Buch-Film-Vergleich "ENEMY" - von Ralph Brockmann
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Zuerst möchte ich dem Verlag Hoffmann und Campe herzlichst dafür danken, dass man mir die Teilnahme an diesem sehr interessantem Projekt, dem Buch-Film-Vergleich von "Enemy", ermöglichte! Grundsätzlich neige ich dazu, mich zuerst mit der literarischen Vorlage zu beschäftigen bevor ich mich der Verfilmung widme. Das ist für mich die natürliche Reihenfolge und genau so hielt ich es auch mit "Enemy". Das Buch: "Enemy - Der Doppelgänger" von José Samarago - „Das Chaos ist eine Ordnung, die entschlüsselt werden muss.“ Der Geschichtslehrer Máximo Afonso entdeckt eines Tages zufällig, dass ein Doppelgänger von ihm existiert. Der mittelmäßige Schauspieler António Claro sieht genauso aus wie er. Afonso beginnt zu recherchieren und stellt anhand von Antónios Filmen verblüfft fest, dass sich das identische Aussehen nicht auf das Gesicht beschränkt sondern auch andere körperliche Details betrifft, bin hin zu den gleichen Narben an ihren Körpern. Diese Entdeckung erschüttert sein Leben fundamental und während er mit zunehmender Unruhe über die quälende Frage grübelt, wer von ihnen das Original und wer die Kopie ist, beginnt er Kontakt zu seinem Doppelgänger herzustellen - womit er eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Gang setzt. Ausgehend von dieser Situation könnte man einen reinrassigen Thriller erwarten - doch dem ist nicht so. Das Buch ist in weiten Strecken sehr philosophisch und sehr abschweifend. Ein allwissender Erzähler beleuchtet Afonsos Verhalten von allen Seiten. Handlungen und Motivationen werden aufs Genaueste analysiert und oft werden sämtliche Eventualitäten und möglichen Gedankengänge erschöpfend beschrieben. Mehr als einmal liefert sich Afonso Wortgefechte mit dem personifizierten gesunden Menschenverstand, der seine Pläne mahnend in Frage stellt. Durch diese häufigen und intensiven Abschweifungen wird die Entwicklung der eigentlich dramatischen Geschichte sehr gebremst. Erst zum Finale hin gewinnt die Handlung an Tempo. Die Art, wie dieser Roman Dialoge schildert, empfand ich als sehr gewöhnungsbedürftig. Ohne Absätze oder Abschnitte, ohne den Gebrauch von Anführungszeichen für wörtliche Rede sind die Dialoge in langen Bandwurmsätzen verfasst. Wenn innerhalb eines Dialoges die Sprecher wechseln, ist dies aufgrund des unübersichtlichen Verfahrens für den Leser manchmal schwer zu verfolgen. In dieser Art ziehen sich die Dialoge über ganze Seiten. Aufgrund dieser anstrengend zu lesenden Dialoge und der häufigen Abschweifungen wird die eigentliche Geschichte nur langsam vorangetrieben und erst im letzten Drittel entwickelt sich ein gewisses Maß an Spannung. Positiv ist dagegen anzumerken, dass der Erzähler sehr genau das mentale Innenleben der handelnden Personen schildert und man somit nicht im Unklaren über deren Motive gehalten wird. Der finale Twist kommt dann recht überraschend und gerne hätte ich nach dem Ende des Romans
weitergelesen um mehr über den potentiell weiteren Verlauf der interessanten Geschichte zu erfahren. Obwohl der allwissende Erzähler viele Informationen über das Innenleben der Personen vermittelt, fällt es mir schwer, eine schlüssige Interpretation zu formulieren. Sicher scheint mir zumindest, dass die Geschehnisse nicht als real zu verstehen sind sondern eher im übertragenen Sinne gesehen werden sollen; dass es nicht tatsächlich einen Doppelgänger gibt sondern dass Afonso vielleicht unter einer Persönlichkeitsspaltung leidet: Er und António sind ein und dieselbe Person, auseinandergerissen durch verschiedene, unerfüllte Wünsche, z. B. in Beruf und Partnerschaft. Eventuell bringt eine wiederholte Lektüre des Romans mehr Licht in die mysteriöse Geschichte – das ist eine positive Eigenschaft, die noch lange nicht jeder Roman zu bieten hat. Der Film: „Enemy“ von Denis Villeneuve Da ich die Lektüre des Romans („Enemy – Der Doppelgänger“ vom spanischen Literatur- Nobelpreisträger José Samarago) vor Ansehen des Films fast vollständig gelesen hatte, fielen mir bereits im Kino wesentliche Unterschiede auf. Die Geschichte dreht sich um einen Geschichtslehrer namens Adam Bell (Jake Gyllenhaal). Er lebt alleine und gelangweilt in Toronto und unterrichtet an der Universität. Seine Freundin Mary behandelt er recht lieblos und hält sie gerne auf Abstand wenn es nicht um gelegentliche Treffs für Sex geht. Eines Tages stellt Adam fest, dass es einen Doppelgänger von ihm gibt. In einem ein paar Jahre alten Spielfilm fällt ihm ein Statist auf, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihm besitzt. Er identifiziert diesen Mann als den Schauspieler Anthony Claire (ebenfalls Jake Gyllenhaal) und beginnt zu recherchieren. Nachdem er ihn in mehreren Filmrollen gesehen hat, weiß er, dass die Ähnlichkeit sich auf den gesamten Körper erstreckt, bis hin zu identischen Muttermalen und Narben. Diese verblüffende Entdeckung erschüttert ihn. Während er sie vor seiner Freundin Mary verschweigt, spioniert er das Leben und die Intimsphäre seines Doppelgängers aus um schließlich den Kontakt zu Anthony und dessen Frau Helen herzustellen. Damit setzt er eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Gang. „Enemy“ ist in weiten Strecken ein sehr ruhiger Film, der aber von Anfang an eine mysteriöse und bedrohliche Atmosphäre schafft. Erzeugt wird diese insbesondere durch die sehr gut passende Musik und der kränklich fahlen Farbgebung. In einigen wenigen Szenen – und ganz besonders zum Schluss – verlässt die Filmhandlung ihren realistischen Pfad um für einen Moment sehr surreal zu werden; so dass der Film wie eine Zusammenarbeit von Hitchcock und David Lynch oder Cronenberg wirkt. Aufgrund dieser Eigenschaft ist „Enemy“ nicht empfehlenswert für Leute, die ihre Filme gerne erklärt haben und sie ohne langes Grübeln verstehen möchten. Wer dagegen Filme wie z. B. „Memento“ oder „Inception“ schätzt, die einen gewissen Interpretationsspielraum bieten, dürfte an „Enemy“ durchaus Gefallen finden.
Vorsicht, Spoiler! Im Folgenden werden entscheidende Teile der Handlung von Film und Buch besprochen! Auch die Filmversion von „Enemy“ verlangt nach einer Interpretation. Insbesondere aufgrund der finalen Szene wird das Publikum regelrecht zu einer solchen herausgefordert. Dass die mysteriöse Geschichte, die der Film erzählt, entziffert und verstanden werden kann, legt das Zitat nahe, das an Adams Unterrichtstafel geschrieben steht: „Das Chaos ist eine Ordnung, die entschlüsselt werden muss.“ Ein wichtiges Element ist die Spinne bzw. ihr Netz. Sie ist bedrohlich und schwebt über allem, auf dem Plakat ist sie zu sehen über Adams Kopf und der Stadt. Das Spinnennetz taucht in übertragenem Sinne mehrfach auf: es fiel mir auf als Netz der Oberleitungen der Stadtbahn sowie in der Windschutzscheibe des Unfallautos. Auch in der Filmversion von „Enemy“ haben wir es wahrscheinlich mit einem Fall von Persönlichkeitsspaltung zu tun. Adam Bell und Anthony Claire sind ein und dieselbe Person mit unterschiedlichen Persönlichkeiten und Wünschen.
Adam ist ein Opfer seiner unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte. Vor allem kann er nicht treu sein und es fehlt ihm an Engagement für seine Ehe mit seiner schwangeren Frau Helen. Er will keine Verpflichtungen eingehen und er fühlt sich durch die Ehe und die Aussicht auf Kinder eingeengt. Er fühlt sich bedroht und gefangen – wie im Netz einer Spinne. Die Spinne ist das Sinnbild für Frauen im Allgemeinen und für seine Ehefrau Helen im Besonderen. Und der titelgebende Feind, das ist Adam selbst bzw. sein Alter Ego Anthony. Denn Anthony ist rücksichtslos und langsam aber sicher wird der „gute“ Adam immer mehr zu Anthony. Im Strip-Club gehen die Männer ihren Interessen nach anonymen Sex nach – der Gedanke an eine feste, verantwortungsvolle Rolle in einer Beziehung, die in Heirat und Kindern resultieren könnte, wird dort demonstrativ zerstört: die Spinne stirbt unter den hohen Absätzen der Stripperin. Anthony ist all das, was Adam nicht ist aber sein will: er hat die schicken Klamotten, eine teure Wohnung, fährt Motorrad, übt einen interessanten und aufregenden Beruf als Schauspieler aus, und geht vor allem egoistisch seinen Wünschen nach (Besuch der vertraulichen Untergrund-Strip-Show). Adam dagegen lebt das langweilige, aber laut seiner Mutter „anständige“ Leben eines Uni- Professors. In seinem Wunsch nach Ausleben seiner Wünsche wird Adam zunehmend rücksichtsloser und nimmt immer mehr die negativen Eigenschaften von Anthony an. Dies eskaliert in der Beinahe- Vergewaltigung seiner Freundin eines nachts und er hat auch kein Problem damit, sie später seinem Doppelgänger für dessen sexuelles Interesse zu überlassen. Adams Wohnung ist so gut wie leer. Nichts interessiert ihn außer den Treffs mit seiner Freundin für lieblosen Sex. Sein Interesse an anderen Frauen wird auch deutlich, als er auf dem Hotelflur der attraktiven Frau nachsieht, die ihm begegnet. Die schwangere Helen ist Adams Frau. ( Helens Schwangerschaft in der Filmversion ist ein wichtiges Indiz zur Deutung des Films – denn diese Veränderung, so darf man zu recht vermuten, ist nicht ohne eine ganz bestimmte Absicht vorgenommen worden.) Helen weiß, dass ihr Mann innerlich zerrissen ist und seine ständige Untreue (= seine Anthony-Persönlichkeit) ist eine große Belastung für ihre Ehe. Sie will aber die Beziehung retten bevor Adam mehr und mehr Anthonys negative Eigenschaften annimmt und als er sie als Adam besucht, bittet sie ihn zu bleiben. Adams Untreue, sein Interesse an anderen Frauen, die Rückkehr zu seiner Frau – das ist das wiederkehrende Muster, von dem Adam in seiner Vorlesung spricht: „Das erste Mal ist es eine Tragödie, beim zweiten Mal eine Farce.“ Bei Adams Besuch in der Videothek läuft im Hintergrund ein Song namens „Cheater“; ein weiterer Hinweis auf seine Neigung zur Untreue. Als Adam zu seiner Frau zurückkehrt und bleibt, löscht er durch diese Entscheidung die konkurrierende Figur Anthony aus: dieser und Mary sterben bei einem Unfall, verursacht durch einen Streit als Mary Anthony durchschaut. Gleich am nächsten Morgen wird Adams Commitment zu Helen wieder auf die Probe gestellt als er einen vertraulichen Brief erhält; eine Einladung mit dem neuen Schlüssel für die Strip-Show. Als er Helen daraufhin fragt, ob sie am Abend etwas vorhat, gibt er damit wieder egoistisch seinen Interessen nach. Sein Verhaltensmuster („Es ist ein wiederkehrendes Muster!“, sagt er selber) hat sich nicht geändert.
Als ihm in der letzten Szene Helen als riesige Spinne erscheint, ist seine Bindungsangst wieder an die Oberfläche gekommen. Die Spinne zittert weil sie fürchtet, von Adam getötet zu werden. Mit hat „Enemy“ gut gefallen (und ich freue mich auf das Blu-ray-Mediabook von Capelight). Der Film ist handwerklich gut gemacht, trotz seiner Ruhe ist er nie langweilig und die gesamte Besetzung liefert hervorragende Leistungen ab – vor allem Jake Gyllenhaal in seiner Doppelrolle versteht es, beiden Charakteren, die äußerlich identisch aber mental verschieden sind, überzeugend Leben einzuhauchen. Und zusätzlich zu seinen filmischen Qualitäten bietet „Enemy“ die Möglichkeit, sich nach dem Ansehen des Films auf phantasieanregende Weise mit der Handlung zu beschäftigen, die Puzzlestücke zusammenzufügen und sich eine Interpretation – vor allem für die finale Szene - zu überlegen. Buch und Film im Vergleich Regisseur Villeneuve hat sich relativ weit von der literarischen Vorlage entfernt. Einige offensichtliche Änderungen sind: der Ort der Handlung: im Buch eine namenlose spanische Großstadt, im Film Toronto. die Namen der Figuren: während es im Buch spanische Namen sind, sind es im Film englischsprachige. Aus Máximo Afonso wird Adam, aus Helena wird Helen, Maria wird zu Mary und António zu Anthony. Film und Buch spielen offensichtlich zu verschiedenen Zeiten: Während im Buch Afonso anhand von Videocassetten und einem fingierten Fan-Brief recherchiert, führt Adam seine Ermittlung mit Film-DVDs, einem Laptop und Google-Suche durch. im Film ist Anthonys Frau Helen schwanger. Adams/Afonsos Beziehung zu seiner Freundin ist in beiden Versionen eher lieblos, aber nur im Film vergewaltigt er sie beinahe. im Film ist es Helen, die den ersten Kontakt zu Adam herstellt; sie sucht ihn an der Uni. der gesamte Erzählstrang mit der Untergrund-Strip-Show – dass Anthony diese verborgene Show besucht und Adam seine Post mit dem geheimen Schlüssel zur Show stiehlt – kommt nur im Film vor. die Themen von Adams und Afonsos Vorlesungen sind verschieden: bei Adam handelt es sich um Diktaturen und wie diese ihre Bevölkerung kontrollieren, bei Afonso jedoch um antike Kulturen. das Motiv der Spinne und des Spinnennetzes (Strip-Show, finale Szene sowie die spinnennetzförmigen Oberleitungen der Straßenbahn und die zersplitterte Windschutzscheibe) kommen nur im Film vor. Film und Buch enden beide mit dem Unfalltod von Anthony/António und Mary/Maria, die finalen Szenen (ein weiterer Doppelgänger taucht auf, den Afonso bereit zu töten ist; Helen erscheint Adam als riesige Spinne) sind aber gänzlich verschieden.
Mein Fazit: „Enemy“ ist hier als Buch und Film eine wunderbare Kombination. Man kann die Geschichte aus 2 Perspektiven kennenlernen und – sofern man es mag – sich den Sinn der jeweiligen Geschichte zusammenreimen. Während der Roman anspruchsvoll geschrieben ist und sich weniger einfach interpretieren lässt, fasziniert der Film durch seine gute handwerkliche Qualität, die mysteriöse Geschichte und Atmosphäre sowie durch die ausgezeichneten Schauspielleistungen. In beiden Versionen empfiehlt sich „Enemy“ für ein anspruchsvolles Publikum, das sich gerne Herausforderungen stellt.
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