Aus dem Englischen von Susanne Pickard Sonderausgabe zur Leipziger Buchmesse 2020 Limitiert auf 666 Exemplare - Festa Verlag

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Aus dem Englischen von Susanne Pickard

Sonderausgabe zur Leipziger Buchmesse 2020
       Limitiert auf 666 Exemplare
Die englischen Originalausgaben Octopus und Octopus 2
  erschienen 2019 im Verlag Matt Shaw Publications.
            Copyright © 2019 by Matt Shaw

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
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          Buchrückseite: Adobe Stock – ahira
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  TEIL 1
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                      MONTAG
                       12:04

Sie trug nichts als schwarze Seidenunterwäsche,
Strapse und schwarze Seidenstrümpfe, sanft schwang
sie ihre Hüften im Takt der Musik. Dabei wickelte
Jessica-­Ann langsam eine Strähne ihres dunkel-
braunen Haars um die Finger und fuhr sich manch-
mal mit der Zunge über die Lippen, um sie feuchter
und üppiger aussehen zu lassen. Ihre tiefbraunen
Augen blickten direkt in die alles erfassende Linse
der Canon, die der eifrige Fotograf in der Hand hielt
und mit der er ein Bild nach dem anderen von ihr
schoss. Schließlich wandte sie dem Fotografen den
Rücken zu, tanzte aber weiter für ihn und schaute
immer wieder verführerisch über die Schulter in
seine Richtung. Doch dieser Blick galt nicht dem
Fotografen selbst. Er galt den vielen Menschen, die
schließlich das Foto sehen würden.
   Jessica wollte, dass jeder Einzelne von ihnen
dachte, dass sie ihn begehrte und nur ihn. Denn sie
wollte selbst begehrt werden. Sie wollte, dass man sie
liebte.

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Jess war neu im Modelbusiness, aber alle Fotografen,
die bisher das Vergnügen gehabt hatten, mit ihr zu
arbeiten, sagten das Gleiche: Sie war ein Naturtalent.
Rick Jones war da keine Ausnahme. Als er die Canon
sinken ließ, grinste er von einem Ohr zum andern.
   »Ich denke, jetzt haben wir’s«, meinte er.
   Jess hörte auf zu tanzen. Sie sah, dass er lächelte,
und spürte, dass er zufrieden mit dem war, was sie
gemeinsam erreicht hatten. Nicht zuletzt deshalb
erwiderte sie das Lächeln. Dabei zeigte sie perfekte,
perlweiße Zähne.
   »Echt?«
   »Gute Bilder«, bestätigte Rick.
   Jess hüpfte auf und ab wie ein Kind. »Juhuu!«
   Die verführerische Frau, die in-­und auswendig
wusste, was sie wollte, und die wusste, wie sie es
bekam, wurde zu einer verspielten 20-Jährigen, die
Rick durch einen gemeinsamen Freund, ebenfalls ein
Fotograf, kennengelernt hatte. Ein Teil ihres Charmes
bestand tatsächlich darin, sich vor der Kamera
absolut professionell zu geben, aber zwischen den
Shootings charismatisch, unkompliziert und schein-
bar sorglos zu sein. Ein junger Geist, der hungrig war
nach Leben, das er in Models, die länger im Business
waren, gar nicht mehr fand. Solche Models hatten
sich bereits einen gewissen Dünkel angewöhnt, der
die Arbeit mit ihnen erheblich schwerer machte.
   »Hast du auch andere Outfits mitgebracht?«, fragte
Rick. »Sachen, mit denen du heute noch fotografiert

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werden wolltest? Ich meine, wir sind schneller fertig
als gedacht, also …«
   »Nein, ich glaube, wir haben alles«, sagte sie nach
kurzer Überlegung.
   Rick lächelte. »Schade.«
   Obwohl er wenigstens 20 Jahre älter war als Jess,
hatte er diese Frage nicht gestellt, um sie anzu-
machen, oder weil er sich darauf freute, sie in ande-
ren knappen Outfits bewundern zu können. Für ihn
war der Job nur das: ein Job. Er hatte sie gefragt, weil
er ihr wirklich einen Gefallen hatte tun wollen. Für
solche Models, wie Jess eines war, knipste er häufig
mehr Bilder, als verlangt war, und das hatte nur einen
einzigen Grund: Er liebte seinen Job und Mädchen
wie Jess machten ihm diesen Job sehr einfach. Wenn
Models mit einer solchen Einstellung zu ihm kamen,
konnte daraus eine Win-­Win-­Situation für sie beide
werden. Er bekam mehr Bilder, die er potenziellen
Auftraggebern zeigen konnte, damit diese sahen,
dass er jede Aufgabe erledigen konnte, die sie mög-
licherweise in petto hatten. Und die Models bekamen
mehr Bilder für ihre Sedcard. Ein Win-­Win.
   Weil er wusste, wie neu Jess in diesem Business
war, fügte Rick als Tipp hinzu: »Bring immer mehr
mit, als du brauchst. Man weiß nie, wann das Shoo-
ting vorbei ist und wie schnell es geht. Die meisten
Fotografen sind da wie ich: Wenn die Zeit es erlaubt,
sind sie froh, wenn sie mehr Bilder als nötig mit dir
machen können. Ist ja immerhin selten, dass man

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zwei Shootings am Tag hat. Wie ich schon sagte, man
weiß nie, wie lange das mit dem Aufbauen und dem
eigentlichen Fotografieren dann geht. Und dieser
Shoot heute war wirklich einfach. Manchmal aller-
dings …« Er unterbrach sich, um nicht schlecht über
die anderen Models reden zu müssen. »Sagen wir,
manchmal dauert es eben etwas länger, um ein gutes
Foto zu kriegen.«
   »Okay, das ist gut zu wissen«, antwortete Jess.
»Danke!« Sie hielt einen Augenblick inne und fragte
dann: »Wie lange, glaubst du, wirst du brauchen, um
die Fotos zu bearbeiten?«
   Rick lachte. »Da wird wohl nicht viel zu bearbeiten
sein, denke ich. Aber in ein paar Tagen sollte ich sie
dir zuschicken können. Meiner Meinung nach aller-
dings kannst du stolz auf dich sein. Ich glaube, die
Bilder werden absolut großartig.«
   »Echt?«
   Jess wurde rot. Rick musste unwillkürlich lächeln.
Da stand ein solches Mädchen, war glücklich damit,
vor einem Wildfremden in Strapsen und nicht sehr
viel mehr herumtanzen zu dürfen, und war doch
nicht selbstbewusst genug, um mit einem Kompli-
ment fertigzuwerden. Das war noch so ein liebens-
werter Charakterzug an ihr: Sie war bescheiden.
   »Ja, echt. Keine Sorge. Aber wie dem auch sei. Wenn
du dich in Ruhe im Hinterzimmer anziehen willst,
dann packe ich schnell meine Sachen zusammen, dann
können wir hier verschwinden. Ist dir das recht?«

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»Absolut. … Brauchst du Hilfe?«, fragte sie dann.
   Rick musste wieder lachen. »Ich glaube, du bist das
erste Model, das mich fragt, ob es beim Aufräumen
helfen kann.«
   »Ach wirklich?«
   »Wirklich. Danke, aber ganz ehrlich: Das mache
ich schon. Ich bin wahrscheinlich schon fertig, wenn
du angezogen bist.«
   »Okay. Dann … na ja, danke für den Shoot.«
   »War mir ein Vergnügen.«
   Jess lächelte ihm noch einmal zu und ging dann
aus dem Zimmer in den kleinen Verschlag, in dem
sie sich bereits für das Shooting umgezogen hatte.
Sie hatte die Dessous schon unter ihren Alltags-
klamotten getragen, um Zeit zu sparen, als sie in sein
Studio kam, und sie würde sie auch auf dem Weg
nach Hause tragen. Dort wollte sie sich dann das
Make-­up abwaschen und alltäglichere Unterwäsche
anziehen, bevor sie sich zu ihrem Job als Kellnerin in
einem schäbigen Fast-­Food-­Restaurant aufmachte.
Dort bediente sie hauptsächlich irgendwelche Last-
wagenfahrer, die auf ihren Langstrecken unterwegs
waren. Das war lange nicht so glamourös wie ein Job
als Model, aber es war besser als arbeitslos zu sein,
bis sich das Modeln irgendwann auszahlte und sie
auch die regulären Rechnungen bezahlen konnte.
Sich im miesen Sozialsystem, für das die Regierung
ohnehin kein Geld übrig hatte, von Scheck zu Scheck
zu hangeln, war keine Alternative.

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Als Jess sich anzog, dachte sie niedergeschlagen
darüber und über ihre bevorstehende Schicht im
Restaurant nach. Sie hasste den Job, aber sie sagte
sich immer wieder, dass er eben die Rechnungen
bezahlte.
   Außerdem versprach sie sich wieder einmal, dass
es ja nicht für immer sei.

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                      12:36

Jess war von ihrem Shooting mit Rick nach Hause
zurückgekehrt. Sie betrat den Flur ihrer Wohnung
und achtete dabei darauf, nicht auf den Berg aus
Briefen zu treten, die auf der Matte herumlagen.
Natürlich war sie sicher, dass darunter wichtige
Schreiben waren, die nicht sofort in den Papier-
korb wandern konnten. Wenn sie bedachte, dass
sie im dritten Stock eines schäbigen Wohnhauses
in einem verkommenen Viertel der Stadt lebte, war
sie immer überrascht, dass der Briefträger sich stän-
dig die Mühe machte, ihr Prospekte, Broschüren
und ähnlichen Mist bis zur Tür zu bringen, statt das
Zeug gleich in den Müll zu werfen. Das hätte ihm
die Anstrengung erspart, die Treppen rauf-­und
runterzulaufen. Auch hätte es den Hauseigentümern
erspart, ständig mit einer überlaufenden Altpapier-
tonne fertigwerden zu müssen. Vielleicht half ja ein
Schild auf der Tür: Keine Reklame einwerfen. Aber
wahrscheinlich würde der Briefträger auch weiterhin
seinen Schrott loswerden wollen, nur damit er auf

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dem Rest seiner Tour nicht mehr so viel zu tragen
hatte.
   Jess schloss die Eingangstür und bückte sich,
um die Briefe von der Matte aufzuheben. Auf dem
Weg in ihre Küche, die sich etwas weiter den Flur
entlang befand, blätterte sie durch die Umschläge.
Wenigstens hielten es die meisten Unternehmen
für nötig, ihre Postwurfsendungen so zu gestalten,
dass man schon am Umschlag erkannte, dass die
Nachrichten darin wertlos waren. So machte man
keine Umstände, und das Ding konnte direkt in
die Tonne … Jess hielt inne. Da war ein brauner
Umschlag, der von einer Behörde stammte. Diese
Briefe waren nie gut und sie waren nie »Müll«, das
wusste sie, auch wenn sie sie nicht oft bekam. Und
noch schlimmer war jetzt, dass die Botschaft darin
noch schäbiger zu sein schien als das Papier, das man
durch das Adressfenster sehen konnte: privat und
ver­­traulich.
   Jess ließ den Rest der Post auf die Arbeitsplatte in
der Küche fallen und riss den Umschlag der Behörde
auf. Sie zog das einzelne, ordentlich gefaltete Blatt
heraus und überflog es rasch. Ihr Herz sank, als
sie die Zahlen sah: 108 Pfund dafür, dass sie eine
Gebühr einmal nicht gezahlt hatte und nun bekam
sie, zumindest diesem Schreiben nach, eine letzte
Chance, die Rechnung zu begleichen, bevor das
Ganze ans Gericht übergeben wurde. Die letzte
Chance? Jess hatte ja schon die erste nicht bekommen.

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Offenbar hatte der Briefträger keine Probleme damit,
Werbeschrott bei ihr einzuwerfen, doch wichtige Post
betrachtete er offenbar nicht als seine Aufgabe.
   »Ist ja echt toll«, murmelte sie, als sie das Schrei-
ben auf den Berg der Prospekte warf. Die gute Nach-
richt, dass sie ein weiteres Shooting erfolgreich hinter
sich gebracht hatte, verblasste vor der schlechten,
eine solch unerwartete Rechnung zahlen zu müssen,
die so gut wie alles verschlang, was sie heute Morgen
verdient hatte. Andererseits … aus solchen Miss-
geschicken bestand nun einmal derzeit ihr Leben.
Immer wenn es eine gute Nachricht gab, war bei-
nahe sicher, dass eine schlechte auf dem Fuß folgte.
Murphys Law nannte man das auch. Aber man
sagte ja auch, man solle nicht über vergossene Milch
weinen. Die Rechnung war fällig und Jess würde sie
zahlen, und das war es dann. Das nächste Mal würde
sie fällige Gebühren eben innerhalb der üblichen
Frist zahlen. Es hatte keinen Sinn, irgendjemand
anderem die Schuld zu geben als ihr selbst, ebenso
wenig, wie es Sinn hatte, sich über etwas Gedanken
zu machen, das sie offenbar einfach hätte vermeiden
können, wenn sie aufmerksamer gewesen wäre und
die Gebühr nicht einfach übersehen hätte. Sich jetzt
noch zu stressen würde diese Mahnung nicht ver-
schwinden lassen, sondern nur ruinieren, was als
ein guter Tag angefangen und ihr wieder einmal
die Hoffnung gegeben hatte, dass sie die richtige
Entscheidung getroffen hatte; nämlich es trotz der

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Einwände ihrer Eltern mit einer Karriere im Model-
business zu versuchen. Es gibt kaum Mädchen, die
es schaffen, so verdient man doch nicht anständig,
die Leute wollen dich ohnehin nur ausnutzen und
außerdem öffnet das doch nur Tür und Tor in ein
Lotterleben, in dem Drogen und Alkohol herrschen.
Das und noch viel mehr hatten ihre besorgten Eltern
von sich gegeben, als sie versucht hatten, ihre ein-
zige Tochter zu einem anderen Leben zu bewegen.
Aber sie mochte es, fotografiert zu werden, und den
Reaktionen nach zu urteilen, waren andere Leute
ebenfalls der Ansicht, dass sie dazu taugte. Die Ver-
suche ihrer Eltern, sie davon abzubringen, die War-
nungen, wie schwer es werden würde, ließen sie nur
umso entschlossener daran festhalten. Sie lächelte
in sich hinein. Das Gefühl, auf der Gewinnerseite
zu stehen, wurde wieder stärker und ließ die miese
Erinnerung an die letzte Mahnung, eine vergessene
Gebühr zu bezahlen, ganz in den Hintergrund
rücken.
   Dieses Erfolgsgefühl setzte immer direkt nach
einem gut verlaufenen Shoot ein und hielt in der
Regel ein paar Tage an. Dann wollte sie mehr Arbeit.
Mehr Jobs. Diese Rechnung würde ihr diese gute
Laune nicht verderben und sie nicht daran hindern,
weiter an ihrer Karriere zu arbeiten. Nicht heute.
   Niemals.

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                       16:04

»Da bin ich schon, tut mir leid!« Jess schlängelte sich
durch die Tische des kleinen Restaurants ins Hinter-
zimmer, wo sie ihre Tasche und ihren Mantel fallen
lassen konnte.
   »Wie nett, dass du dich auch mal blicken lässt«,
ließ sich Teamleiter Phil hinter der Theke ver-
nehmen. Er war ein verklemmter Idiot in den Vier-
zigern, der gern so tat, als wäre er derjenige, der den
Laden schmiss. Doch er war noch einem anderen
Vorgesetzten verantwortlich und kroch diesem dabei
regelmäßig bis zum Anschlag in den Arsch.
   »Tut mir leid«, wiederholte Jess. »Der Verkehr …!«
   »Darum sollte man immer etwas früher losgehen
als unbedingt nötig«, dozierte Phil. »Der frühe Vogel
fängt den Wurm!«
   Jess seufzte und hängte ihren Mantel an einen der
Haken an der Wand. Ein Blick auf Phil hatte gereicht,
um klarzumachen, dass ihr wieder einmal eine solche
Schicht bevorstand. Eine, bei der es weniger darum
ging, draußen an den Tischen zu bedienen, als

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vielmehr in der Küche beim Abwasch zu helfen. Das
war wohl die Strafe dafür, dass sie sich vom Scheiß-
berufsverkehr hatte aufhalten lassen.
   »Er hat schon wieder schlechte Laune«, raunte
Grace ihr zu. Die Kollegin kam gerade aus ihrer
Pause zurück. Auch sie zog die Jacke aus und hängte
sie an den Haken neben Jess’ Mantel. »Ignorier ihn
einfach. Machen alle anderen ja auch.«
   »Das war der Verkehr. Zu dieser Tageszeit ist der
einfach eine Katastrophe und dann macht er mich so
blöd an, dass ich doch früher von zu Hause losgehen
soll. Der Witz ist: Ich bin tatsächlich früher weg.
Wie früh soll ich denn los?« Jess seufzte noch einmal
und nahm sich zusammen, bevor sie mit der Arbeit
begann. Sie war noch nicht lange hier, aber hatte
recht schnell gelernt, dass man mit einem brummi-
gen Gesicht weniger Trinkgeld bekam. Und nach der
unerwarteten Rechnung, die sie vorhin im Brief-
kasten gehabt hatte, brauchte sie alles Trinkgeld, das
sie heute Abend bekommen konnte. »Ich mach mir
einfach keinen Kopf«, erklärte sie laut, auch wenn
sie sich eher selbst damit Mut zu machen versuchte.
   »Die gute Nachricht ist, dass er schon den ganzen
Nachmittag hier ist«, erwiderte Grace. »Das heißt,
dass er wohl bald Schluss macht.«
   »Das hoffe ich ja wohl schwer.«
   Grace ging zur Tür. »Okay. Bereit für die Tret-
mühle?«, fragte sie dann, bevor sie sie öffnete.
   »Ja. Bereit.«

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»Dann mal los.«
   Grace zog die Tür auf und hielt sie für Jess fest. Jess
trat hinaus ins Restaurant.
   Phil griff sofort ein. »Jess, du wirst in der Küche
gebraucht«, rief er ihr zu.
   »Natürlich braucht man mich da«, murmelte Jess
in sich hinein.
   Sie wandte sich der Küche zu. Grace warf ihr noch
ein mitfühlendes Lächeln zu und machte sich in den
Bereich des Restaurants auf, für den sie heute ein-
geteilt war. »Kopf hoch, Mädchen. Wird nicht lange
dauern. Besonders wenn ich den Truckern stecke,
dass du heute hier bist. Du weißt ja, wie sehr sie dich
lieben.«
   Jess lächelte. »Danke. … Ich hab so das Gefühl,
dass es eine lange Schicht wird«, fügte sie dann noch
hinzu.
   Jess ging in die Küche, wo sie dann, wie sie fairer-
weise zugeben musste, feststellte, dass die Küchen-
kräfte tatsächlich mit Bestellungen überschüttet
wurden. Alle drei liefen sie mit schweißüberströmtem
Gesicht hin und her, während sich sehr zu Jess’ Leid-
wesen das dreckige Geschirr in der Spüle stapelte.
»Hallo, zusammen!«, rief sie in die Runde und gab
ihr Bestes, wenigstens so zu tun, als wäre sie glück-
lich, die drei zu sehen. »Dann ist der Tellerwäscher
wohl wieder nicht gekommen?«, erkundigte sie sich.
   Normalerweise war hier im Restaurant ein junger
Kerl angestellt, der sich um das schmutzige Geschirr

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zu kümmern hatte, aber man zahlte ihm nur einen
Hungerlohn, also fehlte er öfter, als er kam. Wäre
das ein Job gewesen, den man leicht hätte besetzen
können, wäre er wohl schon lange gefeuert worden,
aber in Anbetracht der Tatsache, dass es nicht viele
gab, die sich um den Job rissen, war das Restaurant
auf ihn angewiesen. An den Tagen, an denen er nicht
kam, setzten die Schichtleiter die Mitarbeiter, die
sie schief ansahen, ein, um ihn zu ersetzen. Und die
waren es dann, die diese verhasste Arbeit erledigen
mussten.
   Jess musste nicht erst fragen, was sie tun sollte.
Sie schlängelte sich zur Spüle und zwang sich dabei
ein Lächeln ab. Sie würde Phil nicht die Genug-
tuung geben, offen zu zeigen, wie genervt sie davon
war, hier Tassen und Teller säubern zu müssen, statt
vorn zu bedienen … was immerhin das war, wofür
man sie in diesem Laden bezahlte. Je weniger sie so
wirkte, als ob ihr das etwas ausmachte, desto weniger
würde er darauf bestehen, dass sie hier hinten blieb.
   Wenigstens sagte sie sich das.

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                      18:30

Jess stand unter dem kleinen Dach, das sich über
der Hintertür des Restaurants wölbte, und blickte
auf den Parkplatz hinter dem Café. Regen pras-
selte auf den Asphalt herab. Ihre Kollegen fanden
es etwas seltsam, dass sie ihre Pause immer wieder
hier draußen verbrachte, obwohl sie nicht rauchte.
Und trotzdem ging sie während jeder Arbeitsunter-
brechung raus. Sie stand dann immer hier und
beobachtete die Autos auf dem Stück Hauptstraße,
das man von hier aus sehen konnte. Nicht nur dass
sie sich immer wieder wünschte, sie säße in einem
von ihnen, sie mochte es auch, an der frischen Luft
zu sein, auch wenn es noch so kalt war. Die Luft hier
draußen einzuatmen war so viel angenehmer, als im
Geruch des Frittierfetts zu hocken, der das Innere
des Restaurants erfüllte. Doch heute Abend war die
Luft nicht ganz so frisch.
   Grace stand neben Jess. Ihre Schicht war gleich
vorbei, sie hatte aber versprochen, Jess’ Pause mit
der Kollegin zusammen zu verbringen. Ein wenig

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Gesellschaft für Jess und eine schnelle Zigarette für
Grace, bevor sie sich in den Wagen setzen musste.
   »Glaubst du, die lassen dich mal wieder was
machen?«, fragte Grace gerade.
   Sie sprachen über das Shooting, das Jess an diesem
Morgen hinter sich gebracht hatte, und wie erfolg-
reich es gelaufen war. Es war Grace, die Jess ihren
ersten Job im Modelbusiness vermittelt hatte, indem
sie sie einem Freund, einem Fotografen, vorgestellt
hatte, der ihr selbst geholfen hatte, ihre Karriere als
Webcam-­Girl zu starten.
   »Rick schien echt nett zu sein. Und er schien
auch gern mit mir zu arbeiten, also hoffe ich das«,
meinte Jess. »Ich hoffe es wirklich«, fügte sie dann
hinzu. »Ich meine, ich war kaum zu Hause, als ich
schon wieder eine Rechnung in meinem Briefkasten
hatte …!«
   »Eine Rechnung?«
   »Eine Mahnung für eine Gebühr, die ich nicht
gezahlt habe.«
   »Wie bitte?«
   »Die letzte Mahnung sogar, wie es aussieht. Ur­­
sprünglich waren es wohl nur 70 Pfund, die diese
Gebühr kostete, und mir wäre die Hälfte erlassen
worden, wenn ich innerhalb von zwei Wochen gezahlt
hätte. Und jetzt sind es schon über 100 Pfund.«
   »Na, da hab ich doch mal eine Frage«, erwiderte
Grace. »Warum hast du denn die Rechnung nicht
gleich bezahlt?«

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»Weil ich sie offenbar komplett vergessen habe! Ich
höre jetzt zum ersten Mal davon!«, gab Jess prompt
zurück.
   »Aber dann kannst du doch Einspruch erheben«,
schlug Grace vor.
   »Bei meinem Glück? Dann muss ich wahrschein-
lich nicht nur das Doppelte, sondern gleich das Drei-
fache zahlen oder irgend so was Dämliches. Nein, ich
werde das einfach bezahlen. Aber das nervt schon.
Kaum habe ich mal etwas Geld in der Hand, muss
ich es auch schon wieder ausgeben.« Jess seufzte.
»Ich hab es so satt, pleite zu sein.«
   »Du könntest ja auch mit einer Webcam anfangen.
Da steckt wirklich eine Menge Geld drin!«
   Grace spielte nun schon seit über einem Jahr Frem-
den vor der Kamera etwas vor. Angefangen hatte sie
damit betrunken und mehr aus Spaß, aber als sie
gesehen hatte, was für ein Geld sich damit machen
ließ, war eine Art Fulltime-Job daraus geworden.
   »Jaja, so viel, dass du deinen Job hier nach wie vor
behältst. In dem Augenblick, in dem ich genug ver-
diene, bin ich hier weg, das kann ich dir garantie-
ren!«
   »Ich hab gute Gründe, warum ich den Job hier
behalte. Diesen Job hier versteuere ich. Das mit der
Kamera … lasse ich einfach unter den Tisch fallen.«
Grace zwinkerte Jess zu. »Die Behörden haben keine
Ahnung und es ist ja auch nicht so, als ignorierte
ich meine Steuern, denn ich bezahle sie ja hier. …

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Und was die Webcam angeht: Richtig verdient man
ja, wenn man den Kunden eine kleine Nummer
gestattet.«
   Jess’ Kinnlade fiel herab. Einen Augenblick stand
sie nur da und starrte ihre Freundin schockiert an.
Grace grinste frech. Es sah aus, als wäre ein unartiges
Schulkind gerade bei einem Streich ertappt worden.
   »Du schläfst mit ihnen?«
   »Na ja, nicht mit allen. Aber mit denen, die in
der Kamera niedlich rüberkommen, geb ich die
Möglichkeit, zu mir zu kommen, eine Maske aufzu-
setzen – natürlich nur, wenn sie das so wollen – und
mich vor der Webcam vor Publikum zu vögeln. Ich
sag dir, da verdient man echt einiges. … Lass es mich
mal so sagen: Sorgen um eine Rechnung müsstest du
dir nicht mehr machen!«
   »Ich bin aber nicht du. Das könnte ich nicht.
Und selbst wenn ich’s könnte, würde ich mir Sorgen
machen, welche Auswirkungen das auf meine Kar-
riere hat.«
   »Machst du Witze? Die Kunden machen alles
Mögliche, wenn sie wissen, was du von deiner
bequemen Wohnung aus alles machst. Wenn die
deine Adresse hätten, würden sie dich sicher auch
gern beobachten!«, meinte Grace mit einem kleinen
Lachen.
   »Ich meinte meine Modelkarriere.«
   »Na klar doch.«
   »Für mich wäre das nichts.«

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»Schon gut, das ist wirklich nichts für jedermann.«
Grace zog wieder an ihrer Zigarette und atmete lang-
sam aus. »Was ist mit Abendessen?«
   »Du meinst Dates zum Abendessen mit einem
deiner Zuschauer? Das stellst du ihnen auch in Rech-
nung?« Jess lachte. »Ich hätte ja Angst, dass ich einen
Drink nehme, ohnmächtig werde und bei denen zu
Haus wieder aufwache. Wahrscheinlich angekettet
oder so.«
   »Nein, das meinte ich nicht. Ich habe einen Termin
kommenden Samstag, der … Na ja, es klingt seltsam,
aber vielleicht ist es das nur auf den ersten Blick.«
   »Okay, jetzt hast du mich neugierig gemacht.«
   Bevor Grace antworten konnte, öffnete sich die
Hintertür zur Küche und Phil kam, seine Jacke über
dem Arm, heraus.
   »Hast du denn kein Zuhause, Grace?« Dann
wandte er sich Jess zu. »Und du hast deine Pausen-
zeit überzogen.« Er schüttelte den Kopf und fügte
hinzu: »Und ihr Mädels wundert euch, warum ihr so
wenige Schichten zusammen habt.« Er wartete eine
Entgegnung nicht ab und auch nicht, ob Jess wieder
hineinging. Stattdessen ging er schnurstracks auf
sein Auto zu, um heimzufahren. Seine Schicht war
beendet.
   Jess seufzte wieder einmal und warf einen Blick
auf ihre Armbanduhr. Phil war ein Arsch, hatte aber
in diesem Fall recht. Ihre Pause war schon lange zu
Ende.

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»Ich geh besser wieder rein«, sagte Jess.
  »Ja, okay. Ich schick dir eine Mail mit dem, was ich
dir erzählen wollte«, meinte Grace und fügte hinzu:
»Und sag mir dann, was du davon hältst!«
  »Neugierig bin ich auf jeden Fall.«
  Grace drückte ihre Zigarette an der Außenwand
des Restaurants aus. »Ist recht, ich schick’ dir alles.
In der Zwischenzeit wünsch ich dir noch viel Spaß
bei deiner Schicht!«
  »O ja. Vielen Dank auch.«
  Grace lachte und ging zu ihrem Auto hinüber, das
direkt unter einem Schild mit der Aufschrift »Mit-
arbeiter bitte hier parken, damit Gäste es nicht so
weit bis zum Eingang des Restaurants haben!« stand.
  Jess’ Blick folgte ihr eifersüchtig, durfte Grace
doch nach Hause und sie nicht.
  Noch nicht jedenfalls. Ein paar Stunden hatte sie
noch vor sich.

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www.mattshawpublications.co.uk

MATT SHAW ist verrückt – verrückt nach Extreme Horror.
Er hat in Eigenregie schon Dutzende solcher Titel veröffent-
licht. Seine ständig wachsende Fangemeinde vergleicht sie
mit Werken von Richard Laymon und Edward Lee, aber
auch mit denen von Stephen King – nun, zumindest sind
sie sehr brutal und krank, mög­licherweise sogar genial …
Matt ist ein großer Bewunderer von Roald Dahl (er hat sich
ein Tattoo des Schriftstellers auf den Arm stechen lassen)
und quatscht ständig über Filme. Er lebt mit seiner Frau
Marie in Southampton, England.

                  Matt Shaw bei FESTA:
                    Perverse Schweine
                          Porno
               Monster (mit Michael Bray)
           Boys’ Night (mit Wrath James White)
                         Oktopus
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