Rede des Bundesministers der Finanzen, Peer Steinbrück, beim 2. Hamburger Stiftungstag am 22. Juni 2007 "Das Programm Hilfen für Helfer' ...
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LK/R RL.: RD Harzer EV.: VA Gorges Sperrfrist: Freitag, 22. Juni 2007 Beginn der Rede Es gilt das gesprochene Wort! Rede des Bundesministers der Finanzen, Peer Steinbrück, beim 2. Hamburger Stiftungstag am 22. Juni 2007 „Das Programm ‚Hilfen für Helfer’ - bürgerschaftliches Engagement fördern, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken“
-2- I. Begrüßung............................................................................................ 3 II. Bürgerschaftliches Engagement ........................................................... 4 III. Hilfen für Helfer................................................................................. 11 IV. Handlungsfähiger Staat ...................................................................... 16 V. Schluss ............................................................................................... 22
-3- I. Begrüßung Sehr geehrter Herr Präsident der Hamburgischen Bürgerschaft (Berndt Röder), sehr geehrter Herr Senator Lüdemann, sehr geehrter Herr Dr. Wehmeier, meine sehr verehrten Damen und Herren - und damit sind alle gemeint, die ich zumindest von diesem Rednerpult aus nicht persönlich be- grüßen kann, es sei denn, Sie hätten noch zwei Stunden Zeit. Ich danke herzlich für die Einladung zum 2. Hamburger Stiftungstag. Ich freue mich sehr in meiner Heimatstadt zu Ihnen sprechen zu dürfen – in der wichtigsten deutschen Stiftungsmetropo- le! Ich weiß, dass es hier - um in den Worten meines Sohnes zu sprechen – vor allem morgen so rich- tig abgeht, und ich hätte mir wirklich gern aus der Nähe angesehen, was die Hamburger Stiftun- gen und die vielen Ehrenamtlichen in meiner Heimatstadt so auf die Beine stellen.
-4- Dem stehen allerdings wichtige parteipolitische Termine hier in Hamburg und in Hannover ent- gegen, so dass ich es leider nicht möglich ma- chen kann, auch morgen bei Ihnen zu sein, was ich wirklich bedaure. Das ist sozusagen der normale Alltag eines Poli- tikers. Ungewöhnlich zumindest für einen Bun- desfinanzminister ist es, zu Gast bei einer Veran- staltung zu sein, in der es keineswegs nur, aber eben auch darum geht, wie der Staat das Stif- tungswesen auch finanziell fördern kann. II. Bürgerschaftliches Engagement Aber natürlich wissen Sie, dass wir mit unserem aktuellen Gesetzentwurf „Hilfen für Helfer“ das bürgerschaftliche Engagement in seinen vielen Formen und Facetten fördern wollen, wozu im Kern auch das Stiftungswesen gehört. Dieses bürgerschaftliche Engagement wird in Deutschland von rund 20 Millionen Menschen geleistet – und Sie alle gehören dazu.
-5- Sie geben unserer Gesellschaft auf sehr unter- schiedliche Weise und an sehr unterschiedlichen Stellen ein menschlicheres Gesicht: • In den Kirchen und großen Wohlfahrtsver- bänden, • in Hospizen, • in Freiwilligenzentralen, in Heimatvereinen und Museen, • in Initiativen für körperlich benachteiligte Menschen, für Kinder, für Ältere, für Zu- gewanderte, • in Krankenhäusern und Altenheimen, • in Sportvereinen und Feuerwehren, • in Stadtteilinitiativen und Selbsthilfegrup- pen – um nur einige Beispiele aus dem brei- ten und vielfältigen Spektrum des bürger- schaftlichen Engagements zu nennen. Und dazu kommen jene Bürgerinnen und Bür- gern, die große oder kleinere Stiftungen gründen, die in Stiftungen aktiv sind oder die Stiftungen durch Spenden unterstützen. Hamburg, die Stadt der Tausend Stiftungen [rund 1.000], ist dafür zweifellos das beste Beispiel.
-6- So verschieden das Engagement all dieser bür- gerschaftlich engagierten Menschen ist - ihr Ziel ist das selbe: Sich für unsere Gesellschaft stark zu machen an den Stellen, wo sie schwach ist. Was jetzt klingt wie ein Lippenbekenntnis in ei- ner Sonntagsrede, ist ein Erfahrungsbericht. Bereits als Ministerpräsident von Nordrhein- Westfalen habe ich mir bei einem halben Dut- zend Ehrenamtstouren ein sehr buntes Bild von der Vielfalt des bürgerschaftlichen Engagements machen können. Und diese Besuche setze ich jetzt als Bundesfi- nanzminister fort. Ich will meine Eindrücke auf- frischen. Ich will mich ganz bewusst aus erster Hand über die ehrenamtliche Arbeit vor Ort in- formieren. Ich will lernen, was funktioniert und hören, welche Probleme, Sorgen und Nöte es immer noch gibt und wie man diese abstellen kann. Besonders wichtig ist mir die Arbeit in den Stadt- teilen, die man landläufig „soziale Brennpunkte“
-7- nennt – dort wo die Fliehkräfte in dieser Gesell- schaft am stärksten wirken. Ende Mai war ich in Köln-Kalk beim Veedel e. V. zu Gast – übrigens bewusst ohne Presse, mit der man dort schon mal sehr schlechte Erfahrun- gen gemacht hat. Ich habe mir angesehen, was man mit viel Engagement auch in einem Stadtteil mit einem sehr schlechten Ruf, ja, geradezu mit einer sozialen Stigmatisierung, tun kann, damit zum Beispiel junge Menschen aus Zuwanderer- familien echte Bildungschancen und damit grö- ßere Chancen auf eine Ausbildung oder einen Job bekommen. Da gibt es eine Hausaufgabenbetreu- ung, die von pensionierten Lehrern organisiert wird, da gibt es professionelle und ehrenamtliche Hilfestellungen bei Bewerbungen, eine komplette russische Bibliothek, zahlreiche öffentliche Ver- anstaltungen und jedes Jahr ein großes Sommer- fest, zu dem jedes Mal nicht weniger als 1.000 Bürgerinnen und Bürger kommen. Da passiert, wenn man so will, Integration pur. Das kann Hoffnung machen. Ein zweites Beispiel: Eine Kinder- und Jugend- einrichtung der AWO in Erfurt, die ebenfalls in
-8- einem so genannten „sozialen Brennpunkt“ liegt, mit ganz gravierenden sozialen und natürlich auch wirtschaftlichen Problemen. Diese Proble- me können auch die Ehrenamtlichen nicht ohne staatliche Hilfe lösen, aber sie haben da eine gan- ze Reihe von Projekten auf die Beine gestellt, die besonders Kindern aus sozial schwachen Fa- milien etwa über eine sehr intensive Tages- betreuung nicht nur konkret helfen, sondern ihnen eine sehr wichtige Erfahrung vermitteln. Die lautet: „Ihr sollt die gleichen Chancen be- kommen wie Kinder aus Familien, denen es ma- teriell deutlich besser geht als Euch.“ Immer wieder mache ich bei meinen Ehrenamts- touren die Erfahrung, dass es nicht in erster Linie darauf ankommt, den Menschen mehr Geld zu geben. Das wandert zu oft zum nächsten McDo- nald oder in die Videothek um die Ecke. Viel wichtiger als mehr Geld ist gute Bildung bereits für die Kleinsten. Ein Kind, das in die Schule kommt, dem niemals in seinem Leben vorgelesen wurde, hat keine gleichen Chancen wie ein Kind, dem das 2-3 mal in der Woche passiert ist. Mit sechs Jahren schon abgehängt. Das gibt es leider immer noch viel zu oft in unserer Gesellschaft.
-9- Ich will mit meinen Besuchen in der Zivilgesell- schaft auch für das bürgerschaftliche Engage- ment zu werben, damit es möglichst viele Na- chahmerinnen und Nachahmer gibt. Wir brau- chen diese Menschen – in dieser schnellebigen, abgehetzten Zeit mehr denn je. Ich will damit auch klar machen, dass das bür- gerschaftliche Engagement seit langem und nach meinem Eindruck immer mehr heißt, ein hohes Maß an sozialer Verantwortung zu übernehmen und das auch unter persönlich belastenden Ver- hältnissen zu tun. Das wird nach meiner Wahrnehmung zu wenig bemerkt. Denn machen wir uns nichts vor: Die Bedeutung des Ehrenamtes für unsere Gesell- schaft insgesamt wird noch immer ziemlich un- terschätzt. Das soll niemanden entmutigen, denn der Satz von Hermann Gmeiner bleibt ja richtig: „Alles Gute auf der Welt geschieht nur, wenn ei- ner mehr tut, als er tun muss.“ Würden diese Menschen mit ihrem Ehrenamt oder in ihren Ehrenämtern, in den Stiftungen,
- 10 - nicht mehr tun, als sie müssten, würden sie nicht weit über das normale Maß, weit über ihr tägli- ches Pflichtenheft hinaus, Zeit, Kraft und Nerven in das Gemeinwohl investieren, wäre unser Ge- sellschaft nicht nur ärmer. Sie würde nicht funktionieren, jedenfalls nicht ohne tiefe Brüche, die den gesellschaftlichen Zu- sammenhalt in unserem Land tief beschädigen würden. Menschen, die sich bürgerschaftlich engagieren - und nicht fremdbestimmte junge Leute in Casting-Shows – sind die wahren Superstars un- serer Zeit. Sie sind echte Helden des Alltags. Sie sind die wahren Vorbilder, nicht nur, aber beson- ders für junge Menschen. Schon deshalb, weil es vor allem junge Men- schen sind, die von dem Engagement vieler Stif- tungen in besonderem Maße profitieren, die von ihnen intensiv gefördert werden und dadurch echte Lebenschancen bekommen, die es ohne Stiftungen so nicht gäbe.
- 11 - Auch das ist das große Verdienst der Stiftungen, nicht zuletzt hier in Hamburg. Sie sind längst zu einem Markenzeichen Hamburgs geworden, und gerade dieses Markenzeichen steht dieser Stadt besonders gut zu Gesicht. III. Hilfen für Helfer Meine Damen und Herren, es geht mir nicht darum, das bürgerschaftliche Engagement zu idealisieren, und noch weniger darum, die Schwierigkeiten klein zu reden, mit denen engagierte Menschen noch immer zu kämpfen haben. Die gibt es, und dabei sind die finanziellen Hürden gelegentlich sogar niedriger als die rechtlichen und bürokratischen Barrieren. Mein Ministerium hat deshalb das „Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Enga- gements“ auf den Weg gebracht – Ihnen wahr- scheinlich besser bekannt unter dem Namen „Hilfen für Helfer“. Mit unseren „Hilfen für Helfer“ unterstützen und fördern wir bürgerschaftliches Engagement in ei-
- 12 - nem Umfang von rund 440 Millionen Euro pro Jahr. Und zugleich wollen dafür sorgen, dass sich jene, die sich engagieren, voll auf ihr Ehrenamt konzentrieren können und sich nicht mit unnöti- ger Bürokratie abplagen müssen. Diese „Hilfen für Helfer“ bedeuten konkret, • dass Übungsleiter mehr Geld steuerfrei ver- dienen dürfen als bisher, • dass Vereine weniger Einnahmen versteu- ern müssen und dadurch mehr Geld in der Vereinskasse bleibt • und dass Bürgerinnen und Bürger ihre Spenden an gemeinnützige Organisationen in größerem Umfang als bisher steuerlich absetzen können. Im ursprünglichen Gesetzentwurf war außerdem vorgesehen, dass Ehrenamtlichen im mildtätigen Bereich 300 Euro pro Jahr von ihrer Steuerschuld erlassen werden sollte, also jenen Frauen und Männern, die hilfsbedürftige alte, kranke oder behinderte Menschen betreuen. Ich hätte die 300 € gerne auf alle Ehrenamtsbereiche ausge- dehnt – wenn – und jetzt spricht wieder der Fi- nanzminister zu Ihnen, dem eine solide Haus-
- 13 - haltsführung ebenso wichtig ist -, wenn dies nicht ein finanzielles Loch von 1,1 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt gerissen hätte. Das hätte das gesamte Vorhaben gesprengt. Deswegen hatten wir das im Ministerium auf den klar abgrenzba- ren und sehr wichtigen Bereich des mildtätigen Engagements begrenzt. Im parlamentarischen Verfahren ist jetzt ent- schieden worden, aus Gerechtigkeitsgründen lie- ber auf diesen Steuerbonus ganz zu verzichten, als ihn auf den mildtätigen Bereich zu begrenzen. Ich kann mit dieser Entscheidung der Abgeord- neten leben. Es ist immer schwer, eine solche Begrenzung denjenigen zu erklären, die nicht da- von profitieren. Auch wenn ich den Ehrenamtli- chen im mildtätigen Bereich diese steuerliche Vergünstigung sehr gegönnt hätte. Mir ist wichtig, dass die durch diese Entschei- dung frei gewordene Summe nicht wieder in den Bundeshaushalt wandert, sondern auf anderen Wegen als Steuererleichterungen für Ehrenamtli- che verwendet werden kann.
- 14 - Meine Damen und Herren, Schon seit einigen Jahren – insbesondere seit der Reform des Stiftungsrechts durch die Bundesre- gierung Schröder im Jahr 2002 – erleben wir ei- nen regelrechten Boom bei den Stiftungsgrün- dungen. Im Vergleich zu den achtziger Jahren hat sich die Zahl der jährlich neu gegründeten Stiftungen 2006 auf rund 900 fast versechsfacht. Insgesamt gibt es in Deutschland rund 14.400 Stiftungen bürgerlichen Rechts. Und das ist längst noch nicht alles. Hinzu kommen • die zahlreichen unselbständigen Stiftungen, • Stiftungsvereine, • Stiftungsgesellschaften sowie • Stiftungen öffentlichen Rechts. Wir haben es also mit einer wahren Stiftungskul- tur zu tun, die wir nach Kräften hegen und pfle- gen sollten. Und das wollen und werden wir jetzt wirksamer tun, als das bisher möglich war.
- 15 - Dazu wird der Höchstbetrag für die Ausstattung von Stiftungen mit Kapital von 307.000 € nicht nur wie ursprünglich vorgesehen auf 750.000 €, sondern voraussichtlich sogar auf 1 Mio. € er- höht. Stifter können in Zukunft bis zu 20 % ihrer Ein- künfte steuerfrei in eine Stiftung einbringen; das können dann ebenfalls bis zu 1 Mio. € sein. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit und aus Anlass des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur steuerlichen Gleichbehandlung von Erbschaften das Wort an die vielen Anwaltskanzleien und Consultingfirmen richten, die davon leben, Erben zu beraten, die nicht wissen, was sie mit erhoff- ten oder unverhofften Geldsegen anfangen sol- len: Diese Bürgerinnen und Bürger können in Zu- kunft mehr von ihrem Geld so sinnvoll wie mög- lich anlegen. Und das meine ich keinesfalls aus- schließlich finanziell. Denn wäre eine solche Investition in vielen Fäl- len nicht so etwas wie ein Dank an unsere Ge-
- 16 - sellschaft, ihr ein Stück von dem zurück zu ge- ben, was sie für einen selber getan hat und tut? Auch diese Entscheidung machen wir mit der Re- form des Stiftungsrechts ein Stück leichter. IV. Handlungsfähiger Staat Meine Damen und Herrn, ich halte die Realisierung der „Hilfen für Helfer“ für einen Beweis von Glaubwürdigkeit, den die Politik erbringen muss. Sie darf dabei allerdings nicht den Fehler ma- chen, das bürgerschaftliche Engagement quasi als preiswerten sozialpolitischen Reparaturbetrieb eines nicht mehr handlungsfähigen Staates zu se- hen. Das ist nicht die Aufgabe des Ehrenamts. Zum einen ist eine vitale Bürgergesellschaft viel mehr: Sie ist ein Ausdruck von Freiheit und einer vom Staat unabhängigen Solidarität. Zum anderen müssen wir gerade in der heutigen Zeit für einen handlungsfähigen Staat sorgen, der nicht einfach Aufgaben an seine Bürger delegiert.
- 17 - Wir müssen den Staat schon so handlungsfähig organisieren, dass er seine sozialen Verpflichtun- gen auch in Zukunft wahrnehmen kann. Für mich sind deswegen drei Fragen akut: Was kann und was muss der Staat leisten, was darf er sich leisten und vor allem: Wer ist auf ihn angewiesen, wer weniger? Ich will einen handlungsfähigen Staat, der öffent- liche Leistungen für die Bürgerinnen und Bürger erbringen kann und der dafür die notwendige fi- nanzielle Ausstattung erhält. Ich will einen Staat, der Spielregeln für das ge- sellschaftliche Zusammenspiel setzt und Solidari- tät organisiert, damit unsere Gesellschaft nicht auseinander fliegt. Ich will einen Staat, der als Treuhänder der Bür- gerinnen und Bürger verantwortungsvoll mit dem Steuergeld umgeht, der nach Effizienz fragt, der sich auf die Prioritäten konzentriert und der mu- tig genug ist, politische Nachrangigkeiten zu de- finieren.
- 18 - Was also sind heute die Aufgaben des Staates? Für mich ist die wichtigste Aufgabe des Staates, jedem Bürger zu ermöglichen, ein selbst be- stimmtes Leben zu führen, seine Fähigkeiten zu entfalten und seine Existenz aus eigener Kraft zu sichern. Die finanziellen Umstände, unter denen wir das tun müssen, sind heute fundamental andere als noch vor zehn, zwanzig Jahren, und das hat nicht nur mit einem Schuldenberg von 1.500 Milliar- den Euro zu tun. Immerhin wächst die Einsicht, dass das Motto „Viel hilft viel“ keinen relevanten Bezug zur Re- alität hat. Wäre das nämlich so, müssten mit den Sozial- ausgaben, die mittlerweile 57 % des Bundes- haushalts ausmachen, sehr viele ökonomische und soziale Probleme dieses Landes längst gelöst sein. Das sind sie, wenn wir ehrlich sind, aber nicht, nicht in Bayern und nicht in Baden- Württemberg, nicht in Berlin und auch nicht in Hamburg.
- 19 - Das hat viel damit zu tun, dass soziale Gerech- tigkeit in Deutschland immer noch mit der Höhe der staatlichen Sozialausgaben gleichgesetzt wird. Die Wirklichkeit aber zeigt: Bei den Sozi- alausgaben liegen wir europaweit an der Spitze, aber die Probleme sind nach wie vor da. Wir ha- ben sie in bester Absicht wahrscheinlich eher konserviert, als sie zu lösen. Dazu kommt: Bei den Ausgaben, die Chancenge- rechtigkeit fördern können – ich denke da vor al- lem an den Bildungsbereich - hinken wir im eu- ropäischen Vergleich immer noch hinterher. Die PISA-Ergebnisse von 2003 sprechen da eine kla- re Sprache, und ich würde mir wirklich wün- schen, dass meine Heimatstadt ein besseres Er- gebnis erzielt hätte. Ein Ergebnis, das ihrer Be- deutung und ihrem Potenzial eher entspricht als das untere Mittelfeld im Gesamtvergleich oder der vorletzte Platz den zukunftswichtigen Feldern der mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenz. Dass Nordrhein-Westfalen, wo ich zweieinhalb Jahre in der Verantwortung als Ministerpräsident
- 20 - stand, ebenfalls alles andere als nicht zufrieden stellend abgeschnitten hat, will ich hinzufügen, damit ich nicht in den Verdacht komme, in par- teipolitischem Fahrwasser zu rudern. Dabei liegen wir bei unseren Bildungsausgaben ja gar nicht mal so schlecht in Europa. Aber auch hier gilt: Es ist ein Lernprozess, dass wir stärker darauf achten müssen, was wir tatsächlich mit staatlichen Geldern erreichen. Und dann müssen wir den Mut haben, Prioritäten zu setzen, was im konkreten Fall genau das heißt, was wir in den bisherigen Bundeshaushalten ge- tan haben: Dort zu kürzen, wo Ausgaben nicht mehr sinnvoll sind, um dort mehr investieren zu können, wo es notwendig ist. Ein aktuelles Beispiel: Für Familienpolitik gibt der Staat – BAföG eingerechnet – pro Jahr rund 185 Milliarden Euro aus. Das ist im europäischen Vergleich sehr viel. Und trotzdem wird niemand ernsthaft behaupten, dass Deutschland ein beson- ders familienfreundliches Land ist, am wenigsten dann, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht.
- 21 - Trotzdem erleben wir bei der wichtigen Frage, wie wir zusätzliche Krippenplätze finanzieren können, nicht etwa eine Debatte darüber, ob wir einen Teil dieses gigantischen Betrags von 185 Milliarden Euro dafür einsetzen können. Nein, die Debatte wird vielfach auf die Frage reduziert, wo zusätzliches Geld herkommen kann. Richtig ist: Wir müssen das vorhandene Geld ef- fizienter einsetzen. Entscheidend ist, was hinten herauskommt, nicht, was vorne hineingesteckt wird. Am Ende kommt es immer auf die Wirkung an, nicht auf die gute Absicht. Das ist der fundamen- tale Unterschied zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“. In vielen Jahren in der Politik habe ich gelernt: Am schwierigsten ist es, Nachrangigkeiten poli- tisch festzulegen. Prioritäten sind einfach, noch mehr Schulden machen ist noch einfacher. Richtig schwierig aber wird es, wenn man den Menschen erklären muss, warum es zum Beispiel
- 22 - wichtiger ist, das BAföG zu erhöhen und das Stiftungswesen zu fördern, als den Sparerfreibe- trag oder die Entfernungspauschale in der bishe- rigen Größenordnung aufrechtzuerhalten. Das ist eine wichtige Aufgabe von Politik. Ich sehe mich und meine Kolleginnen und Kollegen da in der Pflicht. Alleine werden wir das aber nicht schaffen. Wir brauchen auch den Konsens der Eliten in Deutschland, wozu die meisten der Anwesenden hier im Raum gehören. V. Schluss Meine Damen und Herren, Sie werden morgen und an den übrigen 364 Ta- gen des Jahres zeigen, dass bürgerschaftliches Engagement funktioniert und vor allem: wie das funktionieren kann, wenn sich Menschen zu- sammentun, für die eine Frage viel wichtiger ist als „Was kriege ich dafür?“ Die richtige Frage lautet: „Was kann ich selber tun?“ Diese Frage haben Sie für sich eindrucks-
- 23 - voll und zugleich ermutigend für andere beant- wortet, im Großen wie im scheinbar Kleinen. Der Satz von Albert Schweitzer bleibt nämlich richtig: „Das wenige, das du tun kannst, ist viel.“ Ich bin sicher, Sie werden auch in Zukunft noch sehr viel tun, und das nicht für einige Wenige, sondern für sehr viele Menschen in dieser Stadt und weit über ihre Grenzen hinaus. Vielen Dank.
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