BUCHMALEREI IN HANDSCHRIFTEN AUS MARIAZELL - DIE ENTWICKLUNG BIS CA. 1300
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Originalveröffentlichung in: Aigner, Thomas (Hrsg.): Hoffen auf die Ewigkeit : Gründung und Entfaltung des Benediktinerklosters (Klein)Mariazell in Österreich im 12. und 13. Jh., Berndorf 2020, S. 353-490 ; Anhang S. 461-500 (Beiträge zu Geschichte, Kunst und Kultur des ehemaligen Benediktinerstiftes Mariazell in Österreich ; 5) Online-Veröffentlichung auf ART-Dok (2022), DOI: https://doi.org/10.11588/artdok.00007715 7. BUCHMALEREI IN HANDSCHRIFTEN AUS MARIAZELL – DIE ENTWICKLUNG BIS CA. 1300 VON MARTIN ROLAND Mariazell gehört sicher nicht zu den bekanntes- darüber aus dem Buchschmuck lernen kann, wird ten monastischen Zentren in Österreich. Aus Sicht hier untersucht. Als Vergleich bietet sich – um ein des Buchhistorikers würde man die Gründung erst benachbartes Beispiel zu nennen – die Zisterze Li- in der Zeit um 1200 vermuten, denn es gehört zu lienfeld an: Die Gründung erfolgte im ersten Jahr- den Binsenweisheiten, dass gemeinsames monasti- zehnt des 13. Jahrhunderts. Paralleles gibt es bei der sches Leben eine gewisse Grundausstattung an Bü- inneralpinen Lage und beim Zeitpunkt des ersten chern benötigt. Die ersten schriftlichen Zeugnisse Aufblühens der Bibliothek in der ersten Hälfte des aus dem Benediktinerstift Mariazell, Antiphonar- 13. Jahrhunderts. Auch die spätromanischen Ran- fragmente,1 werden um 1200 datiert. Überlieferung keninitialen, zumeist rot gezeichnet und oft mit far- auf breiter Front folgt in der ersten Hälfte des 13. bigem Grund, entsprechen demselben Zeitstil. Als Jahrhunderts. Die Grundausstattung an Büchern Unterschiede sind zum Beispiel der viel größere Ab- – dies betrifft sowohl den liturgischen Bereich, also stand der Blütezeit zur (Erst-)Gründung zu benen- den Chor, als auch die Bibliothek im engeren Sinn nen und die Stifter, bei Lilienfeld der Herzog von als Ort des Studiums – kann aus dem Mutterkloster Österreich, während beim nahegelegenen Mariazell kommen, diese kann (oft vom Stifter) ‚zusammenge- lokale Adelige diese Funktion innehatten. schnorrt‘ werden, oder diese kann selbst angefertigt werden. In der Regel wirken alle Komponenten, je 1. Bestand, Besitzvermerke, unterschiedlich gewichtet, zusammen. Bibliothekskataloge, Schreiber und Um Bücher selbst herstellen zu können, be- Katalogisierungsarbeiten nötigt das neu gegründete Kloster ein eigenes Skrip- Aus Mariazell sind 49 Handschriften in der Stifts- torium. Wie dies in Mariazell ablief und was man bibliothek Lilienfeld erhalten.2 Weitere Codices 2 Siehe http://manuscripta.at/index.php, „Kleinmariazell“ bei 1 Diese weisen keinen Buchschmuck auf, werden daher hier der Detailsuche unter „Vorbesitzer/Provenienz“ eingeben. nicht behandelt: siehe in diesem Band NOVAK, Liturgie Diese Liste auch schon bei HAIDINGER/LACKNER, Li- S. 179-181 (mit Abb.). lienfeld – Handschriftenliste (Version 2 von Januar 1997): 353
mit Bezügen zum Stift befinden sich in der Öster- ne Bestand ist in Lilienfeld um die Hälfte größer.8 reichischen Nationalbibliothek in Wien, in Melk Bei den in den Anmerkungen fett ausgewiesenen und in Zwettl.3 Den kurzfristig aufgehobenen Li- Codices mit spätromanischen Rankeninitialen, also lienfeldern (März 1789 bis April 1790) wurde als dem etwa in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Entschädigung für erlittene Verluste nach der Wie- entstandenen Bestand, ist der Unterschied deut- derherstellung der Bestand aus dem endgültig auf- lich kleiner, aber auch in dieser Periode des primä- gelösten benachbarten Benediktinerstift übergeben. ren Bibliotheksaufbaus übertreffen die Lilienfelder Wir wissen bloß von wenigen Codices, die sich schon Zisterzienser die erhaltene Produktion der benach- vor dem 18. Jahrhundert außerhalb der Klostermau- barten Benediktiner. Größter Unterschied ist je- ern befanden:4 Zwei kanonistische Codices5 gelang- doch nicht dieser graduelle in der Gründungsphase ten im 16. Jahrhundert in die Hofbibliothek,6 drei der jeweiligen Bibliotheken, sondern die Tatsache, weitere Bände hatten je individuelle Buchschicksale dass in Mariazell Produktion und Erwerb von Bü- (siehe Anm. 3). chern schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun- Für die hier vorliegende Studie sind jene 21 derts enden,9 während in Lilienfeld die sehr leben- Handschriften wichtig, die dem 13. Jahrhundert zu- dige eigene Buchproduktion und das Erwerben von zurechnen sind und von denen 14 mit Rankeninitia- Büchern von außerhalb bis nach der Mitte des 14. len geschmückt sind.7 Der in dieser Zeit entstande- Jahrhunderts ungebrochen weitergehen. http://www.ksbm.oeaw.ac.at/lil/hss_v02.htm (Suchbegriff „Kleinmariazell“: ohne CLi 121, und bei ROLAND, Buch- schmuck 14. ausgewiesen sind Codices mit spätromanischen Rankeniniti- 3 Wien, ÖNB, Cod. 2149, Cod. 2232 (siehe Anm. 102) und alen; mit „BV“ sind jene Codices ausgewiesen, die einen zeit- Cod. Ser. n. 4189 (siehe Abschnitt 2g); Zwettl, Stiftsbiblio- nahen bzw. mittelalterlichen Besitzvermerk aufweisen. thek, Cod. 184; Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 836 (Nekrolog 8 Aus Lilienfeld sind 46 (nicht offensichtlich importierte) des Stiftes; siehe Anm. 19). Handschriften des 13. Jahrhunderts bekannt: Lilienfeld, 4 Siehe auch Anm. 18. Stiftsbibliothek, CLi 7, 28, 32, 34, 37, 42, 44, 51, 52, 54, 55, 5 Wien, ÖNB, Cod. 2149: 13. Jh. [ohne Dekor] und Cod. 2232: 56, 58, 59, 60, 63, 76, 78, 82, 83, 87, 88, 92, 96, 98, 99, 101, 9. Jh. Cod. 2232 enthält die Regula Benedicti und anschlie- 103, 108, 116, 129, 131, 139, 140, 163, 165, 168, 171, 181, ßend kirchenrechtliche Texte: siehe Abschnitt 2f und zur 185, 189, 195, 196, 216, 228; zusätzlich Wien, ÖNB, Cod. Provenienz HANSLIK, Herkunft 118f. Ser. n. 2594 (ehem. CLi 191). Als Import aus Frankreich (bis 6 Die beiden Bände erregten wohl das Interesse von im Namen um 1300) werden von HAIDINGER/LACKNER, Hand- des Kaisers reisenden Humanisten, die – vielfach getarnt als schriftenliste 2, 16 Handschriften angegeben: CLi 10, 11, 12, Entlehnungen – den damals auf Grund der Reformation dar- 41, 138, 152, 157, 158, 159, 166, 188, 190, 217, 220, 222, 223; niederliegenden Klöstern Codices, die für die „Jäger“ von be- als Import aus Italien 7: CLi 25, 86, 102, 122, 123, 139 (tw.), sonderem inhaltlichem Interesse waren, abpressten. 224; Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 2595 (ehem. CLi 6) entstand 7 Lilienfeld, Stiftsbibliothek, CLi 24 (BV 14. Jh.), 38, 39, 68 im 13. Jahrhundert in Niedersachsen. – Vor die Gründung (BV 15. Jh.), 77, 89 (BV), 90 (Frankreich), 91, 93 (BV 15. Jh.), des Stifts werden von Haidinger, Lackner, fünf Handschrif- 94, 105 (BV), 109 (BV), 121 (Fragmente in einem späteren ten datiert: CLi 72, 156, 157, 159, 160. Codex), 124 (BV), 132, 134, 141, 162 (BV), 167 (BV); zu- 9 Zur endenden Produktion im Stift siehe den Abschnitt 2d sätzlich Wien, ÖNB, Cod. 2232 (9. Jh.), Cod. 2149 (BV) und zum Fleuronnée; dort auch ein Hinweis auf einen aus Frank- Cod. Ser. n. 4189. Weiters ist auf Codices aus dem 14. Jahr- reich importierten Codex und auf italienische Fragmente, die hundert zu verweisen: CLi 27, 35, 70, 73, 84, 114, 218. Fett im 15. Jahrhundert in eine Inkunabel geklebt wurden. 354
Dass die im späten 18. Jahrhundert aus Maria Nach dieser ersten Welle an Vermerken fol- zell nach Lilienfeld gelangten Bestände auch schon gen der Vermerk in CLi 24 auf fol. 1r, der aus dem im Mittelalter in diesem Benediktinerstift waren, 14. Jahrhundert stammt, und jene in CLi 68 (foll. kann nicht – wie in Lilienfeld – durch den Abgleich 127v [Abb. 168] und 135v)13 und CLi 93 (fol. 2r) aus mit mittelalterlichen/älteren Bibliothekskatalogen dem 15. Jahrhundert.14 Eine weitere Welle von Be- überprüft werden.10 Stattdessen gibt es eine ver- sitzvermerken ist wohl dem beginnenden 17. Jahr- gleichsweise dichte Überlieferung von in die Codices hundert zuzuordnen.15 Es ist zu beobachten, dass eingetragenen Besitzvermerken (Abb. 172/1-7). Auf Codices, die spätere Besitzvermerke tragen, vielfach dem oberen Rand vieler Incipit-Seiten steht in kla- am Anfang beschädigt sind.16 Bei Handschriften des rer frühgotischer Buchschrift Iste liber pertinet ad cel 13. Jahrhunderts ist daher durchaus wahrscheinlich, lam sancte Marie.11 Diese Vermerke können aus pa- dass einige davon ursprünglich einen Vermerk der läographischen Gründen der ersten Hälfte des 13. Gründungsphase aufwiesen. Dem Abbruch bei der Jahrhunderts zugewiesen werden. In CLi 167 ist ein Erweiterung der Bibliothek, den wir konstatiert ha- entsprechender Vermerk auf fol. 225r als Teil des rot 13 Fol. 135v ist eine ursprünglich leere Seite nach dem Ende des geschriebenen Colophons des Schreibers wiederholt Textes, die mit diversen Federproben gefüllt wurde (unter an- (Abb. 172/2). Dieser, wie es scheint, unikale Fall ver- derem auch die flüchtige Zeichnung eines Lammes Gottes). bindet Vermerk und Entstehung des Codex unmit- In der Mitte steht in auffallend qualitätvoller Bastarda: Iste liber pertinet ad cellam Marie virginis / et vocatur Ysydorus. telbar. Damit wird auch klar, dass alle Codices mit Darunter ist der Inhalt in inverser Reihenfolge und in deut- solchen Vermerken einer ersten Phase der Entste- lich qualitätloserer Schrift wiederholt. Die Formen machen hung der Bibliothek angehören. Das Vorhandensein auf den ersten Blick eine Datierung noch ins 13. Jahrhundert möglich, doch sind die Schlaufen an den Oberlängen des „l“ oder das Fehlen ist daher durchaus auch als Hinweis und die Form des runden „d“ eindeutig dem 15. Jahrhundert zu deuten, wann während des 13. Jahrhunderts ein zuzuweisen. Codex entstand bzw. wann ein Codex von außen in 14 Auf dem aus CLi 74 ausgelösten Spiegelblatt des Vorderde- ckels befindet sich ein (erstaunlich unspezifisch formulier- die Bibliothek gelangte.12 ter) Besitzvermerk des 15. Jahrhunderts (Hinweis Eugen NOVAK): Iste libellus est monasterii sancte Marie. Siehe NO- VAK, Handschriften und Fragmente. Aus Lilienfeld sind, 10 Aus Lilienfeld haben sich zwei (Teil-)Verzeichnisse des Buch- bemerkenswerter Weise, keine Besitzvermerke überliefert. besitzes erhalten. Eines davon (CLi 52, fol. 247v) ist wohl Einzige Ausnahme ist CLi 210, fol. 1r (wohl Mitte 14. Jh.). schon um 1230 zu datieren: vgl. GOTTLIEB, Bibliotheks- ROLAND, Buchschmuck 11 und 39 (Kat. 2/3/2) sieht die kataloge 1 122-132: online: http://nbn-resolving.de/urn:nb- Funktion dieses Vermerks weniger im Sichern des Besitzes, n:de:hbz:061:1-15031. Die Datierung nach HAIDINGER/ sondern als Dokumentation einer Schenkung an das Stift. LACKNER, Handschriften Lilienfeld 49-80 (Handschrif- 15 Sum monasterii ad cellas Mariae: CLi 39, fol. 1r, CLi 90, fol. 1r tenliste, Version 3), 62. (Abb. 226), CLi 91, fol. 1r, CLi 132, fol. 1r, CLi 134, fol. 1r, 11 CLi 89, fol. 1r, CLi 105, fol. 1v, CLi 109, fol. 1r, CLi 124, fol. CLi 141, fol. 1r. Für die paläographishe Einordnung danke ich 1r, CLi 162, fol. 1r, CLi 167, fol. 1r und 225r, Wien, ÖNB, Andreas Zajic. – Besitzvermerke des 18. Jahrhunderts: CLi Cod. 2149 (Der Vermerk auf dem abgelösten Fragment 38, fol. 1r, CLi 77, fol. 2r, CLi 94, fol. 1r (Vermerke in Codices ÖNB, „Fragm. 133“). mit älteren Besitzvermerken nicht angeführt). 12 Dies spielt bei der karolingischen Handschrift Wien, ÖNB, 16 Bei folgenden Codices fehlt der Beginn: CLi 38, CLi 94, CLi Cod. 2232, eine wichtige Rolle (siehe Abschnitt 2f). 132, CLi 134. 355
Abb. 172/1-7 Besitzvermerke aus der Aufbauphase der Bibliotheken 1 u. 2) CLi 167, foll. 1r u. 225r – 3) CLi 89, fol. 1r – 4) CLi 124, fol. 1r 5) CLi 162, fol. 1v – 6) CLi 104, fol. 1v – 7) CLi 109, fol. 1v ben, folgten also offenkundig auch Phasen, in denen Schreiber – Die Blütezeit während der ers- der Bibliothek im Stift – auch schon während des ten Hälfte des 13. Jahrhunderts muss mit Personen Mittelalters17 – nicht die Obsorge zuteilwurde, die verbunden gewesen sein, die für den Buchbestand sie verdient hätte.18 Interesse hatten. Namen sind freilich, bis auf eine Ausnahme, keine bekannt. Auf fol. 41r von CLi 162, 17 Der Blindstempeleinband des CLi 134 belegt, dass zumindest wird ein Gundramus genannt: HOC SCRIpSIT in diesem Einzelfall bereits bei der Neubindung im 15. Jahr- hundert der Anfang gefehlt hat. D[omi]N[u]S GVN / DRAMUS (Abb. 173).19 Die- 18 Der Bestand an mittelalterlichen Codices aus Mariazell ist in Lilienfeld geschlossen erhalten. Es gibt keine Hinweise, dass 19 Im Nekrolog des Stiftes werden zwei Namensträger erwähnt, Material im Zuge der Klosteraufhebung 1782 entfremdet die Priester und Mönche (des Konvents) waren: MGH Nec V, wurde und sich an anderen Orten erhalten hat. Wie vollstän- 146 (Oktober 19) und 147 (November 18). Grundlage ist dig der Bestand freilich zum Zeitpunkt der Aufhebung noch Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 836, foll. 113r-138v. Für Abbil- war, ist, da Bibliothekskataloge fehlen, schwer zu bestimmen dungen siehe https://kloster-mariazell.topothek.at/, Suchbe- (zu entfremdeten Handschriften vgl. Anm. 5f.). griff „Necrologium“. 356
noch nicht enthalten konnten, kommen sie in dem von Conrad Schimek 1891 publi- zierten Katalog vor.20 Als Metaportal zu al- len verfügbaren Infor- mationen (inklusive Links zu Digitalisa- ten und Bibliographie) ist manuscripta.at der optimale Einstieg.21 Abb. 173 CLi 162, fol. 41r: Schreibervermerk des Gundramus (neuzeitliche Hinzufügung?) Weiters sind die Ar- beiten von Alois Hai- ser Vermerk ist höchst ungewöhnlich, denn er steht dinger, Franz Lackner heranzuziehen.22 nicht – wie für einen Schreibervermerk zu erwar- Für den Bestand an romanischem Buch- ten – am Textende, sondern am unteren Rand ei- schmuck ist auf die Erfassung von Friedrich Sima- ner gewöhnlichen Textseite. Statt der üblichen Tin- der hinzuweisen.23 Auf der Plattform manuscrip- te wird ein Metallstift verwendet. Der Duktus der torium.com stehen Digitalisate für alle Codices aus artifiziellen Majuskelschrift ist unsicher. Der son- Lilienfeld zur Verfügung.24 Die dort von Eugen No- derbare Vermerk wird durch einen Schreiberspruch vak zusammengestellten Metadaten beabsichtigen, (ohne Namensnennung) auf fol. 192v ergänzt, der alle verfügbaren Informationen (siehe oben) zusam- freilich nicht unmittelbar nach dem Textende steht, menzuführen. Aufbau der Datenbank (in Tsche- sondern erst nach einer von anderer Hand und in chisch und Englisch) und die Suchmöglichkeiten anderem Schriftgrad beigefügten deutschsprachigen sind komplex und bieten noch Verbesserungspoten- pharmazeutischen Notiz. Diese beiden Elemente tial. hält Andreas Zajic mit guten Gründen für „antiqua- rische“ Addenda der Neuzeit. Ob auch der Vermerk 20 SCHIMEK, Handschriften Lilienfeld 481-561: http://ma- nuscripta.at/diglit/xenia_1/0489. auf fol. 41r eine neuzeitliche Ergänzung ist, muss 21 http://manuscripta.at/lib.php?libcode=AT5400. derzeit noch unbeantwortet bleiben. 22 HAIDINGER/LACKNER, Handschriftenliste (Version Katalogisierungsarbeiten zum Bestand aus 2: Januar 1997): http://www.ksbm.oeaw.ac.at/lil/hss_v02. htm; HAIDINGER/LACKNER, Handschriften Lilienfeld Mariazell erfolgten in der Regel gemeinsam mit al- 49–80 (Handschriftenliste, Version 3). len anderen Handschriften in der Stiftsbibliothek 23 SIMADER, Illuminierte Handschriften: https://homepage. Lilienfeld. Während die Kataloge Hanthalers aus univie.ac.at/Martina.Pippal/Lilienfeld.htm. Der aus Maria- zell stammende Anteil jeweils mit Kleinmariazell bezeichnet. dem 18. Jahrhundert diese Codices naturgemäß 24 http://www.manuscriptorium.com/en/node/16332. 357
2. Buchschmuck in Handschriften aus ten Exameron (Abb. 174).27 Er ist schreibend an ei- Mariazell bis ca. 1300 nem Pult im Binnenfeld einer Rankeninitiale dar- Die hier zu behandelnden Codices enthalten Dekor gestellt. Der gleichzeitige Besitzvermerk über dem verschiedenen Charakters. Der im Haus entstan- Textbeginn sichert die Provenienz ab und weist den dene Grundbestand ist jedoch vergleichsweise ein- Band der Gründungsphase der Bibliothek zu. heitlich, was sich in einem Datierungsansatz „um Dass der schriftstellerisch tätige Kirchenvater 1220/40“ ausdrückt. Selten ergeben sich Hinweise, als schreibender Autor dargestellt wurde, nimmt nicht die auf eine etwas frühere oder spätere Ansetzung wunder, denn das Bildmuster spinnt in letzter Kon- deuten. sequenz eine mit den Evangelistenbildern frühmittel alterlicher Evangeliare beginnende Tradition weiter. 2a. Figürlicher Dekor25 Als Zwischenschritte sei auf zwei französische Bei- Der Bestand an figürlichem Dekor ist klein. Zu nen- spiele verwiesen: einen Codex aus Mont-Saint-Michel nen sind das Autorenportrait in CLi 124 und ein aus dem mittleren 11. Jahrhundert, in dem in einer Mi- Band der Moralia in Job (CLi 162),26 die beide den niatur auf fol. 182v der heilige Bischof von Mailand als originalen Besitzvermerk aufweisen. Bei CLi 134, Schreiber dargestellt ist,28 und einen Codex aus Signy einer vor allem hagiographischen Sammelhand- aus dem Ende des 12. Jahrhunderts,29 bei dem Ambro- schrift fehlt der Beginn, ob die vielen vor allem an sius bereits in die Initiale T, mit der das Exameron be- den Rand gezeichneten Figuren der ersten Phase ginnt, gewandert ist (fol. 1r – Abb. 175). der Bibliothek angehören, ist daher nicht zu über- Spannender als dieser Blick auf die doch kon- prüfen. Der zweite Band der Expositiones morales in ventionelle Ikonographie sind die weiteren unfigür- Job des Gregor des Großen (CLi 141) hat jedenfalls lich ausgestatteten Initialen. Auf fol. 1v folgt eine keinen originalen Besitzvermerk, sondern einen des Vogelinitiale (Abb. 176), die in einer Dracheninitiale 17. Jahrhunderts, was ein weiteres Argument für die in CLi 77, fol. 2r, eine durchaus ernst zu nehmende sich aus dem Stil ergebende etwas spätere Entste- Entsprechung hat (Abb. 177).30 Die Rankeninitiale hung darstellt. auf fol. 30r folgt – so wie die oben bereits besproche- Die Incipitseite (fol. 1r) von CLi 124 zeigt den hl. Ambrosius als Autor des im Codex überliefer- 27 Vgl. https://manuscripta.at/hs_detail.php?ID=32333 (mit Link zum Digitalisat und Bibliographie). Der Codex (und CLi 134) wurden schon 1963 in einer Zusammenstellung der nie- 25 Im folgenden Abschnitt werden jene figürlichen Motive des derösterreichischen Buchmalerei kurz erwähnt: SCHMIDT, Dekors behandelt, die sich auf den Inhalt beziehen, also „his- Buchmalerei 98 (bei Nr. 11 als Vertreter aus Mariazell). Vgl. torisiert“ sind. Belanglose, also rein dekorative zoomorphe NOVAK, Handschriften und Fragmente. oder anthropomorphe Motive, etwa Begleitlinien, die ein 28 Avranches, Bibliothèque municipale, Ms. 72: vgl. http://initi- Profil ergeben, bleiben unberücksichtigt. ale.irht.cnrs.fr/codex/736/1942. 26 In CLi 162 sind die Bücher 6 bis 16 überliefert, in CLi 141 29 Charleville-Mézières, Bibliothèque municipale, Ms. 212: vgl. (siehe unten) die Bücher 17-26. – Ein zeitnaher Satz dieses http://initiale.irht.cnrs.fr/codex/1495/4688. Textes ist auch aus Lilienfeld erhalten: CLi 163 (Bücher 1-5), 30 Die Rankeninitiale, mit der der Text beginnt, wird in Ab- CLi 216 (Bücher 6-16), CLi 168 (Bücher 27-35). schnitt 2b2 besprochen. 358
Abb. 174 CLi 124, fol. 1r: Historisierte Rankeninitiale mit hl. Ambrosius Mariazell, 1220/40 ne historisierte Initiale – dem romanischen Grund- Abb. 175 Charleville-Mézières, Bibliothèque municipale, typus mit Rankenästen, die sich im Binnenfeld ver- Ms. 212, fol. 1r, Examerom des hl. Ambrosius, Signy, Ende teilen und in reich gelappten Halbpalmetten enden. 12. Jahrhundert Vergleichbare Rankeninitialen schließen sich zu ei- ner Gruppe zusammen, die sowohl im Mariazeller ale heraussticht, nicht gezweifelt werden. Friedrich Bestand vertreten ist als auch in vielen Beispielen Simader hatte die Initialen für Heiligenkreuz in An- aus Heiligenkreuz (und Lilienfeld), wo diese Grup- spruch genommen.31 Die Zusammenhänge bezie- pe wohl auch geprägt wurde (siehe Abschnitt 2b2). hen sich aber nicht auf den Figurenstil sondern auf Die weiteren Initialen (z. B. fol. 55v) zeigen sehr ei- die oben erwähnten Blattmotive.32 Soweit die Ent- gentümliche Formen, die ebenfalls in anderen Co- wicklung dieser Gruppe überblickt werden kann, dices des Bestandes vorkommen und in Abschnitt 31 FINGERNAGEL/SIMADER, Ergänzungen bei ÖNB, 2c besprochen werden. Cod. Ser. n. 121 und https://homepage.univie.ac.at/Martina. Zusammenfassend betrachtet ist der Codex Pippal/Lilienfeld.htm #CLi 124 im Bestand sehr gut vernetzt. An einer Entstehung 32 Die Zuweisung von Simader wurde von Alois HAIDINGER nicht übernommen: vgl. scriptoria.at (https://www.scripto- im Skriptorium muss, obwohl die historisierte Initi- ria.at/cgi-bin/index.php), wo die Schreibstube von Heiligen- 359
und vielfältig. Wie der Codex den Leser empfing, wissen wir nicht mehr, denn die erste Lage fehlt.35 Der erhaltene Text beginnt auf fol. 1r (alt 19r) mit einer ganz kleinen Initiale F(uit vir qui dam),36 neben der am schmalen inneren Rand der Seite eine kleine mit roter und brauner Tin- te gezeichnete Figur eines Mönches steht (Abb. 32). Eine vergleichbare kleine Gestalt bildet die Figureninitiale I(n Gallica regione) auf fol. 6v (alt 25v). Wen der tonsurierte Mönch oder Kleriker mit Schlüssel darstellen soll, ist un- klar (Abb. 178). Auf fol. 9v (alt 28v) ist seitlich neben der kleinen Initiale ein matter (langui dus) Mann mit „Krücken“ an den Unterarmen zu sehen (Abb. 179), auf fol. 10r (alt 29r) eine (alte?) Nonne (Abb. 37). Die stehende Maria mit Rankenstab auf fol. 10v (alt 29v) ist deutlich größer, auch die Falten des Gewandes sind nun schon sehr dif- ferenziert (Abb. 180). Die Legenden zum hl. Apostel Andreas beginnen fol. 17r (alt 36r) Abb. 176, 177 mit einer unfigürlichen I-Initiale zur Einlei- CLi 124, fol. 1v: Vogelinitiale CLi 77, fol. 2r: Dracheninitiale len aus, die bereits Ende des 12. Jahrhunderts bzw. zur jeweils Mariazell, 1220/40 Wende 12./13. Jh. entstanden seien, während der Groß- teil des Bestandes „Anfang 13. Jh.“ datiert wird; bei HAI- sind keine stilistischen Details namhaft zu machen, DINGER/LACKNER, Handschriften 54, fehlt (wohl zu Recht) diese Differenzierung. Vgl. NOVAK, Handschrif- die es erlauben, Initialen einem der beteiligten Stif- ten und Fragmente; Siehe NOVAK, Handschriften und te zuzuweisen.33 Fragmente. Die Ausstattung einer vor allem hagiogra- 35 Auf fol. 1r (alt 19r) steht unten die Reklamante II. Die Foliie- rung des frühen 17. Jahrhunderts beginnt mit 19. Die nächste phischen Sammlung (CLi 134)34 ist unsystematisch Kustode (III) folgt auf „alt 27“ (die heute gültige Foliierung ist nur sporadisch vermerkt). Achtzehn Blätter sind freilich kreuz (und anderer österreichischer Zisterzienserstifte) auf- eine sehr ungewöhnliche Anzahl für eine Lage; zudem setzt gearbeitet wird. sich die Lagenzählung nicht kontinuierlich fort. 33 Siehe auch Abschnitt 2b2. 36 Miracula beatae Virginis: PONCELET, Miraculorum 241- 34 h t t p ://m a n u s c r i p t a . a t / h s _ d e t a i l . p h p ?I D =32 3 43 ; 360, hier Nr. 647 = BHL 5357, cap. 29. – Wann das der In- SCHMIDT, Buchmalerei 98 (Nr.11); HAIDINGER/ itiale vorhergehende Textende radiert wurde, ist nicht mehr LACKNER, Handschriftenliste 2 gehen von kleineren Tei- feststellbar. 360
Abb. 178 und 179 CLi 134, Hagiographische Sammelhandschrift fol. 6v: Tonsurierte Figur mit Schlüssel – fol. 9v: Mann mit „Krücken“ – Mariazell, 1220/40 tung und mit einer I-Initiale, die als Figur des Heili- Tasche mit Pilgermuschel.37 Ältere Darstellungen gen geformt ist, beim Textbeginn (Abb. 181). Die Fi- des Heiligen sind aus Melk bekannt: Eine Initiale gur ist erstaunlich bewegt und schreitet beschwingt auf einem Fragment eines um 1200 zu datierenden in den Text hinein. Der neben der Initiale stehen- sehr üppig ausgestatteten Breviers ist so stark be- de hl. Bischof Epiphanus (alt 43v) ist hingegen ohne schädigt, dass nicht erkennbar ist, ob die stehen- spezielle Besonderheiten. de Figur identifizierende Attribute hält.38 Aussage- Aus lokalem und ikonographischem Interes- se muss der hl. Koloman (fol. 31v [alt 50v]) erwähnt 37 Die Darstellung erwähnt bei: NIEDERKORN-BRUCK/ werden (Abb. 182). Er steht neben einer kleinen DUBSKI, Koloman. Rankeninitiale als frontale Figur mit einem Um- 38 Melk, Stiftsbibliothek, Frag. 227. Zu Datierung und weiteren Fragmenten dieser Handschrift siehe GLASSNER/HAI- hang aus Fell und einem (Pilger-)Stab mit einer DINGER, Anfänge der Melker Bibliothek 109f. 361
als bei der Figur aus Ma- riazell ist Koloman hier als Märtyrer (mit Pal- me) und mit einem Pil- gerstock in der anderen Hand gegeben (Tasche und Muschel als Attribu- te fehlen). In etwa gleich- zeitig mit dem Codex aus Mariazell entstand eine Abschrift des Mag num Legendarium Austri acum in Zwettl, die eine ganz unspezifische Dar- stellung des Heiligen als Märtyrer im Schaft einer Rankeninitiale stehend zeigt40 und damit wohl der Ikonographie des äl- Abb. 180 und 181 CLi 134, Hagiographische Sammelhandschrift ist. Zum Vorgang vgl. fol. 10v: Maria mit Rankenstab KEIBLINGER, Geschich- fol. 17r: Apostel Andreas als Figureninitiale te Melk I 302f., und vor Mariazell, 1220/40 allem Nachträge 3f., so- wie zuletzt Dagmar WEL- TIN, Johanniterkommende Mailberg 20-24 (Editio- nen; das hier zentrale Stück kräftiger ist ein Melker Siegel (Abb. 183).39 Anders auf S. 23 [Nr. 6b]), S. 68- 72 (zum gesamten Vorgang; 71f. zur hier zentralen Urkun- 39 Prag, Nationalarchiv (Národní archiv), Bestand Malteser- de [jedoch ohne Erwähnung des Siegels]): http://othes.uni- ritter (Maltézští rytíři – české velkopřevorství), Jo XXXIII vie.ac.at/497/1/12-11-2007_0002309.pdf. Zum Siegel vgl. Mail. 233 (Nr. 1487: 1208 Dezember 15 [?]): https://www. SAVA, Siegel der Abteien 41. In der jüngeren Forschung ist monasterium.net/mom/CZ-NA/RM/1487/charter: Abt dieses Siegel in Vergessenheit geraten, das Siegel von Abt Renoldus und der Konvent von Melk verzichten zu Guns- Walther und das gleichzeitige Konventsiegel von 1232 gelten ten der Johanniter auf den Zehent in Mailberg. Die Datie- als älteste Belege: vgl. HUEBER, Austria, Taf. 3 bzw. https:// rung ist jedenfalls uneindeutig, auch der 23. Dezember wäre www.monasterium.net/mom/AT-StiAM/MelkOSB/1232_ möglich; die Urkunde ins Jahr 1218 bzw. 1268 zu stellen, ist VIII_22/charter. hingegen unwahrscheinlich, da die juristische Auseinander- 40 Zwettl, Stiftsbibliothek, CZw 14, fol. 46r. Zum Codex sie- setzung mit den Johannitern für das Jahr 1208 gut belegt he die Beschreibung von Susanne Rischpler auf http://manu- 362
Abb. 183 Melker Konventssiegel mit hl. Koloman, nicht nach 1208 in diesem szenischen Medaillon das Marty- rium Kolomans, der Heilige also an einem Baum hängend, dargestellt. Ohne Bedeu- tung für unsere ikonographischen Über- Abb. 182 CLi 134, fol. 31v: hl. Koloman – Mariazell, um 1220/40 legungen ist eine etwa 1310 entstandene Figur eines hl. Emmeram in einem Regens- testen Fragments folgt. Die auch für die Mariazel- burger Graduale, die, nach Melk gelangt, zu einem ler Handschrift prägende Ikonographie als Pilger Koloman verändert wurde (fol. 113v).41 Da Emme- taucht über hundert Jahre später beim Hauptmeis- ram als Bischof dargestellt war, passt die Darstel- ter der Concordantiae caritatis (Lilienfeld, Stiftsbi- lung trotz aller Bemühungen ikonographisch nicht bliothek, Cod. 151, fol. 219v) wieder auf, bloß wird zum neuen Text. scripta.at/hs_detail.php?ID=31625 (mit umfassender Biblio- 41 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 109: http://manuscripta.at/hs_ graphie). detail.php?ID=8931. 363
stellt, die mit einer Maske, die zur Initiale neben ihr gehört, zu kommunizieren scheint.42 Der hl. Apostel Matthias (fol. 37v [alt 56v]) ist zwar als Figur nicht au- ßergewöhnlich (mit Buch aber ohne Beil), da er je- doch als Erster im Bin- nenfeld einer Initiale steht, muss er erwähnt werden (Abb. 184a). Ab dem Beginn der eigentlichen Passio des Apostels (fol. 38r) ändert sich das Ausstattungskon- CLi 134: Hagiographische Sammelhandschrift zept und es dominieren un- Abb. 184a figürliche (Ranken-)Initia- fol. 37v: Apostel Matthias len. Besonders groß ist z. B. Abb. 184b die Initiale auf fol.66r zur fol. 66r: Rankeninitiale zum hl. Basilius Vita des hl. Basilius (Abb. Abb. 184c 184b). Ganz klassisch sind fol. 86r: Figureninitia- die in Spiralen angeord- le zur Praefatio zu Haitos Vita Wettini neten Rankenäste im Bin- Mariazell, um 1220/40 nenfeld, die Halbpalmetten als Abschlussmotive, der grün und hellbeige ausge- malte Grund und die plas- Die in CLi 134 überlieferte Darstellung des tisch gebildeten Spangen am Schaft des „B“. So tra- ehemaligen österreichischen Landespatrons Kolo- ditionell bleibt die Ausstattung freilich nicht, denn man, des Vorgängers des 1485 heiliggesprochenen es mischen sich Elemente des Fleuronnée-Dekors Markgrafen Leopold, verdient jedenfalls wesentlich dazu. Auf fol. 85v ist in einem Fortsatz einer Fleu- größere Beachtung als ihr bisher zuteil wurde. Die Gastgeberin Jesu, Martha (fol. 33v [alt 42 Der Text ist, grob gleichzeitig, in Wien, Schottenstift, Cod. 189, fol. 135r-141v überliefert, einem Codex der dem Skripto- 52v]), wird groß als Frau mit Kopfschleier darge- rium von Baumgartenberg zugeordnet wird. 364
ronnée-Initiale ein bärtiges Gesicht versteckt. Be- Im Bereich des Figürlichen sind auch die bei- sonders interessant sind die Mischformen, denn den Bände der Moralia in Job ohne nähere Bezie- Vergleichbares wird uns noch öfter in Codices aus hungen zu dem bisher vorgestellten Material. Beim Mariazell begegnen (siehe Abschnitt 2c). unfigürlichen Dekor gibt es jedoch Berührungs- Dass es nicht um einen während des Arbeits- punkte. prozess sich weiterentwickelnden Stil handelt, be- Für den Band, der mit Buch 6 beginnt (CLi legen zwei Initialen, die wieder zum Figürlichen 162) , sichert die bekannte Form der Besitzvermer- 44 zurückkehren: Ein eindeutig weltlich gekleideter ke die Herkunft ab. Der Leser wird mit einer klas- Jüngling (kein Mönch) steht am Rand und bildet die sischen Rankeninitiale (fol. 1r) empfangen (siehe Initiale I(n provincia Alamanorum) der Praefatio von Abschnitt 2b1), die Initialen zu den folgenden Bü- Haitos Visio Wettini (fol. 86r – Abb. 184c). Ob die chern sind bloß als rote Lombarden gestaltet. Bei je- Figur den stehenden Visionär Wettinus, oder den nen zu den Büchern 9 und 16 (fol. 61v und vor allem Autor, der zuletzt Bischof von Basel war, oder je- fol. 176r) sind einfache rote ausgebogte Begleitlinien manden anderen darstellen soll, muss unbeantwor- beigefügt, die, trotz der bescheidenen Qualität, be- tet bleiben. Der Zeichner hatte wohl selbst keine reits eindeutig dem Spektrum des Fleuronnée zuzu- genaueren Kenntnisse weder über den Autor noch ordnen sind. Figürlich ist bloß die Q(uia amici)-Ini- über den Visionär. Abgeschlossen wird das Bildpro- tiale zu Buch 15 (fol. 158r – Abb. 185). Die Initiale gramm mit einer großen Rankeninitiale, vor die der verfügt über einen Drachen als Cauda und zeigt im stehende hl. Gallus geblendet wurde (fol. 102r).43 Binnenfeld die nackte Dreiviertelfigur des aussätzi- Der Figurenstil zeichnet sich durch oft ex- gen Ijob und daneben die Köpfe der drei im Incipit trem kleine Köpfe aus. Die Falten sind im Saum- benannten Freunde des biblischen Dulders. Als Ver- bereich aufgestaut, die Gewänder durch viele Lini- gleich in Bezug auf die Technik, nicht jedoch in Be- en strukturiert. Unmittelbare stilistische Bezüge zug auf die Qualität, bietet sich ein höchst qualität- zu der Figur im CLi 124 sind nicht zu beobach- voller Kopf an, der das Binnenfeld einer Lombarde ten. Auch bei den unfigürlichen Elementen sind die eines aus CLi 167 abgelösten liturgischen Fragments Beziehungen nicht so eng wie bei CLi 124. Ob der füllt.45 Der folgende Band (CLi 141)46 ist etwas grö- Codex dem Skriptorium von Mariazell zugeordnet ßer – 31 cm hoch statt 29 – und vom Layout abwei- werden kann, darf zwar vermutet werden, die Sach- chend (zweispaltig). Die Incipitseite (fol. 1r), die ja lage bleibt jedoch vielschichtig. gleichsam das Schaukästchen des Buches darstellt, 43 Zu Walahfrid Strabos Vita sancti Galli. Die Bildtradition ist mit einer achtzeiligen – wie schon beim vorheri- verbindet Gallus schon ganz früh mit seinem „Attribut“ dem Bären. Hier fehlt das Tier und Gallus ist nicht als Mönch 44 https://manuscripta.at/?ID=32370. Vgl. NOVAK, Hand- (wie oft) sondern als junger Abt mit Tonsur und Stab dar- schriften und Fragmente. gestellt. Gut hundert Jahre später wird er in einer Avigno- 45 Siehe S. 384 mit Abb. 225. ner Sammelindulgenz weitgehend identisch wiedergegeben: 46 https://manuscripta.at/?ID=32350. Hier in diesem Band sie- https://www.monasterium.net/mom/IlluminierteUrkun- he NOVAK, Liturgie, S. 181-183 sowie NOVAK, Hand- den/1342-03-28_Stuttgart/charter. schriften und Fragmnente. 365
verfügt, wie jene im CLi 162, fol. 158r, über eine zoomorphe Cauda, die kniende Dreiviertelfi- gur im Binnenfeld ist jedoch weitgehend zer- stört. Was die Gestalt hochhält, ist nicht mehr zu erkennen. Ganz unbedeu- tend ist der ganz starr und leblos gezeichne- te, noch ganz der Ro- manik verhaftete bärti- ge Männerkopf, der das Binnenfeld der Lom- barde zum 23. Buch füllt (fol. 115v – Abb. 187).47 Dieser zeichne- rischen Ausstattungs- schiene sind auch die von der Schrift ausge- Gregor der Große, Moralia in Job henden zoomorphen Abb. 185 CLi 162, fol. 158r, Buch 15 Fortsätze zuzuordnen Abb. 186, 187 CLi 141, fol. 42v: B. 19 / fol. 115v: B. 23 (foll. 146v, 160r). Mariazell, um 1220/40 bzw. 2. V. 13. Jh. Friedrich Sima- der datiert beide Bände gen Band – unfigürlichen Initiale Q(uotiens in sancti erstaunlich früh um 1200/20.48 Wahrscheinlicher viri) zum 17. Buch ausgestattet. Deren Motive sind ist eine Differenzierung, wobei CLi 162 der Hoch- zwar aus der Rankeninitiale bekannt, die hier jedoch phase um 1220/40 zuzuordnen und CLi 141 erst ins vergrößert und von der Rankenstruktur befreit und 47 Vgl. den in der vorhergehenden Anmerkung genannten Ver- gleichsam vereinzelt präsentiert werden. Dieser Ty- gleich. – Alle weiteren Initialen sind als einfache rote Lom- pus ist im Stift gut verankert (siehe Abschnitt 2c). barden gestaltet. Figürlich ist bloß die Initiale Q(uid mirum) zum 48 https://homepage.univie.ac.at/Martina.Pippal/Lilienfeld. htm, zu CLi 141 und 162 (die jeweilige Zuordnung zu CLi 19. Buch gestaltet (CLi 141, fol. 42v – Abb. 186). Sie 132 irrig). 366
2. Viertel des 13. Jahrhunderts zu da- tieren wäre. Dies findet in der unter- schiedlichen Form der Besitzeinträ- ge eine Bestätigung, denn der zweite Band verfügt nicht mehr über einen Vermerk der ersten Phase, sondern trägt einen Eintrag des frühen 17. Jahrhunderts. Insgesamt ist der Bestand an figürlichen Motiven im Bestand aus Mariazell bescheiden und uneinheit- lich. Die mitüberlieferten unfigürli- chen Initialen lassen es jedoch zumin- dest bei dem Ambrosius-Band und bei den Gregor-Bänden wahrschein- lich erscheinen, dass die Bände im Klosterskriptorium entstanden. 2b. Rankeninitialen Die „normalen“ Rankeninitialen, die keine historisierten Elemente aufwei- sen,49 bieten einerseits eine breitere Vergleichsbasis als der figürliche De- kor, andererseits sind die Formen oft unspezifisch. Der Überblick beginnt Abb. 188 CLi 38, Honorius Augustodunensis, fol. 24r, Himmelfahrtspredigt mit drei Codices, die jeweils für sich Rankeninitiale – Niederösterreich/Steiermark (?), um 1200/50 stehen und daher wohl nicht für das Skriptorium von Mariazell in Anspruch genommen 188). Da die ersten 75 Blätter fehlen (vgl. die Foliie- werden können. rung des frühen 17. Jahrhunderts) kann weder über- Die traditionellsten Formen begegnen in prüft werden, ob der Codex einen originalen Besitz- CLi 38,50 auf fol. 24r, bei der Initiale zur Himmel- vermerk trug, noch sind Aussagen zum Dekor der fahrtspredigt des Honorius Augustodunensis (Abb. Incipitseite möglich.51 Die Blattformen sind vielfäl- 49 Zum Begriff „historisiert“ siehe Anm. 25. 51 An weiteren Stellen, an denen man höherrangigen Dekor er- 50 https://manuscripta.at/?ID=32249, bzw. NOVAK, Hand- warten würde – etwa zur Pfingstpredigt (fol. 27v) – stehen schriften und Fragmente. nur einfache rote Lombarden. 367
Neben traditionellen For- men wie auf fol. 24r52 finden sich auch deutlich moderne- re Elemente, die Zajic zu ei- ner Datierung ins 2. Viertel des 13. Jahrhunderts führen. Eine sehr allgemeine Ein- ordnung „Niederösterreich/ Steiermark (?), um 1200– 1250“ trägt diesem unein- heitlichen Befund Rech- nung.53 CLi 105 überliefert Werke des (Pseudo-)Augus- tinus und ist auf Grund des frühen Besitzvermerks (fol. 1v) der ersten Phase der Bi- bliothek zuzuweisen54. Be- merkenswert ist das mit ei- nem Rahmen eingefasste Abb. 189 und 190 CLi 105, foll. 1r und 1v Niederösterreich/Steiermark (?), um 1200/40 Inhaltverzeichnis (fol. 1r – Abb. 189), dessen Palmet- ten reich gelappt sind. Die tig, mitunter sind sie muschelartig eingerollt. Ganz Initiale zu Textbeginn (fol. 1v – Abb. 190) ist eben- traditionell ist der Grund in mehreren Farben aus- falls mit brauner Tinte gezeichnet und der Grund gemalt, ein die Initiale umgebender Außengrund ist hellbeige und rot ausgemalt. Der Buchstabenkör- fehlt. Auch beim sekundären Dekor finden sich tra- per ist als Drache gestaltet. Eine stilistisch entspre- ditionelle Formen, wie der in einer (Halb-)Palmette endende Fortsatz auf fol. 75v bei der Predigt zum 52 Hinzuweisen ist auf die durchgängige Verwendung von e-cau- hl. Nikolaus zeigt. Freilich finden sich auch schon data. gebogte Begleitlinien, also Motive des frühen Pal- 53 Da vermutet wird, dass im Zuge der Gründung enge Bezie- hungen zu Göttweig bestanden (siehe z. B. in diesem Band mettenfleuronnée, zum Beispiel auf fol. 40v zur S. 28, 37, 46-52, 57f., 61, 70f., 113-116, 130-135), wurde der Translatio sancti Benedicti. So wie hier bei den kunst- dortige Bestand besonders gründlich auf Vergleichbares ge- historischen Elementen hat Andreas Zajic auch bei prüft. Das Ergebnis ergibt keine spezifischen Ähnlichkeiten. 54 https://manuscripta.at/?ID=32316. Vgl. NOVAK, Hand- den Schriftformen eine breite Streuung festgestellt. schriften und Fragmente. 368
her muss die Einordnung – Nieder- österreich/Steiermark (?), um 1200– 1240 sehr allgemein bleiben.56 In zahlreichen Einbänden – unter anderem in jenem des eben be- sprochenen CLi 105 – befanden sich Fragmente eines Psalters ehe die- se ausgelöst und zusammen verwahrt wurden.57 Die Schrift weist an den Beginn des 13. Jahrhunderts. Kunst- historisch relevant ist die Initiale zu Beginn von Psalm 26, deren Qualität freilich bescheiden ist (Abb. 192). Die schwarzen Konturen sind unsicher gezeichnet, die Ranken im Binnen- feld wirken beinahe wie eine Kinder- zeichnung. Die rote, grüne und graue Kolorierung verstärkt den Eindruck des unprofessionellen. Der Psalter verzichtet auf niederrangigen Dekor, etwa Fleuronnée-artige Begleitlinien, die unter Umständen Hinweise auf den Entstehungszusammenhang hät- ten geben können. Eine Entstehung im Augsburger Umfeld könnte über- Abb. 191 CLi 105, fol. 29v – Niederösterreich/Steiermark (?), um 1200/40 legt werden, weil Elisabeth Klemm auf die unglaublich dichte (und oft chende Initiale findet sich auch auf fol. 29v (Abb. index.php), wo die Schreibstube von Heiligenkreuz (und an- derer österreichischer Zisterzienserstifte) aufgearbeitet wird. 191). Stilistische Parallelen zu anderen Initialen aus 56 SIMADER (siehe oben) datiert „um 1200/1220“, Andreas Mariazell haben sich bisher nicht gefunden,55 da- ZAJIC hingegen auf Grund paläographischer Beobachtun- gen ins 2. Viertel des 13. Jahrhundert. 55 Die Zuweisung von Friedrich SIMADER an das Skriptori- 57 Fragmente befanden sich in CLi 24, 38, 39, 68, 94, 105, um von Heiligenkreuz (https://homepage.univie.ac.at/Mar- 124 und 141. Im Detail siehe in diesem Band bei NOVAK, tina.Pippal/Lilienfeld.htm) wurden von Alois HAIDIN- Schriftlichkeit, 351, Anm. 27, dem ich auch den Hinweis auf GER und Franz LACKNER nicht übernommen: nicht diese Gruppe verdanke. Das Blatt mit Initiale wurde aus CLi erwähnt bei scriptoria.at (https://www.scriptoria.at/cgi-bin/ 105 ausgelöst. 369
Zeit des Bibliotheksaufbaus entstanden und auch aus dem großen kulturellen Umfeld, das diesen prägte. Woher genau sie kamen, muss freilich weit- gehend offenbleiben. Zu Codices, die aus ganz ande- ren zeitlichen bzw. kulturellen Kontexten nach Ma- riazell gelangten, siehe Abschnitt 2f. 2b1. Langstielige Blattformen Der ersten Phase der Bibliothek gehört der be- reits behandelte CLi 162 (Gregor der Große, Mo ralia in Job) an. Die achtzeilige Rankeninitiale S(er- vata) (fol. 1r – Abb. 193) ist eher flüchtig mit roter Tinte gezeichnet, das Binnenfeld ist grün ausge- malt. Langstielige Blattformen dominieren gegen- über der Rankenstruktur. Die Blattformen sind gut mit der Initiale auf fol. 1r von CLi 89 vergleichbar (Abb. 194)59, einem weiteren Codex, der einen frü- hen Besitzvermerk trägt.60 Die weiteren Rankenin- itialen dieser Handschrift (foll. 2v, 21r, 39v) wirken nicht ganz einheitlich, werden jedoch wohl von der- selben Hand stammen. Eine Initiale mit vergleich- baren Blattformen findet sich auch in CLi 94 auf fol. 26v, die zusammen mit den weiteren Initialen dieses Codex in Abschnitt 2b2 besprochen wird. Abb. 192 Psalter-Fragment aus CLi 105 ausgelöst, Psalm 26 Rankeninitiale – Umfeld Augsburg (?), Anfang 13. Jh. Verstörend ist, dass sich sehr ähnliche Blatt- formen in einem aus Lilienfeld stammenden Codex (CLi 228) finden. Und zwar nicht zu Beginn sondern sehr bescheidene) dortige Produktion in der ersten bei den Buchstaben G bis N dieses alphabethisch ge- Hälfte des 13. Jahrhunderts hingewiesen hat und ei- nige allgemein vergleichbare Initialen vorstellt.58 Bei diesen drei Stücken wird es sich um Wer- 59 https://manuscripta.at/?ID=32300. Siehe den Katalog der Handschriften in NOVAK, Handschriften und Fragmente. ke handeln, die von außen zum Aufbau der Biblio- 60 Überliefert ist die Vox de propitiatorio des Arnold von Prü- thek zur Verfügung gestellt wurden. Sie sind in der fening (VL², Bd. 1, Sp. 480-483 [Hans D. OPPEL]). Wie der inhaltliche Zusammenhang mit dem am Beginn unvollstän- 58 KLEMM, Handschriften, Kat.-Nr. 151 und 155-160 (Abb. digen Anfang von CLi 134 (siehe S. 360-365, 378) ist, konnte 440, 445, 448). hier nicht untersucht werden. 370
Abb. 194 CLi 89, fol. 1r Mariazell, um 1220/40 Abb. 193 CLi 162, fol. 1r – Mariazell, um 1220/40 ordneten Werks.61 Diese Initialen sind von einer de- korativen Grundhaltung bestimmt (Abb. 195), Flä- chen sind oft mit Streumusterdekor gefüllt. Vieles wirkt modern, vor allem die rot/blau gespaltenen Buchstabenkörper, die ohne die entsprechenden Vor- lagen aus dem Fleuronnée so nicht vorstellbar sind. Bei der Besprechung der Hauptgruppe dieses Lilien- felder Codex (siehe nächster Abschnitt S. 375f., die ebenfalls mit Mariazell in Verbindung steht, wird der Vorschlag gemacht, dass ein Künstler aus dem klei- nen Benediktinerstift, wo die Tradition bald abbricht, Abb. 195 CLi 228, fol. 69r Lilienfeld, Mitte 13. Jh. 61 CLi 228, foll. 69r (Abb. 195), 75v, 79v, 89r, 90r, 98v, 110v. 371
Die reich gelappten Halbpalmetten und der oft spiegelsymme- trische Aufbau der Ranken haben in Hei- ligenkreuz und Lilien- feld Entsprechungen.63 Grundlage dieser Stil- schicht ist demnach kein im Mariazeller K losterskriptorium entwickelter Stil, son- dern ein Phänomen der Jahre 1220/40, das sich nicht auf ein ein- zelnes Stift eingrenzen lässt. Aus dem Ma- Abb. 196 CLi 124, fol. 30r Abb. 197 CLi 109, fol. 27r riazeller Bestand sind Mariazell, um 1220/40 Mariazell, um 1220/40 neben CLi 124 folgen- de Handschriften zu nennen: in das benachbarte Zisterzienserstift übersiedelt sein CLi 109 weist einen originalen Besitzvermerk könnte. Ähnliche Motive treten auch bei der in Ab- auf (fol. 1r)64, die fünf großen Rankeninitialen wir- schnitt 2c behandelten, für Mariazell typischen Un- ken auf den ersten Eindruck sehr unterschiedlich. tergruppe auf, bei der die Motive gleichsam verein- Offenbar kam es zu einer nachträglichen Überar- zelt, wie herausvergrößert auftreten. beitung, aber auch der Grundbestand war nicht einheitlich: Der traditionellsten Stufe gehören die 2b2. Rankeninitialen mit reich gelappten Blättchen/Halbpalmetten 63 Vgl. ROLAND, Buchschmuck 18f. (z. B. CLi 54, fol. 1r, und Ausgangspunkt dieser Gruppe ist der bereits wegen CLi 101). Vergleichbares findet sich auch im Skriptorium von Heiligenkreuz. Dort ist auch der Ursprung dieser Grup- seiner historisierten Initiale genannte CLi 124 (fol. pe zu vermuten. Dazu siehe FINGERNAGEL/ROLAND, 1r) und die Rankeninitiale auf fol. 30r (Abb. 196).62 MeSch I, Kat. 1 (Andreas FINGERNAGEL) zu Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 2594, bes. 5. 62 Zur historisierten Initiale siehe Abschnitt 2a und zu weiteren 64 https://manuscripta.at/?ID=32320. Vgl. NOVAK, Hand- Initialen siehe Abschnitt 2c. schriften und Fragmente. 372
beiden etwas kleineren In- itialen auf foll. 27r und 99r an, die als reine rote Feder- zeichnungen ausgeführt sind und kein Initialfeld aufweisen. Die Ranken im Binnenfeld sind dicht, die Blättchen haben eine klein- teilig gebogte Kontur. Bei der Initiale auf fol. 27r (Abb. 197) insinuiert die (doppelte!) Cauda des Q ei- nen Drachenkörper, doch geht der zu erwartende Kopf im Rankendickicht des Binnenfeldes unter. Die Initiale fol. 1r steht, wie in dieser Gruppe üb- lich, vor einem mehrfarbi- Abb. 198, 199 CLi 109, foll. 1r und 43r, Mariazell, um 1220/40 fol. 43r spätere grüne Kolorierung des Buchstabenkörpers und der Ranken gen getreppten Initialfeld, auch das Binnenfeld ist von grünen, hellbeigen und roten Flächen hinterblendet Sie entspricht dem Grundmuster und weist keine (Abb. 198). Diese Initiale steht gleichsam als Ver- Besonderheiten auf. treter des Standards dieser Gruppe innerhalb des Bei CLi 94 ist66, wie schon bei einigen ande- Skriptoriums von Mariazell. Die Buchstabenkör- ren Codices beobachtet, der Beginn in Verlust gera- per und Ranken der Initialen auf fol. 1v (ohne Ini- ten. Über die Gestaltung der Incipitseite sind daher tialfeld) und fol. 43r (mit rot/hellbeigem Initialfeld keine Aussagen möglich und auch, ob ein Besitzver- – Abb. 199) wurden in einem zweiten Schritt grün merk vorhanden war, der den Codex der ersten Pha- übermalt und gewinnen dadurch ein fremdartiges se der Bibliothek zuordnen würde, wissen wir nicht Erscheinungsbild. Bescheid. Die Rankeninitialen stammen von unter- Bei CLi 77 ist die I-Initiale zu Textbeginn schiedlichen Händen. Die Initiale auf fol. 26v ver- (fol. 1v – Abb. 200) die einzige, die hier relevant ist.65 thodoxen, formal aber ganz eindeutig dem Fleuronnée zuzu- 65 https://manuscripta.at/?ID=32288. Vgl. NOVAK, Hand- ordnenden Initiale eingeleitet wird, wurde erst im 14. Jahr- schriften und Fragmente. CLi 77 wurde schon wegen der hundert angefügt. Dracheninitiale (fol. 2r, siehe S. 358-360) erwähnt. Die fol. 66 https://manuscripta.at/?ID=32305. Vgl. NOVAK, Hand- 121r beginnende die Passio sancti Blasii, die von einer unor- schriften und Fragmente. 373
besetzte Initiale auf fol. 2r über ein der Kontur angepasstes Ini- tialfeld. CLi 94 ist aber auch in Bezug auf die Schrift ein Bei- spiel des Umbruchs. Während zu Beginn noch traditionelle For- men (langes Schluss-s, keine Bo- genverbindungen) vorkommen, wandelt sich der Charakter zum Gotischen, doppelte Schaftbre- chungen, Bogenverbindungen und rundes Schluss-s werden zur Regel. Die erwähnten Initia- len gehören jedoch noch nicht in diese paläographisch entwickelte Phase. Anzuschließen ist auch CLi 9167. Der Text des Alanus de Insulis beginnt ungewöhnlicher- weise auf einer Versoseite (fol. Abb. 200 CLi 77, fol. 1v Abb. 201 CLi 94, fol. 64v Mariazell, um 1220/40 1v – Abb. 202) mit einer großen Rankeninitiale vor rotem und grünem reich getreppt der Kon- fügt über langstielige Blattformen, wie wir sie be- tur der Initiale folgendem Initialfeld.68 reits kennengelernt haben (siehe Abschnitt 2b1). Die kleinteilig gelappten Blättchen treten Freilich ist diese Initiale sicher von einer anderen auch im CLi 167 auf.69 Die sehr große Initiale auf Hand ausgeführt als jene in CLi 89 und 162 (siehe 67 https://manuscripta.at/?ID=32302. Vgl. NOVAK, Hand- oben). Nicht nur der Duktus sondern auch das qua- schriften und Fragmente. dratische Initialfeld, das den Buchstaben umgibt, 68 Die zweite, deutlich kleinere Rankeninitiale (fol. 13v) ent- unterscheidet die Initiale. Dem hier thematisierten zieht sich wegen ihrer bescheidenen Qualität weitgehend der Beurteilung. mit kleinteilig gelappten Blättchen besetzten Typus 69 https://manuscripta.at/?ID=32375. Vgl. NOVAK, Hand- ist die Rankeninitiale auf fol. 64v zuzuordnen (Abb. schriften und Fragmente. Zu einem aus CLi 167 abgelösten 201). Während diese Initiale noch ohne Initialfeld Gradualfragment siehe S. 383f, bzw. in diesem Band NO- VAK, Liturgie, S. 183, 187-189, bzw. NOVAK, Handschrif- auskommt, verfügt die mit identischen Blättchen ten und Fragmente. 374
der Incipitseite (fol. 1r – Abb. 203) folgt als einzige dem Mainstream der hier behandelten Grup- pe. Bei den folgen- den Initialen70 ist die Struktur zumeist kleinteiliger, die De- tailformen sind ver- spielter. Die Buchsta- benkörper werden bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst und wer- den Teil des Ranken- geflechts des Binnen- feldes. Ein Leitmotiv sind die spiralig ge- drehten Kontur- Abb. 202 CLi 91, fol. 1v Abb. 203 CLi 167, fol. 1r Mariazell, um 1220/40 Mariazell, um 1220/40 bänder der Initialen (Abb. 204). Diese ei- gene Ästhetik wird ab fol. 81v besonders augenfällig, Die farbliche Differenzierung der gebogten Kon- denn nun verzichtet der Künstler auf die kleintei- turlinien, die Auflösungstendenzen der Buchsta- lig gebogte Blattkontur (Abb. 206),71 die bisher oft benkörper und die kleinteilig wirkende Struktur in abweichender Tinte, also gesondert, eingetragen sind Elemente, die übereinstimmen. Diese Über- wurde. einstimmungen haben wohl auch Haidinger und Diese Sonderform hat eine Parallele in den Lackner dazu veranlasst, CLi 167 dem Lilienfelder Initialen des aus Lilienfeld stammenden CLi 228.72 Skriptorium zuzuweisen.73 Dass tatsächlich dersel- be Künstler am Werk war, kann ein Detail wahr- 70 CLi 167, foll. 21r, 49v, 81v, 86v und 95v. 71 CLi 167, foll. 81v, 86v, 89r, 98r, 100v, 127r und 132r. Einzig scheinlich machen, das im CLi 167 nur auf fol. 89r die Initiale auf fol. 95v zeigt die gewohnte kleinteilig gelappte vorkommt: Hier werden die beiden Konturbänder Blattkontur. Die skurril abstrahierte zoomorphe Initiale auf des Buchstabenkörpers von einer durchaus räumlich fol. 91r (Abb. 205) entzieht sich der Einordnung, stammt aber zweifellos von derselben Hand. wirkenden Schnalle umschlossen, die im CLi 228 zu 72 ROLAND, Buchschmuck 19f., 24 (Kat. 1/10). Die Initialen von CLi 228 stammen sicher nicht alle von einer Hand; hier relevant z. B. CLi 228, foll. 25v, 29v, 51r, 61r, 115v. 73 HAIDINGER/LACKNER, Handschriftenliste Version 2. 375
Abb. 204-206 Abb. 207 CLi 167, foll. 49v, 91r und 127r CLi 228, fol. 13r, Mariazell, um 1220/40 Lilienfeld, Mitte 13. Jh. einem Grundmotiv gehört (Abb. 207).74 Im Lilien- Abschließend muss noch eine streng spiegel- felder Bestand kommt dieser Zeichner noch in der symmetrisch aufgebaute Rankeninitiale vor quadra- einzigen Initiale (fol. 82r) der zweiten Handschrif- tischem rotem Initialfeld erwähnt werden, die auf teneinheit von CLi 96 vor. einem als Vorsatz in CLi 121 eingebundenen Blatt Ob jedoch die Entwicklung tatsächlich, wie (fol. Iv) steht und dem Allerheiligenfest zugeordnet zu erwarten, von Lilienfeld nach Mariazell verlief, ist.76 Aus dem grünen bzw. blauen Grund des Bin- ist keineswegs sicher. Die Schrift wirkt in den Lili- nenfeldes sind zwei vogelartige, einander den Rü- enfelder Beispielen noch moderner, noch einheitli- cken zuwendende Drachen ausgespart (Abb. 208).77 cher gotisch als im CLi 167.75 Es wäre also vorstell- bar, dass das Ende der Tradition in Mariazell mit 76 Das fragmentierte Buch diente der Liturgie. Es sind Offizi- einem Exodus in Richtung Lilienfeld zu tun hat. en des Stundengebets zu Lukas, zu Allerheiligen, zu Martin, Othmar und zum Apostel Andreas überliefert (Der hl. Kolo- man ist nicht erwähnt), sowie Gebete zur Messe für die Zeit nach Ostern. 74 CLi 228, z. B. foll. 13r, 42v, 140r, 162v, 178r. 77 Eine kleinere Initiale nur mit Begleitlinien mit Ausbogungen 75 ROLAND, Buchschmuck 24 (Kat. 1/10) datiert daher auch und grün ausgemalten Binnenfeldern zum hl. Andreas auf der „Mitte 13. Jh.“ Rückseite des Fragments (fol. Ir). Zugehörig auch das Nach- 376
Abb. 208, 209 Liturgische Fragmente: Vor- und Nachsatzblatt von Abb. 210, 211 CLi 124, foll. 55v und 89v CLi 121, Initialen zu Allerheiligen und zum Weißen Sonntag Initialen mit vereinzelten Blattmotiven Mariazell, nicht vor 1235 Mariazell, um 1220/40 Die schlanken Körperformen haben gewisse, freilich den sich ab fol. 55v (Abb. 210, 211) sehr spezifische nicht wirklich spezifische Gemeinsamkeiten mit der Motive.78 Es handelt sich um Palmettenfragmente, aus einem Drachen geformten S-Initiale auf fol. 91r die zwar aus dem Formenrepertoire der Ranken in CLi 167 (Abb. 205). Die sehr stark schaftbetonte initialen bekannt sind, nun aber gleichsam heraus- Schrift hat Parallelen in einem Bibelfragment (siehe vergrößert werden und so präsentiert, fleischig und S. 382). Als Terminus post quem für das Vorsatz- dynamisch wirken. Es werden Buchstabenkörper, blatt von CLi 121 steht 1235 fest, da ein Gebet zum die ganz vom Ornament getrennt für sich stehen Offizium der in diesem Jahr heiliggesprochenen hl. (und daher das Lesen erleichtern), und Kombinati- Elisabeth enthalten ist. onen großer Halbpalmetten nebeneinandergestellt. So ungewöhnlich die Initialen auf den ersten 2c. Initialen mit vereinzelten Blattmotiven – eine Blick scheinen, es gibt im Mariazeller Bestand un- Mariazeller Sonderform mittelbare Entsprechungen: Bei CLi 124, dem Codex, mit dem wir unsere Be- trachtungen begonnen haben (siehe Anm. 27), fin- 78 CLi 124, foll. 55v, 70r, 89v (Abb. 211), und 100v. – Zur histo- satzblatt (fol. I*). mit einer ganz unspezifischen Rankeninitiale risierten Initiale siehe Abschnitt 2a, zu den Rankeninitialen zum Sonntag nach dem Weißen Sonntag (Abb. 209). Abschnitt 2b2. 377
Sie können auch lesen