BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG - Nr. 135-1 vom 5. November 2021

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BULLETIN
                                 DER
                           BUNDESREGIERUNG
                           Nr. 135-1 vom 5. November 2021

Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

zur Verleihung des Walther-Rathenau-Preises
am 5. November 2021 in Berlin:

Sehr geehrter Herr von Rohr,
sehr geehrter Herr Jung,
Herr Berkel – schönen Dank für die Lesung –,
sehr geehrter Herr Professor Clark – ich habe gerade zu ihm gesagt: Es ist speziell,
wenn man hören muss, wie man in die Geschichte eingestellt wird –,
sehr geehrte Gäste,
meine Damen und Herren,

viermal habe ich bislang an der Verleihung des Walther-Rathenau-Preises teilgenom­
men, jedes Mal als Laudatorin. Es ist daher für mich etwas ungewohnt, diesmal gleich­
sam auf der anderen Seite zu stehen und den Preis mit einer Laudatio entgegenzu­
nehmen, noch dazu eingeführt mit der beeindruckenden Lesung von Ihnen, lieber Herr
Berkel. Ich danke Ihnen – ich bin sicher, in Ihrer aller Namen – für dieses Geschenk,
für diese Lesung. Danke.

Sehr berührend ist es für mich auch, dass Sie, lieber Herr Professor Clark, sich die
Zeit genommen haben, die Laudatio zu halten; und zwar allen Widrigkeiten zum Trotz,
nachdem es zuvor wegen Corona mehrfach zu Terminverschiebungen kommen
musste. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Worte – ich möchte sie vielleicht noch
einmal nachlesen, weil ich nicht weiß, ob ich alles erfasst habe –, wie auch für den
Preis selbst, den das Walther-Rathenau-Institut für außenpolitische Leistungen verleiht
und der natürlich auch von mir dankbar entgegengenommen wird.
Bulletin Nr. 135-1 v. 5. November 2021 / BKin – zur Verleihung des Walther-Rathenau-Preises, Berlin

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Ich empfinde die Verleihung dieses Preises als große Ehre, ganz besonders vor dem
Hintergrund des großen politischen Vermächtnisses des Namensgebers. Walther
Rathenau verstand die Welt inmitten eines nationalistischen Zeitalters in internationa­
len Zusammenhängen. Er machte das, was wir heute als Globalisierung bezeichnen,
bereits vor hundert Jahren zum Kern seines politischen Denkens. So konstatierte er
1918: „Niemals waren die Völker einander so nahe, niemals haben sie der Wechsel­
wirkung so sehr bedurft, einander so viel besucht und so gut gekannt.“ Wir erleben,
wie zeitlos aktuell, wie wahr dieser Gedanke Rathenaus auch heute ist – in einer Zeit
also, in der unsere Welt noch sehr viel stärker vernetzt und globalisiert ist als vor 100
Jahren.

Damals litt die Welt übrigens ebenfalls unter den Folgen einer Pandemie – der Spani­
schen Grippe. Heute erleben wir mit der Coronaviruspandemie, wie sehr wir bei der
Überwindung dieser Pandemie aufeinander angewiesen sind und voneinander abhän­
gen. Denn es nutzt uns ja nur sehr begrenzt, wenn zwar in unserem Teil der Welt viele
Menschen geimpft sind – leider noch nicht genug, obwohl bei uns jetzt so viel Impfstoff
zur Verfügung steht – , sich aber in anderen Teilen das Virus umso rasanter verbreitet,
weil dort keine Impfstoffe in ausreichenden Mengen vorhanden sind, das Virus deshalb
mutieren kann und neue Varianten auf uns alle zurückschlagen können.

Das ist ein nicht akzeptabler Zustand. Deshalb hat sich Deutschland von Beginn an für
den weltweiten Zugang zu Impfstoffen über ein wichtiges Instrument der internationa­
len Zusammenarbeit eingesetzt: über den globalen Impfstoffverteilungsmechanismus
Covax. Wir tun das, weil es unser Ziel ist und bleibt, mit allen Ländern zusammen
daran zu arbeiten, das Virus einzudämmen und die Menschen weltweit davor zu schüt­
zen.

Der von Walther Rathenau 1918 beschriebene Gedanke der Wechselwirkung trifft
selbstverständlich auch auf viele weitere globale Fragen zu, die wir heute zu meistern
haben. Denken wir allein an die Auswirkungen des Klimawandels sowohl in Form von
Migrationsbewegungen als auch in unserem eigenen Leben. Wir haben in diesem
Sommer in Deutschland erlebt, wie tödlich, wie verheerend Extremwettereignisse sein
können. Wir haben erlebt, mit welch hohen finanziellen Kosten solche Ereignisse und
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ihre Folgen verbunden sind. Die Rechnung ist am Ende sehr eindeutig: Nichts ist im
Ergebnis teurer, in umfassendem Sinne, als bei der Bekämpfung des Klimawandels
zu wenig zu tun. Und umgekehrt gilt: Wenn sich die ganze Welt an der Bekämpfung
des Klimawandels beteiligt, dann können wir es immer noch schaffen, seine gravie­
renden Folgen für alle zu verhindern. In Glasgow wird ja in diesen Tagen daran gear­
beitet.

Historiker wie Sie, Herr Professor Clark, können wunderbar nachzeichnen, wie jede
Generation ihre Herausforderungen zu bewältigen hatte und hat. Über meine Kanzler­
schaft heißt es ja, dass sie ganz besonders von der Bewältigung von Krisen geprägt
gewesen sei: der Weltfinanzkrise 2008, der anschließenden Staatsschuldenkrise in
der Eurozone, von den sicherheitspolitischen Spannungen mit Russland im Zusam­
menhang mit der Annexion der Krim 2014, der Migrationsbewegung 2015/16, dem sich
immer weiter verschärfenden Klimawandel und der Coronaviruspandemie.

Es wird spannend sein zu sehen, inwiefern – also unter welchen Vorzeichen und Rah­
menbedingungen – sich in den nächsten Jahren das Krisenhafte fortsetzen wird. Eine
Prognose ist, so denke ich, jedoch schon heute nicht zu gewagt: nämlich die, dass
auch in Zukunft alle großen Herausforderungen nicht durch einen allein nationalen Po­
litikansatz zu bewältigen sind, sondern nur gemeinsam.

Was ist die Grundlage dafür? Auch dazu hat sich Walther Rathenau vor mehr als hun­
dert Jahren wegweisend geäußert. In seinem Werk „Physiologie der Geschäfte“ hielt
er seine Maximen politischen und wirtschaftlichen Handelns folgendermaßen fest:
„Denke dich beständig an die Stelle deines Gegenübers. Proponiere, was du selbst in
seiner Lage annehmen würdest, und erwäge bei allem, was man dir sagt, die Interes­
sen, die dahinterstecken. Denke nicht nur für dich, sondern auch für den anderen.“

Diese Maximen sind wichtiger denn je. Denn die Fähigkeit, die Welt auch mit den Au­
gen des anderen zu sehen, ist für mich der wesentliche Kern des europäischen Poli­
tikansatzes. Diese Fähigkeit ermöglicht Toleranz in Vielfalt. Und es ist diese Toleranz,
die – so habe ich es vor etlichen Jahren einmal gesagt – die Seele Europas ausmacht.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir die globalen Herausforderungen nicht einmal
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im Ansatz bewältigen können, wenn wir nicht versuchen wollten, die Menschen in an­
deren Ländern und in anderen Teilen der Welt, ihre Nöte und ihre Interessen, zu ver­
stehen. Wir müssen ihre Sicht der Welt nicht teilen, aber wir müssen uns mit ihr aus­
einandersetzen.

Diese Haltung, die Rathenau so treffend formulierte, ist und bleibt aus meiner Sicht die
Grundlage jeglichen politischen und gesellschaftlichen Dialogs und damit auch der Be­
reitschaft und der Fähigkeit zum Kompromiss. Der Kompromiss ist ein Grundpfeiler
von Freiheit und Demokratie. Er steht für die Einsicht in die Notwendigkeit, eine Viel­
zahl unterschiedlicher Akteure mit unterschiedlichen Wünschen, Interessen und Vor­
stellungen zusammenzuführen, um Lösungen zu finden, deren Vorteile die Nachteile
überwiegen und die uns deshalb weiterbringen.

Doch machen wir uns nichts vor; zu oft wird ein solches Plädoyer für den Kompromiss
als Schwäche oder Nachgiebigkeit ausgelegt. Die Geringschätzung des Kompromis­
ses halte ich nicht nur für schlicht falsch, sondern sogar für fahrlässig und gefährlich.
Denn wenn uns die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss abhandenkom­
men, national wie europäisch und international, weil jeder auf den eigenen Positionen
beharrt, gelegentlich sogar die Gegenseite persönlich herabwürdigt und das sogar
noch als Erfolg betrachtet, dann geraten unsere offenen, unsere liberalen Gesellschaf­
ten unter Druck. Dann gerät die Demokratie unter Druck. Wenn dann noch statt der
Anerkennung objektiver Fakten eine gefühlte Wahrnehmung der Wirklichkeit dominant
wird, dann vergessen wir wesentliche Errungenschaften der Aufklärung, die für die
Entwicklung und den Erfolg der europäischen Aussöhnung und der internationalen
Verständigung prägend gewesen sind.

Deshalb müssen wir alles daransetzen, dass sich die Stärke des Rechts, die Stärke
der vereinbarten Regeln des Völkerrechts, gegen das vermeintliche Recht des Stärke­
ren durchsetzen kann. Setzen sich dagegen Akteure über diese Regeln hinweg, wird
Vertrauen zerstört und das Recht des Stärkeren alleiniger Maßstab.

Genau deshalb haben zum Beispiel die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die
Unterstützung Russlands für die Separatisten im Konflikt in der Ostukraine seit 2014
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unsere europäische Ordnung tief erschüttert. Das hat Unsicherheit nach Europa zu­
rückgebracht. Viele unserer östlichen Nachbarn empfinden diese Unsicherheit noch
stärker und unmittelbarer als wir. Deshalb müssen wir darauf wie auch auf destabili­
sierende Aktionen Russlands im Westen und Attacken neuen Typs etwa im Cyberbe­
reich Antworten finden. Dabei gilt heute wie zu Zeiten Walther Rathenaus: Neben
Standfestigkeit und Entschlossenheit brauchen wir im Umgang mit Russland auch wei­
terhin den Dialog. Das eine schließt das andere nicht aus. Ich sage sogar: Ganz im
Gegenteil.

Daher halten wir zusammen mit Frankreich daran fest, mit den Minsker Vereinbarun­
gen und durch Deutschlands Einsatz im Rahmen des Normandie-Formats für den Frie­
den in der Ostukraine zu arbeiten. Wir halten weiterhin daran fest, uns dafür zusätzlich
mit unseren Partnern in der Europäischen Union, mit den Vereinigten Staaten von
Amerika und innerhalb der G7 abzustimmen.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland war immer ein besonderes. Erin­
nern wir an dieser Stelle zum Beispiel daran, dass Walther Rathenau am 16. April 1922
den Vertrag von Rapallo unterzeichnete. Er sollte die Beziehungen zwischen der Rus­
sischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und dem Deutschen Reich norma­
lisieren und so die Verhandlungsposition gegenüber den Westmächten stärken. Diese
Vertragsunterzeichnung war damals ein durchaus umstrittener Schritt. Er war Teil der
langfristigen Strategie Rathenaus, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wieder in
die internationale Gemeinschaft zurückzuführen.

Doch wir wissen, wie diese Anstrengungen enden sollten. Die schrecklichsten Jahre
standen Europa und der Welt zu der Zeit mit dem von Deutschland begangenen Zivi­
lisationsbruch der Shoah und dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg
noch zuvor. Erst danach sollte es in Europa möglich werden, einen Weg für Frieden
und Freiheit einzuschlagen. Mit der Idee der europäischen Einigung haben wir in der
Europäischen Union den Nationalismus aufgegeben und uns für Kooperation entschie­
den. Damit konnte in Europa das erfolgreichste Friedensprojekt der Welt entstehen.
Wir dürfen niemals vergessen, dass diese europäische Einigungsidee keine Selbst­
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verständlichkeit ist. 64 Jahre sind seit Verabschiedung der Römischen Verträge ver­
gangen. 64 Jahre – das ist ein Wimpernschlag in der Geschichte und muss uns mah­
nen, stets aufs Neue für die europäische Idee von Freiheit und Frieden einzustehen.
So, nur so, können wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen: Wohlstand für
alle, Klimaschutz, Digitalisierung, Flucht und Migration.

Als im Jahr 2013 der damalige Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
und heutige UN-Generalsekretär, Antonio Guterres, den Walther-Rathenau-Preis ent­
gegennahm, sprach der frühere Außenminister Guido Westerwelle in seiner Laudatio
angesichts von seinerzeit weltweit 43 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen von ei­
nem wichtigen politischen Signal. Seither sind acht Jahre vergangenen – acht Jahre,
in denen sich die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen weltweit fast verdoppelt hat.
Flucht und Migration sind heute mehr denn je drängende Herausforderungen. Nie­
mand – das sollten wir nie vergessen – verlässt seine Heimat leichtfertig; auch dieje­
nigen nicht, die dies wegen wirtschaftlicher oder sozialer Perspektivlosigkeit tun.

Deshalb müssen wir an den Ursachen ansetzen, die dazu führen, dass Menschen kei­
nen anderen Weg sehen, als ihre Heimat zu verlassen. Wir müssen außerdem illegale
Migration unterbinden und legale Migration ermöglichen. Gelingen kann das alles nur
gemeinsam. Deshalb war es wichtig, dass die Staatengemeinschaft dies im Septem­
ber 2016 in der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten deutlich ausge­
sprochen hat. In ihr heißt es: „Wir erkennen unsere gemeinsame Verantwortung an,
mit Menschlichkeit, Sensibilität und Einfühlsamkeit mit großen Flüchtlings- und Mig­
rantenströmen umzugehen.“ Auf der Basis dieser New Yorker Erklärung sind zwei glo­
bale Pakte entwickelt worden, mit denen wir die Herausforderung von Flucht und Mig­
ration in geteilter Verantwortung erfolgreich bewältigen können.

Ein Beispiel für eine solche geteilte Verantwortung ist die wenige Monate vor der New
Yorker Erklärung vereinbarte EU-Türkei-Erklärung, die – viel kritisiert – immerhin be­
wirkt hat, dass Schleusern ihr skrupelloses Handwerk durchkreuzt wurde und über drei
Millionen syrische Flüchtlinge Schutz und Perspektiven in der Türkei finden konnten.
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Ein weiteres Beispiel ist der Sahel, in dem die Bundesregierung gemeinsam mit ande­
ren Partnern einen vernetzten Ansatz umsetzt, der sicherheits-, außen- und entwick­
lungspolitische Fragen zusammendenkt.

Wir wirken den Auslösern von Flucht und Migration entgegen, indem wir Arbeits- und
Ausbildungsplätze schaffen, gute Regierungsführung fördern und lokale kleine und
mittlere Unternehmen unterstützen. Wir helfen den Klimawandel und seine Folgen
durch den Ausbau erneuerbarer Energien, die Förderung einer klimaresilienten Land­
wirtschaft und sozialer Sicherungssysteme sowie die Unterstützung bei Klimaanpas­
sungsmaßnahmen einzudämmen.

Mit diesem Ansatz haben wir auch den „Compact with Africa“ während unserer G20-
Präsidentschaft angestoßen – eine Initiative, die den Schritt von einem asymmetri­
schen Geber-Nehmer-Verhältnis hin zu einer wirtschaftlichen Partnerschaft erleichtern
soll; einer Partnerschaft, die diesen Namen verdient, weil Privatinvestitionen und Fi­
nanzierungsmöglichkeiten für lokale Unternehmen in afrikanischen Ländern gestärkt
werden.

Es wird jedoch nicht ausreichen, allein die wirtschaftliche und soziale Lage in den Her­
kunftsstaaten zu verbessern. Denn oft sind es bewaffnete Konflikte, die Menschen zur
Flucht veranlassen, um ihr nacktes Leben zu retten.

In Syrien folgte auf den Arabischen Frühling 2011 ein blutiger Bürgerkrieg – einer der
längsten und furchtbarsten Konflikte weltweit. Dieser Krieg findet seit über zehn Jahren
direkt vor unserer Haustür statt. Wir müssen allen Rückschlägen zum Trotz weiter um
eine politische Lösung ringen und uns beispielsweise dafür einsetzen, dass humani­
täre Hilfe bei den notleidenden Menschen ankommt. Hierzu sind wir mit Russland und
der Türkei im Gespräch geblieben – zuletzt mit dem Ergebnis, dass humanitäre Hilfe
auch weiterhin grenzüberschreitend geleistet werden kann.

In Libyen wiederum haben wir gesehen, dass der Sturz eines Diktators noch keinen
gesellschaftlichen Frieden bedeutet. Mittlerweile gibt es – auch dank der Vereinten
Nationen – wenigstens ein Waffenstillstandsabkommen. Alle Konfliktparteien sitzen an
einem Tisch. Die Berliner Libyen-Konferenz vom Januar 2019 hat hierfür eine wichtige
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Grundlage gelegt. In wenigen Tagen werden wir in Paris erneut zum Thema Libyen
beraten. Ein langer Weg bleibt dennoch zu gehen – für die Libyer und den demokrati­
schen Prozess in ihrem Land.

Wie schwierig gerade solche Bemühungen sind, hat in jüngster Zeit wenig so schmerz­
haft vor Augen geführt wie die Entwicklung in Afghanistan. Was 2001 als militärischer
Einsatz gegen Al-Qaida begann, sollte dabei nicht stehen bleiben. Das war das Ziel
der Petersberger Afghanistan-Konferenz Anfang 2002. Das war aller Ehren wert. Seit­
her wurden durchaus auch Fortschritte für Demokratie und Teilhabe erreicht, aber sie
waren nicht nachhaltig. Das ist die nüchterne Erkenntnis nach 20 Jahren Einsatz in
diesem so geschundenen Land.

Dieser Erkenntnis müssen wir uns stellen, so bitter sie auch ist. Bitter ist sie vor allem
für die Millionen von Menschen in Afghanistan, die sich für eine freie Gesellschaft, für
Bildung und die Rechte von Frauen und Mädchen in ihrem Land eingesetzt haben. Es
scheint so vieles, wenn nicht alles umsonst zu sein. Das darf jedoch nicht dazu führen,
dass wir das Land jetzt, nach dem Abzug der Truppen, vergessen. Denn jetzt – ange­
sichts des bevorstehenden Winters – kommt es darauf an, wenigstens zu verhindern,
dass das Land tief in Hunger, Kälte und Armut versinkt.

Der englische Dichter John Donne schrieb im 17. Jahrhundert: „Niemand ist eine Insel,
in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.“ Wir
wissen: Staaten können Inseln sein – im geografischen Sinne, wie zum Beispiel das
Vereinigte Königreich. Doch wir wissen auch, dass es sich heutzutage kein Land leis­
ten kann, sich komplett von Entwicklungen abzukoppeln, die sich in seiner Nachbar­
schaft oder in anderen Regionen zutragen, wenn es im weltweiten Wettbewerb der
Werte und Interessen bestehen will. Das Coronavirus, der Klimawandel, die Digitali­
sierung, Migrationsbewegungen – all diese Herausforderungen machen nicht vor
Grenzen halt, sondern führen uns vor Augen, dass wir und wie sehr wir Teil einer Welt­
gemeinschaft sind.

Es ist Walther Rathenaus Verdienst, sowohl die Wechselwirkungen als auch die Chan­
cen einer auf Ausgleich und Verständigung bedachten Außenpolitik früher als viele
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andere erkannt zu haben. Zugleich ist es die große Tragik dieses Mannes, dass er für
diese Haltung angefeindet, bedroht und schließlich am 24. Juni 1922 in Berlin ermordet
wurde. Im nächsten Jahr wird sich also seine Ermordung zum 100. Mal jähren. Eine
unheilvolle Mischung aus Antisemitismus und dem Setzen auf einen gewaltsamen Um­
sturz war für seine Mörder handlungsleitend. Diese unheilvolle Mischung sollte Vor­
bote der ein gutes Jahrzehnt folgenden Schrecken während des Nationalsozialismus
sein.

Die Ermordung Walther Rathenaus muss uns allen stete Mahnung sein. Wir dürfen
niemals darin nachlassen, uns für Frieden und Verständigung einzusetzen. Wir dürfen
niemals darin nachlassen, uns für die Überwindung von Hass, Gewalt, Nationalismus,
Rassismus und Antisemitismus einzusetzen. Diesen Zielen fühle ich mich auch in Zu­
kunft verpflichtet. Dafür sehe die heutige Auszeichnung als große Ehre und Ansporn
an.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute.

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