Bidens Balanceakt - die Ukraine stärken, Krieg mit Russland vermeiden
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NR. 41 JUNI 2022 Einleitung Bidens Balanceakt – die Ukraine stärken, Krieg mit Russland vermeiden Ziele, Szenarien, Optionen Peter Rudolf In einem Beitrag für die »New York Times« vom 31. Mai 2022 benannte Präsident Joe Biden klarer denn je die Ziele der USA im Ukraine-Krieg: »eine demokratische, un- abhängige, souveräne und prosperierende Ukraine, die die Mittel zur Abschreckung und Verteidigung gegen eine weitere Aggression besitzt«. Washington unterstütze die Ukraine mit Waffen, damit sie in Verhandlungen die stärkstmögliche Position habe, so Biden. Der Sturz Putins sei nicht Ziel der amerikanischen Politik. Und solange die USA oder Verbündete nicht angegriffen würden, werde es zu keiner direkten Beteili- gung an dem Konflikt kommen, also zu keiner Entsendung eigener Truppen und zu keinen amerikanischen Angriffen auf russische Kräfte. Die USA, so Biden, würden die Ukraine weder zu Militärschlägen jenseits ihrer Grenzen »ermutigen« noch sie dazu »befähigen«. Es sei nicht Amerikas Absicht, den Krieg zu verlängern, um Russland »Schmerz« zuzufügen. Washington hat die Lieferung von Mehrfachraketenwerfern an die Bedingung geknüpft, dass die Ukraine damit keine Ziele auf russischem Terri- torium angreift. Dies zeigt den Balanceakt, vor dem Biden bei seinen Entscheidungen steht. Er möchte auf der einen Seite die Ukraine militärisch unterstützen, auf der anderen aber vermeiden, dass der Konflikt zu einem Krieg zwischen den USA und Russland eskaliert. Und das alles in einer Situation, in der keine Gewissheit darüber besteht, wo genau bei Putin die »roten Linien« liegen. Mit dem Beitrag des Präsidenten reagierte Washington der Regierung in Kyjiw das Weiße Haus auf ein vielbeachtetes deutlich machen, wie weit USA und Nato Editorial der »New York Times«, in dem die Konfrontation mit Russland zu treiben eine gewisse Verschwommenheit der bereit seien und wo die Grenzen für die amerikanischen Ziele im Ukraine-Konflikt Hilfsmaßnahmen zugunsten der Ukraine moniert wurde. Ohne Klarheit in diesem lägen. Die ukrainische Führung müsse in Punkt riskiere die Biden-Administration, der Lage sein, ihre Entscheidungen auf dass der innenpolitische Rückhalt für die Grundlage realistischer Einschätzungen Unterstützung der Ukraine mit Waffen und zu treffen. Geld erodiere, so das Blatt. Zudem müsse
Kakophonie und Konfusion Defense Colin H. Kahl sagte Mitte Juni, dass Washington der Ukraine nicht vorschreiben Verschiedene Äußerungen aus den Reihen werde, wie, was und wann sie verhandeln der Biden-Administration hatten sowohl in solle. So vermeidet die Administration die den USA als auch unter ihren Verbündeten politisch heikle Diskussion darüber, wie für Ungewissheit gesorgt, mit welchem Ziel eine Verhandlungslösung aussehen könnte eigentlich Washington die Ukraine unter- und welche territorialen Einbußen damit stützt. So sagte der Präsident im März 2022, für die Ukraine verbunden wären. dass Putin nicht an der Macht bleiben könne Kyjiw, so heißt es, entscheide selbst, was – was ein Sprecher des Weißen Hauses je- die Kriegsziele seien. Doch wie lange und doch umgehend relativierte und als bloßen zu welchen Zwecken die Ukraine den Ausdruck »moralischer Empörung« dar- Kampf führen kann, hängt im Wesent- stellte. Keinesfalls sei ein Regimewechsel in lichen von der militärischen und finanziel- Moskau zum Ziel amerikanischer Politik len Unterstützung durch die USA ab. Und geworden. Nachdem Verteidigungsminister die Interessen Kyjiws und Washingtons Lloyd Austin von der »Schwächung« Russ- können durchaus auseinandergehen – so lands gesprochen hatte, wurde dies in Krei- etwa, wenn die Ukraine Ziele verfolgt, die sen der Administration als Ziel mit Blick aus amerikanischer Sicht ein zu hohes auf den Krieg interpretiert. Laut der ame- Risiko der Konflikteskalation mit sich brin- rikanischen Nato-Botschafterin Julianne gen. Die Beschränkungen, die sich die USA Smith wiederum will Washington eine bei der militärischen Unterstützung auf- »strategische Niederlage« (strategic defeat) erlegen, um eine direkte Beteiligung am Russlands sehen. Wie es in einem Papier Krieg zu vermeiden, sind Ausdruck einer des Nationalen Sicherheitsrates hieß, das unausgesprochenen Interessendivergenz. talking points für den internen Gebrauch Früh hat Präsident Biden deutlich gemacht, auflistete, wünschten die USA eine demo- dass ein unmittelbarer militärischer Kon- kratische, souveräne und unabhängige flikt seines Landes mit Russland unter allen Ukraine sowie den »strategischen Fehl- Umständen vermieden werden müsse, denn schlag« der russischen Versuche, die Vor- dies wäre »World War III«. herrschaft über das Land zu erlangen. Die ukrainische Kampffähigkeit soll demnach gestärkt werden, damit Kyjiw am Verhand- Der Schatten russischer Nuklear- lungstisch eine so starke Hand wie möglich drohungen hat. Vor dem Kongress wurde seitens der Administration diese Zielformulierung ge- Mit seinen nuklearen Drohgebärden hat braucht: die Ukraine als souveräner Staat, Putin ein Element »strategischer Unbere- der eine funktionierende Regierung hat chenbarkeit« eingeführt. Moskaus entspre- und in der Lage ist, sein Territorium zu chende Signale machen den Ukraine-Krieg schützen. potentiell zu einer nuklearen Krise – mit Was dieses Territorium umfasst – dar- dem Risiko einer entweder vorbedachten über schweigt man sich aus. Ob dazu auch oder auch unbeabsichtigten Eskalation. die 2014 verlorenen Gebiete zählen, über- Eine vorbedachte Eskalation wäre insofern lässt Washington der ukrainischen Seite. denkbar, als Moskau taktische Kernwaffen Die amerikanische Position lautet, nur der einsetzen könnte, wenn sich die Kriegs- gewählte Präsident der Ukraine könne ent- situation für Russland verschlechtert. Dies scheiden, was unter einem Sieg zu verste- geschähe in der Hoffnung, dass die Ukraine hen sei. Die USA würden, so betonte Biden den Kampf einstellt oder die USA und im genannten »New York Times«-Beitrag, andere Staaten ihre Nachschublieferungen weder öffentlich noch im Geheimen Druck beenden. Eine unbeabsichtigte Eskalation auf Kyjiw zugunsten territorialer Zuge- wäre möglich, sollte sich die Konfrontation ständnisse ausüben. Under Secretary of zwischen Russland und dem Westen weiter SWP-Aktuell 41 Juni 2022 2
zuspitzen. Zweideutige Signale können in eskalation begrenzen könnten, gibt es fak- einer solchen Konstellation vom jeweiligen tisch nicht. Die USA setzen zwar darauf, Gegenüber gemäß den schlimmsten Ver- dass der Verzicht auf ein direktes militäri- mutungen interpretiert werden und so das sches Eingreifen das Eskalationsrisiko min- Risiko wechselseitiger Fehlwahrnehmungen dert. Doch aus russischer Sicht stellt bereits erhöhen. Aus Sorge um mögliche Missver- die militärische Unterstützung der Ukraine ständnisse hat das US-Verteidigungsminis- mit Waffen und Geheimdienstinformatio- terium bereits darauf verzichtet, den routi- nen eine Kriegsbeteiligung dar. nemäßigen Test einer Interkontinental- Moskau hat die US-Administration wie- rakete durchzuführen. derholt gewarnt, sie müsse mit »unvorher- Angesichts der Ungewissheit, was Russ- sehbaren Konsequenzen« rechnen, sollte land alles als Einmischung verstehen könn- die Lieferung fortgeschrittener Waffensys- te, lautete die sich früh abzeichnende Linie teme an die Ukraine nicht beendet werden. der Biden-Administration: ja zu Rüstungs- Im Pentagon und bei den amerikanischen lieferungen an die Ukraine, zu einer gewis- Nachrichtendiensten hat dies zu Diskussio- sen nachrichtendienstlichen Unterstützung nen geführt, ob Russland damit gemeint des Landes und zu umfassenden Sanktio- haben könnte, den Waffennachschub mit- nen gegen Moskau, aber strikte Zurück- tels Sabotage oder Angriffen noch auf dem weisung der ukrainischen Bitte, eine Flug- Territorium eines Nato-Staates stören zu verbotszone durchzusetzen, und Vermei- wollen. Sollte Russland mit konventionel- dung all dessen, was als direkte Kriegs- len Mitteln ein Bündnismitglied angreifen, beteiligung verstanden werden könnte. um Nachschublieferungen an die Ukraine Denn andernfalls, so die große Sorge, drohe zu unterbrechen oder vor weiteren Hilfen eine unmittelbare Konfrontation mit russi- abzuschrecken, stünden die USA vor heik- schen Streitkräften. Um die Gefahr eines len Fragen. Sie müssten entscheiden, wie unbeabsichtigten militärischen Zwischen- nachdrücklich darauf zu reagieren wäre, falls mit Flugzeugen oder Schiffen zu redu- welche militärischen Optionen gegen russi- zieren, wurde auf US-Initiative hin eine sche Streitkräfte in Betracht kämen und »Hotline« zwischen amerikanischem und ob die Ukraine nun Waffen erhalten sollte, russischem Militär eingerichtet. die bislang zurückgehalten wurden. Eskalationsrisiken und Grenzen der amerikanischen Ungewissheiten Unterstützung Auf Seiten der USA ebenso wie Russlands Die USA lassen der Ukraine mittlerweile ist der Ukraine-Krieg in Deutungsrahmen vieles an Rüstungsgütern zukommen – eingebettet, die eine Konflikteskalation doch nicht alles, was Kyjiw wünscht. Als begünstigen. Für die USA unter Biden ist problematisch gelten nicht allein Kampf- der Konflikt Teil der großen Auseinander- flugzeuge. Die Ukraine drängte seit gerau- setzung zwischen Demokratie und Autokra- mer Zeit auf die Lieferung sogenannter tie. Der jetzige Kampf für Freiheit wird in Multiple Launch Rocket Systems, Mehr- die Traditionslinie des Konflikts mit der fachraketenwerfer mit stärkerer Feuerkraft kommunistischen Sowjetunion gesetzt. Der und größerer Reichweite als die bis dato Raum für Kompromisse mit einem Präsi- gelieferten M777-Haubitzen, die 24 bis 29 denten Putin, der des Genozids beschuldigt Kilometer weit schießen können. Doch im wird und als Kriegsverbrecher gilt, ist nicht Weißen Haus bestand die Sorge, dass solche groß. Die russische Führung wiederum hat Raketenwerfer für Angriffe auf Ziele in den Konflikt zu einer existentiellen Aus- Russland genutzt werden könnten. Mit einandersetzung mit der Nato stilisiert. Be- seiner Aussage, keine Systeme liefern zu währte »Leitplanken«, die eine Konflikt- wollen, deren Reichweite die russische SWP-Aktuell 41 Juni 2022 3
Grenze überschreitet, zog sich Biden Kritik Risikomanagement im aus den Reihen republikanischer Senatoren Abnutzungskrieg zu. Von Verrat an der Ukraine aus Angst vor Russland sprach etwa Lindsey Graham. Nach Einschätzung der US-Geheimdienste, Ende Mai gab der Präsident bekannt, die wie sie Avril Haines, Director of National USA würden das High Mobility Artillery Intelligence, am 10. Mai dem Kongress Rocket System (HIMARS) liefern, dessen darlegte, entwickelt sich der Krieg in der satellitengesteuerte Raketen eine Reich- Ukraine zu einem Abnutzungskrieg. In den weite von bis zu 77 Kilometer haben. Die nächsten Monaten müsse damit gerechnet Ukraine sicherte der US-Regierung zu, werden, dass sich die Situation zunehmend damit keine Ziele in Russland anzugreifen, unvorhersehbar und potentiell eskalato- was aus grenznahen Gebieten möglich risch entwickle – gerade auch mit Blick wäre. Nicht geliefert werden indes Raketen auf russische Versuche, die westlichen mit einer Reichweite von rund 320 Kilo- Nachschublieferungen zu unterbinden. Zu- metern, mit denen dieses System bestückt dem erwarte man von Moskau eine Fort- werden könnte. setzung der nuklearen Rhetorik; sie solle Die Weitergabe nachrichtendienstlicher den Westen vor einer Verstärkung der mili- Informationen – darunter Echtzeitdaten tärischen Hilfe für die Ukraine abschrecken zur Lokalisierung russischer Verbände – und »auf öffentliche Kommentare der USA unterliegt ebenfalls gewissen Beschränkun- und Nato-Verbündeter antworten, die eine gen, politischen wie rechtlichen. Dies soll Ausweitung der westlichen Ziele in dem demonstrieren, dass Washington die Ukrai- Konflikt nahelegen«. Explizit sprach Haines ne zwar unterstützen, aber nicht selbst zur von möglichen nuklearen Signalen Russ- Konfliktpartei werden möchte. Zum einen lands in Form größerer Übungen der strate- werden offenbar keine Informationen über- gischen Atomstreitkräfte. Nach wie vor sei mittelt, die zur Ausschaltung russischer zu erwarten, dass Putin nur im Falle einer Führungspersonen dienen könnten, etwa existentiellen Bedrohung für den russischen des Verteidigungsministers oder des Gene- Staat oder das Regime den Einsatz von Nuk- ralstabschefs. Zum anderen werden Daten learwaffen autorisieren werde. Doch in zurückgehalten, die die Ukraine zu Angrif- einer so angespannten Lage bestehe immer fen gegen russische Ziele außerhalb des ein erhöhtes Potential für Fehlkalkulatio- eigenen Landes nutzen könnte. Außerdem nen und eine unbeabsichtigte Zuspitzung wird keine sogenannte Zielinformation der Lage. (»target information«) weitergegeben, etwa Das Risiko einer nuklearen Eskalation dass ein bestimmter General sich an einem nimmt die Biden-Administration ernst – bestimmten Ort aufhält. Was geteilt wird, anders als manche Experten in der amerika- sind jedoch Informationen über den Ort nischen Debatte, die für eine noch stärkere von Kommando- und Kontrollzentralen. Unterstützung der Ukraine plädieren, auf Wenn ukrainische Kräfte sich entscheiden, deren militärischen Sieg setzen und dazu solche Einrichtungen anzugreifen, und da- tendieren, die russischen Drohgebärden bei einen russischen General töten, ist das kleinzureden oder völlig auszublenden. So nicht den USA zuzurechnen – so die feine hieß es etwa in einem Kommentar der Zeit- rechtliche Unterscheidung aus amerikani- schrift »The Atlantic«, man dürfe Russland scher Sicht. Im Falle der »Moskwa«, des von nicht signalisieren, dass es eine atomare der Ukraine versenkten Flaggschiffs der Trumpfkarte besitze, die sich jederzeit russischen Schwarzmeer-Flotte, haben die gegen den Westen ausspielen lasse. Nukle- USA nach eigenen Angaben denn auch are Abschreckung wirke in beide Richtun- keine Zieldaten übermittelt, sondern nur gen. Die USA sollten Russland nicht direkt die Identität des von ukrainischen Kräften angreifen, sich durch Moskaus Atomwaffen lokalisierten Schiffes. aber auch nicht davon abhalten lassen, SWP-Aktuell 41 Juni 2022 4
russische Kräfte in einem von diesen über- Nukleare Szenarien und fallenen Land anzugreifen. mögliche Reaktionen Putin hat »nuclear brinkmanship«, also das Spiel mit dem Feuer, gleichsam norma- Die US-Administration spekuliert öffentlich lisiert, so dass von seinen wiederholten nicht darüber, was für die russische Füh- Drohungen ein gewisser Gewöhnungseffekt rung eine existentielle Bedrohung von Staat ausgeht. Doch niemand kann sagen, wie oder Regime wäre, die zum Einsatz von hoch das Eskalationsrisiko tatsächlich ist. Nuklearwaffen führen könnte. Doch rech- Wenn grundlegende Entscheidungen von net Washington offensichtlich mit der Mög- einer einzigen Person und ihren Eigenhei- lichkeit, Putin könnte – vor einer demüti- ten abhängen, sind belastbare Prognosen genden Niederlage stehend – versucht nicht möglich. sein, mit dem Einsatz taktischer Nuklear- Für die Biden-Administration gilt offen- waffen die Konfliktdynamik zu verändern. bar: »Escalation is now a true danger.« So Niemand kann vorhersagen, wie sich wird ein »senior official« zitiert. Laut Victo- Putin entscheiden wird, wenn er zwischen ria Nuland, Under Secretary of State for der Zurückdrängung Russlands aus den Political Affairs im US-Außenministerium, besetzten Gebieten in der Ostukraine und hat Washington der russischen Führung einer nuklearen Eskalation wählen müsste. deutlich gemacht, dass der Einsatz von Ein entsprechendes Szenario könnte sein: Nuklearwaffen nicht nur für die Ukraine Russland annektiert den Oblast Cherson und die Welt »katastrophal« wäre, sondern oder den Donbas, die Ukraine gewinnt mili- auch für Putin und sein eigenes Land. Die tärisch Teile davon zurück, und Putin setzt Kosten für die russische Seite wären »astro- taktische Nuklearwaffen ein, um den Ver- nomisch«. Präsident Biden sprach davon, lust dieser »russischen Gebiete« zu verhin- jeglicher Einsatz russischer Nuklearwaffen dern. im Ukraine-Krieg würde »schwere Konse- Vom Risiko einer nuklearen Eskalation quenzen« (severe consequences) nach sich wäre auch auszugehen, wenn die Ukraine ziehen. versuchen sollte, die von Russland annek- Innerhalb der US-Administration wird tierte Krim militärisch zurückzugewinnen. seit Beginn des Krieges über Szenarien eines Aus Sicht Russlands könnte damit seine russischen Atomwaffeneinsatzes und mög- territoriale Integrität gefährdet sein. Sollte licher amerikanischer Reaktionen darauf Putin einen ukrainischen Angriff auf die nachgedacht. Öffentlich schweigt man sich Krim als rote Linie benennen, stünde der dazu aus; nur wenig sickert durch. Die Westen vor der Frage, ob er das Risiko ein- Optionen, die regierungsintern durchge- geht, Kyjiw dabei zu unterstützen, oder ob spielt werden, scheinen sich jedoch nicht er diese rote Linie akzeptiert. allzu sehr von dem zu unterscheiden, was Für die russische Führung ist das Heran- amerikanische Sicherheitsexperten öffent- rücken der Ukraine an USA und Nato poli- lich diskutieren. Demnach stünde die tisch und geopolitisch eine solche Bedro- Administration vor erheblichen Problemen, hung, dass sie zum Krieg bereit war. Inso- sollte Putin den Einsatz taktischer Atom- fern steht für sie ein vitales Interesse auf waffen oder die explizite Drohung damit dem Spiel; anders als für die USA und die als »Trumpfkarte« nutzen, um einer sich für Nato, die erklärtermaßen nicht bereit sind, ihn verschlechternden militärischen Lage mit eigenen Kräften in den Krieg einzugrei- zu begegnen. Der Blick auf eine mögliche fen. Es handelt sich also um eine Asymme- Eskalation lässt erahnen, warum Biden trie der Interessen, die in Rechnung gestellt seine Besorgnis darüber ausdrückte, dass werden muss, wenn es darum geht, russi- Putin keinen Ausweg aus dem Ukraine- sche Eskalationsdrohungen einzuschätzen. Krieg habe (»doesn’t have a way out right Russland, so ist zu befürchten, wird im now, and I’m trying to figure out what we »Wettbewerb um die Risikobereitschaft« zu do about that«). größeren Risiken bereit sein. Daher kann SWP-Aktuell 41 Juni 2022 5
eine vorbedachte Eskalation nicht ausge- zu weiteren Einsätzen taktischer Nuklear- schlossen werden, mit der die russische waffen ermutigt sieht, mit denen das ukrai- Führung ihre Entschlossenheit zum Aus- nische Militärpotential entscheidend ge- druck bringt. schwächt würde. Eine vierte Option läge Mit Blick auf den möglichen Einsatz darin, auf eine Verhandlungslösung zu taktischer Nuklearwaffen durch Russland drängen, das heißt faktisch, Druck auf die werden in den USA verschiedene Szenarien Ukraine auszuüben, damit sie ein Ergebnis diskutiert: der Test einer Atomwaffe in der akzeptiert, das – wie auch immer es im Atmosphäre zu Demonstrationszwecken Einzelnen aussähe – als Belohnung der (nach amerikanischen Geheimdienst- russischen Aggression politisch äußerst einschätzungen angeblich eine Option, die problematisch wäre. Putin aus seinem engeren Kreis nahegelegt Ungeachtet dessen, wie die amerika- wurde, als die russischen Streitkräfte in der nische Reaktion ausfallen würde: Allein Ukraine unter Druck waren); die Detona- schon konkrete Vorbereitungen Moskaus tion einer Kernwaffe über dem Schwarzen für den Einsatz taktischer Kernwaffen Meer oder auch über der Ukraine, um durch könnten einen Prozess in Gang setzen, in den elektromagnetischen Impuls etwa die dessen Verlauf die Alarmbereitschaft auf Stromversorgung Kyjiws lahmzulegen; ein beiden Seiten erhöht würde, ein Prozess, nukleares Vorgehen gegen militärische der in eine nukleare Krise münden könnte. Ziele in der Ukraine; ein »Enthauptungs- Sollten russische Streitkräfte den Einsatz schlag« mit dem Ziel, die ukrainische Füh- taktischer Kernwaffen in der Ukraine be- rung in ihren unterirdischen Bunkern zu absichtigen, würde dies der amerikanischen töten. Aufklärung vermutlich nicht entgehen. Die Welche Optionen hätten die USA, um russische Führung könnte sich nicht sicher auf einen russischen Nuklearwaffeneinsatz sein, wie Washington auf solche Signale in der Ukraine zu reagieren? Eine erste Mög- reagiert. Würde sie damit rechnen, dass die lichkeit wäre, eigene Kernwaffen einzuset- USA ihre strategischen Nuklearstreitkräfte zen. Doch auf dem Boden der Ukraine russi- in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen, sche Streitkräfte nuklear anzugreifen, um und würde sie deshalb in diesem Ablauf sie militärisch zu schwächen, wäre politisch sicherheitshalber vorangehen? Oder würde problematisch. Einsätze gegen Ziele in Russ- Moskau auf eine erhöhte Alarmbereit- land jedoch würden den Konflikt auf eine schaft verzichten, die meisten strategischen neue Eskalationsstufe bringen und drama- U-Boote in den Häfen belassen und mobile tisch verändern. Eine zweite Option bestün- Abschussvorrichtungen für Interkontinen- de darin, mit konventionellen Angriffen talraketen nicht in den Wäldern Sibiriens gegen das russische Militär in der Ukraine verbergen, um so zu signalisieren, dass es zu antworten. Auch dies würde den Kon- nur um einen begrenzten Einsatz geht? flikt höchstwahrscheinlich zu einem Krieg Verlassen hingegen Russlands strategische zwischen USA bzw. Nato und Russland U-Boote die Häfen, werden amerikanische eskalieren lassen. Eine dritte Möglichkeit Jagd-U-Boote ihre Fährte aufnehmen und wäre, an der bisherigen Politik der militäri- sie beschatten. Selbst wenn Moskau auf schen Unterstützung für die Ukraine fest- eine erhöhte Einsatzbereitschaft der stra- zuhalten, auf eine Eskalation und damit tegischen Nuklearstreitkräfte verzichten Konfliktausweitung zu verzichten und dar- würde und auch Washington bzw. Nato auf zu setzen, dass Russland militärisch den Bereitschaftsgrad der eigenen Kernwaf- weiter geschwächt wird. Dies könnte zur fen unverändert beließe, würde wohl die Folge haben, dass Putin, in die Ecke ge- Alarmbereitschaft auf Seiten des Westens drängt, den Krieg zu einer direkten Kon- steigen und dessen Aufklärungsaktivität an frontation zwischen Russland und der Nato der russischen Peripherie sich intensivieren werden lässt. Konsequenz könnte jedoch – mit der Möglichkeit, dass sich hieraus auch sein, dass sich die russische Führung Verwicklungen ergeben. Käme es tatsäch- SWP-Aktuell 41 Juni 2022 6
lich zu einem Einsatz taktischer Nuklear- Programme in den USA ausgegeben sehen, waffen durch Russland, wäre vermutlich etwa zur Sicherung der Grenze. Unterstüt- damit zu rechnen, dass auf amerikanischer zung kommt dabei von Ex-Präsident Donald Seite Vorbereitungen mit Blick auf eine Trump, der ebenfalls kritische Töne zur Eskalation eingeleitet würden, auf die Höhe des Hilfsprogramms angeschlagen wiederum mit russischen Reaktionen zu hat. Sollten die Republikaner, wie vielfach rechnen wäre. erwartet, die Wahlen zum Repräsentanten- haus im November 2022 gewinnen, könn- ten sich die Stimmen mehren, denen die Wie weiter? massive Unterstützung für die Ukraine missfällt. Zwar verteidigt die republikani- © Stiftung Wissenschaft Das Kalkül der Biden-Administration scheint sche Führung im Kongress ihre Ausgaben- und Politik, 2022 zu sein, Putin vor die Wahl zu stellen: ent- bereitschaft. Dies gilt auch für die Senato- Alle Rechte vorbehalten weder ernsthafte Friedensverhandlungen ren Ted Cruz, Marco Rubio, Rick Scott und Das Aktuell gibt die Auf- oder ein sich möglicherweise über Jahre Tom Cotton, allesamt potentielle Präsident- fassung des Autors wieder. hinziehender Krieg, der eine nationale schaftskandidaten. Sie verweisen auf die Mobilmachung in Russland erfordern wür- Botschaft, die damit nicht zuletzt China In der Online-Version dieser de. Noch geht dieses Kalkül nicht auf. Nach übermittelt werde, einem Land, in dem sie Publikation sind Verweise Einschätzung der US-Geheimdienste berei- eine noch größere Bedrohung als in Russ- auf SWP-Schriften und wichtige Quellen anklickbar. tet sich Putin auf einen längeren Krieg vor. land sehen. Doch wie Rubio deutlich Seine Erwartung ist offenbar, dass er die machte, könne der Präsident nicht alle drei SWP-Aktuells werden intern größere Bereitschaft und Fähigkeit hat, den Monate weitere 40 Milliarden US-Dollar einem Begutachtungsverfah- Herausforderungen zu trotzen, und die Ent- beantragen. Es bedürfe eines klaren Plans ren, einem Faktencheck und schlossenheit von USA und EU aufgrund und festgesetzter Ziele, was die Rolle der einem Lektorat unterzogen. wirtschaftlicher Probleme schwinden wird. Vereinigten Staaten angehe, so der Senator. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der Noch weist wenig darauf hin, dass sich Früher oder später werden die USA vor SWP finden Sie auf der SWP- die Haltung der USA abschwächt. Bislang der Alternative stehen: Sind sie bereit, die Website unter https://www. steht der Kongress mit großer Mehrheit hin- Ukraine beständig in einem militärischen swp-berlin.org/ueber-uns/ ter der Unterstützung für die Ukraine. Der Konflikt zu unterstützen, der sich womög- qualitaetssicherung/ Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act of lich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte SWP 2022, den beide Häuser im April verab- hinziehen wird und in dem sie Kyjiw die Stiftung Wissenschaft und schiedet haben, verschlankt den bürokrati- Bestimmung der Ziele überlassen? Oder Politik schen Prozess für die Überlassung von Waf- werden die USA, für die der Konflikt mit Deutsches Institut für fen an die Ukraine und Staaten in deren China der entscheidende ist, die Ukraine Internationale Politik und Nachbarschaft. Seit Beginn des russischen irgendwann darauf drängen, sich mit dem Sicherheit Angriffskrieges wurden schnell und ohne »strategisch Erreichbaren« zu begnügen? Ludwigkirchplatz 3–4 große Diskussionen rund 53 Milliarden 10719 Berlin US-Dollar an militärischer, wirtschaftlicher Telefon +49 30 880 07-0 und humanitärer Hilfe bewilligt. Über Literaturhinweis Fax +49 30 880 07-100 40 Milliarden davon wurden im Mai freige- www.swp-berlin.org geben, mit 368 zu 57 Stimmen im Reprä- Peter Rudolf swp@swp-berlin.org sentantenhaus und mit 86 zu 11 Stimmen Welt im Alarmzustand. Die Wiederkehr ISSN (Print) 1611-6364 im Senat. Es waren nur Republikaner, die nuklearer Abschreckung ISSN (Online) 2747-5018 dagegen votierten. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf., 2022 DOI: 10.18449/2022A41 Einige der republikanischen Kandidaten für die kommenden Kongresswahlen halten mit ihrer Kritik denn auch nicht hinter dem Berg. Der nationalistische »America first«- Flügel der Partei will das Geld lieber für Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika. SWP-Aktuell 41 Juni 2022 7
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