Über Bildung, Spiel und Sprache in der frühen Kindheit

 
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Über Bildung, Spiel und Sprache in der frühen Kindheit
Gerd E. Schäfer     Über Bildung, Spiel und Sprache       Teil1           1

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1. Bildungsprozesse ab der Geburt

Pädagogik als Ermöglichung von Beteiligung

Nicht die Vermittlung von Werten, von Wissen oder sozialen Modellen begründet mein
Verständnis von Pädagogik, sondern der Gedanke der Beteiligung: Menschen von
Geburt an die Beteiligung am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen.
Aus dieser Perspektive beschränkt sich Beteiligung nicht auf eine mehr oder weniger
institutionalisierte Sozialform - wie z.B. Kinderparlament, Morgenkreis - sondern ist
eine Frage jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Jede Beziehung kann daraufhin
befragt werden, ob sie die Beteiligungsmöglichkeiten eines Menschen erweitert,
beschränkte oder von sozialen Bedingungen abhängig macht. So gesehen beginnt
Beteiligung an der Mutterbrust. Die Prozesse des Stillens oder des Fütterns machen
bereits deutlich, dass es hier nicht um ein Geben und Nehmen geht, sondern um eine
wechselseitige Abstimmung, bei der das Kind in die Lager versetzt wird, seine
Möglichkeiten des Saugens mit den Bedingungen der Fütterungssituation
abzustimmen.
Beteiligung geht davon aus, dass Kinder von Anfang an aktive, nicht nur lernfähige,
sondern neugierige und lernwillige Wesen sind. Ohne diese Lernfähigkeit und
Lernwilligkeit könnte kein menschliches Wesen überleben. Es ist darauf angewiesen,
weil es nur auf diese Weise die Bedingungen kennenlernt, unter welchen es
aufwachsen wird. Doch diese Lernwilligkeit und -fähigkeit bezieht sich nicht auf
Lernsituationen, die von Erwachsenen dafür definiert und vorbereitet werden, sondern
auf einen Alltagskontext, in dem immer wieder Neuigkeiten erwartet werden.1
       Bildung ist das Potenzial eines Menschen, mit welchem er sich
       an seiner sozialen und kulturellen Um-Welt beteiligen kann.
       Bildung beginn so gesehen spätestens mit der Geburt.

Die Besonderheit der frühkindlichen Bildungssituation

Die Besonderheit der frühkindlichen Bildungssituation liegt darin, dass sie sich -
anders als die Schulpädagogik - zunächst nicht auf die kulturell und institutionell
bevorzugten Formen der Tradierung von Können und Wissen beziehen kann. Es macht
wenig Sinn, einem Säugling etwas zu „vermitteln“. Den Kindern fehlen in diesem
frühen Alter die geistigen Strukturen, die man braucht, um fertiges kulturelles Können
und Wissen aufzunehmen. Vor allem fehlen die Voraussetzungen, Können oder Wissen
oder Kompetenzen zum Zwecke des Lernens aus ihrem Kontext zu isolieren und sich
über einen systematischen Wissensaufbau anzueignen.
Kein Kind macht uns klarer, als ein Säugling, dass alle pädagogischen Bemühungen
am Körper und insbesondere am Kopf des Kindes enden. Dies vor allem deshalb, weil
junge Kinder uns noch nicht in unseren Absichten entgegenkommen. Alles was der

1Wenn Kinder uns anders erscheinen, müssen wir uns fragen, was wir getan haben,
um diese Neugier und Lernwilligkeit zu verhindern.
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Körper und der Kopf des Kindes tun, liegt ausschließlich in der Regie des Kindes.
Wenn wir bei Kindern etwas erreichen wollen, müssen wir uns mit ihnen verbünden.2
In der frühen Kindheit ist also jede Alltagssituation eine Bildungssituation. In diesem
Alltag finden Kinder Ereignisse, die sie noch nicht kennen und die ihnen daher
interessant erscheinen. Deshalb besteht die erste Aufgabe im Bereich frühkindlicher
Bildung darin, diesen Alltag so zu strukturieren, dass sie sich daran beteiligen und
ihrer Neugier folgen können.
Es ist das kindliche Erfahrungslernen, welches seinen Bildungsprozessen zugrunde
liegt.

Bildung braucht eine Kultur der Lernens

Bildungsprozesse bilden die Grundlage der Selbstbildungspotenziale. Dabei sind
Selbstbildungspotenziale die Möglichkeiten, die ein Individuum zu einem Zeitpunkt
seines Lebens dafür einsetzen kann, aus eigener Kraft Aufgabenstellungen zu
bewältigen. Aber das reicht nicht aus. Welche Bildungsprozesse möglich sind, wird
nicht nur durch das bestimmt, was die Kinder selbst dafür einsetzen können, sondern
ebenso durch Faktoren in seiner Umwelt, die den Einsatz ihrer
Selbstbildungspotenzialen erschweren, erleichtern oder in bestimmte Richtungen zu
lenken vermögen. Es sind unterschiedliche soziale Beziehungen - soziale Potenziale -
welche die Bildungsprozesse unterstützen oder behindern. Sachstrukturen
unterscheiden sich und sprechen auf verschiedene Verarbeitungsweisen an -
Sachpotenziale. Eine ästhetische Aufgabenstellung stellt andere Aufgaben, als eine
sprachliche oder eine mathematische. Die institutionelle Ausstattung, didaktische
Konzepte oder finanzielle Rahmenbedingungen beeinflussen ebenfalls die Initiierung
von Bildungsprozessen - Strukturpotenziale. Schließlich gibt es unterschiedliche
kulturelle Auffassung, die die Alltagswirklichkeit, die weltanschaulichen,
erkenntnistheoretischen oder sachlichen Bezüge prägen und damit unterschiedliche
Voraussetzung für Bildungsprozesse betonen - kulturelle Potenziale.
Bildungsprozesse können also nicht als individuelle Prozesse betrachtet werden,
sondern sind ein Ergebnis sozialer, institutioneller, sachlicher und kultureller
Herausforderungen oder Einschränkungen. Deshalb genügt es nicht, frühkindliche
Bildungsprozesse nur als individuelle Prozesse in Blick zu nehmen und zu
unterstützten, wie es das Konzept der Kompetenzvermittlung tut. Vielmehr geht es um
die Schaffung einer „Kultur des Lernens“, in die, neben den Kindern, die Eltern und
Erzieherinnen, die Verantwortlichen in den Institutionen, den öffentlichen Einrichtungen
und in der Sozial- und Bildungspolitik einbezogen sind. Wir alle sind dafür
verantwortlich, dass Kinder, gleich welcher Herkunft und gleich welcher sozialer
Bedingungen, in die Lage versetzt werden sich am sozialen und kulturellen Leben so
zu beteiligen, dass ein kulturelles Wachstum unterstützt wird.

2Die Pädagogik kennt zwei gegensätzliche Weisen, sich die Mitarbeit der Kinder zu sichern.
Beide sind ungewiss. Die eine besteht darin, über normative Regelungen mehr oder weniger
subtil Druck auszuüben. Die andere bevorzugt, sich mit den Kindern über die gemeinsamen
Absichten zu verständigen. Es versteht sich, dass eine Pädagogik, die Beteiligung anstrebt,
nicht von normativen Weisen des Drucks ausgeht, sondern von einem Bemühen um
wechselseitige Verständigung.
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2. Erfahrungslernen

Dokumentation 1 : Jarne und die Linsen
Dokumentation: Petra Figur
Kita Rasselbande, Hamburg
die Dokumentation wurde leicht verändert

Seit Juli 2009 beschäftigt sich Jarne, 2,11 Jahre, immer wieder sehr intensiv mit
unserenLinsen.

Hier schaufelt er die Linsen in eine große Schüssel
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Jarne hantiert immer wieder mit den Linsen. Dazu benutzt er einen Trichter und einen
Schlauch. Er steckt den Schlauch von oben in den Trichter und zieht ihn unten heraus.
Inzwischen werden verschiedenartige Gefäße gefüllt. Dazu nimmt er den Trichter zu
Hilfe

Um die Linsen gänzlich aus dem Schlauch zu entfernen pustet Jarne in das
Schlauchende hinein.
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Dann kommt der Trichter ohne Schlauch zum Einsatz. Jarne hat bemerkt, dass durch
das hinein Pusten im Schlauch Feuchtigkeit entstanden ist.

Durch unsere vielfältigen Beobachtungen wurde uns sehr deutlich, dass unsere
Linsenkiste nicht genügend Entfaltungsmöglichkeit bietet. Also haben wir uns einen
Linsentisch bauen lassen. Er ist 120cmx80cm groß. Die Tischbeine sind auf zwei
verschiedene Höhen verstellbar.

Jarne untersucht die Kaffeemühle. Er schaut sich genau an, wo die gemahlenen
Linsen heraus kommen.
Sehr gezielt füllt er die Mühle immer wieder auf. Achtet darauf, dass sie immer ganz
voll ist und schließt danach die Öffnung.
Manchmal, wenn es zu schwer geht, dreht er auch rückwärts und kommentiert dieses
Tun: „ Sie klemmt, deshalb muss ich mal anders rum drehen“. Dann dreht er wieder
vorwärts und freut sich, dass es wieder besser funktioniert.

                                                     Immer wieder wird die Menge
                                                     überprüft und dann weiter
                                                     gemahlen. Dabei spricht er mit
                                                     mir: „ Guck mal, nur noch so
                                                     wenig. Gleich muss ich wieder
                                                     neue rein machen“.
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Dies geschieht auf die unterschiedlichste Weise. Mit geöffnetem Mund füllt er die
Mühle und achtet sehr genau darauf, sein Ziel nicht zu verfehlen. Diesmal nutzt er
einen Messbecher. Er ist hochkonzentriert.
Es gefiel ihm wohl nicht, dass er einige Linsen verschüttete. Daher holt er sich wieder
einen Trichter zur Hilfe.

Nun wird der Trichter auch zum Befüllen der Mühle benutzt.
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Nachdem Jarne lange Zeit die Linsen mit der Kaffeemühle zerkleinert hat, kommt er
auf die Idee, sie mit einer Pfeffermühle zu mahlen.
Er stellt fest, dass dort sehr viel weniger Linsen hinein passen

Auch hier wird genau darauf geachtet, dass die Pfeffermühle immer wieder zu
gemacht wird, bevor es ans Mahlen geht.

Immer wieder wird die Pfeffermühle befüllt, hier direkt aus der Schublade der
Kaffemühle.
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Dann wird gedreht und genau geschaut was dabei heraus kommt.
Wie sieht so eine Pfeffermühle eigentlich von unten aus und wo kommt das Mahlgut
heraus?

Das feine Linsenmehl wird in einem Glas gesammelt und stolz gezeigt. „ Guck mal
Petra, so sieht das jetzt aus, soll ich noch mehr machen?“
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Ich fasse zusammen:

• Erfahrungen werden gesammelt.
• Erfahrungen werden wiederholt und bilden einen Kern von gleichbleibenden
  Zusammenhängen, Ereignismustern.
• Durch Wiederholung in abgewandelten, vergleichbaren Situationen werden
  Erfahrungen ausdifferenziert und
• über die bisherigen Grenzen hinaus erweitert.
• Dadurch erweitert sich ihr bisheriges Gebrauchs- und Anwendungsspektrum.
• Erfahrungen sammeln braucht Gelegenheit, Zeit und einfühlsame Unterstützung.

Struktur des Erfahrungslernens

• Gelernt wird in alltagsbezogenen Ereigniszusammenhängen
• Diese Ereignisse sind durch ihre Handlungszusammenhänge bedeutungsvoll
  strukturiert. Es sind die Emotionen, welche die subjektiven Bedeutungen markieren.
• Durch die Wiederholung von gleichartigen Ereigniszusammenhängen ergeben sich
  typische Ereignismuster mit vergleichbaren emotionalen Bewertungen.
• Bewähren sich solche typischen Ereignismuster im Kontext der kindlichen
  Lebenswelt, entwickelt sich, zum einen, daraus ein „gebrauchsfertiges
  Handeln“ (Sennet), das in ähnlichen Situationen immer wieder verwendet werden
  kann. In diesen gebrauchsfertigen Handlungsmustern sind sachliche, soziale und
  emotionale Zusammenhänge integriert.
• Diese Erfahrungen aus vertrauten Ereignismustern werden aber auch dazu
  verwendet, um sich in neuen Situationen zu orientieren. Es werden die
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 Erfahrungen zum Ausgangspunkt genommen, die der neuen Situation am meisten
 ähneln. Gelingt dies, können sie variiert und so lange verändert werden, bis sie
 besser auf die neue Situation passen.
• Durch die Verwendung der früheren Erfahrungsmuster in neuen
  Erfahrungszusammenhängen werden diese Erfahrungsmuster immer weiter
  differenziert und ver-viel-fältigt.
• Diese Erfahrungsmuster sind der Ausgangspunkt für Abstraktionen. Durch
  Abstraktion werden einzelne Elemente von Erfahrungszusammenhängen aus diesen
  herausgelöst und zu Fakten gemacht.
• Das Erfahrungslernen folgt einer anderen Logik, als ein systematisches kulturelles
  Lernen, wie es für die Schule typisch ist, einer evolutionären Logik. Ich spreche von
  einer Evolution der Erfahrung im Gegensatz zu einem systematischen Lernaufbau
  bei der Vermittlung von Kompetenzen, Können oder Wissen.

Pädagogische Möglichkeiten, das Erfahrungslernen zu unterstützen

Im wesentlichen gibt es fünf Möglichkeiten, dieses Erfahrungslernen zu
unterstützen:
• Gestaltung der Räume, drinnen und draußen, zu Erfahrungsräumen, die die Neugier
  der Kinder hervorlocken. Dazu gehören auch anregende Materialien und Werkzeuge,
  die von den Kindern selbständig genutzt werden können.
• Strukturierung oder - in Anlehnung an Bruner - Rahmung des kindlichen Tuns - also
  alles, was man tun kann, diese Um-Welt so zu gestalten, dass die jungen Kindern
  darin selbst tätig werden können.
• Modelle, welche den Kindern zu mimetischem Lernen zur Verfügung stehen. Dazu
  gehört, dass sich Erwachsene am gemeinsamen Tun beteiligen und Möglichkeiten
  unterstützen, beziehungsweise schaffen, dass Kinder auch von anderen Kindern
  Handlungsmöglichkeiten nachahmend übernehmen können.
• Gestaltung von sozialen Beziehungen, die das Kind in seinen neugierigen
  Bildungsbemühungen bestärken (Gemeinsam geteilte Erfahrung, Empathie,
  Resonanz).
• Gestaltung von Zeitstrukturen und -verläufen. Das meint zum einen eine flexible
  zeitliche Strukturierung des Alltags, so dass Kinder ihre eigenen Rhythmen finden
  können. Zum anderen haben Erwachsene die Aufgabe,den Kindern den Zeitrahmen
  zu sichern, den sie für die selbständige Bewältigung von Aufgabenstellungen
  benötigen (Pädagogik des Innehaltens).
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