BRAUCHT DIE VERBREITUNG DER "APP VOM ARZT" IN DEUTSCHLAND NOCH 15 JAHRE?

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BRAUCHT DIE VERBREITUNG DER "APP VOM ARZT" IN DEUTSCHLAND NOCH 15 JAHRE?
COMPLEX |           EPATIENT SURVEY

BRAUCHT DIE VERBREITUNG
DER „APP VOM ARZT“ IN
DEUTSCHLAND NOCH 15 JAHRE?
Alles digital dank Corona? Die Ergebnisse der Online-Befragung „EPatient Survey“ unter 9 700 Teilnehmern in den
Monaten März und April zeigen, dass die Online-Arztsprechstunde noch nicht die Verbreitung hat, die manche
Anbieter suggerieren. Dauert es, wie beim Online-Banking, 15 Jahre bis zu einer kritischen Masse? Größte Hürde –
und gleichzeitig ein großer Treiber – scheint weiterhin die Integration in die Versorgung vor Ort zu sein.
                                                                                                                   GRAFIKEN: © EPATIENT ANALYTICS GMBH

TEXT: ALEXANDER SCHACHINGER

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BRAUCHT DIE VERBREITUNG DER "APP VOM ARZT" IN DEUTSCHLAND NOCH 15 JAHRE?
D
              er diesjährige 9. EPatient
              Survey 2020, eine offene
              Online-Befragung auf 50
              der größten Gesundheits-
              portale in Deutschland
mit insgesamt 9 700 Teilnehmern, ver-
sprach spannend zu werden. Da die
Befragung in den Monaten März und
April stattfand, war anzunehmen,
dass sich die Corona-Krise in den Ant-
worten schon widerspiegeln würde.
Immerhin erzählen uns Medien und
Meinungsführer seit spätestens Mitte
März von dem enormen Digitalsie-
rungsschub, den die Covid-19-Pande-
mie auslöse.
    Umso ernüchternder die Daten:
Runde zwei Prozent der „Gesundheits-
Surfer“ – wie immer kein bevölke-                      Adopter“) langsam gesättigt und ver-            Vertriebs- und Geschäftsmodellen in
rungsrepräsentativer Sample, sondern                   sanden digitale Patientenlösungen               diesem Markt häufig. So gibt es bei
eine Stichprobe von Menschen mit                       jetzt schon? Wer oder was beeinflusst           Online-Therapiekursen für Rücken-
Affinität zu Internet und Gesundheits-                 die Verbreitung bzw. Adoption sinn-             schmerzen sowohl Erstattungs- als
themen – gaben an, schon einmal eine                   voller digitaler Gesundheits- und Ver-          auch Selbstzahlermodelle.
Online-Arztsprechstunde genutzt zu                     sorgungslösungen in Deutschland?
haben. Das ist zwar ein Anstieg um                     Wie kann sie gefördert werden?                  WO TRITT EINE NATÜRLICHE MARKT-
circa Faktor 3 im Vergleich zum Vor-                       Der Digital-Health-Markt ist eine           SÄTTIGUNG VON DIGITAL HEALTH EIN?
jahr (0,7 Prozent). Aber es bewegt sich                Art Hybrid- oder Mischmarkt. Er be-             WO IST VERSORGUNGSPOTENZIAL?
doch insgesamt auf relativ geringem                    steht einerseits aus einem unregulier-          Die ernüchternde Nachricht: Digital
Niveau.1 Die Zahl fügt sich außerdem                   ten Marktanteil von Digital-Health-/            Health auf dem freien Nachfrage-
in ein breiteres Bild: Weitere markt-                  Lifestyle-Anwendungen für „Konsu-               markt ist eine persönliche, soziologi-
übliche Anwendungen, wie beispiels-                    menten“. Hier treffen Angebot und               sche Konsum- bzw. Mediennutzungs-
weise Medikamenten-Apps, Coaching-                     Nachfrage wie im klassischen Kon-               entscheidung. Und diese Dinge sind
Programme zu Gesundheitsthemen                         sumgütermarkt frei aufeinander. Bei-            hochgradig vom soziologischen Mili-
oder Diagnostik-Apps, mit aktuellen                    spiele dafür sind zahlreiche Wearable-          eu der jeweiligen Nutzer abhängig.
Nutzungsverbreitungen zwischen 6                       Lösungen, Stichwort Fitbit, und teils           Milieus unterscheiden sich, primär
und 17 Prozent, verlieren an Wachs-                    auch die digitalen Angebote von Dienst-         beschreibbar durch ihre soziodemo-
tumsdynamik. Ebenso nimmt die in                       leistern wie apotheken-umschau.de               grafische Zusammensetzung, i.d.R.
den vergangenen Jahren ständig ge-                     oder jameda.de. Auf der anderen Seite           durch die beiden stärksten Kriterien
wachsene Zahlungsbereitschaft für                      gibt es einen System- bzw. Versor-              Bildung und Alter, gefolgt von Wohn-
Digital-Health-Anwendungen 2 nicht                     gungsanteil, bestehend aus digitalen            ort, Religion, Beruf und anderem. Ein
weiter zu. Mit anderen Worten: Trotz                   Patientenlösungen, die von Kostenträ-           Hochschulprofessor wird eher selten
Corona, trotz Trommelns der Gesund-                    gern erstattet werden und die die Pa-           Zeitschriften wie „Bravo“ oder „Super
heitspolitik für die „App auf Rezept“,                 tienten von ihren stationären oder am-          Illu“ lesen, ein ungelernter Fabrik-
entwickelt sich die digitalmedizini-                   bulanten Versorgern als Teil einer me-          arbeiter eher selten sich eine Präventi-
sche Landschaft in Deutschland zu-                     dizinisch verordneten Behandlung er-            ons-App laden oder sich auf den Web-
mindest was das Nutzerverhalten an-                    halten. Beispiele hierfür sind die              seiten der Bundeszentrale für gesund-
geht eher ernüchternd.                                 Rückenschule von Caspar Health oder             heitliche Aufklärung informieren.
    Woran liegt das? Ist das Segment                   die Arzneimittel-App von MyTherapy.                 Bezogen auf Digital-Health-An-
der digital affinen Erstnutzer („Early                 Die Grenzen verschwimmen bezüglich              wendungen heißt das: Bildungs- und
                                                                                                       gesundheitsaffine Milieus werden im-
1
    Pressemappe unter: www.epatient-analytics.com/aktuelles/eps2020
2
                                                                                                       mer verstärkt Nutzer von Neuerungen
 Anstieg der Zahlungsbereitschaft 2015-2018 von 4 auf 10 Prozent, seitdem kein nennenswerter Zuwachs
mehr.                                                                                                  in diesem Bereich sein, ein relevanter

                                                                                                                                3_4 / 20 EHEALTHCOM 43
BRAUCHT DIE VERBREITUNG DER "APP VOM ARZT" IN DEUTSCHLAND NOCH 15 JAHRE?
COMPLEX |           EPATIENT SURVEY

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                                                                                                                               – ABER NUR MITTEN DURCH DEN
                                                                                                                               „PAIN POINT“ DES DEUTSCHEN
                                                                                                                               HEALTH-IT-RÜCKENMARKS
                                                                                                                               Verlassen wir Deutschland für einen
                                                                                                                               Augenblick und wenden uns nach
                                                                                                                               Norden. Im Schnitt nutzt jeder dritte
                                                                                                                               Däne einmal im Monat seine Online-
                                                                                                                               Gesundheitsakte.3 In Kanada ist die
                                                                                                                               Verbreitungsdynamik von drei lan-
                                                                                                                               desweit grundlegenden E-Health-An-
                                                                                                                               wendungen (Online-Akte, E-Rezept,
                                                                                                                               Online-Konsultation) in Abhängigkeit
                                                                                                                               von ihrer Verbreitung im Jahr 2019
                                                                                                                               positiv sowohl auf Einsparungen als
                                                                                                                               auch auf Versorgungsverbesserung
                                                                                                                               evaluiert worden. Die Verbreitung die-
                                                                                                                               ser E-Health-Anwendungen in der ka-
                                                                                                                               nadischen Bevölkerung lag schon vor
                                                                                                                               drei Jahren bei 3 bis 15 Prozent. 4 In
                                                                                                                               Israel und den USA haben ebenfalls

       Aus einer Bürger- und Nutzer-
                                                                                                                               einige Health-Maintenance-Organisa-
                                                                                                                               tionen konsequent die Digitalisierung
                                                                                                                               von mit „integrated care“ oder „con-

        perspektive erscheint Digital                                                                                          nected care“ vergleichbaren Ansätzen
                                                                                                                               umgesetzt. Die Ansätze sind nicht nur
                                                                                                                               im Outcome positiv evaluiert worden,
       Health in Deutschland derzeit                                                                                           sondern erreichen auch chronisch
                                                                                                                               kranke, ältere Patienten besser und

       noch wie Netflix ohne Filme.
                                                                                                                               weisen höhere Nutzungsraten auf.5
                                                                                                                                   Wenn wir uns diese internationa-
                                                                                                                               len „Best Practices“ genauer ansehen,
                                                                                                                               dann finden wir einige Gemeinsam-
            Anteil und vielleicht die Mehrheit der                    nisch kranken Patienten hörig seine                      keiten, die uns vielleicht auch in
            Bevölkerung wird dies möglicherwei-                       Gesundheits-App nutzt, erscheint naiv.                   Deutschland weiterhelfen könnten.
            se niemals tun. Fitbit wurde vor 13                           Fazit: Digital-Health-Anwendun-                      Um eine breitere und erste kritische
            Jahren gegründet, und derzeit nutzen                      gen haben auf dem freien Markt eine                      Masse von Patienten für Digital-
            circa sieben bis acht Prozent der Deut-                   absehbare natürliche Sättigung, pri-                     Health-Anwendungen zu erreichen,
            schen einen Fitnesstracker. Online-                       mär beeinflusst durch das Gesund-                        scheint es, abgesehen von einer aus-
            Banking brauchte 15 Jahre in Deutsch-                     heits- und digitale Medienverhalten                      reichend guten Internetinfrastruktur,
            land, um eine 50-prozentige Verbrei-                      der Milieus. Diese Sättigung könnte                      auch folgender Dinge zu bedürfen:
            tung zu erreichen, und es ist sozio-                      allenfalls positiv beeinflusst werden,
            demografisch leicht ableitbar, wer es                     wenn in fernerer Zukunft vielleicht                      • einer konsequenten Verknüpfung
            nutzt und wer es vielleicht niemals                       einmal die Politik in Deutschland                          der App- oder browserbasierten
            nutzen wird. Die Hoffnung, dass ein                       stringenter den Breitband- und Mobil-                      Patientenanwendungen mit den
                                                                                                                                                                        GRAFIKEN: © EPATIENT ANALYTICS GMBH

            Großteil von Versicherten oder chro-                      funkausbau vorantreibt.                                    IT-Lösungen der behandelnden
                                                                                                                                 Ärzte,
            3

            4
              Quelle: Sundhed, Dänemark                                                                                        • einer Integration der Lösungen in
              Hackett et al.: Valuing Citizen Access to Digital Health Services: Applied Value-Based Outcomes in the Cana-
            dian Context and Tools for Modernizing Health Systems. Volltext online unter: www.jmir.org/2019/6/e12277/            die Behandlungs- und Aufklä-
            5
              Siehe exemplarisch: a) Porath et al.: Maccabi proactive Telecare Centchronic conditions – the care of frail
            elderly patients. Volltext online unter: https://ijhpr.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13584-017-0192-x oder
                                                                                                                                 rungsgespräche von Ärzten oder
            b)Talboom-Kamp et al.: High Level of Integration in Integrated Disease Management Leads to Higher Usage in           medizinischen Fachgruppen ge-
            the e-Vita Study: Self-Management of Chronic Obstructive Pulmonary Disease With Web-Based Platforms in a
            Parallel Cohort Design. Volltext online unter: www.jmir.org/2017/5/e185/                                             genüber dem Patienten,

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BRAUCHT DIE VERBREITUNG DER "APP VOM ARZT" IN DEUTSCHLAND NOCH 15 JAHRE?
• einer gemeinsamen integrierten            Vergegenwärtigt man sich diese
  Kommunikation der Selbstver-          hier nur auszugsweise beschriebenen
  waltung gegenüber Bürgern und         und aus einer Bürgerperspektive nöti-
  Patienten zur Integration dieser      gen Voraussetzungen und Maßnah-
  Lösungen in die Versorgung –          men vor dem Hintergrund der im
  dies auch unter Einbeziehung          deutschen Gesundheitssystem existie-
  reichweitenstarker Rundfunk-          renden IT-Infrastruktur bzw. der seit
  medien.                               Jahren anhaltenden Debatte darüber
                                        auch im Rahmen der gematik-Initiati-
    Diese und gewiss weitere Maß-       ven, dann zeigt sich: Der Weg hin zu
nahmen stellen einen Weg und eine       einer digital integrierten Versorgung,
weitere Voraussetzung dar, digitale     die den Patienten oder Bürger konse-
Versorgungslösungen, wie beispiels-     quent einbezieht, dürfte in Deutsch-
weise die Online-Akte, die Online-      land noch außerordentlich lang sein,
Arztsprechstunde, vernetzte Medika-     Corona hin oder her. Wann wird jeder
menten- oder E-Rezept-Apps über         dritte Deutsche seine Online-Gesund-
eine zu kleine Menge von digitalaffi-   heitsakte einmal im Monat nutzen,
nen Nutzern hinaus in der Bevölke-      wie es in Dänemark längst Realität
rung zu verbreiten. Der Patient möch-   ist? In 15 Jahren? Immerhin: Die ge-
te und erlebt einen deutlich vielfa-    matik plant schon zusammen mit den
chen Mehrwert, wenn seine Therapie-     Kostenträgern eine konzertierte Kom-
App keine Stand-alone-Lösung dar-       munikation zur Einführung der elek-        DR. ALEXANDER
                                                                                 SCHACHINGER
stellt, sondern konsequent mit der      tronischen Patientenakte im kommen-
                                                                                 ist Gründer und
Akte seiner Behandler verknüpft ist.    den Jahr. Ein zarter Anfang.
                                                                                 Geschäftsführer der
Aus einer Bürger- und Nutzerperspek-                                             EPatient Analytics GmbH.
tive erscheint Digital Health in                                                 Kontakt: as@epatient-
Deutschland derzeit noch wie Netflix                                             analytics.com
ohne Filme.

                                                                                        3_4 / 20 EHEALTHCOM 45
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