzt zum ersten Mal davon!«, gab Jess prompt zurück. »Aber dann kannst du doch Einspruch erheben«, schlug Grace vor. »Bei meinem Glück? Dann muss ich wahrschein- lich nicht nur das Doppelte, sondern gleich das Drei- fache zahlen oder irgend so was Dämliches. Nein, ich werde das einfach bezahlen. Aber das nervt schon. Kaum habe ich mal etwas Geld in der Hand, muss ich es auch schon wieder ausgeben.« Jess seufzte. »Ich hab es so satt, pleite zu sein.« »Du könntest ja auch mit einer Webcam anfangen. Da steckt wirklich eine Menge Geld drin!« Grace spielte nun schon seit über einem Jahr Frem- den vor der Kamera etwas vor. Angefangen hatte sie damit betrunken und mehr aus Spaß, aber als sie gesehen hatte, was für ein Geld sich damit machen ließ, war eine Art Fulltime-Job daraus geworden. »Jaja, so viel, dass du deinen Job hier nach wie vor behältst. In dem Augenblick, in dem ich genug ver- diene, bin ich hier weg, das kann ich dir garantie- ren!« »Ich hab gute Gründe, warum ich den Job hier behalte. Diesen Job hier versteuere ich. Das mit der Kamera … lasse ich einfach unter den Tisch fallen.« Grace zwinkerte Jess zu. »Die Behörden haben keine Ahnung und es ist ja auch nicht so, als ignorierte ich meine Steuern, denn ich bezahle sie ja hier. … 25
Und was die Webcam angeht: Richtig verdient man ja, wenn man den Kunden eine kleine Nummer gestattet.« Jess’ Kinnlade fiel herab. Einen Augenblick stand sie nur da und starrte ihre Freundin schockiert an. Grace grinste frech. Es sah aus, als wäre ein unartiges Schulkind gerade bei einem Streich ertappt worden. »Du schläfst mit ihnen?« »Na ja, nicht mit allen. Aber mit denen, die in der Kamera niedlich rüberkommen, geb ich die Möglichkeit, zu mir zu kommen, eine Maske aufzu- setzen – natürlich nur, wenn sie das so wollen – und mich vor der Webcam vor Publikum zu vögeln. Ich sag dir, da verdient man echt einiges. … Lass es mich mal so sagen: Sorgen um eine Rechnung müsstest du dir nicht mehr machen!« »Ich bin aber nicht du. Das könnte ich nicht. Und selbst wenn ich’s könnte, würde ich mir Sorgen machen, welche Auswirkungen das auf meine Kar- riere hat.« »Machst du Witze? Die Kunden machen alles Mögliche, wenn sie wissen, was du von deiner bequemen Wohnung aus alles machst. Wenn die deine Adresse hätten, würden sie dich sicher auch gern beobachten!«, meinte Grace mit einem kleinen Lachen. »Ich meinte meine Modelkarriere.« »Na klar doch.« »Für mich wäre das nichts.« 26
»Schon gut, das ist wirklich nichts für jedermann.« Grace zog wieder an ihrer Zigarette und atmete lang- sam aus. »Was ist mit Abendessen?« »Du meinst Dates zum Abendessen mit einem deiner Zuschauer? Das stellst du ihnen auch in Rech- nung?« Jess lachte. »Ich hätte ja Angst, dass ich einen Drink nehme, ohnmächtig werde und bei denen zu Haus wieder aufwache. Wahrscheinlich angekettet oder so.« »Nein, das meinte ich nicht. Ich habe einen Termin kommenden Samstag, der … Na ja, es klingt seltsam, aber vielleicht ist es das nur auf den ersten Blick.« »Okay, jetzt hast du mich neugierig gemacht.« Bevor Grace antworten konnte, öffnete sich die Hintertür zur Küche und Phil kam, seine Jacke über dem Arm, heraus. »Hast du denn kein Zuhause, Grace?« Dann wandte er sich Jess zu. »Und du hast deine Pausen- zeit überzogen.« Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Und ihr Mädels wundert euch, warum ihr so wenige Schichten zusammen habt.« Er wartete eine Entgegnung nicht ab und auch nicht, ob Jess wieder hineinging. Stattdessen ging er schnurstracks auf sein Auto zu, um heimzufahren. Seine Schicht war beendet. Jess seufzte wieder einmal und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Phil war ein Arsch, hatte aber in diesem Fall recht. Ihre Pause war schon lange zu Ende. 27
»Ich geh besser wieder rein«, sagte Jess. »Ja, okay. Ich schick dir eine Mail mit dem, was ich dir erzählen wollte«, meinte Grace und fügte hinzu: »Und sag mir dann, was du davon hältst!« »Neugierig bin ich auf jeden Fall.« Grace drückte ihre Zigarette an der Außenwand des Restaurants aus. »Ist recht, ich schick’ dir alles. In der Zwischenzeit wünsch ich dir noch viel Spaß bei deiner Schicht!« »O ja. Vielen Dank auch.« Grace lachte und ging zu ihrem Auto hinüber, das direkt unter einem Schild mit der Aufschrift »Mit- arbeiter bitte hier parken, damit Gäste es nicht so weit bis zum Eingang des Restaurants haben!« stand. Jess’ Blick folgte ihr eifersüchtig, durfte Grace doch nach Hause und sie nicht. Noch nicht jedenfalls. Ein paar Stunden hatte sie noch vor sich. 28
www.mattshawpublications.co.uk MATT SHAW ist verrückt – verrückt nach Extreme Horror. Er hat in Eigenregie schon Dutzende solcher Titel veröffent- licht. Seine ständig wachsende Fangemeinde vergleicht sie mit Werken von Richard Laymon und Edward Lee, aber auch mit denen von Stephen King – nun, zumindest sind sie sehr brutal und krank, möglicherweise sogar genial … Matt ist ein großer Bewunderer von Roald Dahl (er hat sich ein Tattoo des Schriftstellers auf den Arm stechen lassen) und quatscht ständig über Filme. Er lebt mit seiner Frau Marie in Southampton, England. Matt Shaw bei FESTA: Perverse Schweine Porno Monster (mit Michael Bray) Boys’ Night (mit Wrath James White) Oktopus
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