BRÜCHE EDITORIAL - CONTRALEGEM
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Editorial Brüche Editorial Am Montagabend, den 28. Februar 2022, er- Ungeachtet der medialen Resonanz und mit strahlt das Zürcher Grossmünster in blau-gelb, einem weniger oberflächlichen Blick lässt sich als Zeichen der Solidarität mit der von russi- allerdings die Ankündigung des Bundesrates schen Truppen angegriffenen Ukraine. Medien- vom 28. Februar 2022 als der grösste aussen- berichten zufolge bewegen sich 20’000 Menschen politische Bruch der Schweizer Politik verstehen friedlich mit Kerzen und Plakaten durch die sowie als Paradigma für (Aussen-)Politik im Stadt; sie protestieren gegen den Einmarsch Zeitalter der Mediengesellschaft. der russischen Truppen, man hört in den Gassen des Niederdorfs immer wieder Parolen. Die Übernahme der EU Sanktionen stützt der Bundesrat materiell auf Art. 185 BV (Äussere Einige Stunden zuvor hat der Bundesrat be- und innere Sicherheit): kanntgegeben, dass er nun die Sanktionspake- te der EU vom 23. und 25. Februar übernehmen 1 Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wah- würde. Die Vermögen der von der EU gelisteten rung der äusseren Sicherheit, der Unabhängig- Personen und Unternehmen sind auch in der keit und der Neutralität der Schweiz. Schweiz ab sofort gesperrt und es erfolgt der Vollzug der Finanzsanktionen gegen den rus- 2 Er trifft Massnahmen zur Wahrung der in- sischen Präsidenten Vladimir Putin, Premier- neren Sicherheit. minister Mikhail Mishustin und Aussenminis- ter Sergey Lavrov. Als Grundlage dieser 3 Er kann, unmittelbar gestützt auf diesen Entscheidung erklärt der Bundesrat das Be- Artikel, Verordnungen und Verfügungen er- streben, die Wirkung der Sanktionen der EU lassen, um eingetretenen oder unmittelbar gegen Russland zu verstärken, und entschliesst drohenden schweren Störungen der öffentlichen sich damit auch, das Abkommen von 2009 über Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicher- die Visaerleichterung für Russinnen und heit zu begegnen. Solche Verordnungen sind zu Russen teilweise zu suspendieren und den befristen. Schweizer Luftraum für alle Flugbewegungen von Luftfahrzeugen mit russischer Kenn- 4 In dringlichen Fällen kann er Truppen auf- zeichnung zu sperren. In der gleichen An- bieten. Bietet er mehr als 4000 Angehörige der kündigung bekräftigt der Bundesrat zudem die Armee für den Aktivdienst auf oder dauert Solidarität der Schweiz mit der Ukraine. Die dieser Einsatz voraussichtlich länger als drei Medien goutieren in der grossen Mehrheit Wochen, so ist unverzüglich die Bundesversamm- diese Ankündigung am späten Nachmittag und lung einzuberufen. unterstützen die eingeleiteten Massnahmen, nachdem Tage zuvor der Bundesrat wegen Der Bundesrat darf also Massnahmen treffen, seiner zurückhaltenden Haltung im Hinblick sofern sie die äussere Sicherheit, die Unabhän- auf Sanktionen gegen Russland eben von dieser gigkeit und die Neutralität der Schweiz be- grossen Mehrheit der Medien stark kritisiert treffen. worden war. ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 4
Editorial Durch die Übernahme der EU-Sanktionen wird Die Schweizer Neutralität ist in der Vergangen- nicht nur fremdes Recht übernommen, sondern heit – nicht immer zu Unrecht – kritisiert eine Art von Recht, das eine klare aussenpoli- worden, vor allem beim Umgang mit durch das tische Positionierung der Schweiz bewirkt. nationalsozialistische Regime in Deutschland Diese klare aussenpolitische Positionierung Verfolgten (e.g. Fall Spring). Zu Recht haben steht konträr zur Unabhängigkeit und Neutra- Kritiker darauf hingewiesen, dass die Weige- lität und liesse sich – am Wortlaut des Gesetzes rung, verfolgten Individuen Schutz zu ge- orientiert – nur durch die äussere Sicherheit währen, nur schwer erträglich mit aussenpoli- rechtfertigen. Wird jedoch äussere Sicherheit tischen Idealen zu rechtfertigen ist. Nicht durch eine klare aussenpolitische Positionie- zuletzt deshalb hat die Schweiz seit dem Ende rung bezweckt, so führt das zu einem – nicht des 2. Weltkrieges die Neutralität nicht als ein nur semantischen – Widerspruch: klare poli- «Wegschauen» oder «eine Delegation von Ver- tische Positionierung ist das Gegenteil von antwortung» definiert, sondern hat sich leiten Unabhängigkeit und Neutralität, so dass sich lassen von der Erkenntnis, dass internationale äussere Sicherheit einerseits und Unabhängig- Konflikte komplex sind und dass für deren keit und Neutralität andererseits gegenseitig Lösung die beteiligten Konfliktparteien auf zwingend ausschliessen. Dieser Befund, so einen unabhängigen Mediator zurückgreifen banal er daherkommt, ist ein epochaler Bruch können sollen. der Schweizer Aussenpolitik, gar der Schweizer Staatsräson, welche die Unabhängigkeit und A nzuerkennen, dass internationale Konflikte Neutralität der Schweiz nicht als Gegensatz, komplex sind, ist die Grundlage, um diese Einschränkung oder gar Gefährdung der äus- Konflikte verstehen und beenden zu können. seren Sicherheit, sondern als deren Grundlage Die Wahrheit ist in allen Kriegen das erste verstanden haben. Opfer (so schon Hiram Johnson) und eine klare Gut-Böse-Einteilung der Akteure mag für Direkt mit der Verkündung der Sanktion begann die Erreichung politischer Ziele notwendig sein, eine öffentliche Debatte über diese Entscheidung trägt aber nicht dazu bei, den Konflikt zu des Bundesrates und ob durch sie die Neutrali- verstehen. Vielmehr stellt die Klassifikation tät der Schweiz begraben wurde. So wurde zu der Akteure als gut und böse zu Beginn eines Recht darauf hingewiesen (cf. Marco Jorio in Konfliktes ein moralisches und politisches der NZZ vom 14. März 2022), dass es eine Unter- Urteil dar, bevor die Fakten vorliegen und – hier scheidung gibt zwischen Neutralitätsrecht, das wird es schwierig für die Konfliktbeilegung – keine Teilnahme an Kriegen, kein Durchqueren kommt einer Vorverurteilung der Akteure des Territoriums durch kriegführende Truppen, gleich. Man verstehe mich nicht falsch: Die keine staatlichen Waffenlieferungen an Kriegs- Verurteilung von Handlungen (e.g. Bombarde- parteien, und keine Bildung von kombattanten ment der Zivilbevölkerung, illegale Invasion Truppen für eine Kriegspartei vorsieht, sowie etc.) ist nicht gleichzusetzen mit der Verurtei- die Neutralitätspolitik, die alle Massnahmen lung der Akteure und deren Überlegungen und umfasst, die ein Staat über seine neutralitäts- Motive, die solchen Handlungen zugrunde rechtlichen Verpflichtungen hinaus trifft, um liegen, man denke da an die unterschiedliche die Glaubwürdigkeit seiner Neutralität im moralische Bewertung der Bombardements Kriegsfall zu sichern. Durch die Übernahme Londons und Leipzigs während des 2. Welt- der EU-Sanktionen ist nach herrschender krieges. Die Verurteilung von Handlungen ist Meinung das Neutralitätsrecht nicht verletzt ein Zeichen, dass klare Wertvorstellungen worden. Ob hingegen weiterhin überhaupt von existieren, was (nicht nur rechtlich) zu tun einer Neutralitätspolitik der Schweiz gespro- (oder unterlassen) akzeptabel ist und zwar chen werden kann, ist äusserst fraglich. unabhängig vom Akteur. Die Verurteilung der ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 5
Editorial Akteure hingegen ist eine klare Positionierung, weiter Transaktionen in USD und EURO ab- eine Parteiergreifung, welche die Konfliktlösung wickeln zu können und nicht ins Visier aus- erschwert. Nur wenn die Akteure nicht a prio- ländischer Behörden zu geraten. Die Ankündi- ri «neutral» behandelt werden, kann man sie gungen des Bundesrates, die EU-Sanktionen zu gemeinsam an einen Tisch bringen. Niemand übernehmen, machen die Arbeit der Schweizer wird sich an einen Verhandlungstisch begeben, Banken leichter, sie beeinflussen sie aber nicht. wenn das Urteil über ihn schon gefällt ist. Der Bundesrat hat damit den Schwerpunkt nicht auf die wirkliche Umsetzung der Sank- Durch die Übernahme der EU-Sanktionen gegen tionen gelegt – sie erfolgten im Finanzsektor Russland hat sich die Schweiz aussenpolitisch nämlich durch die Banken autonom und aus klar positioniert und ihre Neutralitätspolitik deren Interessen heraus – sondern auf die weitestgehend aufgegeben. Das kann man Aussendarstellung der Schweiz. Politik in der wollen, aber man muss sich dann auch von der Mediengesellschaft ist immer, oder vor allem, Idee verabschieden, dass die Schweiz nun zur auch Wahrnehmung. In diesem Lichte ist auch Beendigung dieses Konfliktes einen essentiellen der mehr als fragwürdige Auftritt des Bundes- Beitrag wird leisten können. Und während es ratspräsidenten Cassis zu werten, der bei einer zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz klar ist, pro-ukrainischen Demonstration mit einer wie die äussere Sicherheit der Schweiz durch Live-Schaltung mit dem ukrainischen Präsi- die Übernahme der Sanktionen genau geschützt denten Selenskyj diesem nicht nur bescheinig- wird, lässt sich sagen, dass dadurch das Leid te, die Werte der Schweiz zu verteidigen, sondern der Zivilbevölkerung in der Ukraine nicht ihn danach auf Twitter auch als Freund («my vermindert wird, sondern durch die Erschwe- friend») bezeichnete. Selenskyj wiederum war rung einer diplomatischen Mediation zwischen mehr Realpolitiker und nutzte diese mediale den Konfliktparteien unter der Federführung Aufmerksamkeit, um die Sperrung russischer der Schweiz wohl noch verlängert wird. Dieser Gelder in der Schweiz zu verlangen und mit Bruch bedingt auch, dass die Schweiz anfangen Nestlé einen der grössten Schweizer Arbeitgeber muss, ihre Rolle in der Weltpolitik neu zu de- und Steuerzahler zu kritisieren, da Nestlé noch finieren. Ihre Rolle als Mediatorin in inter- Produkte nach Russland liefere. In der Essenz nationalen Konflikten hat nämlich starke wurde ein ausländisches Staatsoberhaupt vom Kratzer bekommen. Bundespräsidenten hofiert, das ihm vorzu- schreiben versuchte, wie es regieren solle. Der Der geschilderte Bruch der Schweiz mit den Bundespräsident bedankte sich dafür sogar. Leitgedanken ihrer bisherigen Aussenpolitik Was rechtlich und politisch ein sehr fragwür- dient aber auch als Paradigma der Mediengesell- diger Auftritt von Cassis gewesen ist, wurde schaft, ohne die er nicht zu verstehen ist. von den meisten Medien grösstenteils gefeiert, die eine klare Parteinahme der Schweiz ver- Die – auch moralische – Parteinahme auf langten. Kosten der Unabhängigkeit und Neutralität erfolgte auf Druck der Medien. Von Druck Dieser «Schrei» nach Parteinahme durch die anderer Staaten ist nichts bekannt und vom Medien war aber auch Drang nach vermeint- Bundesrat auch nicht so kommuniziert worden. licher Klarheit: hier die gute Seite (Ukraine, Die klare Parteinahme des Bundesrates ver- der Westen), da die böse Seite (Russland). wundert umso mehr, als die Erfahrung – auch Dieses Narrativ erlaubt nicht nur schnelle und in casu – zeigt, dass die Schweizer Banken einfache Antworten auf schwierige Fragen, völlig unabhängig von bundesrätlichen Ent- sondern schafft den Eindruck, die Komplexität scheiden Sanktionen – z.B. der USA und der des Konflikts, der Welt aufzulösen. Der Yale EU – in der Regel für sich übernehmen, um Professor Jeffrey Sonnenfeld erlangte in kurzer ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 6
Editorial Zeit Berühmtheit, indem er eine fortwährend russischen Präsidenten zu erklären wäre. Dies aktualisierte Liste von westlichen Unternehmen dürfte weniger mit einer wahren Sorge um führt, die sich nach dem Kriegsbeginn aus seine Gesundheit zusammenhängen, als viel- Russland zurückgezogen haben und gleich- mehr mit dem Bestreben, dem «Bösen» ein zeitig diejenigen anprangert, die noch auf dem Gesicht zu geben. Die Personifizierung von russischen Mark tätig sind. Angesprochen auf staatlichen Handlungen erfolgt vor allem, um die negativen Folgen für einige noch immer in weiter Komplexität zu reduzieren. Russland tätige westliche Unternehmen ant- wortete Sonnenfeld, dass es in der «Russland- Der Politik kommt diese klare Parteinahme frage» keinen Graubereich, sondern nur Schwarz nicht ungelegen, denn gleichzeitig mit ihr und oder Weiss gebe. Listen, die Personen (auch der weiteren Eskalation des Konfliktes ver- juristische) auf Grundlage eines moralischen schwinden Fragen nach der Verantwortung des / ideellen Urteils klassifizierten, gab es schon Westens in diesem Krieg, nach der Rechtsstaat- seit Sullas Proskriptionen und kaum ein Terror- lichkeit und der Korruption in der Ukraine, regime ist ohne sie ausgekommen. Die naming- Fragen nach dem Umgang der Ukraine mit and-shaming Liste aus Yale, so sehr sie «Gutes» ihrer pro-russischen Bevölkerung und nach erreichen will, ist in ihrer Vereinfachung und diplomatischen Verfehlungen westlicher Poli- Klarheit sehr ansprechend, verfehlt aber, die tiker, Fragen nach energiepolitischen Fehlent- Komplexität zu spiegeln. Eine solche Verein- scheiden und weshalb vor einigen Monaten fachung, ja Infantilisierung des Konflikts geht afrikanische Flüchtlinge an den genau gleichen an der Realität vorbei, erlaubt aber Polarisie- europäischen Grenzposten abgewiesen worden rung und dient damit als Grundlage für reis- sind, während nun diese Grenzposten für serische Überschriften. Es ist bezeichnend für Ukrainer offen sind. Diese selbstkritischen die Mediengesellschaft, dass ein grosser Teil Fragen brauchen nicht mehr beantwortet zu ihrer Mitglieder Komplexität und Widersprüch- werden, denn Gut und Böse sind definiert und lichkeit nicht mehr aushalten will. Begehrt sind die Idee, dass die «Guten» eine Teilverantwor- klare Positionierungen, klare «Ansagen», klare tung für Handlungen der «Bösen» tragen Richtlinien, eine klare Unterscheidung von könnten, wird auf schon fast religiöse Art gar Weiss und Schwarz. Die detaillierte Auseinan- nicht mehr gestellt. Und so sehr die immer dersetzung mit der Gegenseite und ihren Argu- schrecklicheren Berichte über den Krieg in der menten erscheint mühsam und taugt per se Ukraine nach einer Parteinahme verlangen, so nicht für das Funktionieren der Mediengesell- sehr muss man sich darauf besinnen, dass die schaft, weil es zeitraubend ist, während Parteinahme eine persönliche, individuelle gleichzeitig immer mehr Schlagzeilen produziert Entscheidung ist und bleiben muss und auf werden müssen. staatlicher Ebene erst zu erfolgen hat, wenn die Interessen der Schweiz dies wirklich ver- So spielte etwa die Frage, weshalb Russland in langen. Eine Parteinahme, um dem medialen die Ukraine einmarschiert ist, schon wenige Druck nachzugeben, mag für einzelne Politiker Tage nach dem Einmarsch fast keine grosse opportun sein, Realpolitik mit einer neutralen Rolle mehr. Dabei wäre diese Frage zur Konflikt- Schweiz als Akteur aber spielt sich ausserhalb beilegung essentiell. Russland – respektive dieser Sphären ab. Ein genauer Blick auf ge- Putin – ist böse. Dazu passt auch, dass häufig wisse Vorgänge wirft freilich andere, unange- nicht von «Russlands» Krieg gesprochen wird, nehme Fragen auf: Was genau unterscheidet sondern von demjenigen Putins. Die zahlreichen Russlands Angriffskrieg und den erstrebten Artikel, die sich mit seiner mentalen Gesundheit Regimewechsel von den Handlungen des Wes- beschäftigen, zeugen von einer Annahme, dass tens im Irak oder in Libyen? Wie kann das eine der Konflikt durch die Geistesschwäche des richtig und das andere falsch sein, wenn es sich ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 7
Editorial in beiden Fällen um eine ausländische Inter- Wochen undenkbar gewesen wären: Die Auf- vention handelt. Bezeichnenderweise führte stockung der Militäretats in vielen Ländern der Westen im Irak und Libyen, die gleichen um mehrere hundert Milliarden Euro oder Argumente an wie Russland nun in der Uk- Dollar. Bei der Rettung verschuldeter Länder raine: die Verhinderung eines Genozids, der in der Eurozone wurde gefühlt auf jeden Euro Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen, die geachtet, nun rüstet Europa auf, als ob die Stabilität der Region. Die Ergebnisse sind be- Ausgaben auch für zukünftige Generationen kannt und dürften auch im Falle der Ukraine kein Problem wären. Es ist noch zu früh zu nicht anders ausfallen. Und um zu den Sank- sagen, wie der Krieg ausgeht, aber die Verlierer tionen zurückzukehren: Was genau unter- – die leidende ukrainische Bevölkerung und scheidet den jetzigen Konflikt von anderen, bei die zukünftigen Steuerzahler – und die Gewin- denen die Schweiz nicht bereit war, Sanktionen ner – die Rüstungsindustrie – stehen jetzt schon auszusprechen? Gibt es tatsächlich objektive fest. Gründe oder ist die medial gestaltbare Welle inzwischen so gross, dass die Politik sich vor Durch eine klare Parteinahme entsteht der ihr ducken muss? Und ja, es herrscht Krieg in Eindruck einer klaren Sachlage, doch der Blick Europa, aber das tat es schon in den 90er für Nuancen geht dabei verloren. Die Covid-19 Jahren im Balkan und in den 70er Jahren auf Pandemie hat gezeigt, wie die Bevölkerung sich Zypern. Doch die vermeintliche «Einzigartig- in nur wenigen Monaten in Impf befürworter keit» dieses Konfliktes erlaubt heftigere Schlag- und Impfgegner separiert hat, die kaum mehr zeilen als die Auseinandersetzung mit der miteinander einen gemeinsamen Kommunika- Tatsache, dass Europa viele ungelöste Konflikt- tionsnenner finden konnten. Eine solche Politik, herde (z.B. Irland, Baskenland, etc.) hat, seine eine solche Medienberichterstattung, die nur Nachbarn teils repressive Regimes (z.B. Weiss- wenig Raum für Nuancen bietet, ebnet aber den russland, Türkei) sind und, vor allem Russland, Weg für eine Radikalisierung und die medial regelmässig Kriege angezettelt haben, für die geforderte Positionierung der Politik in diesem Europa und der Westen nur vage Konsequenzen Krieg öffnet die Büchse der Pandora für ein vorsahen. Auch die Fragen, weshalb der Import anderes Übel, das bereits aus ihr zu entweichen von Gas und Öl aus Staaten aus dem Nahen scheint: Gesinnung und eine Politik, die sich Osten problemlos sein soll und weshalb Ge- auf Gesinnung und eben nicht auf Recht stützt. schäfte mit China, das die Uiguren verfolgt, Supermärkte nehmen russische Produkte vom weiterhin in Ordnung sind, müssen irgendwann Markt, russische Sportler und Sportvereine gestellt werden. Diese Fragen können nicht mit werden von internationalen Wettbewerben einer moralistischen Parteinahme beantwortet ausgeschlossen, Darbietungen russischer werden, sondern nur mit Verweis auf Realpoli- Künstler werden abgesagt, russische Vermögen tik. Das kann man stossend finden, aber es werden – weil sie einer Person mit russischem deshalb zu verneinen, ist eine Verklärung der Pass gehören – gesperrt. Diese Massnahmen Realität, in der sich die internationale Staaten- sind nur möglich, wenn man von einer Kollek- ordnung bewegt. tivschuld ausgeht. Eine Kollektivschuld bedingt aber, dass man eine klare Gesinnung hat, dass Und doch, diese Verklärung der Realität und man der einen Konfliktpartei nicht nur die das Pochen auf eine Parteinahme auf Grund- eindeutige Schuld gibt, sondern auch den In- lage der Moral schafft einen gefährlichen dividuen, die durch Geburt, Zufall oder freie Windschatten der Empörung über das vermeint- Wahl dieser Partei angehören. Nicht die liche einzigartige «Ereignis» der russischen Handlungen eines Menschen dient als Grad- Invasion. In diesem Windschatten werden messer seiner Be- und Verurteilung, sondern Massnahmen erlassen, die noch vor einigen seine Eigenschaften, in casu die Nationalität. ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 8
Editorial Das trägt notwendigerweise zur Eskalation des fizierung der Politik – stützend auf ihm Konfliktes bei und von dieser Gesinnung hin genehme Medien – die Blaupause für die jetzi- zum Hass ist es nicht weit, spätestens dann, ge Gesinnungspolitik des Westens geliefert hat. wenn die hiesige angestachelte Bevölkerung in Es trifft natürlich nicht zu, dass der Westen Form von höheren Steuern und Energiepreisen sich und seine Interessen nicht verteidigen die Kosten der Eskalation wird mittragen sollte. Man muss aber daran erinnern, dass müssen. Zudem erschwert eine solche Gesin- dies in den letzten drei Jahrzehnten arg ver- nung die Rückkehr zu einer friedlichen Nor- nachlässigt worden ist. Die Verteidigung malität, denn im Gegensatz zu Zeitungsartikeln westlicher Interessen darf nicht durch die können Emotionen nicht einfach überschrieben Pflicht von Individuen erfolgen, eine vermeint- werden. Eine Kollektivschuld anzunehmen und lich moralisch höherwertige – im schlimmsten basierend darauf Entscheidungen zu fällen, Fall sogar staatlich propagierte – Gesinnung wird einem Rechtsstaat nicht gerecht. Das zu adaptieren. Dass Individuen – auch staat- Ultimatum der Stadt München durch ihren liche – Moralvorstellungen übernehmen Oberbürgermeister an den russischen Dirigen- müssen, um Repressalien zu umgehen, ist ein ten der Münchener Philharmoniker Gergiev, Tabubruch. Die grössten Verdienste für die sich nicht nur vom Konflikt, sondern auch von Westlichen Werte haben sich stets die Mahner Putin zu distanzieren, ist verstörend, denn es und Kritiker erworben. Das verlangen, deutlich setzt eine bestimme individuelle vom Staat Position zu beziehen, ist politisch zwar nach- genehmigte Gesinnung voraus, um einen Beruf, vollziehbar, rechtstaatlich aber falsch. Politik um Kunst ausüben zu können. Politisch kommt ohne moralische Gesinnung, ohne dürfte dieses Ultimatum und die darauffolgen- klare Ideen nicht aus und die Medien brauchen de Entlassung Gergievs durchaus Unterstützung für ihre Schlagzeilen einfache, klare Sachver- gefunden haben, ist aber kaum mit einem auf halte. Das Problem und die Gefahr dabei sind Recht und eben nicht der Gesinnung basierten jedoch, dass rechtsstaatliche Prinzipien ver- Rechtsstaat vereinbar. Das Zürcher Opernhaus nachlässigt oder gar über Bord geworfen werden. hat anfänglich rechtsstaatlich vorbildhaft Gesinnung darf und kann nicht der Grad- darauf hingewiesen, dass es von seinen Künst- messer sein, an dem Individuen rechtlich be- lern mangels rechtlicher Grundlage keine In- wertet werden. Auch vom Mainstream abwei- formationen über politische Positionen ein- chende Meinungen verdienen Schutz. Gedanken, holen kann. Wenige Tage danach hat es aber so verstörend sie im Einzelfall sein mögen, sind – zumindest einvernehmlich mit der Künst- und dürfen weder straf bar sein noch andere lerin, aber unter schwerem medialem Druck repressive Konsequenzen haben. Innerhalb des – Auftritte von Anna Netrebko abgesagt. Einen rechtlich Zulässigen muss das Individuum – um derartigen Rechtfertigungsdruck für Individu- überhaupt ein solches sein zu können – in der en kennt man eigentlich nur von totalitären Lage sein, sich frei und ohne Angst vor staat- Staaten. Vergleiche mit der McCarthy-Ära sind lichen Konsequenzen moralisch zu positionie- verfrüht, aber die Parallelen erscheinen immer ren und seine Gesinnung – wie immer sie ge- deutlicher. Heute sind es die Russen, morgen artet sei – zu äussern. Ist dies nicht möglich, kann es jeden treffen. ist die Schwelle zum Totalitären überschritten. Erschreckenderweise sind wir inzwischen so Die Empörungskultur als inhärenter Teil der weit, dass ernsthaft vorgeschlagen wird, eine Mediengesellschaft fördert freilich eine Politik, der massgeblichsten Säule der Rechtstaatlich- die auf Gesinnung basiert. Man kann, man keit zu stürzen: das Anwaltsgeheimnis soll muss vielleicht sogar, Donald Trumps Populis- nicht für Personen gelten, die auf (Sanktions-) mus kritisieren, aber man muss sich gleich- Listen stehen. Dass man (wohlgemerkt aus zeitig bewusst sein, dass er durch seine Simpli- politischen Gründen) bestimmte Personen auf ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 9
Editorial Listen setzt und ihnen dann den Rechtsschutz Russlandsanktionen die «Besten weltweit» verweigert, muss für einen Rechtsstaat ein evaluiert werden sollten, offenbart es eine Poli- absolutes Tabu sein. Nicht anders verhält es tik, die sich vom medialen «was sein soll» sich mit dem kürzlich ausgearbeiteten Vorschlag treiben lässt. Der deutsche Journalist Nikolaus einiger Politiker, dass blockierte Vermögen von Blome warf dem deutschen Bundeskanzler Olaf «Putin-nahen» Oligarchen nicht nur eingefro- Scholz in einem Artikel direkt vor, sich von den ren, sondern auch eingezogen und einem be- Medien nicht treiben lassen zu wollen, nachdem stimmten Zweck zugeführt werden sollen, wie er im Ukrainekrieg aus Sicht von Blome zu zum Beispiel dem Wiederauf bau der Ukraine. zurückhaltend agiert hatte. Der Bundeskanzler, So sehr man in diesem Vorschlag die gute In- so Blome, lasse sich «auch nicht von Vernunft tention sehen mag, so gefährlich ist er, bricht oder zum Richtigen» treiben und das sei kin- er doch mit der Eigentumsgarantie und erlaubt disch und koste Zeit. Nicht nur, dass hier der die staatliche Enteignung von Personen auf- Journalist für sich schon propagiert, was grund politischer Überlegungen. Bricht man richtig und vernünftig sei – das könnte man mit diesen rechtstaatlichen Prinzipien, bricht immerhin als Meinung qualifizieren – sondern man auch mit dem Rechtsstaat als solchen, das die Tatsache, dass die vierte Gewalt nunmehr muss nicht nur der Politik und der Verwaltung, nicht nur beschreiben, kritisieren und kont- sondern auch den Medien und jedem Einzelnen rollieren will, sondern für sich die Vernunft klar bewusst werden. Einer fraglos schwierigen und – fast schon mit religiösem Tenor – das politischen Situation mit solchen rechtsstaatlich Richtige in Anspruch nimmt, ist problematisch mehr als fragwürdigen Mittel zu begegnen, und – das muss man klar sagen – gefährlich. wird die (aussen-)politischen Probleme nicht Die Gewaltenteilung gilt auch für die Medien, lösen, aber ultimativ zur Erosion des Rechts- auch wenn dies von ihren Vertretern immer taates führen. mehr unter dem aktivistischen Dunst des «Schreibens, was sein soll» vergessen wird. Freilich, und das ist die Erkenntnis, die immer mehr durchsickert, entfernen sich die Medien In die gleiche Kerbe schlagen nun auch die von dem augstein’schen «Schreiben, was ist» hin Politiker und «Experten», welche der Schweiz zu einem «Schreiben, was sein soll». Nachdem attestieren, zu wenig gegen Russland und gegen Anfang April die ersten Meldungen über ein die Vermögen russischer Staatsbürger zu tun, mögliches Massaker russischer Soldaten an und die die USA und die EU offen dazu auf- ukrainischen Zivilisten in der Ortschaft But- fordern, Druck auf die Schweiz auszuüben. Sie scha auf kamen, reagierte das EDA – wohl auch propagieren dabei die faktische Ausserkraft- noch Cassis’ Malheur im Hinterkopf – indem setzung der hiesigen Bank- und Anwaltsgeheim- es eine unabhängige Untersuchung verlangte nisse und ein direktes Vorgehen der US-Behör- und die Verstösse gegen das Völkerrecht kriti- den gegen Schweizer Anwältinnen und sierte. Die Schweiz at its best: Ein Beharren auf Anwälte, falls Hinweise vorlägen, dass sie im Regeln, selbst wenn andere sie brechen. Die Auftrag ihrer russischen Klienten mit US-Sank- Reaktion des Blick war, Cassis, den Vorsteher tionen brechen. Das dabei immer wieder vor- des EDA, als Weichspüler zu bezeichnen, weil getragene Argument lautet, dass die Schweiz er nicht klarer Partei ergriffen habe und er sich durch die (angeblich vom Ausland so gegen Russland nicht ausreichend Härte zeige. wahrgenommene, jedenfalls aber medial so Cassis reagierte darauf: Er lobte, dass die dargelegte) «Zurückhaltung» ihren «guten Ruf» Schweiz bei der Umsetzung der Sanktionen zerstöre. Die ausländische öffentliche Meinung nicht nur auf Kurs sei, sondern zu den Besten als Gradmesser politischen Handelns zu defi- weltweit gehöre. Abgesehen von der Frage, wie nieren, ist schon per se befremdlich und zeugt und mit welchem Sinn und Zweck denn bei den von einem Minderwertigkeitskomplex, auf ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 10
Editorial diesem Altar aber den Rechtstaat opfern zu einer Kriminellen Organisation nachgewiesen wollen ist – das sei klar gesagt – ein Bruch, der worden ist. Ambühl, Meier und Thürer aber das Ende der liberalen, freiheitlichen Ordnung übergehen diese Komplexität, ebenso wie völker- der Schweiz zur Folge haben wird. Der Ende rechtliche Fragen und verlangen von einer Mai in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung näher nicht definierten Gruppe (sanktionierte erschienene gemeinsame Beitrag von Michael russische Oligarchen) eine öffentliche politische Ambühl, emeritierter Professor an der ETH Stellungnahme (in casu gegen Russlands Vor- Zürich und vormaliger Staatssekretär des gehen), um der Einziehung von Vermögen zu Schweizer Aussenministeriums, Nora Meier, entgehen: «Eine explizite öffentliche Distanzierung Geschäftsführerin der Swiss School of Public vom Kreml wäre entlastend. Ansonsten würde, Governance an der ETH Zürich, und Daniel nach einem solchen Ansatz, eine Unterstützung Thürer, emeritierter Professor an der Univer- angenommen werden». Mit ihrem Artikel kata- sität Zürich und ehemaliger Vorsitzender der pultieren uns die Autoren zurück in Zeiten, in Deutschen Gesellschaft für Internationales denen die Gesinnung einer Person darüber Recht und ehemaliges Mitglied des OSZE entschied, ob sie staatlichen Repressionen Schieds- und Vergleichsgerichtshofs, lässt tief ausgesetzt sein würde, in Zeiten, in denen blicken, wie sehr der politische Gestaltungs- politische und moralische Vorstellungen das wille dazu verführt, elementare Rechtsprinzi- Recht ausser Kraft setzten, in Zeiten, in denen pien ausser Kraft zu setzen. Die drei Autoren von der staatlichen Doktrin abweichende schlagen in ihrem – nota bene nur in einem Meinungen direkt sanktioniert wurden, in ausländischen Medium erschienenen – Artikel Zeiten, in denen fundamentale Prinzipien des vor, russische Vermögen «sanktionierter rus- Rechtsstaates wie Meinungsfreiheit, Eigentums- sischer Oligarchen» zwecks Wiederauf baus der garantie, Unschuldsvermutung, Kausalität Ukraine einzuziehen und bemühen als «Inspi- zwischen Handlung und Sanktion, Legalitäts- ration» Art. 72 StGB. Diese Norm sieht die prinzip, Rückwirkungsverbot und Analogie- Einziehung von Vermögen krimineller Organi- verbot – um nur einige zu nennen – jederzeit sationen vor. Für Vermögenswerte einer Person, zur Verfolgung politischer Ziele ausgehöhlt die sich an einer solchen Organisation beteiligt werden konnten oder gar nicht erst existierten. oder sie unterstützt hat, wird nach Art. 72 StGB Ein politisches Ziel, sei es noch so nobel, bleibt die Verfügungsmacht der Organisation bis zum ein politisches Ziel und muss sich dem Recht Beweis des Gegenteils vermutet. Daran anleh- beugen. Eine Umkehrung, in der das politische nend, so die Autoren, «könnten so grundsätzlich Ziel das Recht beugt, öffnet (politischer) alle Vermögenswerte eingezogen werden, ausser Willkür Tür und Tor. Und wer so Politik machen die Personen könnten beweisen, dass sie an dem will, macht Politik, die der Radikalisierung der von Putin provozierten Angriffskrieg nicht beteiligt Bevölkerung, der Oberflächlichkeit und Simp- sind oder diesen unterstützen». Ambühl, Meier lifizierung von komplexen Problemen, der und Thürer verschweigen dabei, dass Art. 72 Produktion von Denkverboten, der Nibelungen- StGB keine allgemeine Beweislastumkehr vor- treue gegenüber staatlichen Moralvorstellungen sieht – eine solche wäre auch nicht rechtens und der Abhängigkeit von den Medien Vorschub und weder mit dem Schweizerischen Recht noch leistet und trägt damit den Rechtstaat zu mit der EMRK vereinbar. Vielmehr findet Art. Grabe. 72 StGB nur Anwendung auf die Vermögens- werte von Personen, denen durch richterliches Dimitrios Karathanassis und unabhängiges Urteil die Mitgliedschaft in ContraLegem | 2022 /1 | Karathanassis, Editorial | S. 4–11 11
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