Die theologische Versammlung von Mensch und Tier - Wolfgang Leyk

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GASTEDITORIAL
                                                                TIERethik
                                                      13. Jahrgang 2021/1
                                                          Heft 22, S. 8–13

Wolfgang Leyk

Die theologische Versammlung von Mensch
und Tier
Das zehnte Gebot: Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Weib, Knecht, Magd, VIEH noch alles, was
dein Nächster hat. (Exodus 20,17)
Wenn die Theologie eine eigene Position zum Tier entwickeln will,
dann wird sie Ihren Erkenntnisrahmen erweitern müssen.

1 Eine schwierige Lage
Kann die Theologie unvoreingenommen reflektieren angesichts
massenhaften Tierleides? Aktuell sieht es so aus, als habe die Theo-
logie vor allem im Bereich der Nutztierhaltung ihr ethisches Mandat
längst abgegeben an einzelne, für sich entscheidende, verantwortli-
che Verbraucher*innen. Dabei operiert sie mit starken Begriffen,
denn sie hat seit einiger Zeit das Tier als „Mitgeschöpf“ entdeckt.
Üblicherweise wäre ein solch zentraler theologischer Begriff aufge-
laden mit ethischen Forderungen. Doch in Bezug zu tierischen Mit-
geschöpfen gibt es noch immer eine pauschale „License to kill“ bis
hin zur Großschlachtung. Die Verzweckung von Tieren im System
der Nutztierhaltung und zur Nahrungsgewinnung steht sowieso nicht
infrage. Bei den Großkirchen ist eine, für ethische Fragen sonst un-
gewohnte, Zurückhaltung festzustellen.
    Auch für den Fall, dass die Theologie unabhängig von der ethi-
schen Umsetzung reflektieren möchte, ist das Tier kein leichtes
Thema. Im aktuellen Diskurs wird jede Erkenntnis sofort moralisch
aufgeladen und instrumentalisiert. Doch hat die Zurückhaltung der

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Theologie auch praktische Gründe. Landwirt*innen und Nutztierhal-
ter*innen gehören zu den treuesten Kirchenmitgliedern. Sie erwarten
von der Kirche keine Orientierungen zur Tierhaltung, sondern
Schutz vor gesellschaftlicher Kritik. Die EKD-Kammer für Nach-
haltigkeit veröffentlichte jüngst eine tierethische Orientierungs-
schrift (vgl. EKD, 2019). Allerdings verzweckt das Papier theologi-
sche Erkenntnisse oder ethologische Einsichten über tierliche Präfe-
renzen und Selbstkonzeptionen umgehend in den Entwurf einer
Ethik der Nutztierhaltung. Die Bearbeitung der Frage nach dem Tier
führt also nicht zu einem theologischen Statement, sondern direkt zu
einem Vermittlungsversuch von Zielkonflikten menschlicher Inte-
ressenhalter*innen. Die theologische Reflexion bleibt verstrickt in
diese Dynamik der Verzweckung von Tieren. In tierethischen Fra-
gen und in den Human-Animal Studies bewanderte Leser*innen be-
kommen den Eindruck, als sei die Theologie hier anderen Diszipli-
nen meilenweit hinterher. Vereinzelt vorhandene positive theologi-
sche Narrative wie die „theologische Zoologie“ (Hagencord) kom-
men vor allem aus der katholischen Theologie. Sie ändern nichts.
Der Unterschied im Forschungsansatz bleibt:
    Philosophische Tierethik, Human-Animal Studies, aber auch die
empirischen, z.B. ethologischen, Forschungen sind bemüht, sich
dem Tier in seiner „Eigen-art“ zuzuwenden. Sie fragen auch kritisch
nach, ob der Blick auf das Tier nicht getrübt ist durch eine speziesis-
tische Fokussierung. Sie definieren den Anthropozentrismus als fun-
damentales Erkenntnisproblem und fordern seine Verabschiedung.
Für die Theologie ist das undenkbar, denn als „Ebenbild“ und Ge-
genüber Gottes bleibt der Mensch für sie im Zentrum. Deswegen
sind – sieht man von vereinzelten Versuchen ab – ihre Erkenntnisse
auch kaum anschlussfähig an den gerade geschilderten wissenschaft-
lichen Diskurs.

2 Abschied vom Menschen?
Bei aller Kritik habe ich als evangelischer Theologe dafür Verständ-
nis. Selbst wenn man den Vorrang des Menschen nicht mehr mit dem
Herrschaftsbefehl aus dem 1. Buch Mose begründet, so gruppiert
sich im evangelischen Bereich das theologische Arbeiten um eine

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Grunderfahrung, nämlich die gnadenhafte Zuwendung Gottes. Zu-
gängig und erschließbar ist dieser „Kern des Glaubens“ durch das
geschriebene Wort in der Bibel, das in Predigt und Bekenntnis eben-
falls sprachlich performativ wird. Die evangelische Kirche hat sich
in der Reformation ausdrücklich von einer intuitiven, natur- oder
schöpfungstheologisch begründeten Theologie verabschiedet. Bevor
man die kognitive Engführung dieses Ansatzes beklagt, sollte man
wertschätzend feststellen, wie positiv dekonstruktivistisch er in Be-
zug auf den Dämonenglauben überzogener Naturtheologien, aber
auch in Bezug auf festgefahrene kirchliche Praktiken gewirkt hat.
Diese Sprachfixierung wirkt sich auch aus, wenn man versucht, Tie-
ren im Rahmen differenzierter Anthropologien wie der Gehlens oder
Plessners eine gewisse Selbstkonzeption zuzugestehen. Kritische
Schwelle ist dann die Fähigkeit zur Externalisierung, d.h., reflektie-
rend aus und über sich herauszugehen. Es gibt aktuell zwar etholo-
gische Erkenntnisse, wie genau Tiere kulturfähig oder external wer-
den. Ohne Sprache gelten im anthropozentrischen Kontext solche
Existenzmöglichkeiten aber als nicht vorhanden. Angesichts solcher
Grundlagenfragen beneidet man die katholische Tradition um den hl.
Franz und die ihm verbundene katholische Theologie um die intui-
tive Haltung zu Tieren, um Liturgien wie die Tiersegnung (Linzey),
um Möglichkeiten zur Tierbestattung und vor allem auch um viele
Ausdrucksformen, die das rein Sprachliche übersteigen.
    Allerdings bleibt dann die Frage, warum evangelische Kreise,
selbst im anthropozentrischen Kontext, ihr Verhältnis zum Tier nicht
aus der Grunderfahrung der gnädigen Zuwendung Gottes bestim-
men. Müsste man nicht viel barmherziger mit Tieren sein? Im Ge-
folge dieser zentralen Gnadenerfahrung ist der evangelischen Sozi-
alethik die wirkstarke Formel von der „Option für die Schwachen“
gelungen. Warum gilt sie nicht für Tiere? Warum kapituliert die The-
ologie vor der Normativität von Haltungspraxis und wirtschaftlichen
Interessen?
    Die Stärke der evangelischen Ethik ist ihr Respekt für das tat-
sächliche Leben. Sie arbeitet an praktikablen Lösungen in einem
christlichen Werterahmen. Biblische Utopien, wie z.B. die vom ve-
ganen Löwen, der bei Jesaja Stroh frisst, ebenso wie auch die

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Schlange, die Erde frisst (Jes 65,25), sind für die evangelische Ethik
„Sehnsuchtslyrik“. Die Lebensnähe der evangelischen Ethik ist in
tierethischen Fragen ihre Schwäche. Ganz bewusst nimmt sie Ab-
stand von Basisforderungen zu Tierwürde und -rechten. Sie fokus-
siert stattdessen Verantwortung und Interessen des Menschen. Auf
dieser Basis bleibt ihr fast nur die Moderation von Zielkonflikten in
Mensch-Tier-Beziehungen oder eine schwache ethische Haltung zur
Verzweckung von Tieren. Das Tier „an sich“ hat in diesem Konflikt-
szenario fast keinen Platz.

3 Neue Perspektiven auf das Tier
Es gibt erste Versuche zur Umgehung der speziesistischen Fixie-
rung. Sie lösen das Grundlagenproblem nicht, aber eröffnen eine
neue Perspektive. Ein gutes Beispiel ist der raumsoziologische Ver-
such von Wustmans & Peuckmann (2020). Sie untersuchen das Tier
im Netz seiner räumlichen oder auch menschlichen Beziehungen.
Denn unabhängig von ihrer Subjekthaftigkeit hinterlassen Tiere
Spuren im menschlichen Leben. Dann wird deutlich, wie sehr sich
gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen in Mensch-Tier-Be-
ziehungen verdichten, und dafür hat die Theologie in Pastoraltheo-
logie, Seelsorgetheorie, Liturgik etc. „Bereichstheologien“ zur Ver-
fügung. Weg vom Menschen führt der Weg über die Praxis zum Tier
und garantiert ihm, wenn schon keine volle Anerkennung, immerhin,
dass es bemerkt wird. Ein solcher Entwurf ermöglicht durch seine
Interdisziplinarität neue Sichtweisen und Interdisziplinarität. Diese
Arbeitsweise gründet auf einem eigenen Verständnis der Theologie:
Als Wissenschaft untersucht sie dann vor allem, wie Menschen ihr
Verhältnis zu Gott innerhalb des christlichen Bekenntnisses gestal-
ten. Ob es jemals eine theologische Sparte geben wird, die kulturelle
oder religiöse Lebensäußerungen von Tieren außerhalb des anthro-
pozentrischen Erkenntnisrahmens untersucht?
   Doch sehen viele die Aufgabe der Theologie auch darin, Sprach-
und Reflexionsfähigkeit zu zentralen Themen des Glaubens zu ent-
wickeln. Hier gibt es noch Forschungsbedarf: Denn die Bibel als
zentrale Quelle der Theologie enthält viele Narrative zu Tieren, die
zu ihrer Reflexion keiner Theorie zur Personenhaftigkeit von Tieren

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bedürfen. Tiere kommen in ihnen oft sogar als entscheidende Ak-
teure vor. Im 4. Buch Mose und anderen Quellen (4. Mose 22,20–
36; Nehemia 13,2; 2. Petrus 2,15; Judas 11) ist die Geschichte des
Esels vom Propheten Bileam: Dieser soll durch einen Engel Gottes
vom falschen Weg abgebracht werden, sieht ihn aber nicht. Sein Las-
tentier hingegen sieht den Engel, blockiert störrisch den Weg und ist
auch mit Stockschlägen nicht zum Weitergehen zu bewegen.
Schließlich gewinnt das „stumme Tier“ (2. Petr 2,15) Stimme und
spricht den Propheten an. Sind solche Geschichten ein biblischer
Hinweis auf tierliche Erkenntnis von Gottes Heilshandeln? Natürlich
hat man in der kirchlichen Tradition über diese und ähnliche Ge-
schichten oft hinweggelesen. Im Forschungsansatz der Human-Ani-
mal Studies und Überlegungen zu tierlicher Personenhaftigkeit wer-
den sie plötzlich zu einem wichtigen Beleg über tierliche Akteure in
der Bibel.
    Wird die Theologie mit Hilfe ihres zentralen Dokuments doch
noch den eigenen anthropozentrisch verengten Rahmen öffnen kön-
nen, oder sind solche Tiergeschichten mit Luther „stroherne Epis-
tel“, d.h. Belege, die im Rahmen der zentralen Gnadenerfahrung eine
„sekundäre Rolle“ spielen? Oder enthalten sie eine tiefe Wahrheit,
die das barmherzige Leben nicht nur beim Menschen lässt?
Literatur
EKD (Evangelische Kirche in Deutschland). (2019). Nutztier und Mitge-
  schöpf! Tierwohl, Ernährungsethik und Nachhaltigkeit aus evangeli-
  scher Sicht (EKD-Text Nr. 133). Hannover: EKD.
Wustmans, C. & Peuckmann, N. (Hrsg.). (2020). Räume der Mensch-Tier-
  Beziehung(en). Öffentliche Theologie im interdisziplinären Gespräch
  (Reihe öffentliche Theologie, Bd. 38). Leipzig: Evangelische Verlags-
  anstalt.

Zur Person
Dr. Wolfgang Leyk ist evangelischer Pfarrer und Dozent für Ethik
an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Aus der
Wirtschaftsethik kommend forscht er in der Tierethik, besonders
über ethische Fragen der Nutztierhaltung.

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Korrespondenzadresse
Dr. Wolfgang Leyk
Neustädter Kirchenplatz 7
91054 Erlangen
E-Mail: pfrwleyk@aol.com

Beitragsinformationen
 Zitationshinweis:
 Leyk, W. (2021). Gasteditorial: Die theologische Versammlung von Mensch und Tier. Das
 zehnte Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, VIEH noch
 alles, was dein Nächster hat. (Exodus 20,17). TIERethik, 13 (1), 8–13. https://www.tierethik.
 net/.

 Online verfügbar: 15.04.2021

 ISSN: 2698–9905 (Print); 2698–9921 (Online)

                                 © Die Autor*innen 2021. Dieser Artikel ist freigegeben unter der Cre-
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                                 URL: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/de/legalcode

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