Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand - Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie: Einleitung - WBG
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Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie: Einleitung Johannes Drerup und Gottfried Schweiger Die COVID-19-Pandemie hat unseren Alltag innerhalb kürzes- ter Zeit auf den Kopf gestellt. Das soziale und wirtschaftliche Leben wurde auf ein Minimum reduziert, Schulen, Kinder- betreuungseinrichtungen und Hochschulen wurden geschlos- sen. Die Familie ist dadurch (wieder) zum zentralen Lern- und Lehrort geworden, zum räumlichen Mittelpunkt des be- ruflichen und sozialen Lebens vieler Menschen. Das stellt Fa- milien und die Bildungseinrichtungen vor besondere Heraus- forderungen. Eltern müssen Homeschooling, Kinderbetreuung und Home Office unter einen Hut bringen 1. Von der Hilfe durch Großeltern und andere Verwandte, die nicht im selben Haushalt wohnen, wird mit guten Gründen abgeraten. Leh- rer*innen stehen unter dem Druck, oft ohne medientechno- logische Ausbildung und ohne Vorlaufzeit Lernmaterialen neu zu planen und zur Verfügung zu stellen. Die technischen Mittel dafür sind aber nicht in allen Schulen und auch nicht in allen Familien ausreichend vorhanden. Es ist daher zu erwarten, dass ohnehin schon bestehende Bildungsungleichheiten sich in Folge der Krise vergrößern und verfestigen. Die Situation in manchen Familien ist prekär. Eltern wurden arbeitslos oder in Kurzarbeit geschickt und kämpfen nun mit Zukunftsängs- 7
Johannes Drerup und Gottfried Schweiger ten. Gewalt gegen Frauen und Kinder, so eine oftmals geäußer- te Befürchtung, nimmt in Familien zu und das in einer Zeit, wo der Kontakt zu Vertrauenspersonen, Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen reduziert oder gänzlich eingestellt wurde. Die kurzen Essays und Stellungnahmen in diesem Band beschäftigen sich mit dem Themenfeld Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand, mit dem sich in Folge der COVID-19- Pandemie Bildungs- und Sozialsysteme weltweit konfrontiert sehen. Es sind in diesem Kontext selbstverständlich keine Pa- tentrezepte und auch nur in seltenen Fällen Handlungsemp- fehlungen zu erwarten. Selten, so scheint es, waren die Grenzen unseres Wissens und auch die Probleme im Umgang mit Nichtwissen größer als heute und selten war es schwieriger, auch nur halbwegs empirisch informierte Zeitdiagnosen vor- zulegen. „So viel Wissen“, so Jürgen Habermas, „über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie“ 2. So können derzeit viele der anstehenden relevanten normativen Fragen z. B. be- züglich der Abwägung von Gütern und Prinzipien ohne empi- risch hinreichend abgesicherte Diagnosen und Prognosen der Folgen von (bildungs-)politischen Entscheidungen kaum bzw. nur sehr schwer angemessen beantwortet werden. Auch des- halb ist Skepsis geboten bezüglich prätentiösen, zeitdiagnos- tisch ambitionierten Deutungen, deren Fallstricke und Risiken auch in teilweise ressentimentgeladenen öffentlichen Äußerun- gen von Philosoph*innen festzustellen sind 3, die gegenwärtige Zustände nur als Bestätigung ihrer vorgefassten kultur- kritischen Vorurteile deuten. Insbesondere aus historischer Perspektive scheint es zudem eher unplausibel und voreilig, anzunehmen, dass wir es heute mit einer historischen Singula- rität zu tun haben 4, und es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, ob die Pandemie tatsächlich als epochale welt- geschichtliche Zäsur zu deuten ist. Zugleich kann und sollte man, trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber zeitdiagnosti- schen Schnellschüssen, dazu beitragen, sich abzeichnende Pro- blemvorgaben und -felder systematisch zu bearbeiten 5, und 8
Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand Vorschläge machen, wie die Ereignisse aus wissenschaftlicher und philosophischer Sicht zu beschreiben und einzuordnen sind. Die derzeit diagnostizierte Krise 6, die weniger als Krise im Singular, sondern eher als Konglomerat von ökonomischen, politischen und sozialen Krisen zu verstehen ist, wirft unwei- gerlich auch Fragen nach der angemessenen Gestaltung, gesell- schaftlichen Funktion und Rechtfertigung von Erziehung und Bildung auf und lässt uns anders und neu auf tradierte Pro- bleme blicken. Bei allen mehr oder weniger begründeten und berechtigten Befürchtungen und Spekulationen 7 über die Auswirkungen der aktuellen Krisen darf nicht aus dem Blick geraten, dass wir es in vielen Fällen nicht so sehr mit radikal neuen Problemen, sondern eher mit Problemkontinuitäten zu tun haben, die sich im Ausnahmezustand – ein Begriff mit politisch fragwürdigen Konnotationen, die auf seine Prägung und Verwendung durch Carl Schmitt zurückzuführen sind 8 – auf spezifische Art und Weise manifestieren. So zeigen gerade in der aktuellen Krisen- situation rechtspopulistische und -autoritäre Politiker*innen aus der Sicht ihrer Kritiker oftmals deutlicher ihr ‚wahres Ge- sicht‘, wenn sie den Ausnahmezustand und die damit verbun- denen Ängste für die Durchsetzung der eigenen Agenda nut- zen, rassistische Vorurteile bedienen – auch das ist historisch nichts Neues 9 – und aus politischem Kalkül geballte Irrationa- litäten unter das ‚Volk‘ bringen, das zu vertreten, sie advokato- risch beanspruchen. So schien der brasilianische Präsident Bol- sonaro die Debatte über das Virus als eine Art Witz abtun zu wollen – ‚eine kleine Erkältung‘ 10 –, Vertreter*innen der hindu- nationalistischen BJP – und das ist leider kein Witz – empfah- len den indischen Bürger*innen als probates Mittel gegen das Virus Kuhurin zu trinken 11 und Trump hatte bekanntlich die Idee, dass man sich ggf. Desinfektionsmittel spritzen könne. Diese real-satirisch anmutenden Äußerungen, die jedoch eben- so wie derzeit kursierende Verschwörungstheorien reale politi- sche Folgen haben 12, sind nicht nur blanker Hohn für die Op- fer der Pandemie, sie zeigen auch an, vor welchen Problemen 9
Johannes Drerup und Gottfried Schweiger und Herausforderungen liberale Demokratien im Allgemeinen und (politische) Bildung im Besonderen vor, nach und wäh- rend des Ausnahmezustands stehen. In jedem Fall scheinen diese Entwicklungen im Umgang mit dem Virus eine Sichtwei- se zu stützen, die Odo Marquard – Carl Schmitts Ausführun- gen zum Ausnahmezustand souverän persiflierend – auf die Sentenz gebracht hat: „Vernünftig ist, wer den Ausnahme- zustand vermeidet“ 13. Die kurzen Essays in diesem Band entwickeln unterschied- liche Perspektiven auf philosophisch relevante Probleme und Fragen einer Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Zu den von Vertreter*innen unterschiedlicher Disziplinen dis- kutierten Fragen gehören u. a. die folgenden: Wie lassen sich die pädagogischen Auswirkungen der gegenwärtigen Krise an- gemessen historisch einordnen und kontextualisieren (hierzu der Beitrag von Oelkers in diesem Band)? Welche Herausfor- derungen stellen sich Familien in der Krise und wie kann ihnen bei der Bewältigung geholfen werden (hierzu der Beitrag von Teschmer und Lohse)? Was kann (politische) Bildung in diesen Zeiten bedeuten, kann die Krise nur als Störfaktor oder auch als Chance gesehen und genutzt werden (hierzu die Bei- träge von Besand, Albus, Behrens, Thein, Drerup und Giesin- ger)? Wie steht es mit anderen Formen der Sorgearbeit, ins- besondere im Umgang mit besonders vulnerablen Gruppen (hierzu der Beitrag von Schweiger)? Welche Folgen könnte die Krise für die Beziehungen zwischen den Generationen haben? Wie können LehrerInnen auf die neuen Herausforderungen reagieren, welchen Beitrag können sie leisten, um die Zeit der Krise zu bewältigen (hierzu der Beitrag von Hauck-Thum)? Was bedeutet die Krise aus Sicht von Kindern im Kontext der sehr unterschiedlichen sozialen Lagen, in denen sie von ihren Auswirkungen betroffen sind? Wie sollte die COVID-19-Pan- demie im Unterricht und in der außerschulischen Interaktion mit den Schüler*innen berücksichtigt werden (hierzu der Bei- trag von Stojanov)? Wie verändern sich die tradierten pädago- gische Alltags- und Interaktionskulturen 14 und neuen digitalen 10
Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand Bildungswelten im Rahmen der Krise und in Folge der Art und Weise, wie mit ihr umgegangen wird? Welche Konstruktionen und Bilder von Kindern und Kindheit – etwa als potentielle ‚superspreader‘ oder harmlose Fürsorgeempfänger, als selbst- bestimmte Akteure und Konstrukteure der eigenen Lebenswelt oder als passive Adressaten pädagogischer Interventionen kur- sieren in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte? Wie sind die aktuellen Entwicklungen aus Sicht der Debatte über Bildungsgerechtigkeit zu bewerten (hierzu der Beitrag von Meyer)? Welche spezifischen Herausforderungen stellen sich im Kontext von unterschiedlichen Bildungssystemen (hierzu der Beitrag von Brandt und Drerup)? Was können wir – ganz grundsätzlich – aus den gesellschaftlichen Reaktionen auf Co- vid 19 und der Art und Weise, wie diese in der Debatte thema- tisiert werden, über den gegenwärtigen Zustand des gesell- schaftlichen Zusammenlebens lernen (der Beitrag von Liebsch in diesem Band)? Als eine Form der ‚public philosophy‘ richtet sich der Band an Eltern, Lehrer*innen, Menschen, die mit Familien und Kin- dern arbeiten und an alle, die sich für philosophische Fragen zu den Themen Kindheit, Bildung und Erziehung interessie- ren. Bedanken möchten wir uns bei Tim Isenberg für die Hilfe bei der Erstellung des Bandes. Anmerkungen 1 Hierzu: Giesinger 2020. Der Begriff des Homeschoolings, hierauf weisen Giesinger und auch Stojanov in diesem Band hin, wird in der aktuellen Debatte auf irreführende Art und Weise genutzt, da er, so Stojanov, „traditionell eigentlich eine in Deutschland nicht zulässige Alternative zur Beschulung der Kinder darstellt, bei der sie über- haupt nicht an öffentlichen oder privaten Schulen angemeldet wer- den, sondern ausschließlich zuhause von ihren Eltern unterrichtet werden.“ 2 Habermas 2020. 3 Hierzu: Amlinger/Nachtwey 2020. 11
Johannes Drerup und Gottfried Schweiger 4 Carl 2020. 5 So z. B. hierzu die Beiträge auf dem Blog praefaktisch: https:// www.praefaktisch.de/covid-19; sowie aus risikoethischer Perspekti- ve: Mukerji/Mannino 2020; aus der Perspektive pädagogischer Ethik: Levinson 2020, aus bildungs- und erziehungstheoretischer Perspek- tive: Wigger/Platzer/Bünger 2017; und aus bildungshistorischer Per- spektive: Tenorth 2020. 6 Zu Fragen eines angemessenen Umgangs mit individuellen und gesellschaftlichen Krisen: Diamond 2019. 7 Z. B. Mishra 2020; Klein 2020; sowie die Kritik von Dörre 2020. 8 Hierzu: von Lucke 2020. 9 Wiegeshoff 2020. 10 Souza 2020. 11 Ehmke 2020, 77. 12 Renner/Wehrhahn 2020. 13 Marquard, zitiert nach Lucke 2020, 96. 14 Hierzu aus kulturhistorischer Perspektive der Beitrag von Ko- schorke 2020. Literaturverzeichnis Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey, Sie haben noch etwas zu sagen, in: FAZ, 27. 05. 2020, N3. Horst Carl, Pandemie und Hexenverfolgung als Versicherheitlichung, in: Soziopolis, online unter: https://www.soziopolis.de/beobach ten/gesellschaft/artikel/pandemie-und-hexenverfolgung-als-ver sicherheitlichung/ (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Jared Diamond, Upheavel. How Nations Cope With Crisis and Change, Allen Lane (2019). Klaus Dörre, Nicht jede Krise ist eine Chance, in: Jacobin Magazin, online unter: https://jacobin.de/artikel/klaus-dorre-corona-krise- chance/ (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Johannes Giesinger, Wenn Fernunterricht zu Homeschooling wird: Bildungsgerechtigkeit und elterliche Pflichten, online unter: https://www.praefaktisch.de/bildung/wenn-fernunterricht-zu- homeschooling-wird-bildungsgerechtigkeit-und-elterliche- pflichten/#more-1831 (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Jürgen Habermas, Jürgen Habermas über Corona: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“, In: Frankfurter Rund- 12
Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand schau, online unter: https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/juer gen-habermas-coronavirus-krise-covid19-interview-13642491. html (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Naomi Klein, Screen New Deal, online unter: https://theintercept. com/2020/05/08/andrew-cuomo-eric-schmidt-coronavirus-tech- shock-doctrine/ (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020). Albrecht Koschorke, Aus Berührung wird Rührung, in: DIE ZEIT vom 20. 05. 2020, 52. Meira Levinson, Educational Ethics During a Pandemic, online unter: https://ethics.harvard.edu/files/center-for-ethics/files/17edu cationalethics.pdf (Letzter Zugriff am 01. 06. 2020) Pankaj Mishra, Get Ready, a Bigger Disruption is Coming, online un- ter: https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2020-03-16/co ronavirus-foreshadow-s-bigger-disruptions-in-future (Letzter Zu- griff am 01. 06. 2020) Nikil Mukerj/Adriano Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt, Stuttgart: Reclam (2020). Martina Renner/Sebastian Wehrhahn, Die neue Rechte: Corona als Tag X, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 (2020), 41–44. Heinz-Elmar Tenorth, Voll digital in die pädagogische Regression, on- line unter: https://deutsches-schulportal.de/stimmen/voll-digital- in-die-paedagogische-regression/ (Letzter Zugriff: 17 .06 .2020) Albrecht von Lucke, Demokratie in der Bewährung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 (2020), 89–99. Lothar Wigger/Barbara Platzer/Carsten Bünger, Nach Fukushima- Zur erziehungs- und bildungstheoretischen Reflexion atomarer Katastrophen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt (2017). 13
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