Bilderbuch - Text und Kommentar

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MATERIAL 3:                         BRUNIS WEIHNACHT
 BILDERBUCH – TEXT UND
 KOMMENTAR

Bilderbuchkino

Bilderbuch – Text und Kommentar
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Akt 1: Die Frage. Bruni und ihre Stallgenossen

Zusammenfassung:
Bruni erlebt, dass ihre Frage nicht beantwortet wird. Die Reaktionen der Mit-Tiere sind ebenso vielfältig wie
entmutigend: „Du bist dumm“, „Das weiß doch jeder“, „Du weißt hoffentlich, dass ich …“ Die ersten beiden
sind sogenannte k.o.-Argumente jeder Kommunikation, das dritte hat den gleichen Effekt. Statt zu antwor-
ten, erzählt der Gefragte von sich selbst und entfernt sich dabei denkbar weit vom Gesprächspartner.
Eine Übertragung drängt sich auf: Bruni ist ein Kind, Friedhelm, Lissy, Stupps und sogar Kurru, die Taube,
sind „Erwachsene“ – denn so – leider – verhalten sich Erwachsene oft, wenn Kinder fragen: abwehrend,
unaufmerksam, selbstbezogen. Stör nicht, wenn wir uns unterhalten. Oder sie hören einfach nicht hin.
Bruni ist ein Kind. Die Bilder unterstreichen den Größenunterschied. Als Kind ist sie neugierig. Das macht sie
eine Zeitlang widerstandsfähig gegen den Frust, nicht gehört, übergangen zu werden. Das macht sie dann
aber trotzig und gibt ihr die Kraft, etwas zu verändern. Fortzugehen. Und sei es in die äußerste Kälte.

                                  Text: Bruni schaute verwundert zu dem sturen alten Esel Fried-
    Bruni wundert sich
                                  helm hoch. „Friedhelm“, sagte Bruni, „du siehst ja richtig aufgeregt
                                  aus.“ „Natürlich bin ich aufgeregt“, brummte Friedhelm, „morgen ist
                                  doch Weihnachten.“
                                 Kommentar: Ganz unvermittelt setzt Handlung ein, Dialog. Namen
                                 werden genannt: Bruni und Friedhelm. Friedhelm wird charakterisiert.
                                 Bruni nicht. Bruni erklärt sich im Lauf der Geschichte. Der Anlass des
                                 Dialogs wird zweimal genannt: Aufgeregt ist Friedhelm – und er weiß,
warum. Das wichtigste Stichwort der Geschichte fällt (letztes Wort auf Seite 1): Weihnachten. Der Leser mag
nicken. Ach so. Ja, Weihnachten und Aufregung gehören zusammen. Das ist klar.
Das Bild unterstützt die Anfangssituation: Bruni ist freundlich-neugierig-arglos. Friedhelm, im Vordergrund,
nicht recht zu erkennen, mit tiefem Blick. Der weiß mehr …

                                  Text: „Was ist denn Weihnachten?“, fragte Bruni.
  Friedhelm rühmt sich
                                  „Was ist Weihnachten?“, wiederholte Friedhelm. „Frag nicht so
                                  saudumm, Brunhilde. Jeder weiß doch, was Weihnachten ist.“
                                  Brunis Ohrenspitzen färbten sich rosa.
                                  „Ich hoffe, du erinnerst dich daran, dass meine Familie damals das
                                  erste Geschenk brachte“, sagte Friedhelm. „Die Mutter des Babys
                                  ist nämlich auf einem Esel geritten. Den ganzen langen Weg bis

 Brunis Weihnacht

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nach Bethlehem. Weihnachten hätte gar nicht anfangen können, bevor sie dort angekommen
war.“
Aus Brunis Ringelschwänzchen verschwand der Kringel. „Niemand hat mir je etwas über Weih-
nachten erzählt“, sagte sie.
Kommentar: Da ist sie, die Leitfrage des Buches: Was ist denn Weihnachten? Und, Kindererfahrung: Sie
wird nicht nur nicht beantwortet. Sie wird zur Klage, zur Anklage: Du bist saudumm (!). So gehen wohl allzu
leicht Erwachsene mit ernst gemeinten Kinderfragen um – weil sie die Frage nicht ernst nehmen, weil sie
nicht antworten wollen (können). Dazu der Gemeinplatz: Jeder weiß … Bruni tat, was dann vom Kind erwar-
tet wird: Sie schämt sich (rosa Ohren).
Friedhelm lässt weiter den Erwachsenen raushängen – er nimmt die Frage zum Anlass, in Erinnerungen zu
schwelgen, und zwar an seine eigene Wichtigkeit (Ich hoffe, du erinnerst dich … So ein Unsinn; wenn sie gar
nichts weiß!).
Ein neues wichtiges Stichwort fällt: Geschenk. Und was dieses Geschenk war? Offenbar das Baby!
Die Leser aber werden sich erinnern: von Nazareth nach Bethlehem, Josef und Maria, auf einem Esel – Esel,
ja wirklich! Friedhelm hat recht!
Bruni aber schämt sich noch mehr (Ringelschwänzchen); sie steht aber zu ihrer Frage und wehrt den Vor-
wurf ab: Niemand hat mir je … erzählt. Ja, so funktioniert Tradition: übers Erzählen. Für Bruni hat das
niemand getan. Und nun verweigert sich auch Friedhelm, indem er zwar erzählt (von der Heldentat seiner
Familie), aber nicht das, was Bruni wissen muss.
Wir sehen von oben in den Stall, wohl durch eine Dachluke. Warm golden leuchtet uns das Stroh entgegen,
eine Heuraufe ist angedeutet. Zum Sprechen wendet sich der Esel vom Futter ab (wie Vater von hinter der
Zeitung). Ein wenig blasiert ist sein Gesichtsausdruck. Bruni sieht zu ihm auf, noch immer neugierig-
freundlich. Zuerst habe ich mich gewundert, dass das Ringelschwänzchen nicht hängt. Dann habe ich mir
gedacht: Wozu? Das steht ja geschrieben, das muss man nicht auch noch malen. Diese Bilder sind alles
andere als Comics.

                                 Text: „Meine Mutter hat mir allerdings erzählt, dass sie fast zu spät
     Lissy rühmt sich
                                 gekommen wären. Und das nur wegen dieses trödeligen Esels“,
                                 sagte Lissy mit einem vornehmen leisen Muh. „Meine Ur-Ur-Ur-
                                 Urgroßmutter gab übrigens ihre Krippe als Bett für das Baby her.
                                 Sonst hätten sie es zum Schlafen auf den Boden legen müssen. Das
                                 beste von allen Geschenken war diese Krippe!“
                                  Kommentar: Die kommt überraschend, die neue Stimme. Und wer Lissy
                                  ist, sagt der Text nicht, deutet es nur an durch das „leise Muh“ – zusätz-
lich brauchen wir hier das Bild: eine Kuh!. Anders als Bruni hat Lissy etwas erzählt bekommen, etwas, das
Friedhelms Ruhm entwertet (zu spät gekommen, trödelig) und Lissys Ruhm ins Licht setzt: ein anderes
Geschenk, das „beste“. Nicht das Baby selbst, sondern für das Baby.
Lissy steht wie Friedhelm zuvor: eigentlich an ihrer Krippe, von der sie aber kurz ablässt, um sich einzumi-
schen.
Bruni – wie auf DS 2 schräg von hinten gemalt – scheint nicht mehr zu lächeln. Ein wenig Ratlosigkeit ist in

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ihren neugierigen Blick gekommen. Durch die gewählte Perspektive betont, sieht sie klein aus zwischen den
beiden Großen. Friedhelm steht jetzt hinter ihr; sie schaut zu Lissy auf – eine subtile Abkehr vom ersten,
nicht angemessen antwortenden Erwachsenen. Weiß es die nächste Erwachsene besser?

                                  Text: „Was denn für ein Baby? Was denn für eine Krippe?“, fragte
     Stupps rühmt sich            Bruni. „Ich weiß noch immer nicht, was Weihnachten ist!“
                                  Aber niemand hörte ihr zu.
                                  „Das Heu in der Krippe war voller Stacheln und Dornen“, mümmel-
                                  te Stupps. „Die hätten dem Kind das Gesicht zerkratzt. Deshalb
                                  schenkte jemand aus meiner Familie der Mutter eine Decke aus
                                  Schafwolle*. Damit konnte sie das harte Bett auspolstern. Die
                                  weiche Schafwolle war ein ganz, ganz wichtiges Geschenk, das
kann ich euch sagen.“
Kommentar: Lissys Geschichte bleibt ebenso wenig unwidersprochen wie Friedhelms. Das liegt freilich
nicht an Brunis konzentrierter Nachfrage, in der sie die Stichworte aufgreift, die sie aufschnappen konnte –
Baby, Krippe –, sondern an dem dritten Mitbewohner, der nun seine Stimme erhebt: Stupps, das Schaf,
erzählt von dem viel besseren Geschenk, das seine Familie dem Kind machen konnte: eine weiche Decke.
Im Zentrum des Bildes, geflankt von Esel und Rind, stehen nun, eng beieinander, Stupps, das Schaf, und
Bruni. Bruni schaut nicht mehr auf. Das Bild hält den Moment fest, nachdem Bruni gefragt hat und überhört
worden ist. Das Schaf steht unheimlich geziert da und im Angeben schließt es genussvoll die Augen.
*Hier kann man ein kleines Stück vom Originaltext abweichen – denn die Vorstellung des „Schaffells“ als
Gabe eines lebendigen Schafes ist eher merkwürdig – warum nicht gleich von Wolle sprechen?
Bruni bietet ein Bild des Elends. Kopf, Ohren – und gewiss auch das Schwänzchen (wir sehen das nicht,
denn wir sehen Bruni und die anderen Tiere diesmal von vorn) – hängen traurig zu Boden. Klein wie ein
Nichts muss sie sich fühlen – gemäß der Aussage des Textes: Niemand hörte ihr zu.
Trotz all der goldenen Wärme im Stall – hier wird der Betrachter traurig und friert. Sie als Erzieherin, als
Lehrerin werden es spüren: Längst geht es hier nicht mehr nur um eine Information oder Erzählung über
Weihnachten. Um Brunis Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl geht es – im Kern darum: Wie werden in
der Welt des Stalls (= der Erwachsenen) kleine Schweine (= fragende Kinder) behandelt?

                                  Text: Brunis Ohren waren inzwischen schon hellrot geworden.
     Bruni ärgert sich            „Und wo waren die Schweine?“, fragte sie, so laut sie nur konnte.
                                  „Nerv‘ nicht, Bruni“, sagte Lissy. „Schweine haben doch nichts mit
                                  Weihnachten zu tun. Welches Geschenk könnte ein Schwein einem
                                  Baby machen? Und vor allem einem Baby, das so ganz besonders
                                  war wie dieses?“
                                  „Wenn da Esel und Kühe und Schafe gewesen sind“, stellte Bruni
                                  fest, „dann müssen doch auch Schweine dort gewesen sein!“
Aber auch dieses Mal hörte ihr niemand zu.

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Kommentar: Unglaublich, wie stark und beharrlich sie ist: Bruni fragt wieder! Diesmal fragt sie weder
freundlich noch neugierig, sondern insistierend. Was sie bekommt, ist wieder eine typische Erwachsenen-
antwort: Nerv nicht … Laute Kinder stören – eine sehr bequeme Einstellung.
Und dann lernt Bruni etwas über Weihnachten, was sie sicherlich nie lernen wollte: Weihnachten sei eine
sehr exklusive Angelegenheit, zu der nur „würdige“ Gäste zugelassen sind. Und: Man muss sich den Zutritt
mit einem Geschenk verdienen.
Bruni hat den Mut der Verzweiflung und versucht es mit Logik: Sie ist ein Bauernhoftier, genauso wie Kuh,
Esel und Schaf. Darauf erlebt sie erneut diese elend machende Erfahrung der vorigen Szene: Sie wird
schlicht überhört.
Zwar stehen noch immer Stupps und Bruni im Zentrum des Bildes, aber wir haben erneut eine andere An-
sicht: Das Schaf hat sich, noch im Reden, der Krippe zugewandt, Kuh und Esel blicken ein wenig hochmütig
und überdrüssig.
Bruni hat ihr Elend für den Moment überwunden (das Bild ist eine Momentaufnahme des ersten Textab-
schnitts). Der Körper ist angespannt bis in die Schwanz- und Ohrenspitzen, die Augen sind zornig verengt.
Dass sie laut Einspruch erhebt, können wir förmlich hören.

                                 Text: „Meine Ur-Ur-Urgroßeltern haben das Kind in den Schlaf
  Kurru rühmt sich, aber
                                 gesungen“, sagte die Taube Kurru. „Dieses ganze Gedränge von
   Bruni hört nicht hin
                                 Engeln und Hirten hielt das Baby so lange wach, bis meine Familie
                                 ihm ein Wiegenlied zwitscherte. Dieses Lied war das Allerwichtigste
                                 in dieser Nacht.“
                              Bruni stampfte mit ihrem kleinen Huf auf den Boden. „Aber was
                              haben die Schweine getan?“, fragte sie. „Sie müssen auch dort
                              gewesen sein und irgendetwas getan haben.“ „Da waren keine
Schweine“, spotteten die anderen. „So ein Unsinn! Dieses Kind war ein König. Der heilige Stall war
doch kein Platz für Schweine!“ Und Lissy muhte laut: „Sei doch mal ehrlich, Bruni. Was sollten
Schweine einem heiligen Kind schon geben können? Schweine haben einfach nichts Wertvolles.“
Da senkte Bruni traurig ihren Kopf. Das Scheunentor stand einen Spalt weit offen. Sie ging lang-
sam hinüber.
Kommentar: Noch eine Angeberin, die sich zu Wort meldet. Anders als Lissy, Friedhelm und Stupps ist sie
nicht größer als Bruni, sondern viel kleiner. Wird sie gehört?
Wir erfahren es nicht, denn Bruni ist noch immer auf „hundertachtzig“. Wir lesen, dass sie aufstampft – mit
ihrem kleinen Huf. Die Wirkungslosigkeit dieser trotzigen Aktion wird gleich miterzählt durch dieses eine
Attribut: klein. Trotzphase, Kleinkindalter diagnostiziert die erfahrene Erzieherin.
Prompt handelt das trotzige Schwein sich Spott ein und die klare Ansage: Schweine haben nichts Wertvolles.
Dass sie nebenbei weitere Stichworte sammeln kann zur Frage, was Weihnachten ist – König, heilig – wird
ihr da nicht viel bedeuten. Die letzten Sätze kündigen es an: Da bahnt sich etwas Neues an. Das Scheunen-
tor steht offen!
Das Bild – eine Momentaufnahme des allerletzten Textabschnitts und genau genommen schon darüber
hinaus – hat eine ganz andere Atmosphäre als alle vorausgegangenen. Statt der goldenen Wärme beherr-

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schen kalte Farben die Szene. Das helle Blau, das durch den Türspalt dringt, mischt sich in die behagliche
Dunkelheit und färbt sie Violett. Aber auch Weißes wirbelt herein, Schnee, gepaart mit Böen. Wir ahnen die
unwirtliche Natur außerhalb des Stalls.
Bruni selbst – das fällt nun auf – passt farblich gut zu der neuen Färbung. Sie ist in Aktion gemalt: Sie hebt
schon den Huf zum Schritt nach draußen – und es ist kein auffällig kleiner. Dabei schaut sie zwar noch
zurück, aber die Dynamik des Bildes zieht schon hinaus. Wir sehen: Sie wird nicht bleiben. Ein kleines Mäus-
chen sieht ihr zu. Die Taube Kurru dagegen sitzt abgewandt.

Akt 2: Das Abenteuer

Zusammenfassung:
Bruni geht bis an die Grenze, beinahe zu weit. Sie müsste dringend gerettet werden. Stattdessen aber rettet
sie. Sie ist Kind genug, um zu sehen, dass da jemand Hilfe braucht. Sie ist Kind genug, um ihren Trotz über
Bord zu werfen, sobald es Wichtigeres gibt. Sie ist Kind genug, neue Kräfte zu mobilisieren – und zusammen
mit der fremden Not auch die eigene zu überwinden.
Bruni tut, was im Gleichnis Jesu der barmherzige Samariter tut: einfach das Notwendige. Ohne Zweck und
Ziel. Einfach das, was dran ist, was hilft, was Leben rettet. Bruni tut, was Gott von uns Menschen erwartet.
Weil Gott selbst so ist, weil Gott selbst das Notwendige tut – Leben schenkt, Leben rettet, immer wieder
neue Lebensmöglichkeiten schafft – unter Einsatz des eigenen Lebens. Weil er auf die Welt kommt, als Kind
in einer Krippe. Um Liebe zu wecken.
Bruni bringt ein Kind zurück in den Stall und in die Krippe. Die Großen lassen sich überrumpeln. Sie lassen es
zu. Friedhelm gibt sogar seine Decke. „Wie Weihnachten“, sagt die junge Frau, weil sie einen warmen Platz
für ihr Kind findet und weil sie sich an Weihnachtskrippendarstellungen erinnert. „Wie Weihnachten“, sagen
die Bauersleute, als sie die friedliche Szene sehen: Friedlich im Stall die Tiere und die Mutter und das Kind in
der Krippe. Sie beschließen zugleich, zu wachen und zu helfen. Wie barmherzige Samariter.

Bruni macht sich auf den          Text: Sie schob das Tor mit ihrer Schnauze weiter auf. Sie musste
         Weg                      weg hier. Draußen wartete sie noch eine Weile. Es konnte ja sein,
                                  dass jemand sie zurückrief. Aber niemand rief sie. Sie hatten nicht
                                  einmal gemerkt, dass sie weggegangen war.
                                  „Ich werde irgendwohin gehen, wo Schweine wichtig sind und wo
                                  Weihnachten unwichtig ist“, verkündete Bruni mit zitternder Stim-
                                  me. „Und ich werde nicht zurückkommen. Nie, nie, niemals wieder.“
Kommentar: So sieht ein Aufbruch im Trotz aus: eigentlich gar nicht gehen wollen, aber zugleich versi-
chern, „nie, nie, niemals“ wiederzukommen! Aufgrund der „Religionspädagogik“ der anderen Tiere ist Weih-
nachten für Bruni jetzt gleichbedeutend mit einem Anlass, bei dem Schweine nichts wert sind – und der
deshalb für sie dringend zu meiden ist. Wo ich nicht erwünscht bin, ist es doof – die Logik des Trotzes.
Auf dem Bild hat Bruni dem Stall schon den Rücken gekehrt, aber sie verharrt noch in seinem Windschatten.
Sie schaut sich um – Merkt denn keiner, dass ich gehe?, ihre Miene verrät nichts oder vielleicht das: Sie weiß
weder wohin noch warum.

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                                   Text: Draußen fuhr Bruni ein Windstoß ins Gesicht. Er war so
   Bruni überwindet sich
                                   beißend hart wie eine Ohrfeige. Schneeflocken stachen ihr in die
                                   Augen, und ihre Ohrenspitzen gefroren zu Eisklümpchen. Fast
                                   hätte der Sturm sie zurück in die Scheune geweht. Aber Bruni
                                   zwang sich dazu weiterzugehen.
                               Es war wirklich bitterkalt. Die Schneeflocken wirbelten so dicht,
                               dass sie schon bald den Stall nicht mehr sehen konnte. Am Stra-
                               ßenrand stand eine zerrupfte Vogelscheuche. Sie grinste höhnisch
zu Bruni hinüber und winkte ihr mit einem ihrer zerlumpten Arme zu.
Kommentar: Vom Text her eine gut nachvollziehbare Situation: Nach der Wärme des Stalls nun die bei-
ßende Kälte eines Schneesturms. Nach dem Spott der Stallbewohner – Einsamkeit.
Die Vogelscheuche ist die einzige „Partnerin“. Und auch sie, so scheint es: höhnisch. Aber es gibt kein Zu-
rück. Denn Bruni ist tapfer.
Das Bild zeigt ein Chaos von Schnee und Flocken. Keinen Weg oder Wegesrand, sondern weglosen, tiefen
Schnee. Bruni scheint zu schwimmen, hastig, wie ertrinkend vorwärts, während sie sich nach rückwärts
umdreht, nicht mehr nach dem Stall, sondern nach der Vogelscheuche, die unheimlich wie ein böser Geist
ihre zu Krallen gebeugten Finger nach ihr ausstreckt.
Das Bild nimmt den zweiten Textabschnitt auf und dramatisiert ihn. Wir ahnen, dass dieser surreale Alb-
traum sich in Brunis Kopf abspielt, während der Text beschreibt, was außen ist.

                                  Text: Ein Stück weiter erkannte Bruni einen der immer wachsamen
  Bruni übernimmt sich
                                  Blauhäher. Der Sturm hatte seine sämtlichen Federn nach hinten
                                  gepustet. Er duckte sich bibbernd zusammen und fühlte sich zu
                                  jämmerlich, um die Welt vor einem kleinen vorüberlaufenden
                                  Schwein zu warnen.
                                 Brunis Füße taten weh, und ihr Schwänzchen war längst zu einem
                                 starren Eiskringel gefroren. „Ich werde hier draußen umkommen“,
                                 wimmerte sie und stolperte weiter. „Wenn ich nicht umkehre, wer-
de ich hier sterben.“ Aber sie hatte sich geschworen, niemals wieder zurückzugehen. Die anderen
wollten sie ja nicht! Alle hatten gesagt, Schweine taugten zu gar nichts.
Kommentar: Der Blauhäher ist dargestellt als einer, der auch leidet. Aber Solidarität kommt nicht auf. Sie
haben wohl beide ihr Päckchen zu tragen. Bruni geht es immer schlechter. Sie fürchtet den Kältetod. Aber
die Aussicht, zurückzukehren und wieder ein Nichts zu sein, ist schlimmer.
Das Bild erzählt eine andere Geschichte. Wie schon die Begegnung mit der Vogelscheuche, so ist auch die
Begegnung mit dem Blauhäher eine Prüfung für Bruni. Unheimlich gut getarnt – blau in blau – riesig groß (er
sitzt extrem im Vordergrund) trotzt er – quasi mit hochgezogenen Schultern – dem Sturm, indem er sich
sturmförmig macht. Apropos Sturm: Wenn man den Vogel betrachtet, scheint der Sturm von links zu kom-
men, wenn man wiederum die rotbraunen Blätter des Zweigs, auf dem er sitzt, anschaut, sieht man: Er
kommt von rechts. Kurz: Es herrscht wiederum wildestes Chaos.
Von Bruni ist nicht viel zu sehen. Sie läuft gegen den Wind, ins Nichts, und für mein Gefühl scheint sie nicht

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zu stolpern, sondern zu fliehen. Alles an ihr ist auf der Flucht. Raus aus dem Sturm – nur: wohin?
Wir haben es hier innerhalb des „Abenteuers“ mit der Krise zu tun: Dies ist der Punkt, an dem es scheinbar
nicht mehr weitergeht. Wenn jetzt nicht eine überraschende Wende eintritt, wird unser Held scheitern.

                                   Text: Endlich kam Bruni auf die Hauptstraße. Als sie am Rand
 Eine junge Frau und ihr Kind
 quälen sich durch die Nacht
                                   einen Briefkasten entdeckte, wäre sie am liebsten hineingeklettert.
                                   Aber sie ging vorüber, immer weiter und weiter.
                             Endlich blieb sie schnaufend stehen, um Atem zu holen. Da sah sie
                             durch den dichten Schnee eine Frau auf sich zu kommen. Sie trug
                             ein Baby in ihren Armen. Bruni ging ein paar Schritte weiter, um sie
                             genauer zu sehen. Die Frau schwankte. Sie hatte keine Handschuhe
                             an und keine Mütze. Und ihre Jacke war aus viel zu dünnem Stoff.
Das kleine Mädchen auf ihrem Arm schlief. Sein müdes Köpfchen lag auf der Schulter seiner Mutter
und schaukelte bei jedem ihrer Schritte. Bruni sah, dass die Frau das schwere Kind kaum noch
tragen konnte.
„Die armen Leute“, murmelte Bruni und vergaß für eine Weile ihre eigenen Sorgen.
Kommentar: Das müssen wohl kanadische Briefkästen sein, in denen ein Schwein Zuflucht finden könnte!
Noch einmal erleben wir Brunis verbissene Verzweiflung. Weiter, weiter. Immerhin hat sie die Hauptstraße
erreicht – bewohntes Gebiet? Wird sie endlich eine Begegnung haben, die von anderer Qualität ist als die mit
Vogelscheuche und Häher? Hilfe finden?
Erst als sie stehen bleibt, sieht sie – und was sie sieht ist das: Da braucht einer noch dringender Hilfe als sie.
Die Schilderung der jungen Frau mit dem Kind ist vielschichtig: ein Baby, ein kleines Mädchen, dann wieder
ein Säugling, der seinen Kopf noch nicht halten kann, schließlich: ein schweres Kind! Das scheint nach den
Gefühlen der Mutter erzählt, die ihr Kind als hilflos und bedroht empfindet, zugleich aber auch als „schwer“ –
Verantwortung, die im Schneesturm bis zum Äußersten gesteigert ist. Hinzu kommt die eigene Schutzlosig-
keit und Schwäche der Frau.
Bruni erfasst diese Notlage. Auf einmal ist sie abgelenkt von sich selbst. Ein Kampf, um Leben zu retten – ist
der nicht viel wichtiger als eine Flucht aus Enttäuschung und Trotz?
Für eine Weile, sagt der Text klug und vorsichtig. Denn Brunis Problem soll nicht entwertet werden. Es ist
eins! Da geht es ja nicht nur um gekränkte Eitelkeit. Da geht es um Würde.
Im Bild nimmt Bruni den Vordergrund ein, die Perspektive des Betrachters, die sie so bislang noch nicht
hatte. Unglaublich gut wiedergegeben ist die Dramatik der Frau, die sich, ihr Kind fest und sicher im Arm,
gegen den Sturm stemmt. Nie im Leben schaukelt der Kopf dieses Kindes! Aber dennoch: Die Gefährdung ist
mit Händen zu greifen.

 Brunis Weihnacht

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                                   Text: „Schschsch“, murmelte die Frau und tröstete ihr Baby. „Wir
     Bruni erbarmt sich
                                   müssen noch weit gehen. Aber vielleicht finden wir ja eine schöne
                                   warme Scheune, um uns ein wenig auszuruhen.“ Sie zitterte vor
                                   Kälte.
                              Bruni wusste sehr gut, wo es eine warme Scheune gab. Sie hatte
                              sich zwar geschworen, dorthin niemals zurückzukehren. Aber dies
                              hier war ein Notfall. „Kommen Sie mit mir“, grunzte Bruni. Und sie
                              stupste die Frau die Straße entlang, bis sie in den langen Feldweg
einbogen, der zum Bauernhof führte.
Vielleicht hatte ja der Wind ein wenig nachgelassen. Jedenfalls fühlte sich Bruni jetzt schon etwas
wärmer. Sogar das Grinsen der zerzausten Vogelscheuche kam ihr jetzt freundlicher vor.
Kommentar: Nun muss das Kind, das doch schläft, getröstet werden. Ist es erwacht? Die Frau gibt einer
Hoffnung Ausdruck, die Bruni die Richtung weist. So dass dann ihrerseits Bruni der Frau die Richtung weisen
kann. Das Grunzen hat die Frau vermutlich nicht verstanden. Aber das Stupsen versteht sie – besser als die
Tiere im Stall jemals eine Äußerung von Bruni verstanden haben. Kommt daher die bessere Stimmung? Ein
leises Gefühl von Wärme und Freundlichkeit – sogar vonseiten der Scheuche!
Diesmal ist die Vogelscheuche extrem im Vordergrund und sie zeigt tatsächlich ein Lächeln. Sie sieht auch
nicht länger wie ein Geist oder Albtraum aus, sondern eher wie das, was sie ist: eine Puppe. Eine
Kohlmeisenfamilie birgt sich unter dem Kragen ihres Mantels. (Hätte so auch Bruni Schutz finden können,
wenn sie angehalten hätte auf ihrer Flucht?)
Aus der Perspektive der Vogelscheuche sehen wir die Frau mit dem Kind und Bruni von hinten. Eng beiei-
nander waten sie durch den Schnee auf den Stall zu. Goldenes Licht fällt von innen durch Fenster nach
draußen. Wir erinnern uns an die warmen Farben, die drinnen warten. Die Tür steht wieder einen Spaltbreit
offen.

                                  Text: Am Scheunentor angekommen, ging Bruni voran. „Hört alle
  Bruni setzt sich durch
                                  einmal her“, rief sie den Tieren zu. „Unterbrich mich nicht, Brunhil-
                                  de“, sagte Friedhelm. „Wir machen gerade Pläne für das Weih-
                                  nachtsfest.“
                                  „Das ist mir ganz egal!“, schrie Bruni. „Ich will gar nicht mehr wis-
                                  sen, was Weihnachten los war. Das ist lange her. Aber hier ist ein
                                  kleines Kind, das einen Platz zum Schlafen braucht. Und zwar ge-
                                  nau jetzt!“
Lissys Kiefer klappte herunter, als sie die Frau mit dem Baby in den Armen sah.
Kommentar: Bruni will alte Erfahrungen nicht wiederholen. Darum verlangt sie als Erstes nach Aufmerk-
samkeit. Es zeigt sich aber rasch, dass ihre alten Gefährten sich nicht verändert haben. Weder haben sie
Bruni vermisst noch haben sie ihr exklusives Weihnachts-Gerede aufgegeben. Wieder eine Erwachsenenflos-
kel: Unterbrich mich nicht, Brunhilde. (Die Kinder werden wissen, wann Eltern sie statt mit dem Kosenamen
mit der Langform anreden.) Wirklich, da hat sich nichts verändert. Aber Bruni hat sich verändert. Sie schreit
ihre Empörung heraus. Und sie hat wieder etwas gelernt: Das Weihnachten, in dem die Tiere schwelgen, ist

 Brunis Weihnacht

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lange her. Aber es gibt wieder ein Baby, grad jetzt, und das braucht eine Krippe, grad jetzt!
Bruni und die junge Frau bringen den Schnee, die Kälte und die kalten Farben von draußen mit herein. Der
Abstand zwischen ihnen und den Tieren ist groß. Alle wirken sie plötzlich klein, am kleinsten aber Bruni, die
angespannt da steht und versucht, den Abstand zu überbrücken.
Wenn ich es recht sehe, entspricht das Bild dem letzten Textabschnitt: Die Mienen der Tiere sind bereits
aufmerksam und überrascht.

                                  Text: „Das ist ja wie Weihnachten“, flüsterte die Frau, als sie die
  Die Frau und ihr Kind           Scheune betrat. Vorsichtig legte sie ihr Kind in die Krippe. Das
finden, was sie brauchen          Kleine kuschelte sich ins süße Heu und steckte zufrieden seinen
                                  Daumen in den Mund. „Danke, kleines Schwein. Es ist warm hier“,
                                  murmelte die Frau und sank in einen Heuhaufen. „Es ist warm und
                                  sicher.“
                                  „Ich sag euch was: Sie sind beide schon eingeschlafen“, flüsterte
                                  Kurru einen winzigen Augenblick später.
Kommentar: Wie Weihnachten, sagt die Frau und wir begreifen, dass die Krippe im Stall weder damals
noch heute „elend und schlecht“ war, sondern Rettung, Geborgenheit, Heimat. Es geht nicht darum, dass
niemals mehr eine Mutter gezwungen sein soll, ihr Kind in eine Krippe zu legen. Nein. Es geht darum, dass
eine Krippe da sein möge, wann immer eine junge Frau dringend einen Platz braucht für ihr Kind. Und dass
einer da sein möge, der sie ihr zeigt. Der sie hinbringt – wie Bruni diese Fremde.
Hirten und Engel kommen diesmal nicht. Also können die Frau und ihr Kind ohne das Schlafgegurr der
Taube schlafen. Gleich und fest und tief.
Das Baby ist golden und warm wie das Stroh in der Krippe und der Zauber des Stalls. Bewusst nach dem
Kindchen-Schema gezeichnet soll es den Betrachtenden rühren und etwas von der Heiligkeit jedes Babys
vermitteln. Die Tiere sehen das. Sie alle schauen und lächeln – Bruni freilich ein wenig selbstzufrieden.

Akt 3: Die Bewährung

Zusammenfassung:
Bruni betrachtet ebenfalls das Krippen-„Idyll“ – und jetzt begreift sie: Schweine gehören tatsächlich nicht
dazu. Sie tragen nichts bei zu der Gemütlichkeit des „klassischen“ Weihnachtskrippenbildes. Dann hatten die
Großen Recht?
Bruni erlebt ein Wunder: Auf einmal neigen sich die Großen ihr zu. Diesmal sind sie ganz bei ihr, zugewandt,
„zärtlich“. Und mehr noch: Die Großen geben ihr Recht. „Du bist gerechter als ich“, gesteht einmal im Alten
Testament ein großer Verfolger einem kleinen Verfolgten. Das war, als David den König Saul hätte töten
können und es nicht getan hat (1 Sam 24,18). Solche Offenheit ist selten. Ein Wunder der Umkehr und
Einsicht!
Ein solches Wunder bringen hier in unserer Geschichte die Großen des Stalls zustande: Sie erkennen, was
Bruni getan hat. Das Notwendige, das Richtige. Und sie erkennen es an.

 Brunis Weihnacht

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Weihnachten hat vor allem mit Liebe zu tun – damit, dass wir Liebe empfangen. Das Evangelium, das mit
Jesus auf die Welt gekommen ist, hat außerdem damit zu tun, dass wir Liebe tun.
Kleine können beides oft besser als Große. Weil sie neugierig sind, offen, trotzig, weil sie handeln können
ohne Zweck und Ziel. Das hat Jesus gesagt. Er segnete die Kinder (Lk 18). Er sagte: Lasst die Kinder zu mir
kommen. Und: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, verfehlt ihr das Leben.
Bruni ist ein Beispiel dafür. Die Großen verstehen das – Friedhelm, Lissy und Stupps. Anders als die Großen
zu Jesu Zeiten. Angesichts des Babys in der Krippe lassen Esel, Kuh und Schaf sich anrühren, wird ihre Liebe
geweckt. Babys können das. Auch „ganz gewöhnliche“. Darin sind sie dem Christkind gleich.

                                  Text: Und dann starrten alle Tiere zu Bruni hinüber. „Wer ist denn
  Die Tiere ereifern sich         diese Frau?“, schnauzte Stupps. „Bruni! Wir können doch nicht
                                  irgendeine Fremde hier hereinlassen!“, sagte Friedhelm.
                                  „Du meine Güte …“, begann Lissy. „Wir brauchen jetzt warme
                                  weiche Wolle. Wir brauchen deine alte Decke, Friedhelm! Wir könn-
                                  ten eine Menge Wiegenlieder gebrauchen. Eure Ur-Ur-Ur-
                                  Urgroßeltern sind nicht hier! Ihr müsst diesem Baby gefälligst selbst
                                  helfen!“
Friedhelm war empört. „Aber das hier ist doch kein besonderes Baby“, maulte er. „Aber sicher!“,
sagte Bruni. „Alle Babys sind etwas Besonderes!“ Da schaute Friedhelm in das kleine schlafende
Gesicht. „Du hast Recht, Bruni“, sagte er, „das hatte ich vergessen.“
Kommentar: Zuerst einmal überrascht diese Nachdiskussion. Die Tiere haben sich ja alle schon auf Mutter
und Kind eingelassen. Woher auf einmal diese Ruppigkeit? Und ein Schaf, das „schnauzt“, hat es wohl auch
noch nie gegeben. Friedhelm und Stupps verharren offenbar in ihrer Erwachsenenattitüde: „Was kann von
der Kleinen schon Gutes kommen?“ – nun gepaart mit einem generellen Misstrauen gegen Fremdes und
Unerwartetes.
Als Nächstes überrascht Lissy, die nun als Erste und von sich aus aus dieser Attitüde ausbricht. Ihr Mutter-
instinkt ist stärker. Und sie erkennt, wie falsch der Geist von Weihnachten in einer selbstzufriedenen Erinne-
rungspose aufgehoben ist.
Friedhelm argumentiert nun – zwar richtig – mit der Einzigartigkeit des Jesuskindes, muss dann aber zuge-
ben, dass, wenn auch in anderer Weise, jedes Baby ein Wunder ist.
Hier ist Weihnachtstheologie mit Händen zu greifen: Gott wird Mensch. Und das heißt: Jeder Mensch ist
unendlich wertvoll!
Der entscheidende Hinweis darauf – und das ist nun die dritte Überraschung – kommt von Bruni. Wann hat
sie das denn begriffen …?
Das Bild illustriert diesen letzten Textabschnitt: Bruni schaut pfiffig-selbstbewusst, Friedhelm freundlich. Die
schräge Perspektive deutet an, dass hier die Erwachsenenwelt der Tiere erschüttert wird. Die violette Fär-
bung der Szene entspricht beinahe der von Brunis Aufbruch: Es ist eben nicht nur bequem, seine Grundsätze
über Bord zu werfen …

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                                  Text: Als der Bauer und seine Frau kamen, um die Tiere zu füt-
   Die Bauersleute küm-
                                  tern, sahen sie zuerst die junge Frau. Sie schlief unter Friedhelms
         mern sich
                                  alter Decke im Heu. Und dann sahen sie das Kind, das in der Krip-
                                  pe lag. „Es ist Weihnachten“, flüsterte der Mann. „Genau hier in
                                  unserem Stall ist Weihnachten. Es ist wie ein Wunder.“ „Pssst“,
                                  machte seine Frau. „Lass sie schlafen. Wir werden wach bleiben,
                                  um zu sehen, ob sie später unsere Hilfe brauchen.“
                                Als die beiden hinausgegangen waren, schaute Bruni sich um. Sie
sah, was die beiden Bauersleute gesehen hatten: Friedhelms warme Decke, die weiche Schafwol-
le* von Stupps, Lissys Krippe und ihre Milch.
„Ihr hattet ja Recht“, sagte Bruni und ihr Schwänzchen hing traurig herunter. „Schweine haben
wirklich gar nichts, was sie schenken könnten. Ich danke euch allen, dass ihr so gut zu ihnen
wart.“
Kommentar: *Hier kann man wieder (wie oben) ein kleines Stück vom Originaltext abweichen – denn die
Vorstellung des „Schaffells“ als Gabe eines lebendigen Schafes ist eher merkwürdig – warum nicht Wolle?
Das Verständnis von Weihnachten, das wir im Lauf der Handlung erreicht haben, wird nun durch das Zeug-
nis der Bauersleute gefestigt und wiederholt: Zu Weihnachten gehören Mutter und Kind, Stall und Krippe,
aber auch lebendige Fürsorge und gelebte Barmherzigkeit: Die beiden werden wachen und sich zu weiteren
Hilfeleistungen bereit halten. Der Geist von Weihnachten lebt heute!
Bruni sieht diesen Geist auch. Und erst da kommt nun der Moment, in dem sich die Ansage von DS 10 –
angesichts der Notlage vergaß sie ihre eigenen Sorgen für eine Weile – bewahrheitet. Da sind sie wieder,
auch im neuen Licht des jetzt gut verstandenen Geistes von Weihnachten: ihre Zweifel an der eigenen Rolle
und Güte. Was haben Schweine, was habe ich schon zu schenken …?
Das Bild ignoriert diesen „Rückfall“. Es hält Weihnachtsidylle fest. In der Perspektive von oben – durch die
Dachluke, das hatten wir schon auf DS 2 – sehen wir, dass der Stall „größer“ geworden ist. Er bietet viel
mehr Raum, birgt mehr Leben, atmet Frieden und Wärme. Die Farben haben sich endgültig ausdifferenziert:
Violett ist draußen, Gold ist drinnen. Dazu das weiße Licht der Laterne.

                                  Text: Die Tiere im Stall schauten auf das kleine Schwein hinunter.
  Die Tiere ändern ihren
                                  „Ach Bruni, wie dumm du doch bist“, sagte Lissy zärtlich. „Du hast
       Standpunkt
                                  uns unser eigenes Weihnachtsfest geschenkt. Durch dich konnten
                                  wir endlich selbst etwas tun, anstatt nur mit unseren Großeltern
                                  anzugeben. Siehst du nicht, dass dein Geschenk das beste von
                                  allen ist?“ „Da musste erst so ein kleines Schwein daherkommen“,
                                  lachte Friedhelm, „damit wir endlich verstehen, was Weihnachten
                                  bedeutet.“
Kommentar: „hinunterschauen“ und „zärtlich“ – Die Tiere sind immer noch erwachsen und Bruni ist klein –
aber die Qualität des Erwachsenenhabitus hat sich verändert. Die Kleine wird nun ernst genommen und
gewürdigt – einmal, weil, wie wir gerade gelernt haben, das Kleine zu Weihnachten groß ist, dann aber

 Brunis Weihnacht

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auch, weil Bruni als Kleine, als Unwissende, eine wichtige Qualität des Geistes von Weihnachten selbst
entdeckt hat:
Das wahre Geschenk (das die anderen Geschenke freilich nicht entwertet!) ist das, was selbstlos, absichts-
los, rein aus Liebe und Barmherzigkeit gegeben wird: Aufmerksamkeit auf das, was der Nächste gerade
jetzt, gerade hier und heute braucht (nachzulesen in Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter, Lukas 10).
Und im Fazit des Buches dann auch noch das, was Jesus über die Kleinen lehrt: Wenn ihr das Himmelreich
findet wollt, dann werdet wie die Kinder! (vgl. Markus 10,13–16).
Das Bild krönt diese Aussage: Da ist das Kleine im Licht und die Großen bilden ein wohlwollendes, gütiges
Dach. Segen spenden sie dem Kleinen, aber sie sind auch auf ihn bezogen und finden in ihm das goldene
Licht, die Wärme des Lebens. Bruni aber ist einfach nur glücklich. So soll es sein, will man sagen. Amen.

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