BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 134-3 vom 3. November 2021

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BULLETIN
                                DER
                          BUNDESREGIERUNG
                          Nr. 134-3 vom 3. November 2021

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

bei einem Mittagessen zu Ehren von Joachim Löw
am 3. November 2021 in Berlin:

Es sind unvergessliche Szenen, die sich im Juli 2014 auf den Straßen zwischen Sie­
gessäule und Brandenburger Tor abspielten, nur wenige Meter von hier. Hunderttau­
sende begeisterte Menschen empfingen damals auf der Berliner Fanmeile die deut­
sche Fußballnationalmannschaft, die kurz zuvor in Rio Weltmeister geworden war, Mil­
lionen schauten an den Fernsehschirmen zu.

Ein Moment ist mir dabei besonders in Erinnerung geblieben. Es ist der Moment, in
dem der Bundestrainer die Bühne vor dem Brandenburger Tor betritt, cool mit Son­
nenbrille, Arm in Arm mit Hansi Flick, Oliver Bierhoff und Andreas Köpke. Er kann nicht
verhindern, dass die drei Kollegen ihn ganz nach vorne an den Bühnenrand schieben,
mitten hinein in den schwarz-rot-goldenen Freudentaumel. Da steht er nun, ballt kurz
die Faust, applaudiert den Fans, reißt ein paar Mal die Arme hoch – und dreht dann
schnell wieder ab, so als sei es ihm unangenehm, allein im Vordergrund zu stehen.

Der Bundestrainer ist schon fast wieder runter von der Bühne, als der Moderator ihn
zurückholt, um noch ein paar Fragen zu stellen. Kaum hat Joachim Löw die ersten
Worte ins Mikrofon gesprochen, branden Sprechchöre auf, Zehntausende rufen seinen
Namen. Und auch in diesem Moment, auf dem Gipfel seines Erfolgs, bleibt dieser Bun­
destrainer, wie er ist: zurückhaltend, bescheiden, sympathisch. Er lobt seine Spieler,
er bedankt sich bei den Fans, und er sagt: „Wir sind alle Weltmeister.“

Sie haben den Menschen in diesem Land viele Momente geschenkt, die im Gedächtnis
unserer Nation bleiben werden. Und Sie waren dabei immer lieber Teil der Gemein­
schaft als ihr Zentrum, wie es der Journalist Mathias Schneider in seiner Biografie über
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Sie beschrieben hat. Aber nach allem, was Sie in Ihrer Amtszeit als Bundestrainer
erreicht und geleistet haben, nach all dem wollen wir Sie nicht einfach von der Bühne
gehen lassen, als sei nichts gewesen.

Mit Ihrem Rücktritt nach der Europameisterschaft in England ist eine große Ära zu
Ende gegangen. In fünfzehn Jahren als Bundestrainer und zwei Jahren als Co-Trainer
der Nationalmannschaft haben Sie Historisches für den deutschen Fußball geleistet.
Sie haben sich verdient gemacht um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und das
Ansehen unseres Landes in der Welt. Deshalb freue ich mich, dass ich Ihnen heute
zum Abschied Dank sagen kann – im kleinen Kreis, aber im Namen von ganz Fußball-
Deutschland.

Wir ehren heute einen der erfolgreichsten Trainer der Nationalmannschaft, der welt­
weit hohe Anerkennung genießt. Joachim Löw hat das deutsche Team bei drei Welt­
meisterschaften und vier Europameisterschaften betreut – und dabei drei Mal das
Halbfinale und zwei Mal das Finale erreicht. Er führte seine Spieler 2014 zum Welt­
meistertitel und 2017 zum Gewinn des Confed-Cups. Als Weltmeistermacher steht er
in einer Reihe mit Sepp Herberger, Helmut Schön und Franz Beckenbauer.

Wir ehren heute einen Erneuerer und Visionär, der den deutschen Fußball zurück an
die Weltspitze geführt hat. Als Joachim Löw nach dem „Sommermärchen“ von 2006
das Amt des Bundestrainers übernahm, führte er den Umbruch fort, den sein Vorgän­
ger Jürgen Klinsmann eingeleitet hatte. Mit modernen Trainingsmethoden, vor allem
aber einer neuen Spielkultur zog er gegen das zu Felde, was manche als „Rumpelfuß­
ball“ verspottet hatten.

Es ist Ihr Verdienst, lieber Joachim Löw, dass die Nationalelf sich schon bald nicht
mehr nur durch Kampf und Disziplin auszeichnete, sondern auch durch taktische und
technische Raffinesse, durch Leichtfüßigkeit und Spielfreude, durch schnellen, muti­
gen Angriffsfußball, der Millionen Menschen begeistert hat.

Laptop und Taktiktafel – das waren die Insignien dieses Bundestrainers. Aber Sie, lie­
ber Joachim Löw, waren nie nur ein akribischer Fußballlehrer, ein Mann der Daten und
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Fakten, ein Pionier des modernen Hightech-Sports. Sie waren immer auch ein Frei­
geist, der seinen Spielstil variierte und seinen Spielern Raum zur Entfaltung ließ, ein
Ästhet, der die Schönheit des Spiels zelebrieren wollte, wie Sie selbst oft gesagt ha­
ben.

„Joachim Löw und sein Traum vom perfekten Spiel“, so lautet der schöne Titel der
Biografie von Christoph Bausenwein. Viele Fußballfans, nicht nur in unserem Land,
sind der Ansicht, dass dieser Traum im Halbfinale der Weltmeisterschaft 2014 Wirk­
lichkeit wurde, beim historischen 7:1-Sieg gegen den Gastgeber Brasilien, in einem
der beeindruckendsten Spiele der Fußballgeschichte.

Wir ehren heute einen Bundestrainer, der auch für einen neuen Mannschaftsgeist
steht. Joachim Löw war kein „Einpeitscher“, keine autoritäre Trainerfigur, wie er sie
selbst als Spieler noch erlebt hat. Es war ihm immer wichtig, in der Kabine und auf
dem Platz eine Kultur des Miteinanders, des Respekts und Vertrauens zu pflegen. Den
Spielern zuhören, sie einbeziehen, Argumente finden statt zu brüllen oder zu bestrafen
– auch das war ein Schlüssel zu seinem Erfolg. Zu Ihrem Erfolg, lieber Herr Löw!

Es ist und bleibt Ihr Verdienst, die vielen hochbegabten Talente, die der deutsche Fuß­
ball dank guter Nachwuchsarbeit vor der WM 2010 hervorbrachte, zu einer verschwo­
renen Einheit geformt zu haben, zu Ihrer Mannschaft. Ihre Kunst, mit Menschen um­
zugehen, Ihre Fähigkeit, jeden Einzelnen im Ensemble noch besser zu machen, all
das macht Sie als Trainer der „goldenen Generation“ aus.

Wir ehren heute einen Bundestrainer, dessen Mannschaft die Vielfalt unserer Gesell­
schaft zunehmend widergespiegelt hat. Die Erfolge seines Teams haben das Selbst­
bild unseres Landes verändert, sie haben unterschiedliche Herkunftsgeschichten jun­
ger Deutscher zum festen Bestandteil unserer nationalen Erzählung gemacht. Und sie
haben vor allem gezeigt, wie viel wir als Verschiedene gemeinsam erreichen können.

Die Debatte um Mesut Özil hat aber auch gezeigt, dass in unserer vielfältigen Gesell­
schaft schmerzhafte Konflikte auftreten können, die nicht auf dem Platz entstehen und
nicht immer einfach zu lösen sind – nicht einfach mit den betroffenen Spielern, aber
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auch nicht einfach in einer von Dauernervosität geprägten, schlagzeilenhungrigen Öf­
fentlichkeit, vor allem wenn meinungsstarke Teile dieser Öffentlichkeit ihr Urteil schon
fällen, bevor Bemühungen um Entschärfung des Konflikts Erfolg haben können.

Wir danken heute einem Trainer, der mit seiner Mannschaft auch das Bild unseres
Landes in der Welt geprägt hat. Joachim Löw und seine Spieler stehen für ein weltof­
fenes und tolerantes Deutschland, für ein Deutschland, das nicht griesgrämig, verbis­
sen und herablassend auftritt, sondern freundlich, zuversichtlich und fair.

Zu diesem neuen Blick auf unser Land hat ganz besonders der Auftritt beim 7:1 gegen
Brasilien beigetragen, als die deutschen Spieler und ihr Trainer keine Selbstgefällig­
keit, keine Überheblichkeit zeigten, sondern dem Gegner Respekt zollten. Nach die­
sem Spiel, als die deutsche Mannschaft im Bus zurück in ihr Quartier fuhr, standen
tausende Brasilianer an der Straße und applaudierten.

Vor der Europameisterschaft in England haben Sie in einem Interview gesagt: „Trainer
zu sein, vor allem bei der Nationalmannschaft, das ist manchmal herrlich und manch­
mal auch schrecklich.“ Sie haben in Ihrer Amtszeit auch die belastenden Seiten erlebt.
Sie haben den öffentlichen Druck und die Kritik nach Niederlagen zu spüren bekom­
men, etwa nach dem bitteren Vorrunden-Aus bei der WM 2018 in Russland oder jetzt
im Sommer, nach dem Ausscheiden in England.

Sie selbst haben vom „Wellenbad der Gefühle“ im Fußball gesprochen, von der Erfah­
rung, dass der Erfolg eine „herrliche Droge“ ist, deren Rausch schnell verfliegt, von der
Leere und Einsamkeit nach großen Turnieren. Als Person des öffentlichen Lebens ha­
ben Sie sich immer auch nach Rückzugsorten gesehnt, wo nicht jede Gefühlsregung
öffentlich besichtigt und vor allem kommentiert wird.

Aber Sie waren in den letzten fünfzehn Jahren immer auch eine Identifikationsfigur,
eine Projektionsfläche, der Trainer einer ganzen Nation. Joachim Löw, das war und
das ist für viele „der Jogi“, ein Heimatverbundener, fest verwurzelt im Schwarzwald, in
Schönau und Freiburg im Breisgau, zugleich aber ein Weltreisender, nie spießig und
rückwärtsgewandt, sondern immer offen für Neues. Joachim Löw, das ist die Stil-
Ikone, der Mann, der das taillierte Hemd weltberühmt gemacht hat – und dessen Art,
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seinen Schal zu knoten, Journalistinnen und Journalisten zu philosophischen Abhand­
lungen inspiriert hat.

Joachim Löw, das ist nicht zuletzt der Aufsteiger, der seine Leidenschaft für den Fuß­
ball nie verloren hat. Er schaffte es als talentierter Stürmer von den Turn- und Sport­
freunden Schönau bis in die Bundesliga zum VfB Stuttgart; erholte sich nach einem
Foul nie mehr ganz von seiner Verletzung; spielte in der ersten und zweiten Liga für
Vereine wie Eintracht Frankfurt, den Karlsruher SC und immer wieder den SC Freiburg;
wirkte als Vereinstrainer in der Türkei, in Österreich und Deutschland – bis er schließ­
lich im Maracanã, dem größten Fußballstadion der Welt, den goldenen Pokal in die
Höhe stemmen konnte.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie nun, als Bundestrainer außer Dienst, die Zeit finden, um
durchzuatmen und neue Kraft zu schöpfen. Und ich bin mir sicher, dass längst neue
Ideen und Ziele in Ihnen wachsen, Pläne für das Spiel, das jetzt vor Ihnen liegt.

„Ein Hoch auf uns“, hieß es in Andreas Bouranis Hymne zur WM in Brasilien. Wer das
Lied heute hört, dem kommen all die Bilder wieder in den Sinn: Mario Götzes Siegtor
in der Verlängerung gegen Argentinien; der schwer gezeichnete Bastian Schweinstei­
ger, der seinem Trainer nach dem Schlusspfiff weinend um den Hals fällt; die feiernden
Menschen hier auf den Straßen von Berlin – und mir persönlich die bitterlich weinende
Schar von jungen, hier lebenden Menschen aus Brasilien, die ich eingeladen hatte, um
das Halbfinale mit mir gemeinsam anzuschauen.

Die Erinnerungen an solche Momente sind kostbar – für jeden einzelnen Fußballfan,
aber auch für unsere Gesellschaft als Ganze. Und Ihnen haben wir diese Momente
ganz entscheidend zu verdanken. Deshalb sage ich heute: „Ein Hoch auf Sie!“ Alles
Gute und vielen herzlichen Dank!

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