Bäuerliche Protestnetzwerke: Aufbrüche, Zersplitterungen, Ausblicke

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Agrarpolitik und soziale Lage

Bäuerliche Protestnetzwerke:
Aufbrüche, Zersplitterungen, Ausblicke
Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus einer Befragung
unter den Protestteilnehmer:innen

von Rolf G. Heinze

                  Ende 2019 kam es zu Demonstrationen von Bäuerinnen und Bauern, zu deren öffentlichkeits-
                  wirksamster Protestform Blockaden gegen den Lebensmitteleinzelhandel gehörten, zu denen
                  über die sozialen Medien mobilisiert wurde und die – wenn auch etwas abgeschwächt – in das
                  Jahr 2021 hineinreichten. Konkret richtete sich der Protest neben dem Lebensmitteleinzelhandel
                  gegen die Agrarpolitik und speziell gegen schärfere Vorgaben zum Insekten- und Umweltschutz
                  sowie existenzbedrohende Erzeugerpreise insbesondere in der Viehwirtschaft. Um die Hinter-
                  gründe besser einordnen zu können, wurde eine Befragung unter den Protestteilnehmer:innen
                  durchgeführt. Die Auswertungen zeigen die weitreichenden ökonomischen Sorgen und die Re-
                  präsentationsdefizite bei den etablierten politischen Organisationen im Agrarsektor, wie einer
                  der die Befragung durchführenden Wissenschaftler im nachfolgenden Beitrag darlegt. Die neu-
                  en Kommunikationsoptionen der digitalen Medien bringen einerseits Mobilisierungserfolge mit
                  sich, andererseits erschweren sie die Bildung von dauerhaften Organisationsstrukturen und ab-
                  gestimmten Strategien.

Wenn es auch in den letzten gut zehn Jahren politisch    Die erschöpfte Verbandsmacht
etwas ruhiger im Agrarsektor zuging, hat es Bauern-
proteste in der Geschichte der Bundesrepublik immer      Organisatorische Abspaltungen vom DBV sind nicht
wieder gegeben. Die Ende 2019 beginnenden Proteste       neu. Schon in der »alten« Bundesrepublik wurden
der Bäuerinnen und Bauern kamen vor diesem Hin-          sie praktiziert: etwa durch die Arbeitsgemeinschaft
tergrund dennoch überraschend und haben eine neue        bäuerliche Landwirtschaft (AbL), die stärker an bäu-
Qualität insofern gewonnen, als dass sie außerhalb       erlichen Strukturen und ökologisch ausgerichtet
der etablierten politischen Institutionen angesiedelt    ist, sowie Spartenverbände wie der Bundesverband
sind. Es hat sich eine dezentral organisierte Protest-   Deutscher Milchviehhalter (BDM), der Ende der
welle etabliert, die mit dem schwarmförmigen Netz-       1990er-Jahre gegründet wurde, und die Interessenge-
werk »Land schafft Verbindung« (LsV) abseits des         meinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN).2
lange Zeit sehr einflussreichen Deutschen Bauernver-     Hinzu kommen die regionalen Separatismen, die sich
bands (DBV) agiert. Laut den Ergebnissen einer For-      in der Interessenvertretung niederschlagen: Während
sa-Umfrage, im Rahmen dessen die agrarpolitischen        in den neuen Bundesländern oft industriell geprägte
Einstellungen von Landwirt:innen abgefragt wurden,       Großbetriebe entstanden sind, welche zu den größten
sahen sich 56 Prozent der Befragten eher schlecht        Agrarbetrieben Europas zählen, sind beispielsweise in
bzw. sehr schlecht vom DBV gegenüber der Politik         Bayern nach wie vor bäuerliche Betriebe üblich. Die-
vertreten.1 Noch heute ist der Organisationsgrad des     se verbandliche Ausdifferenzierung konnte lange die
DBV mit über 90 Prozent der landwirtschaftlichen         Machtposition des DBV kaum gefährden, die neuen
Betriebe vergleichsweise hoch, allerdings ist die Zahl   Proteste zeugen aber davon, dass der Verband es of-
der aktiven Mitglieder wie auch in anderen Verbän-       fensichtlich nicht mehr vermag, als organisatorische
den wesentlich geringer.                                 Klammer die Interessen der gesamten Landwirtschaft

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zu repräsentieren, was zunehmend auch in der Politik        nelt eher »Schwärmen« denn strategisch geleiteten
registriert wird.                                           Organisationen. Die Protestkommunikation verläuft
   Die institutionalisierten Einflusswege des Ver-          vorwiegend nur in der eigenen »Blase« und die Schuld
bandes zur Politik und den Ministerialverwaltungen          für die Misere wird bei den »Anderen« gesucht. Inso-
und die jahrzehntelang aufgebauten Netzwerke (auch          fern kann diese Protestbewegung auch als populistisch
zum Agribusiness) werden in der Protestbewegung             eingestuft werden, weil sie »sich darauf kapriziert, die
sogar explizit als kritikwürdig angesehen, weil eine        Verantwortung ,der Anderen‘ (Verbraucher, Gesell-
Vernachlässigung der genuin agrarischen Interessen          schaft, NGOs) zu thematisieren und den Staat auf­
damit verbunden sei. Andererseits war der DBV als           fordert, Lösungen zu bieten, die lediglich den Unter-
erfolgreicher Interessenverband an allen wesentli-          nehmerlandwirten dienen und deren Kosten andere
chen agrarpolitischen Gesetzesvorhaben in der Ge-           zu tragen haben«.3
schichte der Bundesrepublik aktiv beteiligt und über           Die neuen Proteste organisieren sich nicht nur stär-
verschiedene Kanäle in wichtigen berufsständischen          ker über soziale Medien und Messengerdienste, son-
Institutionen (wie z. B. den Kammern und dem land-          dern treten auch mit spektakulären Formen, wie der
wirtschaftlichen Bildungswesen) gut repräsentiert. Je       Blockade von Supermärkten oder dem Aufstellen grü-
ausgeprägter die Unterschiede im Agrarsektor wer-           ner Kreuze auf. Blockaden demonstrieren allerdings
den, desto stärker wird nun aber die strategische Po-       nicht politische Durchsetzungskraft, sondern weisen
sitionierung der Verbandspolitik des DBV sichtbar,          eher auf mangelnde Konfliktfähigkeit der vertretenen
die sich traditionell selektiv zugunsten der ökono-         Interessen hin. Während die Klimaproteste und expli-
misch starken Landwirt:innen ausrichtet. Persönliche        zit die Fridays-for-Future-Bewegung (FFF) mit Sit-ins
Verflechtungen zwischen der Verbandsführung und             die Massenmedien erregten, müssen die Bäuerinnen
den vor- und nachgelagerten Wirtschaftsbereichen            und Bauern schon Blockaden errichten, um auf ihre
gehören dazu und werden schon länger von den Kon-           Anliegen aufmerksam zu machen.
kurrenzverbänden – und nun auch von den neu ent-               Hinzu kommt die ökologische Komponente. Viele
standenen Protestnetzwerken – massiv kritisiert. Die        Bäuerinnen und Bauern fühlen sich durch pauschale
offensive Interessenvertretung »neben« dem klassi-          Schuldzuweisungen, nach denen sie verantwortlich
schen Großverband weist auf eine verstärkte Hetero-         für das Insektensterben, zu geringe Achtung des Tier-
genisierung des agrarischen Verbändesystems hin, das        wohls oder die Belastungen des Grundwassers sind,
sich zerfasert. Parallel dazu breiten sich spezialisierte   nicht nur nicht wertgeschätzt, sondern auch persön-
Interessenverbände und in letzter Zeit lose verkoppel-      lich angegriffen. Sie sehen sich in die Rolle der Sün-
te Protestnetzwerke aus.                                    denböcke für ökologische Verfehlungen gedrängt,
   Die ökonomischen Sorgen bei einzelnen Grup-              die insgesamt in der Gesellschaft begangen werden.
pen, verstärkte staatliche Auflagen sowie verkrustete       Wenn dann noch existenzielle finanzielle Sorgen da-
innerverbandliche Machtstrukturen schufen so ein            zukommen, die durch bürokratische Auflagen weiter
wachsendes Unzufriedenheitspotenzial, das sich Ven-         gesteigert werden, steigt der Frustrationspegel und
tile suchte und in den letzten Jahren durch die sozia-      macht sich in zum Teil spektakulären Protesten Luft.
len Medien Formate vorfand und weiterentwickelte,           Solche Aktionen sind für Bauernproteste teilweise
die eine rasche Interessenmobilisierung und -aggre-         ungewöhnlich, passen allerdings zum gegenwärtigen
gation ermöglichten. LsV als dezentral organisiertes        Trend einer emotionalisierten politischen Öffentlich-
Netzwerk hat es innerhalb von zwei Jahren geschafft,        keit, in der es schwer ist, Gehör zu finden. Ohnehin
sich als oppositionelle Agrarbewegung zu etablieren.        nicht mehr so konfliktfähigen agrarischen Interessen
Man sieht sich selbst als verbandsübergreifende und         droht deshalb eine politische Marginalisierung.
parteineutrale Bewegung, die sich in Untergruppen
ausdifferenzierte, was wiederum mit der Gefahr ver-         Eine erste Vermessung des agrarischen
bunden ist, sich als bäuerliche Protestbewegung selbst      Protestmilieus
zu »zerlegen«. Dies zeigt sich unter anderem in der
Ausdifferenzierung der ursprünglichen Gruppe von            Während beispielsweise die Klimaproteste oder die
»Land schafft Verbindung«. Neben »Land schafft Ver-         Proteste gegen die Corona-Maßnahmen von verschie-
bindung – Das Original« wurde auch »Land schafft            denen Untersuchungen begleitet wurden,4 liegen zu
Verbindung – Deutschland« gegründet, was auf in-            den landwirtschaftlichen Protestnetzwerken bisher
terne Ungereimtheiten der Initiator:innen zurückzu-         keine empirischen Analysen vor. Deshalb wurde Ende
führen ist. Darüber hinaus gibt es zahlreiche regionale     2020 eine Onlinebefragung durchgeführt, um die
Zusammenschlüsse.                                           Reichweite und Wirkungen der Proteste abzuschät-
   Von außen betrachtet wirken die Aktivitäten und          zen.5 Der Teilnahmeaufruf erfolgte einerseits über di-
Proteste oft diffus und die Interessenformierung äh-        verse Kanäle und Foren in sozialen Medien, die dem

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Agrarpolitik und soziale Lage

Protestumfeld zuzuordnen sind. Andererseits wurde         ren Protestströmungen anschließen könnte – gerade
die Umfrage über eine einschlägige landwirtschaft­        mit Blick auf vergleichbare Länder wie Frankreich
liche Fachzeitschrift und einen Newsletter verbreitet.    oder die Niederlande.
Nach der Datenaufbereitung sind insgesamt 603 gül-           Ein großer Teil der befragten protestierenden Bäu-
tige Teilnahmen zu verzeichnen, wovon 492 Teilnah-        erinnen und Bauern (37,4 Prozent) sieht die Interes-
men im weiteren Verlauf genauer betrachtet werden,        sen der Landwirtschaft durch keine der politischen
da diese Personen sich selbst als Landwirt:innen im       Parteien vertreten. Die FDP kommt auf 40 Prozent,
Voll- oder Nebenerwerb (n = 396) einordnen bzw.           dem nachfolgend erfährt die CDU/CSU den meis-
eine Tätigkeit oder Beruf in Bezug zur Landwirtschaft     ten Zuspruch (18,4 Prozent). Keine Rolle spielen die
(n = 96) ausüben. Knapp 82,6 Prozent der Befragten        AfD, Grüne, SPD oder Linke. Eine Hinwendung zum
sind männlich und 17,4 Prozent weiblich. Im Folgen-       Rechtspopulismus ist also auf parteipolitischer Ebene
den werden einige empirische Ergebnisse vorgestellt.      bislang ausgeblieben. Die hohen Werte der FDP in
   Anhand der Frage nach den Sorgen lassen sich die       Bezug auf die Interessen der Landwirtschaft zeigen
komplexen Problemlagen ablesen: So machten sich           sich nicht nur bei den protestierenden Bäuerinnen
zusammengenommen über 83 Prozent der Befragten            und Bauern, sondern werden auch in anderen Unter­
einige bzw. große Sorgen um das Ansehen aufgrund          suchungen bestätigt.6
des Berufes. Die Angaben zu den Sorgen um die per-           Bei der Bundestagswahl im September 2021 hat sich
sönliche wirtschaftliche Zukunft (über 95 Prozent)        gezeigt, dass die CDU/CSU bei den Bauern und Bäu-
und die generelle Zukunft der Landwirtschaft (98 Pro-     erinnen Wählerstimmen eingebüßt hat. Laut der For-
zent) zeigen, dass die Befragten zum Großteil grund-      schungsgruppe Wahlen wählten nur noch 45 Prozent
legende ökonomische Existenzfragen haben. Obwohl          von ihnen die CDU/CSU, was im Vergleich zu 2013
die Klimawandelfolgen und die Umwelt Besorgnis be-        (75 Prozent) und 2017 (61 Prozent) einen massiven
reiten, sind die größten Sorgen bei möglichen neuen       Verlust bedeutet. Die SPD hat demgegenüber stark
politischen Vorgaben für die Landwirtschaft zu ver-       zugelegt, allerdings von einem geringen Stand: wäh-
zeichnen.                                                 rend 2017 nur fünf Prozent der Landwirt:innen die
   Bei der Beobachtung der Proteste im ­Agrarmilieu       SPD gewählt haben, waren dies 2021 zwölf Prozent der
taucht immer wieder die Frage auf, inwieweit es po-       Stimmen. Die FDP liegt mit 14 Prozent zwar über dem
pulistischen Gruppen und Parteien gelingt, die Un-        Bundesdurchschnitt, spiegelt das in unserer Umfrage
zufriedenheit und den Zorn der Protestierenden in         angegebene Vertrauen und die Interessenvertretung
ihren Organisationen zu bündeln. Rechtspopulisti-         damit jedoch nicht ganz wider. Die AfD liegt bei den
sche Akteur:innen versuchen, in den aufbrechenden         Landwirt:innen mit acht Prozent unter dem Bundes-
agrarischen Protestmilieus Einfluss zu gewinnen, da       durchschnitt und bleibt beim Stimmenanteil von 2017.
sie in ihnen eine potenzielle Zielgruppe sehen. Ein          Der CDU/CSU, welche lange Zeit parteipolitische
großer Teil der protestierenden Bäuerinnen und Bau-       Heimat landwirtschaftlicher Interessenvertretung
ern stuft aber die eigenen politischen Ansichten mit-     war, wird zwar weiterhin eher vertraut als den ande-
tig – weder links noch rechts – ein. Darüber hinaus       ren bereits genannten Parteien, aber nicht so stark wie
ist die Tendenz zu erkennen, dass sich die Befragten      der FDP. Gründe hierfür könnten sein, dass sich die
eher politisch rechts der Mitte verorten, was sich auch   Liberalen als die Partei der »Selbstständigen« definie-
im Wahlverhalten äußert. Bislang sind die Bäuerinnen      ren und somit an die kulturelle Tradition des »frei-
und Bauern aber gegenüber den rechtsradikalen Strö-       en« Bauern erinnern. Wie auch andere Gruppen des
mungen resistent.                                         selbstständigen »alten« Mittelstandes betonen Bäu-
   Allerdings werden im populistischen Stil Protest-      erinnen und Bauern ihre Eigenständigkeit und Ent-
aktionen durchgeführt und einige Beiträge aus der         scheidungsfreiheit und reagieren sensibel auf externe
Protestszene enthalten stark vereinfachende und pau-      Einflussnahmen. Auch deshalb haben sie sich ver-
schale, eher an populistischen Narrativen angelehnte      stärkt gegen die Ausweitung bürokratischer Auflagen
Argumentationen. Vieles ist stark von Gefühlen ge-        ausgesprochen, von der die Landwirtschaft betroffen
prägt und deshalb kommt es auch zwischen einzel-          ist. Appelle an ein ständisches Gemeinschaftsbewusst-
nen Personen hinsichtlich der Proteststrategien zum       sein und die Betonung des freien Unternehmertums
Streit. Soziale Medien sorgen zwar für eine schnelle      finden trotz der sozialstrukturellen Differenzierungs-
Kommunikation, die allerdings in den Protestgruppen       prozesse (es gibt nicht mehr »den« Bauern) auch
manchmal auch zu Beleidigungen führt. Generell zeigt      heute noch bei manchen landwirtschaftlichen Produ-
sich ein starkes Misstrauen gegenüber der etablierten     zentengruppen Resonanz. Dies liegt sicherlich an der
Politik und ihren Institutionen sowie den öffentlich-     besonderen Verbundenheit der Landwirt:innen mit
rechtlichen Medien. Deshalb ist das Risiko nicht aus-     ihrem Hof und der naturverbundenen Produktions-
zuschließen, dass der Protest sich teilweise auch ande-   weise, aber auch an den überlieferten Bindungen an

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das »Bauerntum«. Da von den Grünen oder der SPD             Proteste als Katalysator für neuen
noch mehr staatliche Regulierung (etwa mit Blick auf        Gesellschaftsvertrag?
Umweltauflagen) erwartet wird, verbleibt im klassi-
schen Parteienspektrum die FDP als Hoffnungsträger.         Dennoch können die Proteste die Bevölkerung für
   In den Verlautbarungen der Protestgruppen wer-           ein Thema sensibilisieren, das ohnehin in den letz-
den durchaus auch populistische Argumentations-             ten Jahren und insbesondere in der Corona-Krise an
muster, die auf das Besondere der Landwirtschaft als        Bedeutung gewonnen hat: eine regional verankerte
»Ernährer des Volkes« setzen, bemüht. Allerdings ist        Ernährung, die auch den Umwelt- und Klimaanfor-
zweifelhaft, ob diese ideologischen Versatzstücke aus       derungen gerecht wird. Und in diesem Kontext könn-
den 1950er-Jahren (ganz zu schweigen von der Zeit           ten auch die Forderungen nach höheren Preisen für
vor 1945) noch nachhaltige Wirkungen in der Öffent-         ökologisch und sozialverträglich hergestellte Lebens-
lichkeit erzeugen können. Emotional können sie hel-         mittel Auftrieb bekommen, weil die in den letzten
fen, manche von Verlustängsten betroffene Bäuerin-          Jahrzehnten zurückgegangenen Haushaltsbudgets für
nen und Bauern zu Protestaktionen zu mobilisieren.          Lebensmittel (derzeit geben die deutschen Haushalte
Gesamtgesellschaftlich weisen sie auf die gewachse-         nur rund 14 Prozent der gesamten Konsumausgaben
nen Spaltungsprozesse hin, die viele Landwirt:innen         für Nahrungsmittel und Getränke aus) Spielräume
insofern treffen, als dass sie sich selbst als eine vom     für die Mehrzahl der Bevölkerung zulassen. Gefragt
Abstieg bedrohte Gruppe definieren, die kaum über           sind ein konstruktiver Dialog und ein neuer Gesell-
Partizipationsmöglichkeiten verfügt und sich sozial         schaftsvertrag für die Landwirtschaft,7 damit die Frus-
isoliert fühlt. Schon durch ihre Tätigkeit bleiben kaum     trationen und Abstiegsängste vieler in ihrer Existenz
zeitliche Kapazitäten für Begegnungen mit anderen           gefährdeten Bäuerinnen und Bauern nicht in Apathie
gesellschaftlichen Gruppen, woraus sich Kommuni-            oder politische Radikalisierungen umschlagen.
kationsblockaden ergeben können. Hinzu kommt –                 Ein konkretes Handlungsfeld wäre im Feld der Vieh-
vorangetrieben durch die Corona-Pandemie – der in           wirtschaft die Schweinehaltung, die schon seit einiger
empirischen Studien festgestellte allgemeine Rückzug        Zeit für die in diesem Sektor tätigen Landwirt:innen
in die Häuslichkeit, der den sozialen Zusammenhalt          Verluste einfährt. Hier ballen sich seit einiger Zeit exis-
weiter schwächt.                                            tenzielle Probleme der Schweinehalter:innen, ohne dass
   Alternativ zum Rückzug in die Privatsphäre sind          die Politik bislang (Stand Oktober 2021) eine Lösung
in den letzten Jahren (angestachelt durch die neuen         für die niedrigen Preise gefunden hat. Dabei gibt es Al-
Protestformen wie FFF) einzelne landwirtschaftliche         ternativen, aber nur, wenn mit der traditionellen Poli-
Gruppen (insbesondere bei den Fleischerzeugern und
der Milchwirtschaft) aktiv geworden und verzeichnen
Mobilisierungserfolge. Die Vermischung von ökono-             Folgerungen     & Forderungen
mischen Sorgen, Abstiegsängsten, weiteren gesetz-
lichen Auflagen und kulturellen Verunsicherungen              ■   Die politische Protestlandschaft in Deutschland hat
prägen die Bauernproteste, wobei die Bedeutung wirt-              sich in den letzten Jahren um Bäuerinnen und Bau-
schaftlicher Faktoren anhand der den Protest tragen-              ern erweitert.
den Gruppen in unserer Befragung sichtbar wird. In            ■   In den Protesten scheint auf, wie stark die Sorgen
diesen Gruppen ist die Unzufriedenheit mit der Demo-              und Abstiegsängste in einzelnen Sparten der Land-
kratie deutlich erhöht; sie fühlen sich von den traditio­         wirtschaft sind und dass sie sich vom DBV und der
nellen Interessenvertretern nicht mehr repräsentiert.             CDU/CSU immer weniger repräsentiert fühlen.
   Wenngleich durch die kollektiven Proteste eine             ■   Deshalb wurden konkurrierende Protestnetzwerke
politische Mobilisierung bei einer wachsenden Zahl                (wie LsV) aufgebaut, die allerdings flüchtiger sind
von Bäuerinnen und Bauern erreicht wird, bedeutet                 und schnell zersplittern können. Zudem spiegeln sie
dies jedoch nicht, damit erfolgreich Maßnahmen zur                die Heterogenität des Agrarsektors wider und bieten
Verbesserung der eigenen Wirtschafts- und Lebens­                 kaum Anknüpfungspunkte für einen sozialökolo­
lage durchzusetzen. Insofern werden die Unsicherhei-              gischen Umbau des Agrar- und Ernährungssystems.
ten nicht verschwinden und das Stabilitätsbedürfnis           ■   Über eine Vernetzung der verschiedenen
ebenfalls nicht befriedigt werden. Ob sich die Frus-              Akteur:innen könnten Steuerungsressourcen hierfür
trationen kurzfristig abbauen lassen, muss deshalb                realisiert werden.
bezweifelt werden, denn die Fokussierung auf höhere           ■   Der Handlungskonsens aus den Debatten um einen
Marktpreise verkennt, dass der von den traditionellen             neuen Gesellschaftsvertrag muss in einen Umset-
politischen Organisationen der Bauern gewünsch-                   zungskonsens mit lokalen Experimenten transferiert
te Weg in einen globalen Agrarmarkt immer mit                     werden.
Schwankungen und Risiken verbunden ist.

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Agrarpolitik und soziale Lage

tikstrategie gebrochen wird, so Michael Bauchmüller in            X   Martin Schulz, Bernd Schmitz und Ulrich Jasper: Bauernproteste
einem Kommentar zum »Schweinesystem« in der Süd-                      unterstreichen den Veränderungsbedarf. Die Bedeutung der
                                                                      Bauern und die Notwendigkeit politischer Problemlösungen. In:
deutschen Zeitung: »Es gibt zu viele Ställe in Deutsch-
                                                                      Der kritische Agrarbericht 2020, S. 30–32
land, und in diesen Ställen zu viele Schweine, denen es
deshalb zu schlecht geht. Dabei gäbe es viele gute Ideen:
die Niederlande zahlen Prämien für die Stilllegung von
Ställen. Die Zahl des Viehs in Ställen ließe sich kon-            Anmerkungen
sequent an entsprechend große Äcker und Weiden                     1 Forsa Politik- und Sozialforschung: Zukünftige Ausrichtung der
                                                                     deutschen und europäischen Agrarpolitik. Eine Befragung von
knüpfen; das würde helfen, Kreisläufe zu schließen.                  Landwirten in Deutschland. Berlin 2019.
Eine ›Tierwohl-Abgabe‹, ein Aufschlag auf jedes Kilo               2 Zur Geschichte der deutschen »Agraropposition« siehe auch das
Fleisch, könnte Geld für bessere Ställe eintreiben.«8                Gespräch mit Georg Janßen (AbL), das Götz Schmidt und Hugo
   Die Traktorendemonstrationen im Herbst 2021                       Gödde für den vorliegenden Kritischen Agrarbericht geführt
weisen allerdings auf die nach wie vor bestehen-                     haben (S. 316–320).
                                                                   3 J. D. van der Ploeg: Die Bauern und »die Anderen«. Über Bauern-
den Existenzängste und auch Konfliktfronten zwi-                     revolte und Populismus in den Niederlanden und Frankreich.
schen Bäuerinnen und Bauern sowie Umwelt- und                        In: Der kritische Agrarbericht 2021, S. 87.
Klimaschützer:innen hin. Obwohl die Problemlagen                   4 Vgl. etwa die Beiträge in Heft 2/2021 des Forschungsjournals
seit Jahrzehnten bekannt sind, setzen erst langsam kon-              Soziale Bewegungen: Abstand von Protest oder Protest auf
                                                                     Abstand? Soziale Bewegungen in der Covid-19 Pandemie
struktive Diskussionsprozesse ein und die verschie-
                                                                     (www.forschungsjournal.de/jahrgaenge/2021heft2).
denen Organisationen kommen in einen Dialog, wie                   5 Vgl. ausführlich R. G. Heinze et al.: Bauernproteste in Deutsch-
Verbraucher:innen und Erzeuger:innen gemeinsam die                   land. Aktuelle Einblicke und politische Verortung. In: For-
Qualität der agrarischen Produkte, deren ökologische                 schungsjournal Soziale Bewegungen 34/3 (2021), S. 360–379.
Kosten, aber auch die erforderlichen Erzeugerpreise                6 Vgl. J. Michel: Bundestagswahl: Unionsparteien nicht mehr erste
                                                                     Wahl der Landwirte. In: agrarheute vom 19. April 2021 (www.
gestalten können. Nur über den Austausch zwischen                    agrarheute.com/politik/so-wuerden-landwirte-2021-waeh-
diesen Akteursgruppen, wie ihn die Zukunftskom-                      len-579397).
mission Landwirtschaft inszeniert hat, kann sich eine              7 Vgl. die Beiträge in J. Lange (Hrsg.): Ein Gesellschaftsvertrag für
gemeinsame Vorstellung der zukünftigen Landwirt-                     die Landwirtschaft? Loccumer Landwirtschaftstagung 2020.
                                                                     Rehburg-Loccum 2021 und Zukunftskommission Landwirt-
schaft entwickeln. Insgesamt ist eine sektorenverkop-
                                                                     schaft: Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaftliche
pelnde Strategie erforderlich, die verschiedene Interes-             Aufgabe. Berlin 2021.
sen (gesunde Ernährung, Klima- und Umweltschutz,                   8 M. Bauchmüller: Schweinesystem. In: Süddeutsche Zeitung vom
soziale Gerechtigkeit) zusammenbindet und kollektive                 15. September 2021 (www.sueddeutsche.de/meinung/krisen-
                                                                     gipfel-schweinehaltung-tierwohl-1.5411535).
Lernprozesse organisiert. Dazu gehören Reallabore, in
denen eine integrierte Agrar- und Umweltpolitik auf
regionaler und lokaler Ebene erprobt wird.

Das Thema im Kritischen Agrarbericht                                                   Prof. Dr. Rolf G. Heinze
X Jan Douwe van der Ploeg: Die Bauern und »die Anderen«. Über                          Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-­
  Bauernrevolte und Populismus in den Niederlanden und Frank-                          Universität Bochum, von 1988 bis 2021 Lehr-
  reich. In: Der kritische Agrarbericht 2021, S. 81–87.                                stuhl für Allgemeine Soziologie, Arbeit und
X Es geht nur gemeinsam ... Gespräch mit Georg Janßen über die                         ­Wirtschaft, seit SS 2021 Seniorprofessur.
  neuen bäuerlichen Protestbewegungen. In: Der kritische Agrar-
  bericht 2021, S. 83–85.                                                              rolf.heinze@rub.de

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