BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 102-1 vom 3. Oktober 2018

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BULLETIN
                               DER
                         BUNDESREGIERUNG
                          Nr. 102-1 vom 3. Oktober 2018

Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages,
Dr. Wolfgang Schäuble,

beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2018
am 3. Oktober 2018 in Berlin:

28 Jahre sind in der Geschichte einer Nation keine lange Zeit – im Leben von Men-
schen schon. Nicht nur die Teilung, auch die Einheitsjahre haben Spuren hinterlassen,
im Privaten und beruflich. Dazu gehören erfüllte Wünsche und realisierte Träume ge-
nauso wie erlittene Enttäuschungen – durch den Verlust von Arbeit, von Heimat, von
Vertrauen, in sich und in andere. Aber doch vor allem: Viele neue Lebenswege, gelun-
gene und verschlungene. Die Perspektive ist verschieden, in Ost und West, bei jung
oder alt, in der Stadt oder in ländlichen Regionen, von Optimisten und Pessimisten.
Jede Erfahrung hat ihren Wert. Und aus all diesen Geschichten setzt sich die Deutsche
Einheit zusammen. Ein vielfältiges Bild – facettenreich und widersprüchlich.

Mit dem 3. Oktober 1990 vollendeten wir die staatliche Einheit. Einigkeit darüber, was
uns verbindet: Das müssen wir immer wieder aufs Neue herstellen. Wissen wir es
heute?

Der 3. Oktober ist ein Anlass zum Feiern: das Glück der Einheit, unsere Freiheit, den
Rechtsstaat – die Grundlagen unserer Demokratie. Und uns daran zu erinnern: Nichts
davon ist voraussetzungslos, nichts selbstverständlich.

Am 3. Oktober wurde in Deutschland bereits früher Geschichte geschrieben – Demo-
kratiegeschichte. Heute vor 100 Jahren, am 3. Oktober 1918, wurde unter Max von
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Baden eine Regierung gebildet, die nicht weiter allein dem Kaiser verantwortlich, son-
dern auf das Vertrauen der Reichstagsmehrheit angewiesen war, auf die Volksvertre-
tung. Zum Feiern war damals niemandem zumute, im vierten Jahr eines sinnlosen
Krieges. Und der Erfolg der Parlamentarier war teuer erkauft: Sie mussten alleine die
Verantwortung für die militärische Niederlage übernehmen – eine verhängnisvolle
Bürde.

Der 3. Oktober 1918 ist kaum noch in Erinnerung, weil er kurz darauf von der Ge-
schichte überholt wurde, als Philipp Scheidemann am 9. November vom Fenster des
Reichstages die Republik ausrief. Ein deutscher Schicksalstag und der Beginn einer
neuen Epoche. Geprägt vom demokratischen Aufbruch – überall in Europa, auch in
den internationalen Beziehungen. Einige unserer europäischen Partner erinnern 2018
an den 100. Jahrestag ihrer nationalen Unabhängigkeit und politischen Freiheit, da-
runter die Polen. Ihr Beitrag zur Friedlichen Revolution 1989 und zum Fall des Eiser-
nen Vorhangs bleibt unvergessen, wie der all der anderen ost- und mittelosteuropäi-
schen Nachbarn. Auch deshalb dürfen wir bei allen Meinungsunterschieden die größte
Errungenschaft der europäischen Einigung nie gefährden: die Überwindung der Tei-
lung Europas!

Allerdings gab es bereits Mitte der dreißiger Jahre die meisten der jungen Demokratien
nicht mehr. Vielerorts folgte der Absturz in autoritäre Regime, in Diktaturen – nicht nur
in Deutschland. In der Rückschau sehen wir klarer, was damals hätte sein können,
sein sollen. Vor allem wissen wir, was wurde – mit entsetzlichen Folgen.

Das alles ist heute Geschichte, aber es ist unsere Geschichte. Ein schicksalhaftes
Band, das uns als Nation verbindet. Ein Teil unserer Identität. Unser Land wurde, was
es heute ist, weil es den Mut fand, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Das war nie
bequem. Aber wir hatten den Willen und die Kraft dazu. Das schuf international Ver-
trauen und ermöglichte uns das Glück der „zweiten Chance“. So hat der Historiker Fritz
Stern das Geschenk der Wiedervereinigung bezeichnet, der als Zwölfjähriger wegen
seiner jüdischen Abstammung aus Breslau fliehen musste. Eine „zweite Chance“! Ihr
sind wir verpflichtet. Deshalb bleiben wir sensibel gegenüber jedem Versuch, sich aus
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der historischen Verantwortung zu stehlen. Oder die freiheitliche Demokratie in Frage
zu stellen: Sie ist fragil und anspruchsvoll. Aber auf ihr gründet der Erfolg unseres
Landes, um den uns in der Welt so viele beneiden. Das ist kein Grund zur Selbstzu-
friedenheit. Denn nichts ist gesichert – den Willen, diese Erfolgsgeschichte fortzu-
schreiben, müssen wir stets neu aufbringen. Gemeinsam.

Freiheitliche Demokratie: Das bedeutet für jeden von uns Freiheit zur Mitbestimmung
und bei den unveräußerlichen Grundrechten Freiheit von Fremdbestimmung! Sie grün-
det auf Gewaltverzicht, auf Meinungsvielfalt, Toleranz, gegenseitigem Respekt. Die
Mehrheit regiert. Aber der Mehrheitswille ist begrenzt durch die Prinzipien von Gewal-
tenteilung und Minderheitenschutz.

Das ist der Kern dessen, was uns in der westlichen Staatengemeinschaft verbindet,
verbinden sollte. Denn wir spüren, dass alte Gewissheiten wanken. Als hätten wir den
Blick für die Verbindung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verloren. Alle Staats-
gewalt geht vom Volke aus – die Gesetzgebung und ihre Anwendung, die Rechtspre-
chung. Das ist ein sensibles Verhältnis. Beide muss das Volk nachvollziehen können.
Recht und Gerechtigkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Das haben im inneren
Einigungsprozess viele schmerzhaft erfahren, bei der Klärung von Eigentumsfragen,
bei der Aufarbeitung begangenen Unrechts, beim Ausgleich erlittenen Leids.

Und auch heute wird unser Rechtsempfinden immer wieder auf die Probe gestellt. Ge-
fühle sind aber nicht justiziabel. Das Recht schützt den Schwächeren. Und der Rechts-
staat hat die Pflicht, das durchzusetzen. Das verlangt Respekt vor seinen Institutionen
und Achtung vor dem staatlichen Gewaltmonopol. Wer immer daran rüttelt, legt Hand
an unsere Ordnung. Mehrheit sichert noch keine Freiheit. Das sieht man überall dort,
wo die Demokratie gegen den Rechtsstaat ausgespielt wird – auf Kosten der Rechte,
die den Einzelnen vor der Mehrheit schützen und vor staatlicher Willkür. Dann heißt
es: „Das Wohl der Nation steht über dem Recht.“
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Auch in Deutschland begegnet uns die populistische Anmaßung, „das“ Volk in Stellung
zu bringen: gegen politische Gegner, gegen vermeintliche und tatsächliche Minderhei-
ten, gegen die vom Volk Gewählten. Aber niemand hat das Recht zu behaupten, er
allein vertrete „das“ Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit wider-
streitender Kräfte. So etwas wie ein Volkswille entsteht erst in der Debatte – und nur
durch Mehrheiten, die sich ändern können.

Demokratische Reife beweist deshalb eine Nation nur, wenn sie sich ihrer Fundamente
sicher ist, die Vielheit annimmt und trotzdem zu gemeinsamen Handeln kommt – durch
Kompromiss und für alle tragbare Entscheidungen, die allerdings nie auf Ewigkeit an-
gelegt sind.

Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Mei-
nungen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu
erklären: Das ist der gedankliche Schlüssel, um ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaf-
fen. Ohne den Willen, einander zuzuhören, ohne den Versuch, den anderen und seine
Argumente zu verstehen, geht es nicht. Das wird schwieriger in einer Gesellschaft, die
sich immer weiter individualisiert. In der das Streben nach dem Eigenem, dem Beson-
deren jedes Interesse für das Allgemeine übersteigt. Die rasante Entwicklung digitaler
Kommunikationsmittel verleiht uns neue Freiheiten. Wir sind mit der ganzen Welt ver-
bunden – ohne oft noch unser Gegenüber wahrzunehmen. Wir erleben es an Bahnhö-
fen, im Fahrstuhl, auch am Esstisch bis in die Familien hinein – täglich. Unter der un-
endlichen Fülle von Möglichkeiten schwindet die Verbindlichkeit. Freiheit kann über-
fordern, wir neigen zu Übertreibungen. Es braucht deshalb Selbstbeschränkung, Maß
und Mitte. Der Mensch ist auf Bindungen angewiesen. Er lebt in gesellschaftlichen
Beziehungen. Die Freiheit des Einen begrenzt die des Anderen.

Unsere Ordnung baut auf dem Versprechen, allen die gleiche soziale und politische
Teilhabe zu gewähren. Deshalb ist die Sorge vor zunehmender gesellschaftlicher
Spaltung so ernst. Wir reden von sozialen Rissen und von Lebenswelten, die kulturell
kaum mehr zueinander finden. Streit ist notwendig. Der demokratische Zusammenhalt
beweist sich gerade im Konflikt. Aber Gefahr entsteht da, wo wir uns nichts mehr zu
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sagen haben. Demokratische Willensbildung basiert auf Wettbewerb, auf Austausch
und Verständigung. Wo das nicht mehr stattfindet, wird die Legitimation von Politik
infrage gestellt.

Unsere Gesellschaft ist heute bunter, unübersichtlicher. Das macht sie konfliktreicher
und Regeln noch wichtiger – vor allem die Durchsetzung dieser Regeln! Vielfalt ist
nicht nur ein Wort, um die gesellschaftliche Realität zu benennen. Sie ist ein Wert, der
Neugier fordert, Interesse am anderen, Austausch – auch um ihr das Bedrohliche zu
nehmen, das manche dabei empfinden. Sich für die Herkunft des anderen zu interes-
sieren, heißt nicht, ihn darauf zu reduzieren. Aber die Herkunft darf nicht dazu miss-
braucht werden, um herabzusetzen und auszugrenzen. Da müssen wir entschieden
einschreiten, mit rechtsstaatlicher Härte, wenn Hass geschürt und Aggression auf die
Straße getragen wird – von wem auch immer.

Wo Vielfalt herrscht, wird die Frage nach dem Verbindenden wichtiger. Wie wir mitei-
nander leben wollen und mit anderen umgehen: Das ist auch eine Frage der Erzie-
hung. Im Familiären erleben wir das Glück menschlicher Bindungen – und dass die
Wünsche und Belange der anderen auch belastend sein können.

Gemeinsinn lässt sich staatlich nicht erzwingen. Die Politik kann aber Anreize schaffen
– und sie sollte sich der Frage stellen: Wie erhalten und wie schaffen wir neue Orte,
Zeit und Gelegenheiten, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Le-
benswelten begegnen können? Wo sie miteinander kooperieren müssen. Denn es
braucht Gemeinsinn. Und es braucht Verständnis für die wachsende Komplexität, un-
serer eigenen Gesellschaft und für die Komplexität der Welt. In ihr hat sich das westli-
che, unser Gesellschaftsmodell zu bewähren. Andere drängen in der Welt nach vorne,
wollen den Ton angeben. Sie versprechen Wachstum und Wohlstand, aber ohne Mit-
bestimmung und ohne den Schutz individueller Freiheiten.

Unsere Ordnung richtet sich am einzelnen Menschen aus, an seiner Freiheit – auch
seiner Unvollkommenheit – und seiner Würde. Das ist es, was uns verbindet. Die of-
fene Gesellschaft bewährt sich in ihrer Fähigkeit, Fehler zu erkennen, sie zuzugeben
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und zu korrigieren, um damit auf Veränderungen zu reagieren. Das haben wir vielfach
bewiesen. Wir haben deshalb Grund zum Selbstvertrauen. Und wir können diese Welt
wirkungsvoll mitgestalten, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit bewahren – wenn wir es
gemeinsam mit anderen tun.

Deshalb sind wir Deutschen auf ein handlungsfähiges Europa angewiesen – so wie
die Europäische Union auf ein starkes Deutschland. Die Nation kann die Vielschichtig-
keit der Welt auf einen überschaubaren Rahmen reduzieren. Sie ist historisch gewach-
sen, wir fühlen uns ihr zugehörig. Ein vertrauter Zufluchtsort vor den alltäglich auf uns
einstürzenden Veränderungen der Globalisierung. Darauf können wir nicht verzichten
und wollen es auch nicht. Die Begegnung mit der übrigen Welt bleibt uns dennoch
nicht erspart.

Der Wohlstand, den wir mit unserer Leistungskraft und unserem Leistungswillen ge-
schaffen haben, beruht auf dem freien Welthandel. Wir profitieren von der globalen
Entwicklung – auch weil wir uns besser als andere auf die Anforderungen eingestellt
haben. Aber die Beschleunigung des Wandels stresst. In der Globalisierung machen
wir alle Erfahrungen, wie sie für viele Ostdeutsche schon nach der Wende alltäglich
waren. Das schafft Unbehagen.

Die Welt ist uns zudem politisch nahe gerückt, mit ihren Kriegen und Konflikten, dem
Terror und den Folgen des Klimawandels. Mit der Zuwanderung verbinden sich wach-
sende Sorgen über ihre Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Uns
die Welt vom Halse halten, das können wir in Zeiten der Globalisierung nicht.

Wir müssen stärker Verantwortung übernehmen. Wir müssen das, was wir an Stabilität
benötigen, aus unserem Wohlstand heraus den Regionen, die Europa umgeben, ver-
mitteln. Gerade weil es uns so viel besser geht, müssen wir uns mehr engagieren,
wirksam helfen, mehr Perspektiven ermöglichen. Nur so können wir dafür arbeiten,
dass es uns in der Zukunft weiter gut geht.
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Politik muss komplizierte Zusammenhänge verständlich machen – ohne einfache Lö-
sungen vorzugeben, wo es keine gibt. Und sie muss der Versuchung zu bloßen Sym-
boldebatten widerstehen. Sie werden der Fülle an Fragen nicht gerecht, die uns auch
umtreiben: Wie sichern wir die Rente in einer alternden Gesellschaft? Wo finde ich
noch eine bezahlbare Wohnung? Wer pflegt heute die Angehörigen und zukünftig auch
mich selbst? Welche Chancen haben meine Kinder und Enkel in der digitalisierten
Welt?

Sozialen Fliehkräften können wir politisch eher begegnen als der kulturell begründeten
Polarisierung. Deshalb sollten wir nicht jedes Sachthema zur Wertefrage stilisieren.
Gewiss: Im demokratischen Streit ist die Auseinandersetzung zwischen Menschen mit
verschiedenen Wertvorstellungen normal. Jeder muss sich deshalb gefallen lassen,
dass seine Argumente immer auch am moralischen Anspruch gemessen werden. Aber
die schnelle Verurteilung darf nicht die sachliche Diskussion verhindern.

Gesinnungsethik und Verantwortungsethik: Max Weber hat vor 100 Jahren Politik in
diesem Spannungsverhältnis verortet. Ist das ethisch reine Motiv wichtiger als das Re-
sultat des Handelns oder umgekehrt? Unangenehme Fragen. Wir leben täglich damit.
Die Humanität verlangt von uns, Menschen zu helfen. Das ist christliches Abendland.
Das verbindet uns. Es ist der Kern des Sozialstaatsprinzips. Das gilt für Bürger in per-
sönlichen Notlagen. Und es gilt für Menschen, die bei uns Schutz suchen. Unsere
Möglichkeiten sind aber begrenzt.

Weil wir das Recht auf Asyl wahren wollen, müssen wir Migranten, die aus anderen
Motiven zu uns kommen, sagen: Das geht nur soweit, wie es für die gesellschaftliche
Stabilität zu verantworten ist – und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes notwen-
dig. Wir müssen Menschen vor dem Ertrinken retten – und wollen doch gleichzeitig
den kriminellen Menschenschmuggel über das Mittelmeer unterbinden. Wir geraten
ständig in ein Dilemma. Das müssen wir als Gesellschaft aushalten – und jeder von
uns einen inneren Kompromiss finden, um Wirklichkeit und Ideal zusammenzubringen.
Nur so erhalten wir uns politische Gestaltungsfähigkeit.
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Das ist keine Anleitung zum Zynismus und keine Lizenz für unmoralisches Handeln.
Im Gegenteil: Ohne Haltung geht es nicht, einen klaren Standpunkt, an dem wir uns
orientieren und unser Handeln ausrichten. Aber wir sollten auch wieder lernen, mit dem
Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen. So ist der Mensch, so ist die
menschliche Gesellschaft. Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur. Es braucht
mehr Gelassenheit.

Politik muss nicht immer schnelle, vor allem eindeutige Antworten haben. Sie sollte
ehrlich eingestehen, dass sie nicht alle Widersprüche auflösen kann, um unerfüllbaren
Erwartungen vorzubauen, aus denen Enttäuschung wächst. Das ist aber kein Freibrief
dafür, nichts zu tun.

Wir sind es gewohnt, unsere Gegenwart als Krise zu beschreiben. Das ist nicht falsch.
Die Erfahrung lehrt ja, dass wir uns in Krisen eher bewegen. Aber statt nur darüber zu
reden, was es abzuwehren gilt, was wir verlieren könnten, sollten wir auch auf Gestal-
tungschancen blicken. Darauf, was wir erreichen wollen! Statt das Unbehagen an der
Moderne zu pflegen, sollten wir unseren Horizont erweitern. So lässt sich Zukunft ge-
stalten. Sie ist offen, unvorhersehbar. Wir wissen nicht, was kommt – die Bürgerinnen
und Bürger, die 1989 auf die Straße gingen, wussten es auch nicht. Niemand hat ernst-
haft vorausgesehen, dass am 9. November die Mauer fällt. Und wer hätte in dieser
Nacht ahnen können, dass es gelingt, binnen eines Jahres die staatliche Einheit zu
erreichen? Aber die Chance dazu, die haben wir Deutschen ergriffen!

Sind wir uns eigentlich unseres Glücks bewusst? Niemals in unserer Geschichte ha-
ben wir Deutsche über eine so lange Zeit in Frieden, Freiheit und – zumindest statis-
tisch – in wachsendem Wohlstand gelebt. Und welche Schlüsse ziehen wir daraus?
Obwohl es unserem Land gegenwärtig objektiv so gut geht wie nie zuvor und die meis-
ten Menschen dies auch so sehen, beherrscht viele die Angst, unseren Kindern und
Enkeln werde es schlechter gehen, dominiert Zukunftspessimismus. Der ökonomische
Erfolg verleiht kein Selbstbewusstsein, sondern scheint eher Abstiegs- und Verlust-
ängste zu provozieren. Es wird von einer Sehnsucht nach permanenter Gegenwart
gesprochen – weil das, was kommt, nur noch schlimmer werden könne.
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Dieses Misstrauen in die Zukunft ist ein Mangel an Vertrauen in unser Handlungsver-
mögen. Dabei sind wir in der Lage, gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen -
erfolgreich. Wir sprechen nur zu wenig darüber und sind erstaunt, wenn uns Wissen-
schaftler erläutern, dass die absolute Armut in der Welt auf dem Rückzug ist und viele
Krankheiten heute ausgerottet sind. Dass die Lebenserwartung, der Bildungsgrad und
der Lebensstandard wachsen.

Keine dieser Entwicklungen ist über uns gekommen, nichts geschieht einfach so. Alles
verdankt sich Entscheidungen, die Menschen getroffen haben. Fortschrittsoptimismus
blendet nicht aus, dass es Veränderungsbedarf gibt. Aber er versagt sich dem lähmen-
den Gefühl, nichts bewirken zu können. Diese Zuversicht braucht es. Die Fähigkeit, an
das Gelingen zu glauben. Den Mut, sich den Zukunftsaufgaben zu stellen. Und den
Respekt vor denen, die anpacken.

Der Weg ist mühsam. Das war er schon nach dem 3. Oktober 1990. Nach 1945 oder
vor 100 Jahren war er gewiss schwerer. Aber die Menschen haben nicht resigniert.
Die Zukunft ist offen. Aber den Zusammenhalt in der offenen Gesellschaft, den dürfen
wir nicht aus den Augen verlieren. Wenn es uns gelingt, individuelle Freiheit und Ge-
meinsinn zu verbinden, dann geht es diesem Land weiterhin gut – dann geht es uns
gut.

Selbstvertrauen – Gelassenheit – Zuversicht: Sie bilden den Dreiklang eines zeitge-
mäßen Patriotismus. Eines Patriotismus für eine – im Wortsinne – selbstbewusste Na-
tion. Um das beste Deutschland, in dem wir das Glück haben zu leben, noch besser
zu machen.

Ich wünsche uns allen einen schönen, einen guten „Tag der deutschen Einheit“ – hier
in Berlin und überall, wo heute Menschen zusammenkommen, um unser wunderbares
Land zu feiern.

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