"Sie muss das Moskau unserer Bewegung werden" - Hitlers politische Anfänge in München

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"Sie muss das Moskau unserer Bewegung werden" - Hitlers politische Anfänge in München
Fokus                                                                                                                    3.2021

          „Sie muss das Moskau
        unserer Bewegung werden“
                          Hitlers politische Anfänge in München:
                       vom Schauplatz seiner größten Niederlage zum
                        mythologischen Ort des Nationalsozialismus.

                                              Vo n A n d r e a s W i r s c h i n g

I  n einer Filmaufnahme vom 26. Februar
   1919, die den Trauerzug für den ermor-
deten bayerischen Ministerpräsidenten
                                                                                     wohl vor allem durch Opportunismus
                                                                                     und Attentismus aus. Deutlich zeigt sich
                                                                                     in dieser Lüge jedenfalls die große Bedeu-
Kurt Eisner zeigt, ist möglicherweise auch                                           tung, die Hitler München für sich und die
Adolf Hitler zu sehen. Ob er es tatsächlich                                          nationalsozialistische Bewegung zumaß.
ist, lässt sich nicht endgültig entschei-
den; unwahrscheinlich ist es aber nicht,                                             Fähnlein im Wind
da auch Hitlers Demobilmachungsein-
heit 25 Mann zur Trauerparade abstel-                                                Hitlers opportunistische Haltung passt
len sollte. Interessanterweise behaupte-                                             zu den politischen Umwälzungen und

                                                                                                                                     Fotos: Stadtarchiv/H. u. M. Wutz Kunstverlag/FS-PK-STB-14418; Martin Fengel
te Hitler im autobiographischen Teil von                                             gewaltsamen Spannungen, die Bayern
„Mein Kampf“, dass er zum fraglichen                                                 und vor allem München zwischen No-
Zeitpunkt nicht in München gewesen und                                               vember 1918 und Mai 1919 erlebten.
erst im März 1919 zurückgekehrt sei. Dies                                            Während dieser Zeit schien alles mög-
ist nachweislich falsch: Seine Einheit war                                           lich, keineswegs konnten die Zeitgenos-
bereits im Januar 1919 wieder in der baye-                                           sen wissen, wohin das Pendel schließlich
rischen Hauptstadt. Offensichtlich erfand                                            ausschlagen würde. Wenn sich Hitler also
Hitler diese Abwesenheit von München,                                                im Frühjahr 1919 opportunistisch verhielt
um jeden Eindruck einer räumlichen wie                                               und sich eines kalkulierten politischen
politischen Nähe zu Eisners Bayerischer        Vom gescheiterten Putsch zum          Attentismus bediente, handelte er gewis-
Republik auszuschließen. Faktisch frei-         Totenkult: Die 1923 getöteten        sermaßen zweckrational. Dies dürfte ihm
lich dürfte er der Münchner Revolutions-      Nationalsozialisten wurden nach        umso leichter gefallen sein, als er zu die-
regierung keineswegs so ablehnend             1933 am Rande des Königsplatzes        sem Zeitpunkt noch nicht über eine fer-
gegenübergestanden haben, wie er in                      beigesetzt.                 tige „Weltanschauung“ verfügte. Anders,
„Mein Kampf“ glauben machen wollte –                                                 als er später in „Mein Kampf“ darlegte,
im Gegenteil zeichnete sich seine poli-                                              ging es Hitler in der ersten Jahreshälf-
tische Einstellung zu diesem Zeitpunkt                                               te 1919 keineswegs darum, „Politiker“ zu

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"Sie muss das Moskau unserer Bewegung werden" - Hitlers politische Anfänge in München
3.2021                                                         Fokus
                                     Heute ein beliebtes
                                     Fotomotiv: Die Feld-
                                     herrnhalle am Odeons-
                                     platz war 1923 Ziel des
                                     Hitlerputsches. Vier
                                     Polizisten, 13 Putschis-
                                     ten und ein Unbe-
                                     teiligter starben dort.
Fotos: xxxxxx für Akademie Aktuell

                                          Die Bühne, die Hitler betrat, stand zunächst in München und
                                                hatte dort schon vor ihm und ohne ihn existiert.
                                     Akademie Aktuell                                                   15
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 Oben: Angeklagt: Ludendorff und Hitler während des Hoch-
   verratsprozesses vor dem Volksgericht München, 1924.
Rechts: Auch im Löwenbräukeller fanden Versammlungen der
       Nationalsozialisten statt, insbesondere ab 1940.

                                            sein. Ihn plagten schlicht Zukunftsängs-      mit immer radikaleren ideologischen
                                            te: Ohne Familie, ohne Berufsausbildung,      Feindkonstruktionen verband. Schon der
                                            durch den Krieg aus seinem bescheide-         Sturz der Wittelsbacher hatte die Emo-
          Hitler                            nen Broterwerb als Aquarellmaler heraus-      tionen hochgehen lassen. Kurt Eisner
                                            gerissen und inzwischen auch nicht mehr       wurde als bayerischer Ministerpräsident
     gelang es, den                         der Jüngste, drohte Hitler der Rückfall in    zur Zielscheibe ungezügelter nationalis-
       Schauplatz                           die notorische Erfolglosigkeit und Armut,     tischer und antisemitischer Hetze. Nach
                                            die er in Wien kennen und hassen gelernt      seiner Ermordung mündete die Revolu-
     seiner größten                         hatte. Sein nächstliegendes Ziel musste       tion in Bayern denn auch in unaufhalt-
                                            es daher sein, so lange wie möglich bei       same Hysterie und Militarisierung, es
       Niederlage                           der Armee zu bleiben, um seine Existenz-      entstand eine Spirale der Radikalisierung
     zum mytholo-                           grundlage zu bewahren. Da die weitere         und Gewalt. In dieser Situation konnte
                                            Entwicklung nicht absehbar war, häng-         eine zu explizite Parteinahme für eine
         gischen                            te er in politischer Hinsicht sein Fähnlein   politische Richtung gefährlich werden.
                                                                                                                                         Fotos: Bundesarchiv; Martin Fengel

                                            nach dem Wind.                                Vor allem in München brodelte es immer
       Ort seiner                                                                         stärker, was zunächst in der Ausrufung
      Bewegung zu                           Münchner Räterepublik:                        einer Räterepublik durch Sozialisten und
                                            Radikalisierung und Gewalt                    Kommunisten mündete und auf konser-
        machen.                                                                           vativere Teile der Bevölkerung wie die
                                            Für jeden, auch für Hitler, deutlich spür-    Realisierung schlimmster Alpträume von
                                            bar war die massive politische und            russisch-bolschewistischen Verhältnissen
                                            gesellschaftliche Polarisierung, die sich     wirkte. Die gewaltsame Niederschlagung

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3.2021                                                                                                                                   Fokus

                     der Münchner Räterepublik durch Regie-           Ernst Röhm, Heinrich Himmler, Wilhelm
                     rungstruppen und Freikorps Ende April            Frick – und natürlich Adolf Hitler.
                     1919 klärte die Fronten zugunsten des                In dieser Atmosphäre reüssierten             L I T E R AT U R
                     konservativ-rechten Spektrums und trug           Hitler und die frühe NSDAP. Im Sommer            G. Knopp/M. Philip Remy,
                     dennoch zur weiteren Radikalisierung bei.        1919 als politischer Propagandaredner der        Hitler. Eine Bilanz, DVD 1995.
                                                                      Reichswehr geschult, fand Hitler in Mün-         C. Hartmann et al. (Hg.),
                     München als mythologischer                       chen Eingang in den Personen- und politi-        Hitler, Mein Kampf. Eine kritische
                     Ort der „Bewegung“                               schen Dunstkreis der äußersten Rechten.          Edition, München 2016.
                                                                      Hier begegnete er seinen frühen Förde-
                     Man kann die Bedeutung der Münchner              rern und bedingungslosen Anhängern. Ab           I. Kershaw, Hitler, München 1998.

                     Räterepublik für die weitere Geschichte          1920 schuf er sich ein wachsendes Publi-         A. Wirsching, Hitlers Authentizi-
                     Münchens, Hitlers und des Nationalso-            kum, profilierte sich als „Trommler“ und         tät, in: Vierteljahrshefte für Zeit-
                     zialismus kaum überschätzen. Die extre-          Redner in den Bierkellern der Stadt und          geschichte 64/2016, 387–418.
                     me Polarisierung in Wort und Tat sowie           schwang sich bald zum alleinigen Anfüh-
                                                                                                                       H. G. Hockerts,
                     das Aufschaukeln der Gewalt traumati-            rer der NSDAP auf. Als solcher wurde er
                                                                                                                       Warum war München die
                     sierten und prägten die bayerische Met-          auch für das rechtsnationale Münchner
                                                                                                                       „Hauptstadt der Bewegung“?,
                     ropole für lange Zeit. Im Kielwasser der         Bürgertum interessant, in dessen Reihen
                                                                                                                       in: S. Hajak/J. Zarusky (Hg.),
                     Gegenrevolution verlor München seinen            er Gönner und Verehrer fand.
                                                                                                                       München und der Nationalsozia-
                     Charakter als weltoffene, liberale Künst-            Indes können die frühen Sympathi-
                                                                                                                       lismus, Berlin 2008, 24–40.
                     lerstadt, als die es vor 1914 eine vorü-         en für Hitler nicht darüber hinwegtäu-
                     bergehende Weltgeltung gehabt hatte.             schen, dass er in der etablierten Münch-         D. C. Large, Hitlers München,
                     Leitmotivisch wurde nun die Verachtung           ner Gesellschaft und Politik ein Außen-          München 1998.
                     für die demokratisch-liberale Gesell-            seiter blieb. Keineswegs akzeptierte ihn         C. Vollnhals (Hg.),
                     schaft. Die hasserfüllte Ablehnung der           das traditionalistische Polit-Establish-         Hitler. Reden, Schriften, Anord-
                     Revolution, der wachsende Antisemitis-           ment als einen der ihren, wenngleich             nungen. Febr. 1925 bis Jan. 1933,
                     mus und die perhorreszierte Furcht vor           er aufgrund seiner propagandistischen            Bd. 1, München 1992.
                     dem „Bolschewismus“ prägten fortan die           Erfolge als nützlich galt. Angesichts des
                                                                                                                       W. Nerdinger (Hg.), München
                     politische Kultur der bayerischen Haupt-         Abflauens der Krise Ende 1923 musste
                                                                                                                       und der Nationalsozialismus,
                     stadt. Dass die deutsche Demokratie-             Hitler befürchten, dass sich die von ihm
                                                                                                                       München 2015.
                     gründung in Form der Weimarer Repub-             erreichte Position in der absehbaren Ent-
                     lik illegitim, ja kriminell gewesen sei, blieb   spannung verflüchtigen würde. Mithin
                     für weite Kreise des Münchner Bürger-            sah er sich genötigt, die „Glaubwürdig-
                     tums unumstößliche Gewissheit. Diese             keit“ seines mittels Radikalisierung und
                     Interpretation bildete eine verhängnisvol-       extremistischer Propaganda erworbe-
                     le Schnittmenge mit der extremen Rech-           nen Charismas unter Beweis zu stellen
                     ten. Die Münchner Gesellschaft domi-             und zur Tat zu schreiten. Dies setzte eine
                     nierten nun monarchistische, separatis-          fortwährende Wettbewerbsdynamik zwi-
                     tische und ultrakonservative Elemente.           schen der NSDAP und der ultrakonservati-
                     Hinzu trat als Spezifikum das gegen Ber-         ven bayerischen Regierung frei, die einen
                     lin gerichtete bayerische Sonderbewusst-         wichtigen Hintergrund für Hitlers Putsch-
                     sein, was bereits in der Regierungserklä-        versuch vom 8./9. November bildete.
                     rung des neuen nationalkonservativen                 Nach seiner Haft in Landsberg und
                     Ministerpräsidenten Gustav von Kahr              seiner Rückkehr auf die Münchner Büh-
                     vom 16. März 1920 deutlich wurde. Er for-        ne gelang es Hitler in einer paradoxen
                     derte „strenges Einschreiten gegen Über-         Umkehr des Geschehens, den Schauplatz             NSDAP-Kundgebung im Circus
                     fremdung durch Stammesfremde, Rein-              seiner größten Niederlage zum mytholo-        Krone, um 1925. Hitler trat wiederholt
                     haltung des eigenen Volkes von fremden           gischen Ort seiner Bewegung zu machen.         im Kronebau auf, auch kurz vor dem
                     Elementen“ und gab damit gleichsam               Schon 1921 hatte er es kategorisch abge-                 Putschversuch.
                     den offiziellen Startschuss für die staat-       lehnt, die NSDAP-Zentrale aus München
                     lich geförderte Welle des Antisemitis-           heraus zu verlagern. Hiermit verriet er ein
                     mus, die München nun erfasste. Die von           sicheres Gespür dafür, dass er außerhalb
                     Kahr verkörperte „Ordnungszelle Bay-             Münchens, geschweige denn in Berlin,
                     ern“ avancierte zum Fluchtort rechtsex-          seine politisch-propagandistische Rol-
Foto: Bundesarchiv

                     tremer Umstürzler und Gewalttäter aus            le nicht mit der gleichen Durchschlags-
                     dem gesamten Reich. Zugleich begannen            kraft würde spielen können. Die Konkur-
                     in ihrem Windschatten die Karrieren spä-         renz im völkisch-nationalistischen Lager
                     terer führender Nationalsozialisten wie          war groß, und Hitler brauchte für den

                     Akademie Aktuell                                                                                                                            17
Fokus                                                                                                                        3.2021

                                            Erfolg das spezifische Klima der baye-       Gestalt Hitlers, als dass sie ihn auch nur
                                            rischen Hauptstadt. Dementsprechend          andeutungsweise als ihren Erlöser akzep-
                                            fixierte er in „Mein Kampf“ die Richtlini-   tiert hätte.
                                            en seiner Bewegung: „Konzentration der            Es wird deutlich, dass die Bühne, die
                                            gesamten Arbeit zunächst auf einen ein-      Hitler betrat, zunächst in München stand
                                            zigen Ort: München. Heranbildung einer       und dort schon vor ihm und ohne ihn
                                            Gemeinde von unbedingt verlässlichen         existiert hatte. Auch das Publikum hat-
                                            Anhängern und Ausbildung einer Schu-         te sich längst versammelt. Ebenso lag
                                            le für die spätere Verbreitung der Idee.     der Stoff, aus dem Hitler seine Hasstira-
                                            Gewinnung der notwendigen Autorität          den formte, bereits vor: Die völkischen,
                                            für später durch möglichst große sicht-      rassistischen, antisemitischen, eugeni-
                                            bare Erfolge an diesem einzigen Ort.“        schen, sozialdarwinistischen, antisozial-
                                            Zudem wurde der gescheiterte Putsch          demokratischen und antikommunisti-
        Anhänger der Nationalsozialisten    von 1923 Ausgangspunkt des national-         schen Versatzstücke und ideologischen
     auf dem Marienplatz vor dem Rathaus,   sozialistischen Märtyrer-Mythos: Auf-        Sumpfblüten, die schon in der politischen
              9. November 1923.             stieg und Charisma, Gegnerschaft und         Kultur des Kaiserreichs eine Rolle gespielt
                                            Fall, Wiederkehr und Triumph bildeten        hatten, erfreuten sich ab dem Ende des
                                            in der NS-Hagiographie fortan eine gro-      Ersten Weltkrieges einer wachsenden
                                            ße mythologische Erzählung. Sie erhob        Beliebtheit. Nach der Novemberrevoluti-
                                            München zum unwiderruflich zentra-           on bildeten sie einen weltanschaulichen
                                            len Ort des Nationalsozialismus. „Rom –      „Pool“, aus dem sich auch Hitler bedien-
                                            Mekka – Moskau!“, deklamierte Hitler im      te. In paradigmatischer Weise galt das für
                                            Juni 1925: „Jeder der drei Orte verkörpert   München und die „Ordnungszelle“ Bay-
                                            eine Weltanschauung. Bleiben wir bei         ern, die zum bevorzugten Hort all jener
                                            der Stadt, die die ersten Blutopfer unse-    ideologischen Radikalismen wurden.
                                            rer Bewegung sah. Sie muss das Moskau
                                            unserer Bewegung werden.“                    Aufstieg im Reich

                                            Bierkelleragitator auf der                   Erst in der Endphase der Weimarer Repu-
                                            Münchner Bühne                               blik gelang es Hitler, seine Wirkung auf
                                                                                         die Ebene der Reichspolitik auszudeh-
                                            In der Betrachtung der Wechselwir-           nen. Die NSDAP und ihr „Führer“ profi-
                                            kung zwischen Hitler und der deutschen       tierten von der dramatischen Zuspitzung
                                            Gesellschaft konzentriert sich die alte      der innenpolitischen Konfrontation, der
                                            Frage nach dem Verhältnis von Individu-      krisenhaften wirtschaftlichen Entwick-
                                            um und Allgemeinem in der Geschichte.        lung und der damit verbundenen politi-
                                            Dabei wäre es irreführend, das eine gegen    schen Orientierungslosigkeit ab 1929. In
                                            das andere auszuspielen. Vielmehr kons-      dieser Situation wurde Hitler auch natio-
                                            tituiert es einen wesentlichen Grundsatz     nal eine Glaubwürdigkeit zugeschrieben,
                                            der NS-Forschung, dass die Spannung          die er seiner fundamentaloppositionel-
                                            zwischen beidem aufrechterhalten wer-        len Radikalität verdankte und an die frü-
                                            den muss. Denn weder der reine Struktu-      he Zeit in München erinnert. Erneut fand
             Hitler                         ralismus noch der überzogene Personalis-     er – diesmal auf Reichsebene – wohlwol-
                                            mus wird dem Problem „Hitler“ gerecht.       lende Helfer, die ihm Zutritt zur nationa-
         brauchte für                            Beim Blick auf die Interaktion, die     len Bühne verschafften. Wie im München
          den Erfolg                        Hitler mit der deutschen Gesellschaft
                                            seit 1920 aufnahm, fällt eines ins Auge:
                                                                                         der frühen 1920er Jahre existierte diese
                                                                                         in der späten Weimarer Republik längst
        das spezifische                     Anders als in München wies ihn diese         ohne und vor Hitler. Allerdings begann
                                            Gesellschaft in ihrer überwältigenden        der „Führer“ nun die Wünsche des Publi-
          Klima der                         Mehrheit zunächst zurück beziehungs-         kums mit einer geradezu überraschenden
         bayerischen                        weise nahm ihn nicht zur Kenntnis. Sehr
                                            viel mehr als ein auf Reichsebene leidlich
                                                                                         Wucht zu befriedigen und rief entspre-
                                                                                         chende Begeisterung hervor. In unzäh-
         Hauptstadt.                        bekannter bayerischer Bierkelleragitator     ligen Reden stilisierte er die märtyrer-
                                                                                                                                         Foto: Bundesarchiv

                                            war Hitler bis 1929 nicht. Zu immun war      durchtränkte Geschichte seiner selbst
                                            die Weimarer Gesellschaft in ihrem ersten    und seiner „Bewegung“, die in München
                                            Jahrzehnt gegen die gewalttätige, radau-     ihre Initiation erfahren hatte. Seine eige-
                                            antisemitische und zugleich so skurrile      ne Vergangenheit, durch Anonymität und

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3.2021                                                                                                                                               Fokus

                                                                                                                                Links: Bis 1929 wohnte Hitler
                                                                                                                          zur Untermiete in der Thierschstraße 41.
                                                                                                                           Oben: In der Corneliusstraße 12 befand
                                                                                                                          sich ab 1920 die Geschäftsstelle der DAP,
                                                                                                                                    der späteren NSDAP.

                                     Demütigung, Absturz und Wiederaufstieg        und Feinden, Opfern und Schuldigen           Phase seiner politischen Karriere. Auch
                                     gekennzeichnet, inszenierte er als para-      verwandeln. Weitgehend ungestraft ließ       deshalb blieb die bayerische Metropole in
                                     digmatisch für die krisenhafte deutsche       sich hier Hass predigen, Gewalt andro-       einer sehr spezifischen Weise die „Haupt-
                                     Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg. So      hen und Vernichtung fordern. Das Resul-      stadt der Bewegung“.
                                     gelang es Hitler, seine Biographie in poli-   tat war eine neue, eine nationalsozialis-
                                     tisches Kapital umzumünzen und einen          tische „Moral“, die den universalistischen
                                     beträchtlichen Teil der deutschen Wäh-        Prinzipien der christlich-aufgeklärten
                                     lerschaft von seiner Rolle als politischer    Zivilisation eine radikale und inhumane
                                     Messias zu überzeugen.                        Partikularität entgegenstellte. Dass die-        P ro f. D r. A n d re a s Wi r s c h i n g
                                                                                   se neue Moral nach dem 30. Januar 1933           leitet das Institut für Zeitgeschichte
                                     Die neue „Moral“ wird                         rasch zur herrschenden Norm avancierte,          M ü n c h e n –B e r l i n u n d l e h r t N e u e re
                                     zur Norm                                      gehört zu den beklemmendsten Vorgän-             u n d N e u e s t e G e s c h i c ht e an der
                                                                                   gen in der deutschen Geschichte. Binnen          LMU München. Er forscht u. a. ü b e r
                                     Für die deutsche und europäische              kürzester Zeit war das, was eine jahrhun-        d i e We i m a re r Re p u b l i k, Fa s c h i s m u s
Fotos: Martin Fengel; Bundesarchiv

                                     Geschichte am folgenreichsten war,            dertealte christlich-aufklärerische Tradi-       u n d N at i o n a l s o z i a l i s m u s s o w i e
                                     dass auf der Bühne, die Hitler vorfand,       tion von Moral und Gewissen, Recht und           d e u t s c h e /e u r o p ä i s c h e G e s c h i c h t e
                                     erklomm und ausgestaltete, andere             Gesetz, ganz selbstverständlich als blan-        s e i t d e n 1 970 e r J a h re n. E r i s t
                                     moralische Maßstäbe galten als im wirkli-     kes Unrecht verurteilt hatte, nicht nur          Mitglied der BAdW und leitet ihr
                                     chen Leben. Auf ihr fand eine Umwertung       erlaubt, sondern wurde sogar prämiert.           P r o j e k t „ Ku l t u re n p o l i t i s c h e r
                                     aller Werte statt: Hier ließ sich die Kom-    Von Hitler und seinen Gefolgsleuten war          E n t s c h e i d u n g “.
                                     plexität der realen Welt in einen Mani-       diese neue Moral bereits sehr früh ein-
                                     chäismus von Gut und Böse, Freunden           geübt worden, nämlich in der Münchner

                                     Akademie Aktuell                                                                                                                                            19
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