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Bilanz
der Menschlichkeit

JAHRESBERICHT DES ÖSTERREICHISCHEN ROTEN KREUZES 2020
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Inhalt
                                                                       Corona
                                                                       Im Jahrhunderteinsatz ................................4

    72.437
                                                                       Rettungsdienst
                                                                       Aus ein paar Wochen wurde ein Jahr........8

                                                                       Blut spenden
 ­Rotkreuz-Freiwillige                                                 Blut spenden in Zeiten der Pandemie......10
      in Österreich
                                                                       Pflege & Betreuung
                                                                       Neue Sorgekultur nötig.............................14

        11,1
                                                                       Unsere Hilfe in Zahlen
                                                                       Das Rotkreuz-Jahr 2020............................18

                                                                       Einsatz im Nahen Osten
                                                                       Geblieben, um zu helfen............................20
Millionen Freiwillige
           weltweit beim                                               Individuelle Spontanhilfe
                                                                       Zum Leben zu wenig ...................................24
          Roten Kreuz und
          Roten Halbmond                                               Internationale Zusammenarbeit
                                                                       Ungleiches Warten ....................................28

                                                                       Jugend
                                                                       Gemeinsam lesend durch den
                                                                       Lockdown .....................................................32

                                                                       Die Leistungsbereiche des Österreichischen
                                                                       Roten Kreuzes ..............................................35

Impressum: Österreichisches Rotes Kreuz, Wiedner Hauptstraße 32, 1041 Wien. ZVR-Zahl: 432857691. www.roteskreuz.at,
service@roteskreuz.at. Gesamtleitung: Mag. Thomas Marecek. Produktionsleitung und Chefredaktion: Mag. Ursula Fraisl.
Schlussredaktion: Mag. Michael Achleitner. Coverfoto: ÖRK/LV Wien/Markus Hechenberger. Icons: The Noun Project, The Noun Project/
Mike Ashley, Martin Smith, Creative Stall; Info-Media. Produktion: Info-Media, 1010 Wien. Grafische Gestaltung: Constanze Nečas.
Fotoredaktion: Annika Reidinger. Lektorat: Mag. Katharina Schindl, Mag. Sabine Wawerda. Druck: Gerin Druck, 2120 Wolkersdorf.
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Vorwort

                          R
                                  NA in einer Fetthülle, mit Spike-Proteinen gespickt, 120 bis 160
                                  Nanometer groß. Wer hätte gedacht, dass ein so winziges Ding
                                  so großen Schaden anrichten kann? Innerhalb von Wochen hat
                                  das Coronavirus die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
                          mühelos in die Knie gezwungen und Hilfsorganisationen gefordert wie
                          nie zuvor. Kein Wunder, dass Covid auch das bestimmende Thema
                          unseres Jahresberichtes ist.

                          Das Rote Kreuz ist in erster Linie als „die Rettung“ bekannt. Das ist
                          unser größter Leistungsbereich, der zusätzlich zum regulären Betrieb
                          2020 viele weitere Aufgaben übernommen hat – von Infektionstrans-
                          porten bis zu Covid-Tests.

                          Nicht ohne Stolz auf die mehr als 82.000 Mitarbeiter_innen weise ich
                          jedoch bei vielen Gelegenheiten darauf hin, dass das Rote Kreuz weit
                          mehr als „die Rettung“ ist. Das Spektrum unserer Leistungen ist breit
                          und reicht von internationaler Katastrophenhilfe über Pflege bis hin zu
                          Lernhilfeprogrammen. Wenn Sie die folgenden Seiten lesen, werden Sie
                          bemerken, dass kein einziger dieser Leistungsbereiche so arbeiten konnte, wie
                          wir das noch im Jahresbericht 2019 beschrieben haben.

                          Man merkt, wie schnell es gehen kann, dass die Welt aus den Fugen gerät. Das
                          Rote Kreuz möchte dann nicht nur Helfer in der Not sein, sondern auch Fels in
                                            der Brandung. Wir sind gefordert, wir sind anpassungs-
                                              fähig und verlässlich, wir sind – und bleiben – da, um
                                                zu helfen.

                                                 Bitte überzeugen Sie sich davon, dass wir das tun –
                                                 und vor allem: Bleiben Sie gesund. C

                                                                     Univ.-Prof. DDr. Gerald Schöpfer
                                                                     Präsident des
Foto: ÖRK/Nadja Meister

                                                                     Österreichischen Roten Kreuzes

                                                                                            www.roteskreuz.at/jahresbericht   3
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JAHRESBERICHT 2020

                                                    Im
               Jahrhundert-
                  einsatz
                                                  VON VERA MAIR

                 Testen, transportieren, tracen. In der Pandemiebekämpfung
                 steht das Österreichische Rote Kreuz seit eineinhalb Jahren
                   an vorderster Front. Ein Rückblick auf einen der größten
                                     Einsätze aller Zeiten.

                                                  FACTS & FIGURES

                               Mehr als                 Mehr als

                              1,6
                        Millionen durchgeführte
                                                  77.000 800.000
                                                     durchgeführte
                                                                           entgegengenommene
                                                                         Anrufe bei der Gesundheits-
                            Covid-Tests 2020      Infektionstransporte          hotline 1450

    4
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CORONA

                                         Sanitäter_innen
                                         im Corona-Einsatz
ÖRK/LV Wien/KHD Dokuteam/Armin Fauland

                                                                                                        ÖRK/Giovanni Castell

                                                             www.roteskreuz.at/jahresbericht       5
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Rotkreuz-Mitarbeiter_innen beim Coronatest

JAHRESBERICHT 2020

             C
                                 hina, 1. Dezember 2019. Die Volksrepublik
                                 meldet der Weltgesundheitsorganisation
                                 Fälle einer mysteriösen Lungenkrankheit.
                                 Während am 1. Jänner 2020 der Großteil
                                 der österreichischen Bevölkerung voll Zu-
                                 versicht ins neue Jahr blickt, tagen bereits
                      die ersten Krisenstäbe. Die Krisenmanager_innen sind
                      alarmiert. „Es war schnell klar, dass sich die Krankheit
                      auch außerhalb Chinas ausbreiten wird“, erinnert sich
                      Bundesrettungskommandant Gerry Foitik, der seit da-
                      mals den Corona-Einsatz des Roten Kreuzes leitet. Zu
                      diesem Zeitpunkt ist das Coronavirus noch unbekannt,
                      niemand ahnt, dass Europa bald ein Brennpunkt der
                      Pandemie sein wird.
                        Als Katastrophen- und Einsatzorganisation füllt
                      das Rote Kreuz sofort seine Lager auf. „Wir haben
                      gekauft, was am Markt verfügbar war. Die Lage
                      war teilweise so angespannt, dass sogar in China       von hundert auf null herunterfährt, ist es für das Rote
                      die Schutzausrüstungen knapp wurden“, sagt Foitik.     Kreuz genau umgekehrt. Tausende Freiwillige werden
                                 Statt wie sonst Wasseraufbereitungsan-      mobilisiert, die Hilfsorganisation übernimmt innerhalb
                                       lagen in Krisengebiete zu fliegen,    kürzester Zeit zahlreiche zusätzliche Aufgaben. Das
                                            chartern die Rotkreuz-Logisti-   Rote Kreuz unterstützt das Gesundheitsministerium
                                               ker_innen im Auftrag der Regie-
                                                                             beim Aufbau eines Krisenstabes. Im ganzen Land sind
   Mehr als                                      rung ab März eigene Ma-     Testteams unterwegs. Rotkreuz-Sanitäter_innen brin-

   1,3 Millionen                                   schinen, um Atemschutz-
                                                    masken, Schutzoveralls
                                                                             gen Erkrankte mit Infektionstransporten ins Kranken-
                                                                             haus.
   Downloads der Stopp Corona-App
   bis Dezember 2020                                 und Handschuhe nach       Entscheidend in der Krisenbewältigung ist auch die
                                                     Österreich zu bringen.  Kommunikation. Der Babyelefant wird zum Symbol für
   Rund
                                                     Bis Ende 2020 sind es   das Abstandhalten, das Rote Kreuz informiert darüber,
   10.000                                            z. B. über 18 Millionen wie man sich vor dem Virus schützt. Um die Ausbreitung
   Nutzer_innen der Stopp Corona-App
   informierten bis Dezember ihre Kontakte           FFP2-Masken.            des Virus zu stoppen, geht das Rote Kreuz innovative
   über eine Covid-Erkrankung                                                Wege und startet die Stopp Corona-App. Als bekannt
   oder einen Krankheitsverdacht.                Von null auf hundert wird, dass mit Antikörpern von Genesenen Erkrankten
                                               Immer mehr Menschen in- geholfen werden kann, organisiert das Rote Kreuz im
                                            fizieren sich, am 25. Februar April die Rekonvaleszentenplasmaspende – bis Ende
                                         2020 gibt es die ersten offiziellen des Jahres werden über 500 Spenden geleistet.
                                    Fälle in Österreich. Der große Weck-       Das alles geschieht zusätzlich zum Regelbetrieb.
                             ruf sind Bilder aus Italien: Armeekonvois „Die Lage war extrem instabil. Neben der Pandemie-
                     transportieren Tote, Feldlazarette werden aufgebaut. bekämpfung war eine der wichtigsten Aufgaben, die
                     Während das öffentliche Leben im ersten Lockdown        Menschen weiter zu versorgen. Die Rettung, die Pflege,

    6
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CORONA

Bundesrettungskommandant Gerry Foitik

                                                           Mehr als 25.000 Menschen melden sich bis Ende 2020
                                                           beim Team Österreich, einer Initiative von Hitradio Ö3
                                                           und dem Roten Kreuz. Mitglieder der „Team Öster-
                                                           reich“-Nachbarschaftshilfe übernehmen dringende
                                                           Einkäufe für alle, die das Haus nicht verlassen können
                                                           und Unterstützung brauchen.
                                                             „Wir stehen mitten in einem Einsatz, der so noch nie
                                                           da gewesen ist“, so Foitik. Auch die Helfer_innen sind
                                                           direkt betroffen. „Bei Hochwasser kommt Unterstüt-
                                                           zung sonst von Freiwilligen aus nicht überschwemm-
die Blutspende wurden ja weiter benötigt“, sagt Foitik.    ten Gebieten. Das Wasser geht meist nach wenigen
In allen Bereichen gelten strenge Sicherheitsvorkeh-       Wochen zurück. Bei Corona schwappt seit über einem
rungen, vieles muss neu organisiert und ständig ange-      Jahr eine Welle nach der anderen über das Land und
passt werden. Manche Angebote, wie die Lernhäuser,         die ganze Welt“, sagt der Bundesrettungskomman-
machen online weiter.                                      dant. Eine Belastung, die gerade den Helfer_innen viel
                                                           abverlangt. Sie sind seit über einem Jahr im Dauerein-
Kraft der Zivilgesellschaft                                satz. Ein Ende ist auch heute nicht in Sicht. Die Impfung
Dass der Einsatz so reibungslos läuft, liegt daran, dass   gibt Hoffnung. Genauso wie die Kraft der Zivilgesell-
sich zusätzlich zu den hauptberuflichen Mitarbeiter_       schaft. „Wenn es darauf ankommt, steht Österreich
innen und Zivildienern so viele Freiwillige engagieren.    zusammen“, sagt Foitik. C

     Wir helfen, weil es unsere Aufgabe ist
     Mit Beginn der Corona-Pandemie sind die zahlreichen Helfer_innen des Roten Kreuzes in den
     Fokus der Öffentlichkeit getreten – auch als Expert_innen beim Aufbau katastrophentauglicher
     Strukturen in Einsatzstäben des Bundes. Genau dazu ist das Rote Kreuz da. Wir haben als
     Teil der größten humanitären Hilfsorganisation der Welt die nötige Expertise und sind im
     ganzen Land mit rund 72.500 Freiwilligen und rund 10.000 Angestellten tief verwurzelt.
     Wenn es eine große Krise oder Katastrophe gibt und alles rasch gehen muss, unterstüt-
     zen wir bei Bedarf die Behörden im humanitären Bereich – diese „auxiliary role“ ist
     sogar in einem eigenen Gesetz verankert, dem Rotkreuz-Gesetz. Das ist richtig und gut
     so, in 192 Staaten der Welt hat das Rote Kreuz diese Funktion inne. Auch die Struktu-
     ren für große Einsätze stehen beim Roten Kreuz bereit und es gibt regelmäßig
                                                                                                                                    Fotos: ÖRK, ÖRK/Bogna Bylica, ÖRK/Nadja Meister

     Katastrophenübungen. Wir bereiten uns im Stillen darauf vor, im Notfall Leben zu
     retten. Normalerweise bemerkt man uns in dieser Rolle gar nicht. Bis etwas passiert –
     wie die Corona-Pandemie. Dass das Rote Kreuz eine Aufwandsentschädigung für
     zusätzliche Leistungen bekommt, die sonst nicht abgedeckt würden, weil es als Verein
     ohne Gewinnabsicht kostendeckend arbeiten muss, ist dabei nötig. Ich denke, die
     Menschen in Österreich verstehen das und sind froh, dass es uns gibt.

     Univ.-Prof. DDr. Gerald Schöpfer,
     Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes

                                                                                         www.roteskreuz.at/jahresbericht     7
Bilanz der Menschlichkeit - spendeninfo
JAHRESBERICHT 2020

                   „Aus ein paar Wochen
                              wurde ein Jahr“
                                                              INTERVIEW: URSULA FRAISL

                      Eine normale 40-Stunden-Arbeitswoche von Notfallsanitäter Alex Meller beim
                    Roten Kreuz in Eisenstadt sah vor der Pandemie folgendermaßen aus: Er betreute
                    Patient_innen bei Krankentransporten oder bei Rettungseinsätzen und begleitete
                   Rotkreuz-Notärzt_innen im Einsatzfahrzeug. Daneben hielt er freiwillig ein- bis zwei-
                   mal im Monat Erste-Hilfe-Kurse ab. Dann kam Corona. Und nichts war mehr normal.

                   W
                                           ie hat deine Tätigkeit als Corona- Und wie lange dauert ein Test in einer „Teststraße“
                                          Tester begonnen?                      oder einem Testzentrum heute?
                                          Mein Dienstführender suchte in un- Mittlerweile vergeben wir zehn Termine pro zehn Minu-
                                          serer WhatsApp-Gruppe „für die        ten. In einer Minute ist also alles erledigt – nur manchmal
                                          nächsten Wochen“ Mitarbeiter_in- kommt es zu Wartezeiten.
                   nen, die bei der Bevölkerung Corona-Abstriche machen.
                   Weil ich gern mal was Neues versuchen wollte, habe ich       Fährst du immer noch als mobiler Tester zu Patien­-
                   zugesagt, eine Einschulung bekommen und bin seither -t_innen nach Hause?
                   viermal die Woche für 12 Stunden als mobiler Tester oder Ja, in Ausnahmefällen. Wenn zum Beispiel jemand kein
                   bei Teststationen im Dienst. Aus den „nächsten Wochen“ Auto hat, bettlägerig ist, niemanden hat, der die Kinder
                   wurde mehr als ein Jahr.                                     betreut, oder bereits unter starken Corona-Symptomen
Zur Entspannung:                                                                leidet, machen wir immer noch die Tests zu Hause. Aber
Alex beim
Mountainbiken      Kannst du dich an deinen ersten mobilen Testeinsatz          mittlerweile funktioniert das mit den Teststraßen sehr gut
                      erinnern?                                                – wir haben uns ja auf einen wetterunabhängigen Ganz-
                          Einen klassischen Infektionstransport kannten wir     jahresbetrieb eingerichtet.
                             zwar aus dem Rettungsdienst, aber der kommt
                               normalerweise eher selten vor. Wir waren         Wie kommst du mit der Schutzausrüstung zurecht?
                                zusätzlich geschult, hatten alles vorbereitet, Anfangs dachte ich: 15 Minuten mit einer FFP2-Maske –
                                sind zum Patienten nach Hause gefahren, das wird schwierig. Jetzt trage ich diese 9 bis 12 Stun-
                                 haben die Probe genommen. Das hat 45 Mi- den problemlos. Wir haben sogar mit dem Pulsoxymeter
                                nuten gedauert. Man überprüft alles x-mal:      Selbstversuche gemacht. Bis auf ein paar Druckstellen
                              Was stellt man wo hin, wie greift man es an, haben wir keine Probleme. Nur wenn wir Patient_innen
                            wie zieht man etwas an und aus, damit man we- mehrere Stockwerke die Stiegen hinauftragen müssen,
                         der sich selbst noch jemand anderen ansteckt?          schnaufen wir deutlich mehr als sonst.

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Bilanz der Menschlichkeit - spendeninfo
„Beim Roten Kreuz zu arbeiten bedeutet für mich,                                                       RETTUNGSDIENST
                               für Menschen da zu sein, die Hilfe brauchen.
                             In der Coronazeit ist das umso stärker der Fall.“
                                                                  ohne Grippe überstanden hat. Es wäre doch schön, wenn
                                                                  wir daraus etwas lernen und auch weiterhin – zum Bei-
                                                                  spiel wenn wir Husten oder Schnupfen haben – einen
                                                                  Mundschutz tragen, wenn wir mit dem Bus fahren oder
                                                                  ins Büro gehen.

                                                                  Du hast in diesem Jahr mehr gearbeitet als sonst. Bist
                                                                  du sehr gestresst?
                                                                  Nein, eigentlich nicht. Man hat ja sonst nichts vor und
                                                                  kann die freie Zeit mit gemeinsamem Kochen oder in der
                                                                  Natur verbringen. Ich gehe zum Beispiel gern Mountain-
„Die Arbeitskleidung im 12-Stunden-Dienst hinterlässt zwar
Druckstellen, ist aber sinnvoll: Sie schützt mich und andere“     biken und da habe ich auch Anleihen genommen, die mir
                                                                  im Arbeitsalltag helfen: Ich denke nicht dauernd an die
Wer hat deine Tätigkeiten im regulären Rettungs-                  ganze Strecke, an alle Höhenmeter, die ich zurücklegen
dienst übernommen? Der Corona-Einsatz war ja eine                 muss, sondern nur an die nächste Etappe.
zusätzliche Aufgabe.
Viele Freiwillige, die es sich einteilen konnten, weil sie stu-   Dein Job war im vergangenen Jahr sehr fordernd.
dierten oder in Kurzarbeit waren, und Zivildiener haben da        Hat es dich geärgert, wenn du in den sozialen Medien
Großartiges geleistet und sehr viel übernommen. Es wur-           mitbekommen hast, dass sich Menschen nicht an die
den auch noch ein paar hauptberufliche Mitarbeiter_in-            empfohlenen Maßnahmen halten?
nen aufgenommen.                                                  Wenn sich jemand nicht an die Maßnahmen hält, die uns
                                                                  alle schützen sollen, und noch stolz drauf ist, und wir die
Hattet ihr niemals Angst, euch selbst anzustecken?                Konsequenzen davon im Rettungsdienst und in den Kran-
Die Unsicherheit war am Anfang, also im März und Ap-              kenhäusern sehen, finde ich das schon schwierig.
ril 2020, natürlich noch größer. Aber wir wurden gut mit
Informationen versorgt und ich bin stolz, dass sich bei           Wie gehst du damit um?
uns niemand im Dienst angesteckt hat. Das zeigt, dass es          Ich habe im November mit „Social-Media-Fasten“ be-                     Seit mehr als
                                                                                                                                        einem Jahr ist
wirklich etwas bringt, Hygienemaßnahmen einzuhalten,              gonnen und das hat mir so gutgetan, dass ich nicht mehr               Alex Meller im
                                                                                                                                       Corona-Einsatz
Maske zu tragen und Abstand zu halten.                            damit aufgehört habe.

Hältst du dich auch im privaten Bereich so streng an              Als Sanitäter bist du schon geimpft
die Maßnahmen?                                                    worden. Was hat das für dich ver-
Ja, natürlich. Gespräche mit den Eltern und Geschwistern          ändert?
gibt es hauptsächlich online und Kaffee mit Oma und               Ja, ich bin „glücklich geimpft“. Gerade
Opa getrunken hab ich nur selten in der warmen Jahres-            jetzt mit den verschiedenen Mutatio-
zeit, draußen und mit Abstand.                                    nen ist das eine große Erleichterung.
                                                                  Da geht es mir aber nicht nur um mich,
Was sagt deine Freundin dazu, dass du in deinem                   sondern auch darum, dass ich nie-
Job mit auf Covid-19 positiv getesteten Menschen zu               manden anstecke. Meine über 90-jäh-
tun hast?                                                         rigen Großeltern bekommen bald ihre
                                                                                                                                                         Fotos: ÖRK/Alex Meller

Sie ist da sehr verständnisvoll. Sie gehört wegen eines           zweite Teilimpfung und ich hoffe, dass
Immundefekts eigentlich zur Risikogruppe, hat aber fest-          ich sie dann wieder besuchen kann,
gestellt, dass sie wegen der allgemeinen Schutzmaß-               und auch, dass wir einen halbwegs
nahmen sogar das erste Jahr, seit sie sich erinnern kann,         normalen Sommer erleben. C

                                                                                                 www.roteskreuz.at/jahresbericht              9
Bilanz der Menschlichkeit - spendeninfo
JAHRESBERICHT 2020

         Blut spenden
                           in Zeiten der
                        Pandemie
                                                 VON VIKTORIA POSCH

                     Nach seiner Covid-19-Erkrankung hat Georg Mair im
                      Frühjahr 2020 durch seine Rekonvaleszentenplasma-
                     spende beim Roten Kreuz schwer erkrankte Menschen
                            mit Antikörpern gegen Corona versorgt.

                                                    FACTS & FIGURES

                                                           538                               195
                                  Rund

                                 35               Rekonvaleszentenplasmaspenden
                                                 wurden 2020 beim Roten Kreuz öster-      Patient_innen
                           Minuten dauert eine    reichweit durchgeführt. Aus diesen
                           Rekonvaleszenten-       Spenden sind 692 therapeutische     wurden mit diesen Spenden
                             plasmaspende.           Plasmaeinheiten entstanden.              behandelt.

    10
BLUT SPENDEN

                          Georg Mair
                          spendet Antikörper für an
                          Covid-19 erkrankte Menschen
Foto: ÖRK/Helmut Mitter

                                                        www.roteskreuz.at/jahresbericht   11
JAHRESBERICHT 2020

                 Z
                                unächst bekam er Fieber, dann Kopfschmer-
                                zen. Die Zahnpasta schmeckte plötzlich
                                völlig anders und ihm war ständig übel. Ein
                                Test bestätigte: Der Wiener Orthopäde und
                                Unfallchirurg Dr. Georg Mair hatte sich bei
                                einem Patienten mit dem Coronavirus an-
                      gesteckt. „Nach überstandener Krankheit hat mich
                      meine Tochter auf die Möglichkeit einer Rekonvales-
                      zentenplasmaspende beim Roten Kreuz hingewiesen.
                      Das wollte ich machen, um anderen zu helfen und um            wehgetan“, erklärt er sichtlich erleichtert. Die von ihm
                      Klarheit zu haben“, so Georg Mair.                            gespendeten Antikörper wurden schon wenige Tage
                                                                                    nach der Spende in einem Spital eingesetzt.
                      Neue Möglichkeit, Leben zu retten                                Potenzielle  Rekonvaleszentenplasmaspender_in-
                      Nach seiner Covid-19-Erkrankung wollte Georg Mair             nen müssen einen positiven PCR-Test vorweisen und
                      also wissen, ob er Antikörper entwickelt hatte, die der       sollten einen hochfieberhaften Krankheitsverlauf
                      Körper zur Immunabwehr bildet. Der 48-jährige Wie-            durchgemacht haben. Dann ist die Anzahl der ge-
                      ner war einer der Ersten, die im Frühjahr 2020 eine           bildeten Antikörper nämlich tendenziell höher. Das
                      Rekonvaleszentenplasmaspende beim Roten Kreuz                 Wissen rund um diese Therapieoption wächst ständig:
                      leisteten. Bei dieser Art der Spende wird das Blut aus        Ärzt_innen erlangen immer mehr Erkenntnisse darü-
                      der Armvene in eine Zentrifuge übergeleitet und dort          ber, bei welchen Patient_innen und zu welchem Zeit-
                      in seine Bestandteile zerlegt. Das Plasma wird gesam-         punkt die Gabe des Rekonvaleszentenplasmas bei der
                      melt, die restlichen Blutbestandteile werden wieder zu-       Behandlung von Covid-19 die besten Therapieerfolge
                      rück in den Körper geleitet. „Die Gabe von antikörper-        bringt.
                      haltigem Blutplasma hilft Patient_innen mit Covid-19,
                      die diese Antikörper nicht schnell genug oder nicht in        Viele Fragezeichen
Vor der Blutspende
                      der ausreichenden Qualität bilden können“, erklärt            Covid-19 löste bei der Bevölkerung große Unsi-
wird die Temperatur   Dr. Ursula Kreil, stellvertretende medizinische Leiterin      cherheit aus und warf viele Fragen auf – auch zum
gemessen
                                                     der Blutspendezentrale         Thema Blutspenden. Geht das Blut aus? Soll ich an-
                                                     für Wien, Niederöster-         gesichts der aktuellen Lage Blut spenden? Finden
                                                     reich und Burgenland.          Blutspendeaktionen überhaupt statt? In der Zeit,
                                                     Nach rund 35 Minuten           in der weniger operiert wurde, sank der Blutver­brauch
                                                     ist die Rekonvaleszen-         um rund 15 Prozent. Nach den ersten Wochen
                                                     tenplasmaspende          ab-   stieg der Bedarf jedoch wieder auf das regu-
                                                     geschlossen. Unter dem         läre Niveau an. Das Rote Kreuz beobachtete
                                                     Mund-Nasen-Schutz lä-          die Entwicklungen sehr genau, um die Versorgung der
                                                     chelt Georg Mair so sehr,      heimischen Spitäler sicherzustellen. Die Kernbotschaft
                                                     dass man es in seinen Au-      in der Kommunikation mit den Blutspender_innen
                                                     gen sieht: „Es ist ein gutes   während der Pandemie: Blutspendeaktionen finden
                                                     Gefühl, und es hat nicht       weiterhin statt.

      12
Die Rotkreuz-Mitarbeiter_innen ermöglichen die Durchführung von
                  Blutspendeaktionen unter sicheren Bedingungen
                                                                                                                                                         BLUT SPENDEN

                                                                                                                              Fotos: ÖRK/Helmut Mitter
Veränderte Rahmenbedingungen                                    vor noch nie Blut gespendet hatten, mit ihrer E-Mail-
Eine Reihe von Schutzmaßnahmen ermöglicht die                   Adresse auf „Gib dein Bestes“, der digitalen Plattform
Durchführung von Blutspendeaktionen unter sicheren              zur Spender_innenmobilisierung. Die Plattform ver-
Bedingungen: Blutspender_innen sollen allein kom-               zeichnete einen deutlichen Anstieg der Besucher_in-
men und werden bereits im Eingangsbereich nach                  nenzahlen. Registrierungen auf „Gib dein Bestes“ er-
Risikofaktoren, wie etwa einem Kontakt zu erkrankten            möglichen es den Blutspendediensten, interessierte
Personen, befragt. Zusätzlich müssen Spender_innen              Spender_innen mit wichtigen Informationen zum The-
eine FFP2-Maske tragen. Auch auf die notwendigen                ma zu versorgen und direkt um Unterstützung zu bit-
Mindestabstände und darauf, dass sich die Spende-               ten. „Die intensive Planungsarbeit, die Kooperationen
r_innen nach ihrer Blutspende nicht allzu lange in den          von vielen Organisationen und Unternehmen sowie
Räumlichkeiten der Blutspendeaktion aufhalten, wird             der aufrechte Spendewille der Bevölkerung haben uns
geachtet – ganz nach dem Motto: „Bleib so lange wie             über die Runden gebracht“, beschreibt Ursula Kreil die
nötig, aber so kurz wie möglich!“                               herausfordernde Situation. C                                                             Gearg Mair bei der
                                                                                                                                                         Rekonvale­s­zenten­
  Da Blutspendekaktionen schwer planbar waren, un-                                                                                                          plasmaspende
ter anderem deshalb, weil genug Platz zur Verfügung
stehen musste, um die nötigen Sicherheitsabstände
einhalten zu können, kam es 2020 in vielen Fällen zu
Termin- bzw. Ortsänderungen. Teilweise mussten Blut-
spendeaktionen abgesagt werden, da diese etwa an
Hochschulen oder an Firmenstandorten durchgeführt
worden wären, die in dieser Zeit geschlossen waren.

Welle der Solidarität
Covid-19 hat aber ganz deutlich die große Bereit-
schaft der österreichischen Bevölkerung gezeigt, auch
in diesen schwierigen Zeiten Blut zu spenden. Zwar
wurde im Frühjahr 2020 weniger Blut gespendet als
im Vergleichszeitraum des Vorjahres, es konnten aber
deutlich mehr Erstspender_innen gewonnen werden.
So registrierte sich eine Vielzahl von Personen, die zu-

                                                                                            www.roteskreuz.at/jahresbericht                                        13
JAHRESBERICHT 2020

                                          Neue
                Sorgekultur
                                            nötig
                                              INTERVIEW: STEFAN MÜLLER

                          Pflegeexpertin Monika Wild geht in Pension.
                     Im Abschiedsinterview erklärt sie, woran es in der Pflege
                            hakt und welche Reformen es bräuchte.

                                                     FACTS & FIGURES

                                  27                         1                278.095
                          Jahre hat Monika Wild     großes Fest hätte sie   Menschen in Pflege und
                         die Weichen in der Pflege sich zur Pensionierung    Betreuung profitieren
                          und Betreuung gestellt.         verdient.            von ihren Ideen.

    14
PFLEGE & BETREUUNG

Monika Wild
Pflegeexpertin
                                               ÖRK/Gianmaria Gava

        www.roteskreuz.at/jahresbericht   15
JAHRESBERICHT 2020

                     K
                                     önnen Sie sich noch an Ihre erste
                                     Patientin erinnern?
                                    1980 war ich nach meiner Gesund-
                                     heits- und Krankenpflegeausbildung
                                     in einem Landesspital tätig. Um 9 Uhr
                     hat das Team immer gefrühstückt. Währenddessen
                     hat eines Tages meine Glocke geläutet. Ich wollte zur
                     Patientin. Die Stationsleiterin hat gesagt: Nein, wir
                     frühstücken jetzt, das müssen sie akzeptieren. Bald
                     kam jemand aus dem Zimmer gelaufen – ich sollte
                     schnell kommen. Die Patientin lag im Sterben. Sie
                     lag mitten im Zimmer. Sie hatte Stuhl gehabt und ihn    Woran liegt das?
                     überall hingeschmiert. Die anderen im Zimmer haben      Die Sorge für andere gibt es auch innerhalb der Fa-
                     zugesehen. Es war wirklich furchtbar.                   milie, daher wird zu wenig gesehen, dass spezifische
                                                                             Fachkompetenzen nötig sind, um jemanden bei der
                     Wie hat Sie das geprägt?                                Alltagsbewältigung zu unterstützen. Diese Sorgearbeit
                     Ich war 17 Jahre alt. Damals habe ich mir geschwo-      wird unterschätzt. Was es noch braucht, besonders in
                     ren: Nie wieder lasse ich mir von jemandem sagen,       der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege, ist
                     dass ich nicht in ein Zimmer gehen soll. Es hat mich    Organisationsarbeit, also Manager_innen. Es braucht
                     darin bestärkt, dass meine Arbeit wichtig ist, aber     auch Leadership, um Teams zu führen, nur dann kann
                     dass man sie auch richtig machen muss. Egal welche      Pflege gut funktionieren.
                     Regeln es gibt, an erster Stelle steht immer der Pa-
                     tient bzw. die Patientin.                               Hat sich an der Wertschätzung nichts geändert, seit
                                                                             Sie selbst in der Pflege tätig waren?
                     Hat die Corona-Krise gezeigt, wie wichtig Pflege        Wenig. Es ist ein Relikt aus alten Zeiten, dass Tätigkeiten,
                     und Betreuung sind?                                     die hauptsächlich Frauen machen, immer unterschätzt
                     Man hat gesehen, was da geleistet wird. Es wird seit    werden. Was mich stört, ist, dass wir es als Gesellschaft
                     Jahrzehnten unterschätzt, was in diesem Beruf gefor-    immer noch nicht geschafft haben, diese Arbeit nach der
                     dert wird.                                              Leistung und den Kompetenzen, die dafür nötig sind, zu
                                                                             bezahlen, sondern das nach alten Klischees tun.

                     Zur Person                                              Wie schafft man das – eine neue Wertschätzung der
                                                                             Pflege?
                       Monika Wild, gefragte Lektorin, Vortragende
                                                                             Dass irgendwer auf dem Balkon steht und klatscht, das
                       und Expertin im Bereich der Pflege. 1993 bis
                                                                             braucht keiner. Die Wertschätzung muss sich so ausdrü-
                       2020 war sie Leiterin der Pflege und Betreuung
                       im Roten Kreuz, davor selbst in der Pflege tätig.     cken, dass ein entsprechender Prozentsatz des Staats-
                                                                             budgets für Pflege ausgegeben wird. Es bräuchte andere
                                                                             Personalschlüssel, eine bessere Work-Life-Balance für
                                 Die Leitung des Bereiches
                                  „Gesundheit und Soziale Dienste“           die Pflegenden, damit die Sorgearbeit genügend Raum
                                  hat Petra Schmidt übernommen.              bekommt, bessere Rahmenbedingungen – sonst arbeitet
                                  petra.schmidt@roteskreuz.at                man nur sein Pensum ab und ist wieder weg.

    16
PFLEGE & BETREUUNG

          Die Rezepte, wie die Pflege reformiert wer-         Wie sollte denn die Pflege in 20 Jahren aussehen?
          den soll, liegen schon lange in der Schublade.      Es gibt mehr Dienstleistungen, die zu Hause erbracht
          Warum ist es so schwer, sie umzusetzen?             werden, mehr präventive Angebote, um die Phase der
          Die Expert_innen haben schon 2000 gewusst,          Pflegebedürftigkeit nach hinten zu verschieben, damit ich
          was 2020, 2030 auf uns zukommen wird – die          statt 15 nur mehr drei Jahre Unterstützung brauche. Es
          Zahl der zu Pflegenden steigt und es gibt viel zu   gibt Angebote, die mehr auf Rehabilitation und Remo-
          wenig Personal. Aber damals hat es noch halb-       bilisierung setzen. Dazu muss der soziale Zusammenhalt
          wegs funktioniert. Da sind die Frauen noch mit      überdacht werden, damit es nicht mehr so auf die Kernfa-
          55 in Person gegangen und konnten zu Hau-           milie ankommt, sondern in Richtung Nachbarschaftshilfe
          se ihre Angehörigen betreuen. Jetzt steigt der      geht. Wir brauchen eine neue Sorgekultur. Wenn wir das
          Druck durch die Bevölkerung und die Politik         nicht schaffen, muss jede Unterstützungsleistung durch
          hat das Thema verstärkt aufgenommen.                Professionist_innen erbracht werden. Das würde das
                                                              Budget für die Langzeitpflege stark in die Höhe schnellen
           Muss in Österreich etwas passieren, bevor          lassen. Wir reden dann von etwa zwölf Prozent des Brut-
etwas passiert?                                               toinlandsproduktes für Pflege, derzeit sind es drei.
Ich sehe keine mutige Politik, es wird an kleinen Stell-
schrauben gedreht. Den Pflegeregress abzuschaffen war         Wie sieht Ihre Bilanz aus, worauf sind Sie stolz?
leider genau die verkehrte Entscheidung. Man hat die          Stolz bin ich, dass ich immer gerne arbeiten gegangen bin.
andere Säule nicht bedient. Die Leute wollen zu Hause         Was gelungen ist, sollen andere beurteilen. Die Pflege-
bleiben. Wir müssen die Pflege zu Hause stärken und           dienste im Roten Kreuz, die es, als ich angefangen habe,
leistbare Angebote ausweiten.                                 gar nicht überall gegeben hat, sind stark ausgebaut wor-
                                                              den. Fachlich und in der Qualitätssicherung haben wir mit
Muss der Staat mehr Aufgaben übernehmen?                      den Landesverbänden sicher viel auf die Beine gestellt. C
In Österreich ist Pflege eine Aufgabe der Familie und der
Staat unterstützt sie dabei. Bei uns ist die Erwartungs-
haltung, dass das die Familie macht, die kriegt dafür ein
bisserl Geld – aber es gibt keinen Rechtsanspruch auf
Sachleistungen. Das wird in 20 Jahren nicht mehr ge-
                                                                  Danke, Monika!

                                                                                                                                             Fotos: ÖRK/Gianmaria Gava, ÖRK/Jürg Christandl, ÖRK/Thomas Holly Kellner, ÖRK/Isabelle Grubert
hen, das geht zum Teil jetzt schon nicht mehr, weil die           Ich möchte mich ganz persönlich bei Monika Wild bedanken.
Familienstrukturen nicht mehr da sind. Es gibt die Leute          Der Mix aus innovativen Ideen, Geduld, Beharrlichkeit und
nicht mehr, die diese Aufgabe übernehmen können. Da               Kampfgeist in der Umsetzung sowie Empathie, Bodenständig-
braucht es mehr Sachleistungen.                                   keit und Herzlichkeit im Umgang mit allen Menschen, gleich
                                                                  ob Kolleg_innen, Klient_innen, Mitbewerber_innen oder
Was ist hier von der Pflegereform zu erwarten?                    Parter_innen, sowie ihr profundes Wissen werden uns fehlen.
Ich wünsche mir wirklich, dass etwas Gescheites heraus-           Sie hätte ein großes Dankesfest verdient,
kommt, aber die Kompetenzen des Bundes sind begrenzt.             das durch die Corona-Pandemie verhin-
Das Thema Sachleistungen zum Beispiel kann die Reform             dert wurde. Stattdessen an dieser Stelle:
aufgrund der Kompetenztrennung zwischen Bund und                  Danke, Monika!
Ländern gar nicht aufgreifen.
                                                                  Michael Opriesnig,
                                                                  Generalsekretär des Öster-
Sitzen Sie dann da und verzweifeln?                               reichischen Roten Kreuzes und
Ich bin gelernte Österreicherin. Wenn es vor der Reform           verantwortlich für Gesundheits-
                                                                  und Soziale Dienste
heißt, an diesen Kompetenzen soll nichts geändert wer-
den, weiß ich, was zu erwarten ist.

                                                                                             www.roteskreuz.at/jahresbericht        17
UNSERE HILFE IN ZAHLEN 2020
  INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT                        KURSE, AUS- UND WEITERBILDUNG

  Asien                € 11.950.149      50,1 %        Teilnehmer_innen an Rotkreuz-Kursen               236.574
  Afrika                   € 4.420.397   18,5 %        davon Teilnehmer_innen an Erste-Hilfe-Kursen      118.212
  Amerika               € 1.165.083         4,9 %
                                                       Teilnehmer_innen an Jugendrotkreuz-Kursen*         82.315
  Europa                € 4.948.958      20,8 %
  Global                   € 1.352.246      5,7 %
  Gesamtvolumen        € 23.836.833      100 %         SUCHDIENST
 4.473 Einsatztage verbrachten unsere
                                                       Das Suchdienst-Netzwerk klärt Kriegsschicksale und sucht
 Delegierten in 18 Ländern bzw. Regionen.
                                                       nach Verschwundenen. Die Bewegungseinschränkungen
                                                       durch die Pandemie und mangelnde Digitalisierung haben den
                                                       Zugang zu den Suchdiensten und die Suche 2020 erschwert.
  BLUTSPENDEDIENST
                                                       Die steigende Zahl an Asylanträgen und rasche Asylanerken-
 Anzahl der Blutspender_innen in Österreich: 211.556   nungen in Österreich haben zu einem 45%-igen Anstieg der
 Anzahl der abgenommenen Vollblutspenden in            Zahl der Familienzusammenführungsfälle im Österreichischen
 ganz Österreich: 332.917                              Roten Kreuz geführt.
 Abgenommene Vollblutspenden:
                                                       Suchfälle auf tracetheface.org                       7.239
  Burgenland                                18.170
                                                       Suchfälle                                             514
  Kärnten                                   17.134
                                                       Fälle in der Familienzusammenführung                  833
  Niederösterreich                          73.406
  Oberösterreich                            52.800
  Salzburg                                  33.040     RETTUNGSDIENST

  Steiermark                                45.709
                                                       Betreute Patient_innen                           2.714.005
  Tirol                                     39.691
                                                       Notarzteinsätze                                   147.340
  Vorarlberg                                15.608
                                                       Fahrzeuge im Rettungsdienst                          2.208
  Wien                                      37.359
                                                       Einsatzfahrten                                   3.150.298

 Rekonvaleszentenplasma wurde 2020 als                 Gefahrene Kilometer                            104.923.544
 Behandlungsmöglichkeit für Covid-19-Erkrankte
 eingesetzt.

  Vom Roten Kreuz durchgeführte
                                              538
  Rekonvaleszentenplasmaspenden
                                                       JUGENDROTKREUZ
  Daraus gewonnene therapeutische
                                              692      Hauptberufliche Mitarbeiter_innen*                     63
  Plasmaeinheiten
                                                       Freiwillige Mitarbeiter_innen*                     10.039
  Damit behandelte Patient_innen              195
                                                       Mitglieder in Jugendgruppen                          6.926
                                                       Jugendgruppen                                         452

* Abfrage nach Schuljahr
LEISTUNGSVOLUMEN 2020

Alle Informationen zum Leistungsvolumen des
Österreichischen Roten Kreuzes im Jahr 2020 finden Sie auf
www.roteskreuz.at/Leistungsvolumen2020.

     TEAM ÖSTERREICH
 Mitglieder                                                        88.365
 Einsätze                                                              35
 Ausgabestellen der Team Österreich Tafel                             118
 Dadurch versorgte Personen                                      749.210
                                                                              Mit umfassenden Informationen
                                                                              zu Herkunftsländern unterstützt
                                                                              ACCORD Asylverfahren. Die
ZAHLEN, DATEN, FAKTEN
                                                                              Datenbank ecoi.net enthält
 Bezirksstellen                                                      133      371.643 Dokumente. 2020 wurden
 Hauptberufliche Mitarbeiter_innen                                10.236      282 Einzelanfragen bearbeitet
                                                                              und 17 Länderberichte und Dossiers
 Zivildienstleistende**                                             4.269     erstellt.
 Freiwillige Mitarbeiter_innen                                    72.437
                                                                              Die mit der Diakonie betriebene
 Einsatzstunden von freiwilligen Rotkreuz-Helfer_innen        10.808.935
                                                                              medizinische Hilfseinrichtung Amber
 Unterstützende Mitglieder und Spender_innen                   1.085.211      Med versorgte in 4.282 Stunden 3.187
                                                                              Menschen ohne Krankenversicherung.
 ** Fast 1.000 außerordentliche Zivildiener waren zusätzlich zwischen einem   Fachärzt_innen, Ärzt_innen für
 und drei Monaten im Einsatz – hauptsächlich im Rettungsdienst, in der        Allgemeinmedizin, Therapeut_innen
 Pflege und Betreuung und im Katastrophenhilfsdienst. Weitere 410 junge       und Dolmetscher_innen spendeten
 Männer haben ihren Zivildienst verlängert.                                   ihre Zeit für 7.981 Behandlungen.
                                                                              Zudem lieferte das Rote Kreuz
                                                                              12.500 Packungen Medikamente.

 PFLEGE UND BETREUUNG                                                         Service und Information über das
                                                                              Rote Kreuz wurden von 4,5 Millionen
 Betreute Personen                                             278.095        Menschen auf www.roteskreuz.at ab-
                                                                              gerufen. Aus der jungen Zielgruppe
 Mit Rufhilfe ausgestattete Personen                            49.995
                                                                              kamen 261.000 Likes in den sozialen
 Patient_innen und ihre Angehörigen, die von Hospizteams                      Medien.
                                                                 2.998
 des Roten Kreuzes begleitet wurden
 Individuelle Spontanhilfe (betreute Personen)                   3.077        Familien mit schulpflichtigen Kindern,
                                                                              die Sozialhilfe/Mindestsicherung
                                                                                                                       Foto: ÖRK/Markus Hechenberger

 Mobile Pflege und Betreuung (betreute Personen)                33.061
                                                                              beziehen, stehen Schulstartpakete zu.
 Psychosozial betreute Personen                                 37.154        2020 wurden 44.389 Pakete verteilt.
 Davon Anrufer_innen bei der Ö3-Kummernummer                    20.568
JAHRESBERICHT 2020

                         Geblieben,
                                              um zu
                                     helfen
                                                    VON STEFAN MÜLLER

                     Im Libanon kommen viele Krisen zusammen. Seit einer
                        Explosion im Hafen von Beirut hat sich die Lage
                        verschärft. Das Rote Kreuz passt seine Projekte
                                       entsprechend an.

                                                     FACTS & FIGURES

                                5,4                       80 %                       1,5
                                                     aller Befragten halten
                         Millionen Euro wurden       das Rote Kreuz für die   Millionen Flüchtlinge
                        für Hilfsprojekte des ÖRK     vertrauenswürdigste     aus Syrien leben im
                         im Libanon eingesetzt.        Hilfsorganisation.           Libanon.

    20
EINSATZ IM NAHEN OSTEN

                          Lisa Taschler
                          Rotkreuz-Delegierte im Libanon
ÖRK/Thomas Marecek

                         www.roteskreuz.at/jahresbericht   21
JAHRESBERICHT 2020

             E
                               s fühlte sich an wie ein Erdbeben, als am 4. Au-
                               gust 2020 eine gewaltige Explosion den Hafen
                               von Beirut erschütterte, die den Libanon, ein
                               leidgeprüftes Land im Nahen Osten, noch wei-
                               ter ins Chaos stürzte. 2.750 Tonnen Ammoni-
                               umnitrat flogen in einem Lagerhaus in die Luft.
                         Die verheerenden Folgen werden noch lange zu
                      spüren sein. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Preise
                      sind gestiegen, mehr als die Hälfte der rund sechs Mil-
                      lionen Einwohner_innen lebt unter der Armutsgrenze,
                      fast 90 Prozent der 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge,
                      die sich im Land befinden, leben in extremer Armut.                     Rasche Nothilfe
                      Umso wichtiger ist die Unterstützung durch internatio-                  Sofort startete das Libanesische Rote Kreuz einen
                      nale Geldgeber_innen und die Arbeit des Roten Kreu-                     Großeinsatz mit 75 Ambulanzen und 375 Sanitäte­-
                      zes, um den Menschen zu helfen. Auch damit sie den                      r_innen, richtete zwei Triage-Stationen ein, leistete
                      Glauben an eine gute Zukunft nicht verlieren.                           medizinische Hilfe, errichtete Notunterkünfte für 5.000
                         Lisa Taschler kann sich gut an den Tag erinnern, als                 Personen und rief die Bevölkerung zum Blutspenden
                      plötzlich die Wände wackelten. Es war kurz nach 6 Uhr                   auf. In dieser Situation machte sich eine Kooperation
                      Abend und die Delegierte des Roten Kreuzes war zum                      mit dem Österreichischen Roten Kreuz zum Aufbau
                      Glück nicht in ihrer Wohnung, die nur einen Kilometer                   des Blutspendedienstes bezahlt. Die Internationale
                      vom Explosionsort entfernt liegt. „Es hat alle Türen und                Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesell-
                      Fenster herausgerissen“, erzählt sie. „In der Stadt sind                schaften gab rasch Nothilfefonds frei. Weltweit riefen
                      Häuser und Mauern eingestürzt. Auf den Straßen la-                      nationale Rotkreuzgesellschaften, auch in Österreich,
                      gen Verletzte. Die Zerstörung war immens.“ Rund                         zu Spenden auf. Die vernetzte Hilfsmaschinerie des
                      5.000 Menschen wurden verletzt. Mehr als 200 star-                      Roten Kreuzes lief an. „Es war schön, auch die Hilfsbe-
                      ben. Zigtausende wurden obdachlos.                                      reitschaft der Menschen hier im Libanon zu sehen“,

    Nicht erst seit dem Erdbeben: Das Libanesische Rote Kreuz verteilt bereits seit Jahren Hilfsgüter an syrische Flüchtlinge   Lisa Taschler mit syrischem Flüchtlings-
                                                                                                                                kind in Haouch er-Rafqa

    22
Nach der Explosion im Hafen von Beirut
                                                                                                                                                         EINSATZ IM NAHEN OSTEN

                                                                                                     Bedürfnissen in verschiedenen Regionen des Landes
                                                                                                     entsprechen. Wenn nötig, stellen wir mehr Sachleis-
                                                                                                     tungen zur Verfügung.“ So ist immer gewährleistet,
                                                                                                     dass die Hilfe ankommt und effizient ist.

                                                                                                     Leben retten
                                                                                                     Das Libanesische Rote Kreuz hat im vergangenen Jahr
                                                                                                     20,5 Millionen US-Dollar aufgebracht, um 9.800 Fami-
                                                                                                     lien nach der Explosion im Hafen von Beirut zu helfen.

                                                               Nabil Mounzer/European Press Agency
                                                                                                     Als die Benzinpreise in die Höhe schossen und der
                                                                                                     Mangel an Treibstoff zu häufigen Stromausfällen führ-
                                                                                                     te, sorgte das für Unruhe. Niemand will sich ausmalen,
                                                                                                     was passieren würde, wenn der Staat auch die Stüt-
                                                                                                     zung der Lebensmittelpreise fallen ließe. Was würde
                                                                                                     das für das Rote Kreuz bedeuten? „Noch mehr Nah-
                                                                                                     rungsmittelhilfe und grundlegende Unterstützung“,
sagt Taschler. „Überall sind Initiativen zur Nachbar-                                                antwortet Mencinger. „Wir werden weiterhelfen. In der
schaftshilfe entstanden. Aber die Gesamtsituation hat                                                aktuellen Situation, in der viele Krisen zusammenkom-
sich mit Corona und der schon länger andauernden                                                     men, zeigt sich deutlich, wie wichtig die Projekte des
Wirtschaftskrise natürlich weiter verschlechtert.“                                                   Österreichischen Roten Kreuzes in den Flüchtlings-
   Im Herbst 2020 hat Simona Mencinger, die schon                                                    siedlungen im Bereich Wasser, Sanitär und Hygiene
früher im Libanon gelebt hat, ihre Kollegin Lisa Tasch-                                              sind, ebenso unsere Projekte in der Grundversorgung.
ler als Delegierte in Beirut abgelöst. Der Start sei nicht                                           Damit retten wir wirklich Leben. Die Welt darf den Li-
leicht gewesen, erzählt sie. „Emotional war es schwie-                                               banon nicht vergessen, auch wenn es noch Jahre dau-
rig, weil ich die jetzt stark beschädigten Stadtteile vor                                            ern wird, bis sich das Land erholt hat.“ C
der Zerstörung gekannt habe und viele schöne Erinne-
rungen an die sehr lebhafte und dynamische Stadt
habe.“ Jetzt ist der Libanon praktisch pleite, die Infla-                                                Hilfe im Libanon 2020
tionsrate beträgt 146 Prozent und viele Menschen
können sich das Leben kaum noch leisten.                                                                 5,4 Millionen Euro umfassten die bilateralen und multilateralen
                                                                                                         Projekte des Österreichischen Roten Kreuzes im Libanon, darunter:

                                                                                                                                                                                  Fots: ÖRK/Thomas Marecek, IFRC/Tommaso Della Longa, ÖRK/Cerny Elisabeth
Schwieriges Budgetieren                                                                                   Direkthilfe für das Libanesische Rote Kreuz nach der Explosion
                                                                                                           inklusive Bargeldunterstützung für Familien, Mitfinanzierung durch
Die schlechte Wirtschaftslage macht auch den Helfe-                                                        die österreichische Entwicklungszusammenarbeit (ADA) und
r_innen zu schaffen. Die Inflation mache zum Beispiel                                                      Nachbar in Not
                                                                                                          Aufbau des Blutspendedienstes, Versorgung von 5.000 Patient_innen
das Budgetieren schwieriger, erzählt Mencinger. Die                                                        mit Blutprodukten
Konten der Hilfsorganisationen laufen in Dollar, aber                                                     Bargeld-Unterstützung für 1.800 Flüchtlinge zur Deckung der
die Unterstützung muss in libanesischen Pfund ausge-                                                       täglichen Lebensbedürfnisse, Mitfinanzierung durch die ADA
                                                                                                          Aufbau von Wasser-, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen in Schulen
zahlt werden, das stark an Wert verloren hat. „Wir                                                         und Gesundheitszentren für 6.400 Flüchtlinge in Haouch er-Rafqa,
prüfen in regelmäßigen Abständen Preise für Nah-                                                           Mitfinanzierung durch die ADA
                                                                                                          Verteilung von Hygiene-Kits und 12 Quarantäne-Containern zur
rungsmittel, Medikamente, Miete oder Heizen sowie                                                          Covid-19-Prävention in Flüchtlingssiedlungen
für grundlegende Dienstleistungen wie Schulgeld für
die Kinder oder öffentlichen Transport. So können wir                                                    Lesen Sie mehr über die Internationale Zusammenarbeit
Durchschnittswerte ermitteln, die uns dabei helfen, die                                                  des Österreichischen Roten Kreuzes im IZ-Jahresbericht 2020.
Hilfsleistungen neu zu berechnen, damit sie den realen

                                                                                                                                    www.roteskreuz.at/jahresbericht          23
JAHRESBERICHT 2020

                                                       Zum
                               Leben
                                   zu                  wenig
                                                       VON VERA MAIR

                     Aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie
                     können sich immer mehr Menschen in Österreich ihr
                      Leben nicht mehr leisten. Imre Siska und sein Team
                     der Individuellen Spontanhilfe suchen für Menschen
                           in akuten Notsituationen nach Lösungen.

                                                       FACTS & FIGURES

                                   Rund

                                  1,5
                        Millionen Menschen in Öster-
                                                        70 %                 3.077
                                                                         Klient_innen wurden
                        reich sind armuts- und aus-    der Anfragenden        unterstützt.
                             grenzungsgefährdet.         sind Frauen.

    24
INDIVIDUELLE SPONTANHILFE

                Michael K.
                war vor der Corona-Pandemie Inhaber eines erfolgreichen
                Fotostudios. Jetzt plagen ihn Existenzängste.
Foto: privat

                               www.roteskreuz.at/jahresbericht            25
JAHRESBERICHT 2020

                                                      E
                                                                       in leerer Kühlschrank. Eine kalte Heizung. Im
                                                                       Postkasten nur Mahnungen. Dazu die Unge-
                                                                       wissheit: Verliere ich die Wohnung, wenn ich
                                                                       meine Mietschulden wieder nicht zahlen kann?
                                                                      So geht es vielen Menschen in Österreich. Rund
                                                                      1,5 Millionen Menschen waren 2019 armutsge-
                                                              fährdet. Corona hat die Situation weiter verschärft,
                                                              auch für Michael K. Der Inhaber eines Fotostudios in
                                                              Wien hat seit Beginn der Pandemie fast keine Einnah-
                                                              men mehr. „Das Geschäft gibt es seit über 100 Jahren,
                                                              es war immer erfolgreich. Seit Corona ist Flaute“, sagt
                                                              er. An guten Tagen mache er drei Passfotos. „Ich bin                  Auf Unterstützung angewiesen
                                                              verzweifelt. Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen               Das ist kein Einzelfall. Imre Siska, der Betroffene berät,
                                                              soll.“ Die Kosten laufen weiter, belasten das ange-                   erlebt solche Situationen immer häufiger. „Corona ist
                                                              spannte Budget der Familie, die zurzeit nur vom Pfle-                 ein Brandbeschleuniger für Armut. Je länger die Krise
                                                              gegeld für den ältesten Sohn lebt. Jeder Einkauf im                   dauert, desto stärker ist auch die Mittelschicht betrof-
                                                              Supermarkt ist minutiös geplant, Extraausgaben wie                    fen“, sagt er. Viele sind jetzt zum ersten Mal in ihrem
                                                              eine Reittherapie für Raphael, der seit seiner Geburt                 Leben auf Unterstützung angewiesen. „Leute, die im-
                                                              schwer behindert ist, sind undenkbar. Zu den Sorgen                   mer gesagt haben, so etwas kann mir nicht passieren,
                                                              um Sohn Raphael kommen für den dreifachen Famili-                     brauchen plötzlich unsere Hilfe.“
                                                              envater jetzt noch die Geldsorgen. „Unsere Ersparnis-                    Zur Individuellen Spontanhilfe kommen Menschen in
                                                              se haben wir längst aufgebraucht“, erzählt er. Im Win-                Not, die keine finanziellen Reserven haben. Oft reicht
                                                              ter wandte er sich an die Individuelle Spontanhilfe,                  ein unvorhergesehenes Ereignis, und das Kartenhaus
                                                              weil er nicht mehr wusste, wie er die Mietrückstände                  bricht zusammen. Siska und seine Kolleg_innen leisten
                                                              für die Wohnung zahlen sollte. Das Rote Kreuz über-                   dann „soziale Erste Hilfe“, wie er es nennt. Sie überneh-
                                                              nahm die halbe Monatsmiete, eine große Hilfe für die                  men Teilzahlungen für Miete, Strom oder Gas und kön-
                                                              Familie.                                                              nen oft verhindern, dass Klient_innen ihre Wohnung
                                                                                                                                    verlieren. Sie sorgen dafür, dass die Fernwärme wie-
                                                                                                                                    der eingeschaltet wird. Sie informieren über staatliche
                                                                                                                                    Unterstützungen, geben Lebensmittelgutscheine aus
                                                                                                                                    und vernetzen mit weiteren Beratungsstellen. „Jeder
                                                                                                                                    Mensch verdient es, in Sicherheit und Würde zu leben.
                                                                                                                                    Die Lebensgrundlagen wie Wohnen, Strom oder Hei-
                                                                                                                                    zen müssen abgesichert sein, damit ich im Leben wei-
Fotos: privat, ÖRK/Markus Hechenberger

                                                                                                                                    terkommen kann“, sagt Siska.
                                                                                                                                       Bis dahin ist es oft ein langer Weg. „Zuzugeben, dass
                                                                                                                                    man es alleine nicht mehr schafft, ist mit viel Scham
                                                                                                                                    verbunden“, erklärt Siska. Für die Beratung nimmt er
                                                                                                                                    sich Zeit. Im Gespräch erzählen ihm Betroffene nicht
                                                                                                                                    nur von ihrer finanziellen Situation, sondern auch ihre
                                                                                                                                    Lebensgeschichte. Denn die Wurzeln liegen oft tief. Ein
                                                  Imre Siska, Leiter Individuelle Spontanhilfe des Österreichischen Roten Kreuzes

                                             26
INDIVIDUELLE SPONTANHILFE

          Michael K. mit seiner Familie

          traumatisches Ereignis in der Kindheit, die
          Scheidung oder eine Krankheit. „Wir versu-           Hilfe für Menschen in Not
          chen zu verstehen, welche Probleme dahin-
                                                               Ob Mietrückstände oder ein leerer Kühlschrank – die sozialen
          terstecken, damit wir gemeinsam eine Lö-             Angebote des Roten Kreuzes helfen die Lebensgrundlagen
          sung finden können“, sagt Siska. „Viele              abzusichern. Die Individuelle Spontanhilfe unterstützt mit Bera-
          Klient_innen sagen mir, dass sie das erste           tung und einmaligen finanziellen Überbrückungshilfen. Die Team
          Mal das Gefühl haben, dass ihnen jemand              Österreich Tafeln versorgen seit über zehn Jahren Menschen in
          richtig zuhört.“                                     finanziellen Notlagen mit Lebensmitteln. Im Vorjahr konnten
                                                               dadurch rund 19.000 Haushalte versorgt und rund 4.500 Tonnen
                                                               Lebensmittel gerettet werden. Unterstützung, um den Alltag
         „Ich schäme mich so sehr“                             wieder allein zu meistern, bieten die Sozialbegleiter_innen, die
           Auch Elfriede P. weiß nicht mehr weiter. Je-        unter anderem bei Behördengängen zur Seite stehen.
           den Monat kämpft sie aufs Neue gegen eine
Flut an Rechnungen. „Ich habe Rückstände bei der
Miete, beim Gas- und beim Stromanbieter“, erzählt die       tenkreis, wie eine warme Mahlzeit, sich zu duschen
84-Jährige. In ihrer Altbauwohnung hängen überall           oder bei Familienangehörigen die Wäsche zu wa-
Decken vor den Fenstern, damit die Kälte von draußen        schen. „Wenn die Pandemie vorbei ist, wird es für viele
nicht hereinkommt. „Ich habe nie in Saus und Braus          Menschen wieder leichter“, sagt er. Das hofft auch Mi-
gelebt, aber als mein Mann noch gelebt hat, hat es ge-      chael K. „Irgendwann muss es besser werden. Ich wer-
reicht“, sagt sie. „Ich spare an allen Ecken und Enden,     de alles versuchen, damit mein Geschäft wieder läuft“,
esse nur mehr wenig. Beim Duschen denke ich immer           sagt er. Aufgeben ist für den Familienvater keine Op-
daran, was das jetzt kostet“, erzählt sie. Knapp über       tion, er will weiterkämpfen, um auf eigenen Beinen zu
1.000 Euro Pension erhält die Witwe jeden Monat,            stehen. C
nach Abzug der Miete bleibt nur noch wenig übrig.
Trotzdem gibt Frau P. nicht auf. „Ich versuche immer am
Monatsanfang 30 Euro von meiner Pension aufs Spar-          Die Individuelle Spontanhilfe unterstützte
konto zu legen. Drei Tage später muss ich das schon
                                                            in folgenden Bereichen:
wieder abheben“, sagt sie. Vor Corona besserte sie
sich ihre Pension mit kleinen Schneiderarbeiten auf,                                                            z. B. Waschmaschine,
                                                                                                                Möbel
seit Beginn der Pandemie bleiben die Kund_innen aus.
Die einzige Unterstützung, die ihr bleibt, ist ihre                                       15 %
Schwester, die selbst nicht viel hat. „Ich schulde ihr so                                 Sonstiges
                                                                                                                           z. B. Lebensmittel,
viel, dass ich das im Leben nicht zurückzahlen kann.                                                                       Kleidung,
Das ist schrecklich, ich schäme mich so sehr“, sagt Frau                                              10 %                 Hygieneartikel/
P., die sich schließlich an die Individuelle Spontanhilfe                                         Alltagsbedarf            Windeln
wandte. Mit Hilfe des Roten Kreuzes konnten zumin-                    50 %
dest die Stromschulden beglichen werden. „Ich bin                      Miete
dem Roten Kreuz dankbar, dass es mich aus diesem
Chaos rettet“, sagt sie.                                                                      25 %
                                                                                          Energiekosten
  „Corona hat armutsgefährdete Menschen am stärks-
ten getroffen“, weiß Siska. Wichtige Zusatzverdienste
brachen plötzlich weg, die Kontaktbeschränkungen
im Lockdown erschwerten Hilfe im eigenen Bekann-

                                                                                         www.roteskreuz.at/jahresbericht             27
JAHRESBERICHT 2020

                           Ungleiches
                        Warten                        VON URSULA FRAISL

                     Christine Widmann wartet auf das Ende der Pandemie
                     und schöpft Kraft beim Bergsteigen. Im Flüchtlingslager
                       in Kara Tepe warten Menschen jahrelang, ohne zu
                       wissen, was mit ihnen geschieht. Als Delegierte hat
                      Widmann mitgeholfen, dass sie das zumindest unter
                        besseren hygienischen Bedingungen tun können.

                                                       FACTS & FIGURES

                             8.000
                             Menschen leben in
                                                       30.000                     105
                                                                             Warmwasser-Duschkabinen
                          Kara Tepe, davon sind ein   Liter warmes Wasser         gibt es für die
                                Drittel Kinder.       fasst ein Tankwagen.    Campbewohner_innen.

    28
INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT

      Christine Widmann
      Rotkreuz-Delegierte in Griechenland
ÖRK

                                                        www.roteskreuz.at/jahresbericht   29
JAHRESBERICHT 2020

                                                     Ü                     ber 100.000 Menschen auf der Flucht leben
                                                                           derzeit in Griechenland. Bis zu 8.000 davon
                                                                           im Camp Kara Tepe, dem Flüchtlingscamp
                                                                           auf Lesbos, rund ein Drittel der Flüchtlinge
                                                                           sind Kinder. Mit ihnen hat die Tirolerin
                                                             Christine Widmann Weihnachten, Silvester und ihren
                                                             Geburtstag verbracht und gemeinsam mit zwei weiteren
                                                             Delegierten aus Österreich und einem Team aus
                                                             Deutschland die Wasser- und Sanitärversorgung sowie
                                                             die hygienischen Bedingungen im Camp verbessert.
                                                               Wenn man durch Kara Tepe geht, das nach den Brän-
                                                             den im Camp Moria im September 2020 errichtet wurde,
                                                             fallen einem sofort die Kinder auf. Sie springen auf
                                                             Trucks, mit denen Wasser geliefert wird. Ihnen ist lang-
                                                             weilig. Sie laufen herum. Beschäftigungs- oder Bildungs-
                                                             angebot gibt es hier für sie keines.                         besorgen. Warten darauf, dass sie erfahren, wie es mit
                                                                                                                          ihnen weitergehen soll.
                                                             Keine Privatsphäre, kaum Ausgang                               „Die Menschen wirken wie betäubt“, erinnert sich Wid-
                                                                                           Die Erwachsenen drän-          mann. „Mir kommt vor, sie haben aus Selbstschutz Kör-
                                                                                           gen sich in den Notunter-      per und Seele heruntergefahren, um den Aufenthalt, die
                                                                                           künften, in jedem Zelt         Ungewissheit und das Warten hier überhaupt auszuhal-
                                                                                           wohnen zwei bis drei Fa-       ten. Und wir zu Hause in Österreich regen uns auf, wenn
                                                                                           milien – also bis zu 15        Klopapier erst am nächsten Tag nachgeliefert wird,
                                                                                           Menschen. In den großen        wenn wir nicht sofort unsere Impfung bekommen. Ja, die
                                                                                           Zelten, in denen die allein-   Corona-Pandemie ist ein Problem, das momentan die
                                                                                           stehenden Männer schla-        ganze Welt beschäftigt, aber wir warten in warmen, tro-
                                                                                           fen, stehen die Stockbet-      ckenen Wohnungen mit Bad, Toilette und Kaffeemaschi-
                                                                                           ten dicht an dicht. Keine      ne auf ihr Ende und können nebenbei in der Natur ent-
                                                                                           Privatsphäre. Keine Ab-        spannen. In Kara Tepe sitzen Familien und unbegleitete
         Fotos: DRK, ÖRK/Nadja Meister, privat

                                                                                           wechslung. Keine Hoff-         Kinder und Jugendliche buchstäblich im Dreck.“
                                                                                           nung. Und warten. War-            Natürlich freut sich auch Widmann auf die Zeit, wenn
                                                                                           ten auf eine der zwei          sie wieder reisen kann, wohin sie will. Bis dahin verbringt
                                                                                           Essensausgaben pro Tag,        sie ihre Freizeit in den Tiroler Bergen, denn das Bergstei-
                                                                                           auf die Stunde Ausgang,        gen gibt ihr Ausgleich und Kraft. „Wenn man grundsätz-
                                                                                           die sie manchmal bekom-        lich positiv gestimmt ist und das Beste aus jeder Situation
                                                                                           men, um im nahen Super-        macht, kann man aus einer Krise auch gestärkt hervor-
                                                 Christine Widmann schöpft Kraft beim
                                                 Bergsteigen                               markt Kleinigkeiten zu         gehen“, ist die Tirolerin überzeugt.

    30
Das Flüchtlingscamp Kara Tepe auf Lesbos in Griechenland

                                                                                                     INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT

                                                                venöl eingesetzt wird, wird bis zu dreimal täg-
                                                                lich 40 Grad warmes Wasser aus einer
                                                                Thermalquelle gebracht, mit dem die
                                                                Bewohner_innen duschen können.
                                                                Im Camp gibt es Stationen zum                Das Rote Kreuz aus Dänemark,
                                                                Hände- und Wäschewaschen.                   Deutschland  und Österreich hilft
                                                                Das verschmutzte Wasser,                   mit mobilen  Gesundheitsteams,
                                                                                                           Hilfsgütern wie Decken, Wasser
                                                                Grauwasser genannt, wird in
                                                                                                            sowie Hygiene-Kits und Zelten.
                                                                Tanks gesammelt und gerei-               Das Griechische Rote Kreuz (HRC)
                                                                nigt, bevor es entsorgt wird.              unterstützt auch mehrere Camps
                                                                   Im Camp gibt es außerdem                      auf dem Festland, u. a. mit
                                                                mobile Gesundheitsteams des               mobilen  Gesundheitsteams sowie
                                                                Griechischen Roten Kreuzes, die            Zentren für unbegleitete Minder-
                                                                                                                 jährige oder Tageszentren.
                                                                eine medizinische Basisversor-
                                                                gung bieten. Eine weitere wichtige
                                                                Aufgabe des Teams ist es, die Ausbrei-
                                                                tung von Covid-19 einzudämmen. Dazu wird
                                                                verstärkt informiert und auf die Hygienemaßnahmen
                                                                hingewiesen. Ende März 2021 beendeten die Delegier-
                                                                ten aus Österreich ihren Einsatz und übergaben an die
                                                                Kolleg_innen anderer Hilfsorganisationen. C

Schlechte hygienische Bedingungen
Für die Menschen in Kara Tepe ist das ungleich schwerer.
An zwei Seiten ist das Camp durch das Meer begrenzt,                Flüchtlingspolitik überdenken
an den anderen durch einen hohen Zaun. Das Camp ver-
                                                                    Für die Menschen in Kara Tepe hat das Warten erst ein Ende,
lassen können die Menschen nur ganz selten. Wenn das
                                                                    wenn die Entscheidungsträger_innen in Europa ihre Flüchtlings-
Wasser warm genug ist, gehen Männer und Kinder zum
                                                                    politik überdenken. Gerade in schwierigen Zeiten dürfen wir
Waschen ins Meer. Die Frauen können das nicht – ganz
                                                                    unsere Augen nicht vor der Not anderer verschließen. Es gibt
normale Dinge wie tägliche Hygiene oder die Monats-
                                                                    auch in Österreich Menschen, die unter der Corona-Pandemie
blutung sind für sie große Herausforderungen.
                                                                    leiden. Aber wir dürfen darüber die Menschen auf der Flucht
  „Der Winter hat die Situation im Camp weiter ver-
                                                                    und besonders die unbegleiteten Minderjährigen nicht
schlimmert. Bei Regen stehen große Teile innerhalb kür-
                                                                    vergessen, die unter katastrophalen Bedingungen in
zester Zeit unter Wasser, die Menschen schlafen in nas-
                                                                    Flüchtlingscamps zusammengepfercht
sen Zelten und mussten bei Temperaturen um den
                                                                    warten. Sie brauchen unseren Schutz
Gefrierpunkt mit kaltem Wasser duschen. Dazu haben
                                                                    und unsere Hilfe. Wir können es uns in
sich nur 10 bis 20 Menschen pro Tag überwunden“, erin-
                                                                    Österreich nicht nur leisten, wir sind auch
nert sich die Rotkreuz-Delegierte an die Zustände im
                                                                    moralisch dazu verpflichtet, einige
Camp bei ihrer Ankunft.
                                                                    von ihnen aufzunehmen.

Sanitäre Hilfe                                                      Michael Opriesnig,
„Als ich abgereist bin, waren es schon bis zu 2.000 pro             Generalsekretär des
 Tag“, fügt sie stolz hinzu. Denn mit einem Thermotank-             Österreichischen Roten Kreuzes
 wagen, wie er in Griechenland für den Transport von Oli-

                                                                                              www.roteskreuz.at/jahresbericht         31
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