Beitrag: Trotz Gesetz kein Mindestlohn-Manuskript - ZDF

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Manuskript

Beitrag: Trotz Gesetz kein Mindestlohn –
             Ausgetrickste Arbeitnehmer

Sendung vom 15. Mai 2018

von Asli Özarslan

Anmoderation:
8,84 Euro die Stunde, das ist der gesetzliche Mindestlohn. Das
Minimum. Darunter geht nichts, meint auch der neue
Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD und kündigt schon mal
ein „darüber“ an. Anfang kommenden Jahres soll der
Mindestlohn erhöht werden. Um wie viel, darüber berät bald eine
Kommission. Nur wären viele Arbeitnehmer schon über die 8,84
Euro froh. Denn der Mindestlohn gilt zwar vor dem Gesetz für
alle, und trotzdem bekommt ihn längst nicht jeder. Von wegen,
darunter geht nichts. Asli Özarslan zeigt, wie Arbeitnehmer
ausgetrickst und um den Mindestlohn betrogen werden.

Text:
Seit 20 Jahren fährt Burkhard Zitschke Taxi in Berlin. Oft gab es
nur fünf Euro die Stunde. Deshalb musste Zitschke bis zu zwölf
Stunden am Tag arbeiten, um über die Runden zu kommen.
Er hatte gehofft, der gesetzliche Mindestlohn würde das ändern.

O-Ton Burkhard Zitschke, Taxifahrer:
Mit dem Mindestlohn, habe ich gedacht, kann ich das
reduzieren auf die acht Stunden am Tag, die üblich sind,
sechs Tage die Woche. Aber wenn er einem nicht gezahlt
wird, funktioniert das auch nicht.

Denn viele Taxiunternehmen zahlen bis heute den Mindestlohn
nur auf dem Papier - und das hat Methode: Zum Beispiel werden
Wartezeiten als Pausenzeit gerechnet und nicht bezahlt.

Der Trick läuft über das Taxameter. Burkhard Zitschke hat das
gefilmt. Nach drei Minuten Standzeit springt das Taxameter
automatisch auf Pause, ob beim Warten, Reinigen des Autos
oder Tanken. Dieser sogenannte Bereitschaftsdienst wird nicht
vergütet. Erst wenn das Auto wieder fährt, schaltet das
Taxameter in Betriebsmodus.
Wir haben bei seinem ehemaligen Arbeitgeber nachgefragt. Keine
Antwort.

Gerhard Bosch forscht seit Jahren zum Mindestlohn und kritisiert
die Umgehungsstrategien:

O-Ton Prof. Gerhard Bosch, Arbeitsmarktexperte, Universität
Duisburg-Essen:
Wenn ein Taxifahrer am Flughafen oder am Bahnhof steht
und wartet, dann ist das Arbeitszeit. Er ist in Bereitschaft und
jederzeit kann ein Kunde kommen, und diese Zeit muss
bezahlt werden. Wenn es so gemacht wird, dass diese
Wartezeiten nicht mehr bezahlt werden, ist das eindeutig
illegal und verstößt gegen das Mindestlohngesetz.

Vor einem Jahr klagte ein anderer Berliner Taxifahrer wegen des
Tricks mit dem Taxameter und gewann vor dem Arbeitsgericht.
Doch viele Taxifahrer erzählen, geändert habe das Urteil wenig.

Burkhard Zitschke will nur noch Taxi fahren, wenn er Mindestlohn
bekommt. Bisher hat das nicht geklappt. Also kämpft er für sich
und andere für besseren Lohn.

O-Ton Burkhard Zitschke, Taxifahrer:
Die Bezahlung muss wieder so sein, dass wir vernünftig
davon leben können.

O-Ton Taxifahrer:
Was verdienen Sie da, vielleicht fünf Euro oder vier Euro
oder was weiß ich? Das ist eine Schande, wenn man zehn
oder acht Stunden am Tag arbeiten muss und dann trotzdem
auf Hartz IV angewiesen ist, ja. Das ist eine Schande für
Deutschland und auch für dieses Gewerbe.

Dabei hatte die vorherige Bundesregierung Anfang 2015 den
Mindestlohn gesetzlich vorgeschrieben, um Lohndumping zu
verhindern. Die SPD war stolz darauf:

O-Ton Andrea Nahles, SPD, ehemalige
Bundesarbeitsministerin, am 9.4.2015:
Ich halte den Mindestlohn für einen Erfolg. Wir haben im
Prinzip viele Million Menschen jetzt jeden Monat besser
gestellt.

Doch auch drei Jahre danach halten sich Unternehmen nicht an
das Gesetz.

O-Ton Prof. Thorsten Schulten, Hans-Böckler-Stiftung:
Wir müssen leider feststellen, dass es hier noch sehr viele
Verstöße gibt. Und da ist die Politik gefordert, dass der
Mindestlohn tatsächlich auch umgesetzt wird.
Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Mehr als 2,2
Millionen Menschen erhalten nach wie vor keinen Mindestlohn.
Betroffen vor allem: Beschäftigte in Gaststätten und Hotels,
Angestellte im Einzelhandel oder auf dem Bau und in der
Gebäudereinigung.

O-Ton Prof. Gerhard Bosch, Arbeitsmarktexperte, Universität
Duisburg-Essen:
Die Unternehmen sind zum Teil sehr erfindungsreich, den
Mindestlohn zu umgehen, vor allem in der Arbeitszeit, also,
die Arbeitszeit, die dokumentiert wird. Die Leute müssen
länger arbeiten, sie bekommen Zielvorgaben wie zum
Beispiel Anzahl von Räumen in Hotels, die zu reinigen sind
oder Quadratmeter, die zu putzen sind, die einfach in der
Arbeitszeit nicht zu schaffen sind.

Andreas Döhnert hat das erlebt.

O-Ton Andreas Döhnert, Gebäudereiniger:
In den letzten 15 Jahren in Berlin habe ich zum Beispiel
hinten im Bereich Charité, da waren zwei Schulobjekte,
gearbeitet. Dann war hier in der Nähe, in der Wilhelmstraße,
ein kleines Ministerium, wo ich dann früh morgens gearbeitet
habe.

Normalerweise, sagt Döhnert, lassen sich um die 500
Quadratmeter in einer Stunde problemlos reinigen. Doch von ihm
und seinen Kolleginnen sei oft das dreifache Pensum verlangt
worden - in der regulären Arbeitszeit nicht zu schaffen. „Turbo-
Putzen“ nennt das die Branche.

O-Ton Andreas Döhnert, Gebäudereiniger:
Hat auch die Gesundheit dann angegriffen. Und das ist in
den letzten Jahren auch nicht spurlos an mir
vorbeigegangen.

Die viele Mehrarbeit wurde ihm nicht bezahlt - weder der
tarifliche, noch nicht mal der gesetzliche Mindestlohn. Nachfrage
bei seinem ehemaligen Arbeitgeber. Wieder keine Antwort.

Andreas Döhnert wehrte sich gegen das Lohndumping, klagte vor
Gericht.

O-Ton Andreas Döhnert, Gebäudereiniger, Insert links
Ich bin voller Stolz, weil hier habe ich viele, ganz großartige
Momente erlebt, weil ich konnte meine Ansprüche hier alle
geltend machen, durchsetzen. Und die sind mit von jedem
einzelnen Arbeitsrichter bestätigt worden.

Nur wenige trauen sich vor Gericht zu kämpfen - allein gegen den
Arbeitgeber.
Um überall den Mindestlohn durchzusetzen, sollten die
zuständigen Behörden schärfer kontrollieren, fordert der
Deutsche Gewerkschaftsbund. Verantwortlich dafür ist der Zoll
mit seiner Finanzkontrolle Schwarzarbeit.

O-Ton Stefan Körzell, Bundesvorstand, Deutscher
Gewerkschaftsbund (DGB):
Wir fordern bis zu 3.500 mehr Beschäftigte bei der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit, damit massiv kontrolliert
werden kann. Weil hier geht es nicht um ein Kavaliersdelikt,
sondern hier geht es um kriminelle Arbeitgeber.

Doch der Zoll sieht keinen Handlungsbedarf. Auf Anfrage von
Frontal 21 teilt die Behörde mit,

Zitat:
„… gemäß Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz ist die
personelle und sachliche Ausstattung (…) angemessen. Dies
gilt auch für die Prüfung und Ermittlung zur Einhaltung des
Mindestlohns.“

Dieser Inhaber einer niedersächsischen Reinigungsfirma meint,
selbst die öffentliche Hand sei beteiligt am Lohndumping. Ein
Grund: Viele Städte und Gemeinden vergeben regelmäßig
Aufträge an den günstigsten Anbieter.

Der Unternehmer möchte unerkannt bleiben. Er befürchtet,
Aufträge zu verlieren.

O-Ton Inhaber, Reinigungsfirma, Originaltext
nachgesprochen:
Um bei den großen öffentlichen Ausschreibungen mithalten
zu können, müsste ich pro Mitarbeiter die zu leistende
Quadratmeterzahl erhöhen. Aber das „Turbo-Putzen“ mute
ich meinen Leuten nicht zu.

Weil er Übertarif bezahle, sei er regelmäßig unterboten worden.
Deswegen habe er einige seiner Mitarbeiterinnen entlassen
müssen.

O-Ton Prof. Gerhard Bosch, Arbeitsmarktexperte, Universität
Duisburg-Essen:
Die öffentliche Hand hat eine riesige Verantwortung, sie ist
eine der größten Auftraggeber im ganzen Land für viele, viele
Dienstleitungen. Und ich weiß, dass die meisten Kommunen
immer den billigsten Anbieter nehmen. Und man weiß zum
Teil vorher, dass mit den Preisen, die angeboten werden, der
Mindestlohn gar nicht bezahlt werden kann.

Nürnberg. Der neue Arbeitsminister Hubertus Heil auf dem
Jahrestreffen der Arbeitnehmervertretung der SPD. Heil redet
ausführlich über Solidarität:
O-Ton Hubertus Heil, SPD, Bundesarbeitsminister:
Wir sind ein starkes und ein reiches Land. Aber es gibt
Leute, denen geht‘s nicht gut, und der alte Satz, jeder ist
seines Glückes Schmied, stimmt nicht. Manchmal hat der
Schmied einfach auch kein Glück gehabt und braucht dann
die Solidarität und Hilfe der Gesellschaft.

Nach 20 Minuten Rede - ein Eingeständnis des Arbeitsministers
in Sachen Mindestlohn:

O-Ton Hubertus Heil, SPD, Bundesarbeitsminister:
Und das heißt, dafür zu sorgen, dass wir nicht nur den
Mindestlohn haben, der übrigens mehr durchgesetzt werden
muss, wir haben immer noch viel zu viele
Umgehungstatbestände.

Drei Jahre gesetzlicher Mindestlohn, doch nach wie vor
bekommen Millionen Menschen nicht, was ihnen zusteht, weil
Arbeitgeber tricksen und betrügen.

Der Vorsitzende der SPD-Arbeitnehmervertretung fordert ein
härteres Durchgreifen seines Arbeitsministers:

O-Ton Klaus Barthel, SPD, Bundesvorsitzender der
Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen:
Da sehen wir auch erheblichen Handlungsbedarf, politischen
Handlungsbedarf. Denn ein Staat, der nicht bereit ist oder in
der Lage ist, seine eigenen Gesetze durchzusetzen, ist ein
schwacher Staat. Und das ist genau das, was wir in diesem
Bereich überhaupt nicht brauchen können.

Burkhard Zitschke kämpft weiter um einen Job mit gerechter
Bezahlung - bisher ohne Erfolg. Andreas Döhnert ist es leid, vor
Gericht zu ziehen - für den Mindestlohn.

Abmoderation:
Der Mindestlohn ist Gesetz und muss vom Staat durchgesetzt
werden. Eigentlich. Doch wie gesehen, stehen Arbeitnehmer, die
den Mut haben, gegen Lohndumping zu kämpfen, oft allein. Sie
verlieren sogar ihren Job – und der Staat schaut zu.
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