Berliner Debatte Initial - Universität Stuttgart

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Berliner Debatte
            Initial

                                      1
24. Jg. 2013
                                   Bildung und
                                     Biologie
                                                         Becker
                                  ADHS aus Sicht
                              von Experten und Eltern
Salaschek
                                    Bildgebende
                                   Hirnforschung
                                                         Busch
                              „Gold“ in Leben und Werk
                                 Richard Wagners
Flige u.a.
                                   Leben mit dem
                                 Stalinschen Terror
                                                          Koch
                                     Wohlfahrt
elektronische Sonderausgabe
ISBN 978-3-941880-56-6            ohne Wachstum
© www.berlinerdebatte.de
Berliner Debatte Initial 24 (2013) 1
                    Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal

© Berliner Debatte Initial e.V., Vorsitzender Erhard    Berliner Debatte Initial erscheint bei WeltTrends,
Crome, Ehrenpräsident Peter Ruben.                      c/o Universität Potsdam, August-Bebel-Straße 89,
Berliner Debatte Initial erscheint viermal jährlich.    D-14482 Potsdam, Tel. +49/331/977 45 40, Fax
                                                        +49/331/977 46 96
Redaktionsrat: Harald Bluhm, Wladislaw Hedeler,
Cathleen Kantner, Rainer Land, Udo Tietz, Andreas       Preise: Einzelheft: 15 €
Willisch.                                               Jahresabonnement: 40 €, Institutionen 45 €,
                                                        Studenten, Rentner und Arbeitslose 25 €.
Redaktion: Ulrich Busch, Erhard Crome, Wolf-            Ermäßigte Abos bitte nur direkt bei Berliner Debatte
Dietrich Junghanns, Raj Kollmorgen, Thomas Müller,      Initial bestellen. Nachweis (Kopie) beilegen. Das
Dag Tanneberg, Matthias Weinhold.                       Abonnement gilt jeweils für ein Jahr und verlängert
Redaktionelle Mitarbeit: Jonas Frister, Robert Stock,   sich um jeweils ein Jahr, wenn nicht sechs Wochen
Johanna Wischner.                                       vor Ablauf gekündigt wird.

Verantwortlicher Redakteur: Jan Wielgohs, in            Bestellungen Einzelhefte und Abos im Webshop
Vertretung Thomas Müller. V.i.S.P. für dieses Heft:     oder per E-Mail: bestellung@welttrends.de
Jonas Frister und Thomas Müller.                        Bestellungen Pdf im Webshop oder per E-Mail:
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                           Bildung und Biologie
            Zusammengestellt von Jonas Frister und Thomas Müller

Editorial                               3   Nebenschwerpunkt:
                                            Leben mit dem Stalinschen Terror
                                            Zusammengestellt von Wladislaw Hedeler
Ulrich Busch
„Das Gold ist schuld!“                      Irina Anatoljewna Flige
Zur Rolle des Geldes im Leben               Denkmale für die Opfer
und im Werk Richard Wagners             6   des Sowjetterrors.
                                            Eine Bestandsaufnahme                     80

Schwerpunkt:                                Alexander Dawydowitsch Margolis
Bildung und Biologie.                       Orte der Erinnerung an den Terror
Die pädagogische Präsenz                    in Sankt Petersburg und
biowissenschaft­lichen Wissens              im Leningrader Gebiet                     88

Thomas Müller                               Anatolij Rasumow
Erziehung auf                               Zur Geschichte des
biowissenschaftlicher Grundlage?            Gedenkfriedhofes Lewaschowo               93
Aktuelle Tendenzen der Natura-
lisierung im pädagogischen Feld        24   Lew Gudkow
                                            Spiele mit Stalin: Über das
Nicole Becker                               Legitimationsdefizit des Putin-Regimes    99
Grenzgänge zwischen Pädagogik
und Psychiatrie: ADHS aus Sicht
von Experten und Eltern                35                        ***
                                            Max Koch
Jonas Frister                               Wohlfahrt ohne Wachstum.
Die Hirnforschung                           Theoretische Debatte und
aus der Sicht von Praktikern           51   sozialpolitische Implikationen           109

Ulrich Salaschek                            Mario Neukirch
Bildgebende Hirnforschung                   Offshore-Windkraft als
zwischen Hype und Kritik.                   Plan B der Energiekonzerne?              125
20 Jahre funktionelle
Magnetresonanztomographie              64   Oliver Neun
                                            Die Geburt des amerikanischen
                                            „Neokonservatismus“.
                                            Daniel Bell, Michael Harrington
                                            und die Zeitschrift „Dissent“            137
2                                                 Berliner Debatte Initial 24 (2013) 1

Besprechungen und Rezensionen           Wladislaw Hedeler
                                        Zwei unangepasste Intellektuelle:
Michael Nedo (Hg.):                     Karl Radek und Chaim Zhitlowsky          154
Ludwig Wittgenstein.
Ein biographisches Album                Gunther Teubner:
Rezensiert von Mariele Nientied   148   Verfassungsfragmente.
                                        Gesellschaftlicher Konstitutionalismus
Wolfgang Uwe Eckart:                    in der Globalisierung
Medizin in der NS-Diktatur.             Rezensiert von Oliver Römer            157
Ideologie, Praxis, Folgen
Rezensiert von Regina Casper      151   Autoren                                  162
Berliner Debatte Initial 24 (2013) 1                                                           3

                                       Editorial

Was bedeutet es, dass Neurobiologen in           haben zugleich eine politische Dimension, da
Fern­sehtalkshows als Experten für Bildung       Sachfragen auch Machtfragen sind. Darum
und Erziehung auftreten? Was bedeutet es,        lässt sich die inhaltliche Frage nach der päd-
dass Kritiker der Institution Schule auf die     agogischen Relevanz biowissenschaftlichen
Hirnentwicklung von Heranwachsenden ver-         Wissens nicht von der Frage trennen, welche
weisen, wenn sie für Veränderungen werben?       Wissenschaften als Produzenten legitimen
Was bedeutet es, dass immer mehr Kinder          Wissens über Bildung und Erziehung ak-
und Jugendliche die Diagnose erhalten, an        zeptiert werden und Zuständigkeit für die
einer biologisch bedingten Aufmerksam-           institutionalisierte pädagogische Praxis bean-
keits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu          spruchen dürfen. Gerade in diesen Punkten
leiden, die medikamentös zu behandeln ist?       scheint die Erziehungswissenschaft heute
Was bedeutet es, dass Bildungsreformer           Konkurrenz von den Biowissenschaften zu
Methoden und Erkenntnismuster aus den            bekommen, wobei vor allem Neurowissen-
Biowissenschaften und der Medizin als            schaftler versuchen, ihr Wissensgebiet als
neuen Maßstab pädagogischer Forschung            alternative Pädagogik zu etablieren.
empfehlen?                                           Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich
    Die angesprochenen Phänomene sind            Pädagogik und Biologie gegenwärtig nicht
zu­nächst einmal zeitdiagnostisch interessant.   zum ersten Mal begegnen. Deutlich wird dies
Sie legen den Schluss nahe, dass biowissen-      am modernen Bildungsbegriff, der für biolo-
schaftliches Wissen im pädagogischen Feld        gisch-organologische Interpretationen offen
an Präsenz gewinnt. Das Spektrum reicht          ist. Johann Friedrich Blumenbachs anthro-
dabei von massenmedialen und populär-            pologische Schrift über den „Bildungstrieb“
wissenschaftlichen Darstellungen über die        (1781) oder Goethes bekannter Ausspruch,
institutionalisierte pädagogische Praxis und     Bildung sei „geprägte Form, die lebend sich
die Lebenswelten von Eltern und Kindern          entwickelt“, sind frühe Beispiele hierfür.
bis zur Erziehungswissenschaft als Disziplin.    Auch die Reformpädagogik um 1900 schreibt
Die Phänomene deuten auch auf systema-           sich auf die Fahnen, Pädagogik und Biologie
tische Probleme, die mit der Verbindung          miteinander zu verbinden. Dass die Biologie
von Bildung und Biologie einhergehen.            dabei Vorrang hat, stellt etwa Ellen Key klar,
Sie beziehen sich u. a. auf das Verhältnis       wenn sie in ihrem Buch „Das Jahrhundert des
verschiedener Formen wissenschaftlichen          Kindes“ die „Umwandlung der Pädagogik in
und nicht-wissenschaftlichen Wissens, das        psycho-physiologische Naturwissenschaft“
Verständnis pädagogischer Professionalität,      propagiert. Für Key ist empirische Forschung
die Abgrenzung zwischen „normalem“ und           naturwissenschaftlicher Art der Schlüssel
„pathologischem“ Verhalten und die diszi-        dazu, „etwas über die wirkliche Natur des
plinäre Identität einer Wissenschaft von der     Kindes zu wissen“ und falsche Vorstellungen
Erziehung. Diese systematischen Probleme         über Bildung und Erziehung auszuräumen. In
4                                                             Berliner Debatte Initial 24 (2013) 1

der aktuellen Bildungslandschaft stößt man          Rezeptwissen bis zur Rechtfertigung eige-
auf ähnliche Argumente, um Verbindungen             ner pädagogischer Überzeugungen reicht.
von Bildung und Biologie zu plausibilisieren.       Ulrich Salaschek lenkt schließlich den Blick
In der Erziehungswissenschaft hat man die           zurück auf biowissenschaftliche Deutungsan-
Frage nach Nutzen und Nachteil der Bio-             gebote. Seine These ist, dass die bildgebende
wissenschaften für die Pädagogik in den             Hirnforschung den Menschen als neuronale
letzten Jahren intensiv erörtert. Gleichwohl        Maschine begreift – ein Menschenbild, das
steckt diese Diskussion in einer Sackgasse,         etwa bei der zunehmenden Einnahme von
in der diejenigen, die biowissenschaftliche         Psychopharmaka handlungswirksam wird.
Perspektiven auf Bildung und Erziehung                  Der erste Beitrag dieses Heftes ist einem
unbedingt stärken möchten, und diejeni-             ganz anderen Thema gewidmet: Richard
gen, die diese Entwicklungen ablehnen, auf          Wagner, vor 200 Jahren, am 22. Mai 1813,
ihren Standpunkten beharren und zusehends           in Leipzig geboren und vor 130 Jahren in
aneinander vorbeireden.                             Venedig gestorben, war das größte Musik-
    Genau an dieser Stelle setzen die Beiträ-       genie des 19. Jahrhunderts, ein Künstler
ge des Themenschwerpunkts an. Jenseits              von europäischem Rang und von säkularer
rhetorischer Auseinandersetzungen geht              Bedeutung. Aus Anlass des diesjährigen
es ihnen darum, kritische Perspektiven              Wagner-Jubiläums eröffnen wir den neuen
auf die pädagogische Präsenz der Biowis-            Jahrgang mit einem Essay von Ulrich Busch,
senschaften zu entwickeln und Aspekte               der die Rolle des Geldes im Werk Wagners
anzusprechen, die bislang kaum Beachtung            sowie dessen Verhältnis zu Geld, Kredit und
fanden. Die Beiträge gehen zurück auf ein           Schulden zum Gegenstand hat.
Forschungsforum, das im März 2012 auf dem               Im Nebenschwerpunkt präsentieren wir
23. Kongress der Deutschen Gesellschaft             vier Beiträge, die sich mit der Bewältigung
für Erziehungswissenschaft in Osnabrück             des Stalinschen Terrors im heutigen Russland
stattfand. Unter der leitenden Frage, wie sich      auseinandersetzen. Wir setzen damit die
das pädagogische Feld unter dem Einfluss            Diskussion aus Heft 1/2012 fort. Die hier
der Biowissenschaften wandelt, verbinden            versammelten Texte gehen zurück auf eine
sie theorieorientierte mit empirischen Zu-          internationale Konferenz, die im Oktober
gängen. Thomas Müller setzt sich mit dem            2012 in Sankt Petersburg stattfand. Es war
Angebot auseinander, Erziehung und Bildung          die 5. Tagung, die u. a. vom Moskauer Ros-
auf biowissenschaftliche Grundlagen zu              spen-Verlag – dort erscheint dieses Jahr der
stellen. Er ordnet dieses Angebot in einen          dazugehörige Sammelband –, von der Jelzin-
größeren epistemischen Zusammenhang                 Stiftung, der Menschenrechtsorganisation
ein, den er als naturalistisch bezeichnet, und      „Memorial“ und der Lichatschow-Stiftung
untersucht verschiedene Tendenzen einer             organisiert wurde. Zu den Mitveranstaltern
Naturalisierung des Pädagogischen. Am               gehörten die Leningrader Eremitage, das
Beispiel der ADHS beleuchtet Nicole Becker          Staatsarchiv der Russischen Föderation und
Grenzverschiebungen zwischen Medizin und            das Archiv für sozialpolitische Geschichte
Pädagogik. Sie kann zeigen, dass die Frage,         (beide Moskau). Die Idee, „Leben im Terror“
ob ein verhaltensauffälliges Kind (noch) als        als Tagungsthema zu wählen, geht zurück
„schwierig“ oder (schon) als „krank“ gilt, von      auf den Schriftsteller und Schirmherren der
Experten höchst unterschiedlich bewertet            Veranstaltung, Daniil Granin. Debattiert
wird und Auswirkungen auf Familie und               wurde über gesellschaftliche Mechanismen
Schule hat. Ob die Hirnforschung bei Lehr-          und Techniken des Terrors, Widerstand,
kräften tatsächlich so nachgefragt ist, wie         das Verhältnis von Terror und Sozium, den
man zuweilen vermutet, untersucht Jonas             Stellenwert regionaler Identitäten, die Ak-
Frister. Er zeichnet ein differenziertes Bild der   teure des Terrors sowie die Erinnerung an
Erwartungen und Interessen professioneller          den Terror und die Geschichtspolitik. Neben
Pädagogen, das von der Sehnsucht nach               dem Moskauer Soziologen Lew Gudkow und
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zwei Mitarbeitern der Petersburger Men-        Rasumows Beitrag über den Gedenkfriedhof
schenrechtsorganisation „Memorial“, Irina      Lewaschowo ist der gleichnamigen Bro-
Flige und Alexander Margolis, kommt auch       schüre entnommen, die demnächst auch in
Anatoli Rasumow zu Wort, der seit 1995 zu      deutscher Sprache erscheint. Alle Aufsätze
den Herausgebern des „Leningradskij Marti-     des Nebenschwerpunkts handeln von einer
rolog“ gehört und die Gruppe „Wiedergege-      „unbewältigten Vergangenheit“, vom Umgang
bene Namen“ leitet. Bis auf den heutigen Tag   mit der Erinnerung, der Gedenkkultur und
sind elf Bände erschienen, die Namenslisten,   Geschichtspolitik in Russland im Allgemei-
biografische Skizzen über die Opfer des        nen und in Sankt Petersburg im Besonderen.
Terrors und ausgewählte Dokumente über
Planung und Durchführung des „Großen                                    Thomas Müller,
Terrors“ in und um Leningrad enthalten.                               Wladislaw Hedeler
Berliner Debatte Initial 24 (2013) 1                                                            125

                                       Mario Neukirch

                       Offshore-Windkraft als
                    Plan B der Energiekonzerne?
           Planung und Akteurskonstellationen der Startprojekte

Windparks auf dem Meer sollen sich in den           Status quo jetzt neu aufgestellt und blasen seit
kommenden Jahren zu einer wichtigen Kom-            Monaten zum Generalangriff auf die Energie-
ponente der Energiewende entwickeln. Für            wende. Neben der Kürzung der Photovoltaik-
das Jahr 2020 rechnet das Bundesumweltmi-           Förderung, den Debatten um Strompreise2 und
nisterium mit einer Gesamtkapazität von zehn        Netzausbau, stellt die Offshore-Windenergie
Gigawatt in Nord- und Ostsee. Bis 2030 sollen 15    einen weiteren Schauplatz dar, auf dem man
Prozent des Strombedarfs, entsprechend circa        den Fortgang der Energiewende jeden Tag
25 Gigawatt, aus dieser Quelle geliefert werden.    erneut zur Disposition gestellt sehen möchte.
Doch die meisten Projekte liegen bereits seit       Misslingt der rechtzeitige Aufbau der Wind-
Jahren im Verzug und es erscheint aus heutiger      parks auf See, deren Energie für den Ersatz der
Sicht fraglich, inwieweit sich die ambitionierten   verbliebenen Atomkraftwerke fest eingeplant
Pläne überhaupt umsetzen lassen werden. So          sei, müsste der Ausstieg verschoben werden,
prognostizierte das Bremer Energie-Institut im      so die Argumentationslinie.
Jahr 2007 allein für die deutsche Nordsee eine          Tatsächlich ist in jüngster Zeit mit dem
installierte Gesamtkapazität von 3.100 Mega-        Aufbau mehrerer Projekte begonnen worden.
watt (MW) bis 2012 (Eikmeier/Jahn 2007: 45).        Der folgende Artikel beleuchtet die Akteurs-
Das ursprüngliche Ziel der Bundesregierung          struktur und den Realisierungsprozess dieser
aus dem Jahr 2005 lag bei 2.000 bis 3.000 MW        ersten Offshore-Windparks. Ein besonderer
installierter Kapazität für das Jahr 2010 (Pres-    Fokus wird dabei auf die durchaus ambiva-
semitteilung des Bundeumweltministeriums            lente Rolle der Energiekonzerne3 innerhalb
vom 6.9.2005). Der tatsächlich erreichte Wert       des Sektors gelegt.
lag im Januar 2013 bei 280,3 MW.1 Legte man             Zur Erklärung der Verzögerungen werden
frühere Ankündigungen der Branche zugrunde,         diverse Investitionsrisiken und allgemeine
fiele das Bild noch pessimistischer aus.            Hemmnisse benannt: Fehlende Kreditzusa-
    Für die öffentliche Kontroverse um die          gen, weite Entfernungen der Standorte zur
Energiewende und den Ausstieg aus der               Küste, große Wassertiefen, Materialengpässe
Atomkraft spielten diese Verzögerungen in den       (zu wenig verfügbare Windanlagen, Installati-
vergangenen Jahren kaum eine Rolle. Dies hat        onsschiffe, Kabel [vgl. Neue Energie 12/2007:
sich geändert, seitdem diejenigen konservati-       40ff.], verspäteter Netzanschluss). Byzio et al.
ven Kräfte in Politik, Industrie und besonders      (2005) haben Konfliktfelder beschrieben, die
in der Energiewirtschaft, die sich traditionell     zur Verzögerung oder Aufgabe vieler Projekte
gegen den Ausbau der erneuerbaren Energi-           geführt hatten: Im Zentrum standen Auseinan-
en positionieren, vor dem Hintergrund der           dersetzungen zwischen den Planern auf der ei-
Fukushima-Katastrophe erfahren mussten, dass        nen Seite, Naturschützern, Tourismus-Branche
es mit der Stilllegung der Atomkraftwerke nun       und Fischereiverbänden auf der anderen. Die
ernst wird. Damals überrumpelt von Merkels          Standorte in relativer Küstennähe stießen auf
Atomausstieg, haben sich diese Bewahrer des         massive Akzeptanzprobleme und es kam zu
126                                                                                Mario Neukirch

Gerichtsverfahren. Im Ergebnis wurden die               Der erste Standpunkt besagt, dass für die
meisten Projekte weiter aufs Meer verlegt, was      Betreiber der Atom- und Kohlekraftwerke ein
zu höheren Entwicklungskosten führte. Ein           Aufbau von (Offshore-)Windparks aus öko-
weiteres Problem stellen administrative Hürden      nomischen Gründen kontraproduktiv wäre.
dar, welche insbesondere die Genehmigung            Denn die Grundlastkraftwerke seien für den
des Seekabels und die Netzanschlusszusage           Dauerbetrieb auf hoher Kapazitätsauslastung
betreffen.4 Angesichts der hohen Risiken waren      konzipiert. Die Investitionskosten für den
viele Investoren der Meinung, die Vergütung         Anlagenbau rechneten sich nur, wenn über die
sei nicht ausreichend. Bis heute ist die Vor-       gesamte Betriebsdauer von circa 40 Jahren eine
stellung weit verbreitet, dass die Windparks        hohe Zahl an Volllaststunden erreicht werde.
auf See vor allem von den Energiekonzernen          Aufgrund der niedrigen Brennstoffkosten von
aufgebaut werden müssten. Der Hintergrund           Uran und Braunkohle kann mit jeder verkauften
liegt nicht zuletzt darin, dass ursprünglich        Kilowattstunde eine hohe Gewinnmarge erzielt
die meisten Projekte von mittelständischen          werden. Weil für die regenerativen Energien
Planern realisiert werden sollten, diese aber       im Netz der Einspeisevorrang besteht, mindert
die erforderlichen Investitionen unterschätzten     sich die Rentabilität der Grundlastkraftwerke
und daher an finanzkräftigere Unternehmen           im Prinzip mit jeder neuen Photovoltaikanlage
verkaufen mussten. Zahlreiche Projekte wurden       und jedem neuen Windpark. Auf diese Weise
dann von den Energiekonzernen übernommen.           wird erklärt, dass die Kraftwerksbetreiber nur
Die etablierte Energiewirtschaft war derjenige      einen niedrigen Anteil regenerativer Erzeu-
Akteur, dem aufgrund seiner Erfahrungen im          gungsanlagen betreiben, während die meisten
Stromnetz- und Kraftwerksbetrieb und sei-           Anlagen von neuen Markt-Akteuren errichtet
ner finanziellen Kapazitäten am ehesten die         werden. Quintessenz dieser Argumentation ist
notwendigen Voraussetzungen zugesprochen            ein kritisch gemeinter Hinweis an Politik und
werden. Jedoch hat die Investitionszurückhal-       Gesellschaft: „Mit den Energiekonzernen ist
tung der Energiekonzerne wesentlich dazu            eine Energiewende nicht machbar – auf sie kann
beigetragen, dass sich der „Take-off“ um Jahre      und darf man nicht bauen!“ Diese Einschätzung
verzögert hat (Neukirch 2008).5 Überraschend        wird u.a. von Greenpeace, Bund für Umwelt-
oder nicht, es ist heute unübersehbar: Die ersten   und Naturschutz sowie Teilen der Parteien Die
Offshore-Windparks sind am Netz, weitere            Linke und Bündnis 90/Die Grünen vertreten.6
befinden sich im Aufbau, Produktionskapazi-             Die zweite (radikalere) Argumentation
täten werden erweitert. Die Infrastruktur für       stellt den Aspekt technisch-wirtschaftlicher
eine – wenngleich verspätete - Umsetzung der        Inkompatibilität weniger stark in den Fokus.
ambitionierten Ziele der Bundesregierung für        Grundsätzlich wird eine dezentrale Energie-
den Offshore-Sektor steht im Prinzip bereit.        wende befürwortet. Diesem Ziel stehe der
Voraussetzung ist, dass die Förderung stabil        Aufbau von Windparks in den Dimensionen
bleibt, die Netzanschlüsse auf See rechtzeitig      konventioneller Kraftwerke prinzipiell ent-
bereitgestellt werden und der Netzausbau an         gegen. Zudem werde die Machtstellung der
Land in geeigneter Weise vorangetrieben wird        Energiekonzerne erhalten. Denn „die teuren
(vgl. Jarass/Obermair 2012).                        Offshore-Windparks können nur von den
                                                    Strom-Oligopolisten geplant und finanziert
                                                    werden, was ihnen die Monopolgewinne auch
Energiekonzerne und Offshore-Wind-                  in Zukunft sichert“ (Pressemitteilung von Euro-
kraft – Sargnagel oder Rettungsanker?               solar, 20.6.2011). Ähnlich äußerte sich Sebastian
                                                    Sladek, Geschäftsführer des Ökostromanbieters
Im Wesentlichen gibt es zwei konträre Ein-          Elektrizitätswerke Schönau: „Die Politik hat
schätzungen darüber, welche Wirkungen ein           sich entschieden, den Konzernen zu helfen,
massiver Ausbau der Offshore-Windkraft für          ihre zentralen Strukturen in das erneuerbare
die künftige Rolle der Energiekonzerne im           Zeitalter zu retten“ (neues-deutschland.de,
gesamten Elektrizitätssektor zufolge hätte.         25.8.2012). Zahlreiche Fürsprecher einer
Offshore-Windkraft als Plan B der Energiekonzerne?                                             127

konsequent dezentralen Energiewende finden          ist. Das Ostsee-Projekt „Sky 2000“ ist gänzlich
sich darüber hinaus in der Umwelt- und Anti-        aufgegeben worden, konkrete Investitionszu-
AKW-Bewegung.                                       sagen gibt es hierzulande bisher keine. Vieles
     Beide Positionen betrachten die Energie-       spricht dafür, dass das Vorgehen E.ons weniger
wirtschaft mit großer Skepsis. Ein wesentli-        als Ausnahme von der Regel zu interpretieren
cher Unterschied liegt in der Wahrnehmung           ist, sondern als „Spitze des Eisbergs“.8
der Offshore-Windparks. Werden sie zum
Rettungsanker der Energiekonzerne oder
entwickeln sie sich zu ihren Sargnägeln? Auf        Vom Pilotprojekt zum technisch-
diese Frage kann bis dato keine abschließende       wirtschaftlichen Mainstream:
Antwort erfolgen. Vor dem Hintergrund ihres         Die Startphase (2008-2015)
bisherigen Investitionsverhaltens drängt sich
allerdings der Eindruck auf, dass aus Sicht der     Trotz allem richtet sich der Blick fortwährend
Betroffenen eher letzteres befürchtet wird.         auf die Energiekonzerne. Diese scheinen jedoch
Denn die Milliarden-schweren Investitionen          unentwegt am traditionellen Geschäftsmodell
für Offshore-Windparks, von denen seitens           festzuhalten, innerhalb dessen für die Nutzung
der Konzernzentralen immer wieder die Rede          regenerativer Energien enge Grenzen existie-
ist, müssen sehr differenziert betrachtet wer-      ren.9 Vor dem Hintergrund, dass mittlerweile
den. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der      auch neue Akteure wie Stadtwerke und andere
weitaus größte Teil der Projekte im Ausland         mittelständische Akteure Offshore-Windpro-
realisiert wurde, insbesondere in Großbri-          jekte weit vorangetrieben haben, nimmt die
tannien.7 Darüber hinaus muss unterschieden         Glaubwürdigkeit der Erklärungen, weshalb
werden, ob es sich um bloße Ankündigungen           Investitionsentscheidungen wiederholt ver-
und den vergleichsweise wenig kapitalin-            schoben werden, immer weiter ab. Dennoch,
tensiven Erwerb von Entwicklungsrechten             seit kurzem zeichnen sich gewisse Änderungen
handelt, oder ob tatsächlich der Erhalt von         ab. So befinden sich heute u.a. auch zwei Pro-
Netzanbindungszusagen vorgetrieben und              jekte der Energiekonzerne im Aufbau (vgl. Tab.
Kaufverträge für Windanlagen, Umspannwerke          1 und 2). Gleichwohl scheinen die Alternativen
und Fundamente abgeschlossen werden. Nun            der „großen Vier“ heute alles andere als rosig:
hat es in der Vergangenheit eine Reihe von          Hätte man sich aus dem ungeliebten Sektor,
Beispielen dafür gegeben, dass Aktivitäten          der möglicherweise auch ohne sie expandieren
auf dem Sektor vor allem simuliert wurden.          wird, gänzlich herausziehen und sich weiterhin
Der Vorwurf besteht darin, dass Projekte            dem Vorwurf des Blockierens der Energie-
gekauft, dann aber nicht realisiert werden,         wende aussetzen sollen? Oder haben sich
um die Entwicklung zu blockieren. „Die Zeit“        die Strategien tatsächlich geändert? Sollte der
hatte in diesem Zusammenhang „Malefiz auf           Offshore-Windsektor nun aktiv vorangetrieben
See“ getitelt (zeit.de, 26.8. 2010). Beispielhaft   werden, ohne Rücksicht darauf, eventuell das
war die Einschätzung des (damaligen) E.on-          eigene Geschäftsmodell zu gefährden?
Vorstandes Berhard Fischer über die Rolle               Die Vergangenheit ist bekannt: Die Ener-
seines Unternehmens: „Wir sind die Nummer           giekonzerne hatten das (implizite) Angebot,
eins im Offshore-Business!“ (Zitiert nach: Neue     das ursprünglich von der rot-grünen Bun-
Energie 1/2007: 42), anlässlich des Erwerbs         desregierung (vgl. Pressemitteilung des Bun-
des zu entwickelnden Offshore-Windparks             desumweltministeriums, 06.09.2005) an sie
„Delta Nordsee“. Im Jahr 2006 verfügte E.on         gerichtet worden war, die alte Machtstellung
zudem über die Rechte zur Entwicklung vier          qua Realisierung großflächiger Windparks auf
weiterer Windparks. Realisiert wurde einzig         See in das „grüne Zeitalter“ zu retten, nicht
das relativ kleine Projekt „Alpha Ventus“ mit       annehmen wollen. Und die Frage, ob sie sich
zwölf Windanlagen, das vom Bund mit 50 Mio.         in den nächsten Jahren massiv in den Sektor
Euro gefördert wurde – und an dem E.on, neben       einkaufen werden, ist für heute irrelevant.
Vattenfall und EWE, zu einem Drittel beteiligt      Um die aktuelle Tendenz zu bestimmen, gilt
128                                                                               Mario Neukirch

es im Folgenden, die Akteursstrukturen und          sind unterteilt nach Windparks mit einem der
Entwicklungsgeschwindigkeiten der Start-            vier großen Energiekonzerne als Entwickler
projekte zu untersuchen und miteinander zu          und Hauptinvestoren (Tab. 2) sowie Vorhaben
vergleichen. Gemeint sind damit alle realisierten   ohne deren Beteiligung (Tab. 1). Die Tabellen
Vorhaben und jene, die sich aktuell im Aufbau       bieten Übersichten zur Investorenstruktur,
befinden. Ein Abbruch dieser Projekte wäre mit      technischen Rahmendaten und der „Biogra-
so hohen Kosten verbunden, dass eine zügige         phie“ der Projekte.
Umsetzung anzunehmen ist. Ausgehend von
den üblichen Bauzeiten und den Aussagen der
Entwickler kann davon ausgegangen werden,           Startprojekte im Vergleich
dass die Startprojekte bis 2015 vollständig
ans Netz gehen werden. Der Zeitraum vom             Im folgenden Abschnitt werden die Konzern-
Baubeginn des ersten Projekts im Jahr 2008,         und Nicht-Konzern-Projekte nach unter-
bis zur voraussichtlichen Inbetriebnahme            schiedlichen Gesichtspunkten miteinander
des letzten wird als Startphase definiert, also     verglichen. Bei diesen Windparks handelt es sich
2008 bis 2015. Innerhalb der Startphase geht        um diejenigen, bei denen angesichts des noch
es für den Sektor darum zu beweisen, dass die       immer frühen Stadiums des Sektors, am ehesten
reibungslose und planmäßige Umsetzung von           von einer geradlinigen Umsetzung gesprochen
Offshore-Windparks der Normalfall ist. Das          werden kann. Nur um einen Vergleich dieser
betrifft die Finanzierung, das Finden adäqua-       Projekte geht es. Aus der folgenden Tabelle 3
ter Investoren, das zeitliche Koordinieren der      geht hervor, dass die „Nicht-Konzerne“ insge-
Bereitstellung des Netzanschlusses mit dem          samt konsequenter geplant haben und mehr
Aufbau des Windparks, die Zuverlässigkeit           Anlagen installieren als die Energiekonzerne.
der Windanlagen und damit verbunden, deren          Letzteren kommt damit für die Startphase eine
Wirtschaftlichkeit.                                 zweitrangige Bedeutung zu.
    Hinsichtlich dieser Bedingungen war keines          Die Gesamtkapazität der Startvorhaben
der ersten drei Projekte innerhalb der Start-       liegt bei 2.087 MW. Der Anteil der von den
phase, „Alpha Ventus“, „Baltic 1“ und „Bard         Energiekonzernen entwickelt wird, beträgt
Offshore“ problemfrei. Alpha Ventus wäre            33,1 Prozent. Den übrigen Projekten (1) bis
unter den Normbedingungen des Erneuerbare-          (5) kommt mit 66,9 Prozent für die Startphase
Energien-Gesetz – vor allem aufgrund zu hoher       die wichtigere Bedeutung zu.15 Verzögerungen
Risiken, angesichts kaum erprobter Technologie      bereits genehmigter Projekte können unter-
(hinsichtlich Wassertiefe, Küstenentfernung         schiedliche Ursachen haben, bspw. Material-
und Anlagentypen) – unwirtschaftlich gewesen        engpässe, Gerichtsentscheidungen, fehlende
und daher auf zusätzliche Subventionen ange-        Netzanschlussgenehmigung und erforderliche
wiesen. Im Projekt „Bard Offshore“ kam es zu        Netzausbaumaßnahmen. All diese Faktoren
langen Verzögerungen aufgrund technischer           betreffen jedoch im Prinzip Konzern- wie
Probleme mit den Windanlagen aus eigener            Nicht-Konzernprojekte gleichermaßen und
Herstellung. Die Bereitstellung des Netzan-         müssten sich daher nivellieren. Dieses ist aber
schlusses von „Baltic 1“ erfolgte mit knapp         nicht der Fall. Denn die Energiekonzerne benö-
einem Jahr Verzögerung, was zu gerichtlichen        tigen im Durchschnitt 2,1 Jahre länger als die
Auseinandersetzungen führte. Die Startpha-          übrigen Entwickler, bevor deren genehmigte
se kann als überwunden gelten, wenn das             Projekte in die Bauphase treten. Die Quote
Auftreten solcher Probleme tatsächlich eine         der Projekte, bei denen eine Fristverlängerung
Ausnahme und nicht die Regel darstellt. Dass        des Baustarts erwirkt werden musste, liegt für
dies nach Abschluss der Startprojekte der Fall      die Konzern-Projekte bei 50 Prozent, bei den
sein wird, ist eine optimistische Grundannahme      übrigen sind es 40 Prozent. Damit die Anlage
für die Definition der Startphase.10                nach Fertigstellung direkt in Betrieb gehen
    Die folgenden Tabellen 1 und 2 enthalten        kann, muss das Bundesamt für Seeschifffahrt
einen Überblick der Startprojekte. Letztere         und Hydrographie (BSH) den Übertragungs-
Tab. 1: Startprojekte (Nicht-Energiekonzerne)
Projekt        Investoren,           Genehmigt seit        Baubeginn             Zeitraum         Anlagen-        Downscaling12 Verzögerung
(lfd. Num-     Entwickler                                                        zwischen         zahl, -größe,                 aufgrund feh-
mer)                                                                             Genehmigung      Windpark-                     lender Netz-
                                                                                 und Baube-       Gesamt-                       anschluss-
                                                                                 ginn (Jahre)11   größe                         zusage
Bard Off-      Bard-Gruppe           11.4.2007             150 MW am Netz        3,0              80 x 5 MW       nein          nein
shore I (1)                                                (37,5%, Stand: Jan.                    400 MW
                                                           2013)
                                                           Baubeginn: April
                                                           2010
Global         Windreich AG (14%),   31.5.2006                                   6,3              80 x 5 MW       nein          nein
Tech I (2)     SWM (25%), HSE        Fristverlängerung     Sept. 2012                             400 MW
               (25%), EGL (24%),     für Baubeginn: bis
               Fa. Meltl (10%)       31.12. 2012
Borkum         Trianel GmbH          13.6.2008                                   3,3              40 x 5 MW       Ja, zuvor:    6 bis 12
West II,       Windkraftwerk                               Okt. 2011                              200 MW          80 x 5MW      Monate
Phase I (3)    Borkum II GmbH                                                                                     400 MW
               & Ko KG (circa 40
                                                                                                                                                Offshore-Windkraft als Plan B der Energiekonzerne?

               Stadtwerke)
Meerwind       Wind MW GmbH          16.5.2007 Fristver-                         5,3              80 x 3,6 MW     Ja, zuvor:    circa 12
Süd/Ost (4)    (80% Blackstone,      längerung bis         Aug. 2012                              288 MW          80x 5 MW      Monate
               20% Windland          30.6.2014                                                                    400 MW
               Energieerzeu-gungs
               GmbH)
Borkum         EWE (90%)/Enova       29.9.2010                                   1,8              30 x 3,6MW      nein          nein
Riffgat (5)    Offshore-Wind-park                          Juni 2012                              108 MW
               Riffgat GmbH &
               Ko.KG (10%)
Quellen: BSH, IWR, Neue Energie (div. Ausgaben), Sonne, Wind und Wärme (div. Ausgaben), wind:research/windreich.ag
                                                                                                                                                129
Tab. 2: Startprojekte (Energiekonzerne)
Mario Neukirch

                 Projekt (lfd.   Investoren/              Genehmigt seit         Baubeginn                Dauer Ge-          Anlagenzahl/   Downscaling     Verzögerung
                 Nummer)         Entwickler                                                               nehmigung          -größe;                        aufgrund feh-
                                                                                                          bis Baubeginn      Windpark-                      lender Netz-
                                                                                                          (Jahre)            größe                          anschlussge-
                                                                                                                                                            nehmigung
                 Alpha Ventus Vattenfall, E.on und        9.11.2001              In Betrieb: April 2010          6,8         12 x 5 MW      nein            nein
                 (6)          EWE (je 33,3%)                                     Baubeginn: Sep. 2008                        60 MW
                 Baltic I (7) EnBW (24,3MW,               5.4.2006               In Betrieb: Mai 2011            3,9         21 x 2,3       nein            nein
                              50,3%) und 19 Stadt-                               Baubeginn: März                             48,3 MW
                              werke (24 MW, ca.                                  2010
                              49,7%)
                 Dan Tysk (8) Vattenfall (51%, ca.        23.8.2005              Februar 2013                    7,5         80 x 3,6 MW    Ja, zuvor:
                              146,9 MW), Stadt-           Fristverlängerung                                                  288 MW         80 x 5 MW       6 bis 12
                              werk München (49%,          bis 31.12.2013                                                                    400 MW          Monate
                              ca. 141,12 MW)
                 Nordsee      RWE                         Juni 2004              Aug. 2012                       8,2         48 x           Ja, zuvor:
                 Ost (9)                                  Fristverlängerung                                                  6,15 MW        80 x 5 MW       mindestens
                                                          bis 31.12.2012                                                     295 MW         400 MW          1 Jahr
                 Quellen: vgl. Tab. 1, zusätzlich: EnBW
                 Tab. 3: Vergleich Konzern- und Nicht-Konzern-Projekte
                                       Durchschnitt­    Fristverlänge-        Downscaling       Durchschnitt-          Durchschnitt­   Zu installie-      Verzögerte
                                       liche Dauer von rung für Bau­          Anlagengröße/     liche Anlagen-         liche Windpark- rende Kapazi-      Netzanschluss-
                                       der Baugeneh- beginn erwirkt?          -zahl (MW)        größe (MW)             größe (MW)      tät insgesamt      zusage
                                       migung bis                                                                                      (MW)
                                       zum Baubeginn
                                       (Jahre)
                 Nicht-Konzern-               4,513      2 Projekte           2 Projekte                  4,44               279            1.396         2 Projekte
                 Projekte                               (40%)                 (40%)                                                                       (40%)
                 (lfd. Nr. 1-5)
                 Konzern-Projekte             6,6       2 Projekte            2 Projekte                  4,26             21.014             691         2 Projekte
                 (lfd. Nr. 6-9)                         (50%)                 (50%)                                                                       (50%)
130              Quellen: Tab. 1-2; eigene Berechnungen
Offshore-Windkraft als Plan B der Energiekonzerne?                                                131

netzbetreiber anweisen, den rechtzeitigen Netz-       Die Energiekonzerne im Vergleich
anschluss bereitzustellen. Das Fehlen dieser          untereinander
sogenannten Netzanschlusszusage bewirkt
weitere Verzögerungen vieler Startprojekte            Obgleich den Energiekonzernen insgesamt
(Quote bei Konzern-Projekten: 50 Prozent,             gewiss keine pro-aktive Rolle zukommt, las-
übrige: 40 Prozent).16 Die übrigen Vorhaben           sen sich doch zwischen ihnen beachtliche
verwenden um 4,4 Prozent leistungsstärkere            Unterschiede feststellen (vgl. Tab. 4). Da es
Windanlagen und werden im Durchschnitt                in der folgenden Darstellung auch darauf an-
um 32,8 Prozent größer geplant (279, bzw.             kommt, wer tatsächlich wie viel investiert, wird
210 MW). Diese Unterschiede ergaben sich              berücksichtigt, dass an den Projekten (6) bis
als Konsequenz eines stärker ausgeprägten             (8) neben dem Planer auch andere Investoren
Down-scaling bei den Konzern-Projekten. So            mit insgesamt 185 MW beteiligt sind (vgl.
wurden 50 Prozent der Konzern-Windparks               Tab. 2). Diese Beteiligungen werden von der
nachträglich, hinsichtlich Anlagengröße oder          Gesamtkapazität der unter Konzern-Obhut
-zahl, kleiner dimensioniert (übrige: 40 Prozent).    entwickelten Projekte (691 MW, vgl. Tab.3)
Angesichts der niedrigen Zahl der Projekte,           abgezogen. Der Anteil der Energiekonzerne
ist die Möglichkeit, dass die Werte stark von         an den Investitionen in die Startprojekte liegt
Zufallseffekten überlagert werden, nicht zu           damit bei 24,2 Prozent.
unterschätzen. Dennoch bestätigt der Vergleich            Am ehesten lässt sich der EnBW so etwas
den Gesamteindruck, dass das Agieren der              wie ein „Early Mover“-Status zuschreiben.
Energiekonzerne im Offshore-Sektor bis heute          Obgleich das Projekt „Baltic 1“ insgesamt
von großer Behutsamkeit geprägt ist.                  mit 48,3 MW recht klein dimensioniert
                                                      ist, kommt ihm als erstem kommerziellen
                                                      Offshore-Windpark in der Bundesrepublik
                                                      eine gewisse Vorreiter-Position zu. Für das
                                                      zweite EnBW-Projekt „Baltic2“ (288 MW)
                                                      bestehen ebenfalls gute Realisierungschancen
                                                      bis 2018. Im RWE-Windpark „Nordsee Ost“

Tab. 4: Energiekonzerne im Offshore-Sektor
Energie-         Start-Projekte    Anteil (%)        Bis Ende 2012 Bemerkungen         Einschätzung
konzern          (MW), insg.                         am Netz (MW)                      Gesamt­
                 506 MW                                                                position
EnBW                    24                4,8              24        Early Mover              1
                                                                     durch Baltic 1,
                                                                     Kooperation
                                                                     mit Stadtwer-
                                                                     ken
RWE                    295               58,3               0        Nutzung des             2
                                                                     Anlagentyps
                                                                     „6M“ mit 6,15
                                                                     MW
Vattenfall             167               33,0              20        wird erstes             3
                                                                     Projekt schnel-
                                                                     ler als E.on
                                                                     realisieren
E.on                     20               4,0              20        -                       4
Quellen: Tab. 1-3; eigene Berechnungen
132                                                                                 Mario Neukirch

werden 48 Windanlagen der Größe 6,15 MW             kapazität der Vorhaben (1) bis (5) werden die
verbaut. In allen anderen Startprojekten liegt      Investitionen weiterer Nicht-Konzern-Akteure
die Anlagengröße bei maximal 5,0 MW. Damit          (185 MW) berücksichtigt (s.o.), so dass sich der
steht RWE im Gegensatz zu vielen anderen            Anteil der Nicht-Konzerne an der Gesamtin-
Projektentwicklern, die ursprünglich mit der        vestition auf 75,8 Prozent beläuft.
Fünf-Megawatt-Klasse geplant hatten, sich               Aus Tabelle 5 geht hervor, dass die vier
dann jedoch für die besser erprobte 3,6 MW          genannten Akteursgruppen als Investoren zu
Anlage von Siemens entschieden (vgl. Sonne,         verhältnismäßig homogenen Teilen für die
Wind & Wärme 10/2012: 57). Insofern kommt           Startphase von Relevanz sind. Für Projekt (1)
RWE eine Pionierrolle bei der Etablierung der       wurde unterstellt, dass Entwickler und zugleich
neuen Größenklasse zu. Vattenfall und E.on          Anlagenlieferant Bard, weiterhin Eigentümer
sind je zu einem Drittel am stark subventio-        der Anlage sein wird. Der ursprüngliche In-
nierten Pilotprojekt „Alpha Ventus“ beteiligt.      vestor, Südweststrom GmbH, ein Verbund
Während E.on seit Jahren vollmundig auf seine       von circa 55 Stadt- und Gemeindewerken,
großen Offshore-Pläne verweist (s.o.)17, begann     hatte im November 2012 seine Investitions-
Vattenfall jüngst mit der Installation der An-      zusage komplett storniert (Pressemitteilung
lagenfundamente des Windparks „Dan Tysk“.           der Südweststrom GmbH vom 20.11.2012).
Unabhängig von den Startprojekten planen            Den Projektentwicklern Bard Offshore und
die Energiekonzerne weitere Windparks, die          Windreich kommt als Investoren eine zentrale
jedoch auf das Ranking keinen Einfluss haben.       Bedeutung zu. Als einzige planten sie (Start)
                                                    Windparks à 400 MW und verwenden zugleich
                                                    die Fünf-MW-Anlage. Für die Durchsetzung
Wenn nicht die Energiekonzerne –                    dieser Größenklasse als Standard (gegenüber
Wer dann?                                           3,6MW [s.o.]) gehen beide Unternehmen be-
                                                    achtliche finanzielle Risiken ein. Letztere rela-
Bei den Investoren der Projekte (1) bis (5) han-    tivieren sich jedoch dadurch, dass sie über eine
delt es sich im Wesentlichen um vier Gruppen:       gute finanzielle Absicherung verfügen. Denn
Stadtwerke, Entwickler von Offshore-Wind-           sowohl bei Willi Balz (Windreich-Gründer), als
parks, Finanzinvestoren sowie Unternehmen           auch Arngolt Bekker (Bard-Gründer) handelt
der Energiebranche. Zusätzlich zur Gesamt-          es sich um Milliardäre mit entsprechenden

Tab. 5: Neue Akteure/ Nicht-Konzern-Akteure im Offshore-Sektor
Akteursgruppen                Wichtigste Einzelinvestoren    Start-Pro-    Anteil der     Anteil der
                                                             jekte (MW),   Nicht-         Startpro­
                                                             insg. 1581    Konzern-       jekte gesamt
                                                             MW            Projekte (%)   (%)
Stadtwerke (SW)                  Trianel GmbH18: 200MW,           465            29,4           22,3
                                 SW München: 241 MW,
                                 einzelne Stadtwerke: 24MW
Unternehmen der Wind-            Bard Gruppe: 400 MW,            525            33,2           25,2
energie-Branche                  Windreich AG: 56MW,
                                 Windland GmbH: 58MW,
                                 Enova: 11MW
Finanzbranche, Einzelinves- Blackstone: 230MW,                   270            17,1           13,0
toren                            Fa. Meltl: 40 MW
Diverse sonstige Unterneh- EGL: 96MW, HSE: 100MW,                313            19,8           15,0
men der Energiewirtschaft        EWE: 117MW
Quellen: Tab. 1-4, windreich.ag; eigene Berechnungen
Offshore-Windkraft als Plan B der Energiekonzerne?                                              133

Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung. Es ist         die Tatsache nichts, dass aus einem Offshore-
denkbar, dass sie Teile der von ihnen geplanten      Standort deutlich mehr Strom gewonnen wird
Windparks selbst erwerben bzw. langfristig in        als eine Wind- (oder Photovoltaik-)anlage
eigener Hand belassen. Gemeinsam mit zwei            derselben Größe an Land liefern würde. Das
anderen Projektentwicklern sind sie Eigentü-         gesamte „Projekt Offshore-Wind“ ist auf lang-
mer von gut einem Viertel der Startprojekte.         fristige Kostensenkungen angewiesen. Voraus-
Eine andere wichtige Investorengruppe sind           setzung dafür ist, dass zumindest ein Großteil
zahlreiche Stadtwerke, allen voran die SW            der geplanten Vorhaben in absehbarer Zeit
München und der Stadtwerke-Verbund Trianel           tatsächlich gebaut wird. Eben daran erscheinen
(22,3 Prozent der Startprojekte). Schließlich sind   jedoch Zweifel angebracht. Aus heutiger Sicht
der Finanzsektor und diverse Unternehmen             kann nicht davon ausgegangen werden, dass
der Energiewirtschaft als Investorengruppe           sich die einsetzende begrenzte Dynamik des
der Startphase zu benennen.                          Sektors über die Startphase hinaus fortsetzen
                                                     wird. Abgesehen von den Startprojekten, gibt
                                                     es heute sechs weitere Vorhaben (Gesamtka-
Fazit und Ausblick                                   pazität circa 1,7 Gigawatt), die nach Recher-
                                                     chen des Autors voraussichtlich im Zeitraum
Nach Jahren des Zögerns, des Hinhaltens und          2015 bis 2018 mit hoher Wahrscheinlichkeit
der Täuschung der Öffentlichkeit hinsichtlich        den Betrieb aufnehmen werden.19 Auch bei
ihrer Absichten, angeblich kurzfristig Windan-       diesen Folgeprojekten werden die führenden
lagen auf See zu installieren, lassen sich heute     Energiekonzerne als Investoren zweitrangig
wenngleich sehr zaghafte Bauaktivitäten der          sein (E.on und EnBW je ein Projekt). Diese
Energiekonzerne auf deutschen Meeren feststel-       vorsichtige Schätzung steht in deutlichem
len. Über das hoch subventionierte Testprojekt       Gegensatz zu traditionell optimistischen
„Alpha Ventus“ und das kleinere Projekt „Baltic      Prognosen der Branche.20 Ein erster Grund
1“ hinaus haben RWE und Vattenfall mit dem           der Skepsis liegt in den Verzögerungen bei der
Aufbau jeweils eines großen Windparks auf            Bereitstellung der Netzanschlüsse. Dabei geht
See begonnen. Diese Entwicklung kommt                es nicht nur um die Seekabel, sondern auch
allerdings so spät und zugleich so zögerlich,        um die Problematik des stagnierenden Netz-
dass man den Eindruck gewinnen muss, sie             ausbaus an Land. Zudem stellt sich die Frage,
entfalteten gerade so viel Aktivität, um den         welche Akteursgruppen langfristig investieren
Vorwurf der Untätigkeit zurückzuweisen. Mit          werden. Nach den Erfahrungen der letzten
deutlich größerer Konsequenz vorangetrieben          Jahre muss davon ausgegangen werden, dass
wird der Sektor heute insbesondere durch mit-        die Energiekonzerne ihre Projekte weiterhin
telständische Unternehmen des Energiesektors.        im bisherigen Tempo vorantreiben und die
An erster Stelle sind diejenigen zu nennen, die      technischen Potenziale der Standorte nicht
unmittelbar am Aufbau der Projekte beteiligt         ausschöpfen werden. Inwieweit die Stadtwerke,
sind. Von der Initiative der Energiekonzerne         sobald deren Eigenbedarf einmal gewährleistet
war der Sektor zu keiner Zeit abhängig.              ist, weitere Anlagen erwerben werden, erscheint
    Wenn es nicht zu weiteren Verzögerun-            zumindest fraglich. Schließlich wird der Sektor
gen kommt, werden bis Ende 2015 sämtliche            für Investmentfonds wie Blackstone nur attrak-
Startprojekte, entsprechend einer Windanla-          tiv bleiben, wenn die Förderung langfristig auf
genkapazität von knapp 2,1 Gigawatt auf See          einem Niveau gehalten wird, dass mit deren
installiert sein. Verglichen damit, dass allein      hohen Renditeansprüchen in Einklang steht.
in den letzten drei Jahren circa fünf Gigawatt       Das werden sich jedoch die Stromkunden, die
Onshore-Wind- und mehr als 20 Gigawatt an            ohnehin seit Jahren mit rapide zunehmenden
Photovoltaikanlagen den Betrieb aufgenommen          Preisen konfrontiert sind, nicht unbegrenzt
haben, erscheint dies, angesichts hoher Inves-       bieten lassen. Damit sich trotzdem weiterhin
titionskosten und langer Planungszeiten, als         Investoren finden, müssten deutliche Kosten-
ein recht mäßiges Ergebnis. Daran ändert auch
134                                                                                       Mario Neukirch

senkungen erzielt werden. Dafür gibt es im                 einzuordnen. Prekär ist der Zeitpunkt der Debatte.
Moment allerdings keine Anzeichen.                         Angesichts der anstehenden Bundestagswahlen
    Was bedeuten diese Ergebnisse und Ein-                 müsste sich derjenige, der gegen die Strompreis-
                                                           bremse stimmt, den Vorwurf gefallen lassen,
schätzungen für die eingangs dargestellten                 die Verantwortung für wachsende Strompreise
Positionen, die sich kritisch auf den Sektor               zu tragen. Jürgen Trittin (Grüne) hatte die Vor-
und die Rolle der Energiekonzerne beziehen?                schläge der Regierung als „Ausbaubremse für
Grundsätzlich bestätigt das Investitionsver-               Erneuerbaren Energien“ bezeichnet (Interview
halten der Konzerne eher die erste Position                mit der Passauer Neuen Presse, 29.1.2013).
(„Sargnagel“) als die zweite („Rettungsanker“).        3   Mit den „Energiekonzernen“ sind im Kontext des
                                                           Artikels stets E.on, Vattenfall, EnBW und RWE
Aus kritischer Perspektive werden ein Zurück-              gemeint. Als Betreiber von mehr als 80 Prozent
drängen der Konzerne sowie die Umstellung                  der installierten konventionellen Kraftwerke
auf regenerative Energien gleichermaßen                    sind sie die wichtigsten Akteure des deutschen
befürwortet. Die Realisierung der Startpro-                Stromsektors.
jekte trägt dazu bei, diese Ziele zu verfolgen.        4   Für den Bau der Stromleitung müssen zwei Ver-
Vorangetrieben wird der Sektor auch durch                  fahren bei jeweils unterschiedlichen Behörden
kommunale Stadt- und Gemeindewerke, die zu                 durchlaufen werden: Eines für die Ausschließliche
                                                           Wirtschaftszone beim Bundesamt für Seeschiff-
Recht häufig in einem Atemzug mit demokra-                 fahrt und Hydrographie (BSH) und eines für das
tisierter Energieversorgung genannt werden.                Küstenmeer beim angrenzenden Bundesland. Für
Einzig eine vollständig dezentralisierte Versor-           die Vergabe einer Netzanschlusszusage, welche
gungsstruktur ist mit Offshore-Windenergie                 den Netzbetreiber dazu veranlasst, den Anschluss
nicht machbar. Aus Sicht derjenigen, die eine              bereitzustellen, muss der Projektentwickler etliche
beschleunigte Energiewende propagieren, die                Vorleistungen erbringen (vgl. Bruns et al. 2012).
                                                       5   In Dänemark hat der erste Offshore-Windpark
gleichzeitig die traditionellen Energiekonzerne            seinen Betrieb im Jahr 1991 aufgenommen. In der
weiter in die Defensive treibt, stellt sich die            Bundesrepublik dauerte es bis April 2010, bevor
Frage der Angemessenheit grundsätzlicher                   die Testanlage „Alpha Ventus“ ans Netz ging.
Kritik der Projekte.                                   6   Die Position stützt sich etwa auf ein Gutachten des
    Selbst wenn sich in den nächsten Jahren                Sachverständigenrates für Umweltfragen(bspw.
ein deutlich optimistischeres Szenario realisie-           SRU 2011: 173). Die Kritiker fühlten sich zudem
                                                           bestätigt, nachdem die Energiekonzerne EdF und
ren sollte, als es hier vorgeschlagen wird: Die            E.on von der britischen Regierung forderten, ihre
Bedeutung der Offshore-Windenergie bleibt                  Ziele für Strom aus erneuerbaren Energien bis
auf absehbare Zeit so gering, dass sie keine               zum Jahr 2020 auf 20 Prozent zu begrenzen, da
prinzipiellen Weichenstellungen (Byzio et al.              sie ansonsten ihre Investitionsplanung zum Bau
2008, S. 148ff.) innerhalb des Stromsektors                von Atomkraftwerken in Großbritannien stoppen
begründen könnte. Dies gilt zum einen für die              würden (taz.de, 25.3.2009).
Frage, ob es tatsächlich zu einer weitgehenden         7   Siehe http://www.renewableuk.com/en/re-
                                                           newable-energy/wind-energy/offshore-wind/
Verdrängung konventioneller Energien aus                   development-rounds.cfm (Stand: 13.1.2013).
dem Markt kommen wird. Unklar bleibt zum               8   So hatten bis 2012 außer dem Testprojekt Alpha
andern, ob ggf. ein Wechsel zu erneuerbaren                Ventus und Baltic 1 (EnBW) keine weiteren
Energien vornehmlich zentral oder dezentral                Anlagen der Energiekonzerne den Betrieb auf-
erfolgen wird. Ganz sicher hingegen ist, dass der          genommen. Mit den Besonderheiten E.ons als
Atomausstieg nicht vom Erfolg der Offshore-                Planer von Offshore-Windanlagen haben sich die
                                                           Branchenmagazine der erneuerbaren Energien
Projekte abhängig ist.21                                   befasst (vgl. etwa Neue Energie 6/2006, S. 14f.,
                                                           12/2007, S. 43 und Sonne, Wind und Wärme
                                                           9/2006, S. 98ff.). Bis 2018 erscheint einzig die
Anmerkungen                                                Umsetzung der Konzern-Projekte Amrumbank
                                                           West (E.on) und Baltic 2 (EnBW) wahrscheinlich
1   Siehe http://www.offshore-windenergie.net              (s.u.).
    (Stand: 26.2.2013).                                9   Allein im Jahr 2012 haben RWE und Vattenfall in
2   Ganz aktuell ist in diesen Kontext auch der Vor-       NRW bzw. in Sachsen je ein Braunkohlekraftwerk
    stoß von Bundesumweltminister Altmaier zur             in Betrieb genommen. Auch E.on und EnBW
    Einführung einer sogenannten Strompreisbremse          lassen neue Kohlekraftwerke errichten (vgl.
Offshore-Windkraft als Plan B der Energiekonzerne?                                                         135

     http://www.bund.net/fileadmin/bundnet/pdfs/              einer [...] Netzanschlusszusage durch das BSH zu
     klima_und_energie/121123_bund_klima_ener-                nehmenden Hürden sind hoch. So muss nicht
     gie_kokw_verfahrensstand_liste.pdf; Stand:               nur die Genehmigung erteilt […] sein, sondern
     7.1.2013).                                               es müssen auch sämtliche Untersuchungen, wie
10   Die Vorab-Definition einer Phase ist prinzipiell         z.B. Baugrunduntersuchungen, abgeschlossen
     mit analytischen Risiken behaftet. Niemand kann          sein. Das mit Abstand größte Investment ist
     letztlich mit Sicherheit vorhersagen, dass bis           jedoch erforderlich, weil alle Verträge für den
     2015 sämtliche Start-Windparks vollständig ans           Bau eines Offshore Windparks erforderlicher
     Netz geschlossen sein werden. Auch ist denkbar,          Komponenten, wie Windkraftanlagen, Umspann-
     dass spätere Projekte zeitlich unmittelbar an die        werk, Parkverkabelung und Errichtungslogistik
     Fertigstellung einiger Startprojekte angrenzen,          verbindlich abgeschlossen sein müssen. All diese
     oder es sogar zu Überschneidungen kommt. Es              Verträge erfordern hohe Anzahlungen im zwei-
     ist also durchaus möglich, dass man bspw. im             stelligen Millionenbereich“ (Pressemitteilung der
     Jahr 2020 den Zeitraum der Startphase und die            Windreich AG vom 23. November 2012).
     Startprojekte anders definieren würde. Für eine     17   Bei keinem anderen der Energiekonzerne ist das
     technikhistorische Betrachtung würde man zudem           Auseinanderklaffen zwischen dem Engagement
     die Startphase genauer untergliedern. Denkbar            auf dem deutschen und internationalen Markt
     wäre eine Zweiteilung: 2008 bis 2011: Vom Beginn         so eklatant wie bei E.on. So hat E.on-Tochter,
     zur Inbetriebnahme der drei Pionierprojekte              E.on Climate & Renewables im Jahr 2011 in New
     (s.o.) und 2012-2015 als Periode beschleunigter          York den „Global Energy Award“ in der Kategorie
     Umsetzung der Startprojekte: Zwischen Juni 2012          „Grüner Stromerzeuger des Jahres“ gewonnen. In
     und Februar 2013 begann der Aufbau von fünf              der Begründung der Jury heißt es: „Insbesondere
     der insgesamt neun Windparks (Tab. 1 und 2).             bei der Entwicklung der Offshore-Windkraft
11   „Baubeginn“ heißt, dass tatsächlich mit dem              hat E.on eine weltweit führende Position.“ (Zi-
     Einsetzen der Fundamente auf See begonnen                tiert nach: E.on-Pressemeldung vom 7.12.2011;
     wird.                                                    URL: http://www.eon.com/de/presse/news/
12   Ein Down-scaling („kleiner dimensionieren“)              pressemitteilungen/2011/12/7/e-dot-on-ist-
     liegt vor, wenn ein Windpark im Vergleich zur            gruener-stromerzeuger-des-jahres.html; Stand:
     ursprünglichen Planung verkleinert wurde. Dies           7.1.12.). Bezieht sich die Begründung auf reale
     kann sich sowohl auf die Anlagengröße (zwei              Investitionen des Konzerns, können eigentlich
     Fälle), als auch die Anlagenzahl beziehen (zwei          nur die Märkte Großbritanniens und Dänemarks
     Fälle).                                                  gemeint sein, wo E.on tatsächlich sehr aktiv ist.
13   Um eine Beeinträchtigung des Vergleichs zu          18   Die Trianel GmbH ist ein Verbund aus circa 50
     vermeiden, ist bei der Berechnung des Durch-             Stadt- und Gemeindewerken. Ein geringer Teil
     schnittswertes das Projekt „Borkum Riffgat“              stammt aus dem europäischen Ausland (vgl. http://
     nicht berücksichtigt worden. Die kurze Dauer             www.trianel.com/de/trianelportrait/struktur.
     zwischen Genehmigung und Baubeginn erklärt               html; Stand: 4.1.13).
     sich darüber, dass es um den Windpark zu jah-       19   Dabei handelt es sich um: MEG Offshore 1 (wind-
     relangen gerichtlichen Auseinandersetzungen              reich), Butendiek (WPD), Borkum Riffgrund 1
     gekommen war. Während dieser Zeit hatte der              (Dong), Nordergründe (Energiekontor), Baltic
     Planer die Entwicklungsarbeiten an dem Projekt           2 (EnBW) und Amrumbank West (E.on).
     fortgesetzt. Da sich der Standort innerhalb der     20   Den Planern zufolge soll zwischen 2013 und 2015
     12-Seemeilen-Zone befindet, musste zudem nur             der Aufbau von 22 Projekten in Nord- und Ostsee
     eines statt zweier Genehmigungsverfahren für             starten. Von einer Inbetriebnahme der Projekte
     die Kabeltrasse durchlaufen werden.                      könnte in diesem Fall bis 2018 ausgegangen
14   Nicht berücksichtigt wurde Vorhaben (6), da es           werden (vgl. http://www.offshore-windenergie.
     als Pilotprojekt bewusst (und legitimer Weise)           net/windparks; Stand: 20.2.2013).
     kleiner dimensioniert war.                          21   Erstens befinden sich zahlreiche konventionelle
15   Berücksichtigte man zusätzlich, dass auch einige         Kraftwerke im Bau oder in der Planung. Die
     Stadtwerke sowie der Netzbetreiber EWE an                Stilllegung alter Kraftwerke und insbesondere
     Konzern-Projekten als Investoren beteiligt sind,         auch die Stilllegung von acht AKW seit 2011 wird
     verschöbe sich die Relevanz der Energiekonzerne          dadurch vollständig kompensiert (Bundesnetz-
     noch weiter zu deren Ungunsten (s.u.).                   agentur 2011: 84f.). Daraus folgt zweitens, dass
16   Verzögerungen der Netzanschlusszusage lassen             die vielen Wind- und Photovoltaikanlagen, die seit
     darauf schließen, dass die Projekte nicht mit der        2011 in Betrieb gegangen sind, zur Versorgungs-
     erforderlichen Konsequenz vorangetrieben wur-            sicherheit im Prinzip gar nicht gebraucht worden
     den. So erläutert Willi Balz, Chef der Windreich         wären. Allein in den Jahren 2011 und 2012 wurde
     AG (Planer des Vorhabens (2)): „Die zur Erlangung        eine Gesamtkapazität von circa 20 Gigawatt an
136                                                                                     Mario Neukirch

    Photovoltaik, Onshore-Wind- und Biogasanla-         Byzio, Andreas; Mautz, Rüdiger; Schumann, Michael
    gen neu aufgestellt. Diese könnten einen hohen          (2005); unter Mitarbeit von Wolf Rosenbaum:
    Beitrag zur Ersetzung künftig stillzulegender           Energiewende in schwerer See – Konflikte um
    AKW leisten. Das immer wieder von Gegnern               die Offshore-Windkraftnutzung. München:
    der Energiewende an die Wand gezeichnete                Oekom Verlag.
    Angstszenario der „Stromlücke“ ist von großen       Byzio, Andreas; Mautz, Rüdiger; Rosenbaum, Wolf
    Teilen der Öffentlichkeit als Täuschungsmanö-           (2008): Auf dem Weg zur Energiewende: Die
    ver mit dem Ziel erkannt worden, die geringe            Entwicklung der Stromproduktion aus erneuerba-
    Akzeptanz für den Bau neuer Kohlekraftwerke             ren Energien in Deutschland. Universitätsverlag
    zu verbessern (zeit.de, 12. April 2011). Drittens       Göttingen.
    gehen Energie-Experten wie Jochen Flasbarth         Eikmeier, Bernd; Jahn, Katrin (2007): Entwicklung
    (Vorsitzender des Bundesumweltamtes) und Olav           der Stromversorgung in Norddeutschland – Wie
    Hohmeyer (Mitglied des Sachverständigenrat für          schnell wächst der Anteil der Offshore-Wind-
    Umweltfragen) davon aus, dass ein Atomausstieg          parks? In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen
    bereits deutlich vor 2022 möglich wäre, nämlich         57. Jg., Heft 1, S. 43-47.
    2015, bzw. 2017 (Hohmeyer et al. 2011, UBA          Hohmeyer, Olav et al. (2011): Atomausstieg 2015 und
    2011). Eine Abhängigkeit des beschleunigten             regionale Versorgungssicherheit. Kurzgutachten
    Atomausstiegs von der Energieproduktion durch           des Zentrum für Nachhaltige Energiesysteme
    Offshore-Windanlagen wird von keiner der beiden         (ZNES) an der Universität Flensburg, 27. April.
    Studien gesehen.                                    Jarass, Lorenz; Obermair, Gustav M. (2012): Welchen
                                                            Netzausbau erfordert die Energiewende? Unter
                                                            Berücksichtigung des Netzentwicklungsplans
Literatur                                                   2012. Wiesbaden: Verlagshaus Monsenstein und
                                                            Vannerdat OHG Münster.
Bruns, Elke; Futterlieb, Matthias; Ohlhorst, Dörte;     Neukirch, Mario (2008): Energiewirtschaft und
   Wenzel, Bernd (2012): Netze als Rückgrat der             Windkraft: Eine Länder vergleichende Politik-
   Energiewende. Hemmnisse für die Integration              analyse zur deutschen Offshore-Windenergie.
   erneuerbarer Energien in Strom-, Gas- und Wär-           In: Ökologisches Wirtschaften 2/2008,S. 43-46.
   menetze. Unter Mitarbeit von Frank Sailer und        Sachverständigenrat für Umweltfragen (2011): Wege
   Thorsten Müller. Universitätsverlag der TU Berlin.       zur 100 Prozent erneuerbaren Stromversorgung.
Bundesnetzagentur (Hrsg.) (2011): Bericht zu den            Sondergutachten. Januar 2011, Berlin.
   Auswirkungen des Kernkraftausstiegs auf die          Umweltbundesamt (Hrsg.) (2011): Hintergrundpapier
   Übertragungsnetze und die Versorgungssicher-             zur Umstrukturierung der Stromversorgung in
   heit. Zugleich: Bericht zur Notwendigkeit eines          Deutschland. Mai, geänderte Verfassung vom
   Reservekernkraftwerks im Sinne der Neuregelun-           September.
   gen des Atomgesetzes. 31. August 2011.
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