Chancen und Herausforderungen von Schwangerschaftsberatung und Sexueller Bildung unter Pandemiebedingungen - AWO
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Krolzik-Matthei, Wienholz, Licht, Böhm | Schwangerschaftsberatung und Sexuelle Bildung 211 Chancen und Herausforderungen von Schwangerschaftsberatung und Sexueller Bildung unter Pandemiebedingungen Erste Ergebnisse qualitativer und quantitativer Befragungen unter Beratungsfachkräften Katja Krolzik-Matthei, Sabine Wienholz, Johanna Licht und Maika Böhm Schon früh wiesen verschiedene Organisa- absolutes Novum dar. Für den Bereich der tionen wie Amnesty International, Center Sexuellen Bildung zeichnete sich ebenso for Reproductive Rights und der pro fami- schnell ab, dass aufgrund von Kontaktbe- lia Bundesverband auf die Notwendigkeit schränkungen und Einrichtungsschließun- eines „sicheren und zeitnahen Zugang[s] zu gen für sämtliche Präsenzangebote gravie- essenziellen Diensten, Produkten und Infor- rende Einschnitte und Veränderungen zu mationen der sexuellen und reproduktiven erwarten sein würden. Gesundheit während der Pandemie“ (pro familia 2020: 5) beziehungsweise auf die Er- fordernisse einer kontinuierlichen psycho- Forschungsdesign sozialen wie medizinischen Versorgung im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen Die Fragen nach den konkreten Auswirkun- hin (Baier/von Rauch 2020). Im März 2020 gen auf die Handlungsfelder der Schwanger- forderte die seinerzeitige Bundesfamilien- schaftsberatungsstellen und die spezifischen ministerin Franziska Giffey die zuständigen Erfahrungen von Beratungsfachkräften mün- Landesministerien auf, eine pragmatische deten in eine zunächst als Pilotstudie konzi- Lösung bezüglich der Schwangerschafts- pierte Untersuchung, die von August bis De- und Schwangerschaftskonfliktberatungen zember 2020 durchgeführt wurde (Böhm et al. nach § 2/§ 5 SchKG zu finden, und regte an, 2020: 42). In Vorbereitung der Erhebungen dass diese auch als Telefon- oder Videobe- wurden in offenen Gesprächsrunden mit ratung und ohne persönliches Erscheinen Referent*innen der Trägerverbände1 auf Bun- der Schwangeren in der Beratungsstelle re- des- und Landesebene praxisbezogene The- alisiert werden können (u. a. Hofer 2020). men und Problemstellungen im Kontext der Die Mehrheit der Bundesländer nahm im Einschränkungen durch die COVID-19-Pan- April entsprechende Änderungen der lan- desspezifischen Ausführungsverordnungen 1 Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonie, donum vi- tae, Der Paritätische Wohlfahrtsverband, Deut- vor. Insbesondere für das Feld der Schwan- sches Rotes Kreuz, pro familia, Sozialdienst ka- gerschaftskonfliktberatung stellte dies ein tholischer Frauen. Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
212 Aus der Praxis demie exploriert, die in die Konzeption der Er- ten nach eigenen Angaben mindestens die hebungsinstrumente einflossen. Von August Hälfte oder mehr der 219-Beratungen vor bis September 2020 wurden Beratungsfach- Ort in Präsenz durchgeführt. Der Wunsch kräfte in den Schwangerschaftsberatungsstel- nach Präsenzberatungen dominierte das len in Berlin, Brandenburg, Bayern und Nie- Beratungsgeschehen nicht nur aufseiten dersachsen mittels eines 48 Items umfassen- der Klient*innen, denn „eigentlich ist die den Online-Fragebogens befragt (umgesetzt Nachfrage nach direkter Beratung relativ mit der Software LimeSurvey). Am Ende der hoch, also die Frauen wollen eher kom- Erhebungsphase lagen 287 vollständig ausge- men“ (Frau Schubert), sondern auch auf füllte Fragebögen vor. Die Auswertung der fachlicher Seite. In den Interviews finden quantitativen Daten bildete die Grundlage für sich Hinweise, dass dahinter der Wunsch acht vertiefende, qualitative Expert*innen-In- nach Normalität und gewohnten Abläufen terviews (Ulrich 2006), die im November 2020 steht, selbst wenn diese mit gewissen pan- durchgeführt wurden. Die im Folgenden dar- demiebedingten Einschränkungen verbun- gestellten Ergebnisse basieren auf den Daten den sind (bspw. Gesprächsunterbrechun- der Online-Erhebung und den anschließend gen durch Lüftungspausen, Weinen oder geführten acht Interviews. Schluchzen mit Maske). Insgesamt fühlten sich die Berater*innen in ihren etablierten Beratungsabläufen gestört, vertraute Bera- Beratungsformate tungsstandards mussten zum Teil aufgeho- ben werden. Anstelle des üblichen Settings Mit Beginn der Pandemie waren die Prä- gab es nun große, funktionale Räume, offe- senzberatungen deutlich zurückgegan- ne Türen und Fenster, große Tische und eine gen – das zeigen sowohl die Ergebnisse der niedrige Raumtemperatur, was aus Sicht der Online-Erhebung als auch die Antworten Berater*innen Einfluss auf die Atmosphäre aus den Interviews. Teilweise waren Prä- und das Sicherheitsgefühl der Klient*innen senzberatungen während des Lockdowns hatte. Die Einschränkungen wurden den- komplett untersagt oder nur in Ausnahmen noch als bewältigbar erlebt und unter dem möglich. Auch nach Beendigung des ersten Aspekt toleriert, dass Präsenzberatung Lockdowns ließen sich Auswirkungen auf überhaupt angeboten werden konnte. die Präsenzberatung erkennen. In der On- Während des Lockdowns wurden Tele- line-Befragung etwa gab ein kleiner Anteil fonberatungen zum gängigen und legiti- von 12 Prozent an, dass seit der Pandemie mierten Beratungsformat, und auch nach vor Ort keine Beratungen stattgefunden dem Lockdown ist es die primäre Alterna- hätten. Insgesamt hatten lediglich rund 30 tive zur Präsenzberatung geblieben. Insge- Prozent der Beratungen vor Ort in der Bera- samt 98 Prozent der Befragten hatten wäh- tungsstelle stattgefunden. Diese Zahl speist rend der Pandemie Beratungen via Telefon sich vorwiegend aus Beratungen nach § 219 geführt, darunter 75 Prozent in mehr als der StGB2, denn 51 Prozent der Befragten hat- Hälfte ihrer Beratungen. Anders in der Bera- tung nach § 219 StGB: Mehr als 40 Prozent 2 § 219 StGB regelt die Pflichtberatung, die Voraus- der Befragten hatten gar keine Beratungen setzung für einen nicht strafbewährten Schwan- per Telefon und nur knapp 30 Prozent mehr gerschaftsabbruch ist (§ 218 a StGB). als die Hälfte der Beratungen telefonisch ge- Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
Krolzik-Matthei, Wienholz, Licht, Böhm | Schwangerschaftsberatung und Sexuelle Bildung 213 führt. Eine Beraterin beschrieb den Umstieg den Erhalt der Sichtbarkeit von Mimik und auf Telefonberatung als „eine große Verän- Gestik. derung“ und ergänzt, sie sei nun „ganz viel Deutlich umfangreicher waren jedoch am Telefon mit den Menschen“ (Frau Bau- die kritischen Einschätzungen zu den neuen er). Eine andere Beraterin berichtet, sie habe Formaten: „das eher als positiv erlebt“, und reflektiert Während das Gespräch am Telefon Ge- rückblickend: „Wir hätten vielleicht viel frü- fahren von Unsicherheiten, Missverständ- her schon mal umstellen [sollen] auch auf nissen und Fehldeutungen mit sich brächte, mehr telefonische Beratung.“ (Frau Huber) denn „[e]s fehlt eine Dimension“ (Frau Bau- Die positiven Erfahrungen resultierten aus er), waren Videoberatungen von Sorgen um der Möglichkeit für flexible Lösungen der Gesprächsabbrüche oder -unterbrechungen Kinderbetreuung, dem Wegfall von An- sowie schlechte Bild- und Tonqualität bei fahrtswegen und der Chance auf Partizipa- instabilen Internetverbindungen begleitet. tion von verschiedenen Personen. Vor allem Sowohl in der Video- als auch in der Tele- aber „die ganzen organisatorischen Sachen fonberatung, so einige Befragte, würde es am Telefon abzuklären, wie schaut es mit El- länger dauern, das nötige Vertrauensver- terngeld aus und so weiter, das funktioniert hältnis zwischen Berater*in und Klient*in total gut“ (Frau Haag). aufzubauen. Die Qualität der Beratungen Im Vergleich zur Telefonberatung zeigen und insbesondere die Gesprächsbeziehung die Ergebnisse der Online-Erhebung eine würden leiden: „Also ob ich das nun per deutliche Zurückhaltung gegenüber der Vi- Video mache oder Telefon, ich habe so das deoberatung: 63 Prozent der Befragten hat- Gefühl, dass ich nicht so nah dran bin an ten seit Pandemiebeginn keine Beratungen diesem Thema. Es ist schon irgendwo auch per Video geführt und weitere 29 Prozent mehr Barriere zwischen dieser Frau und in weniger als der Hälfte der Beratungs- mir.“ (Frau Kramarczik) Als ungeeignet gespräche. Konkretisiert auf Beratungen eingestuft wurden beide Beratungsformate nach § 219 StGB wird das Verhältnis noch für „Frauen, die einfach sozial schwach sind eindeutiger, denn 74 Prozent haben keine und wo wir das Gefühl haben, man muss sie Erfahrung mit Videoberatungen gemacht, wirklich angliedern, bei uns persönlich an- weitere 16 Prozent in weniger als der Hälfte gliedern“ (Frau Huber). Eine Beratung am der 219-Beratungen. Nicht nur in der On- Telefon oder auch per Video über Sprach- line-Erhebung waren Videoberatungen die barrieren hinweg sei faktisch nicht zu rea- Ausnahme, auch in den Interviews tauchten lisieren. Hilfsmittel zur Verständigung wie sie als seltenes Phänomen auf. Oft wurden Bilder, Modelle oder Zeichensprache wür- sie nur genutzt, wenn es sich absolut nicht den in der Beratung per Telefon wegfallen, vermeiden ließ: „Aus der Not geboren, wo die Einbeziehung von Sprachmittler*innen wir dann teilweise auch aus dem Homeoffice in Telefon- oder Videoberatungen wurde als heraus gearbeitet haben, haben wir ganz am kaum lösbar eingestuft: „Wenn die Sprache Anfang ein paar wenige Videokonferenzen nicht so gut ist oder auch eine Lernbeein- gemacht.“ (Frau Bauer) Doch ließen sich trächtigung da ist oder irgendwelche beson- in den Interviews auch positive Bewertun- deren Bedürfnisse.“ (Frau Schubert) gen rekonstruieren, wie die Möglichkeit zur Des Weiteren führten die Beratungspro- Flexibilisierung für die Ratsuchenden und zesse durch die Einplanung von Vor- und Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
214 Aus der Praxis Nachbereitungszeiten, zusätzlichen E-Mails, vor der Pandemie die Angebote der Bera- Briefen oder Telefonaten zu einem längeren tungsstelle in Anspruch genommen hatten. Prozedere, einem höheren Workload aufseiten Dass die Gruppen der Geflüchteten und der Berater*innen und erfordern zugleich oft- Migrant*innen beziehungsweise Menschen, mals mehr Eigeninitiative der Ratsuchenden. die zur Inanspruchnahme der Beratung auf Schlussendlich lasse sich das Setting Sprachmittlung angewiesen sind, deutlich schlechter hinsichtlich unerwünschter Zu- seltener in den Beratungsstellen waren, zeig- hörender (z. B. Kinder) kontrollieren. Auch ten auch die Interviews. Sie sind die einzige die Gesprächsfokussierung sei störanfälli- Gruppe, zu der es spontane und eindeutige ger und Ernsthaftigkeit und Fachlichkeit Antworten auf die Frage nach Veränderun- der Gesprächssituation infrage gestellt, vor gen in der Klientel gab. Eine Interviewte allem wenn sich die Klient*innen in einem äußert ihre Befürchtung, dass „auch Flücht- sogenannten „Freizeitsetting“ befinden. lingsfamilien mit wenig Sprachkenntnissen […], dass die uns […] hinten runterfallen“ (Frau Haag). Die Gefahr der fehlenden Er- Inanspruchnahme und reichbarkeit resultiert aus der zeitweiligen Beratungsanliegen Abwesenheit von Präsenzberatungen und der extrem schwierigen Umsetzung von Te- Die dargestellten Einschränkungen und lefon- und Videoberatung (siehe Abschnitt Veränderungen im Beratungsalltag und -ab- zu Beratungsformaten). lauf sowie die generellen Bestimmungen zur Einen ebenso deutlichen Rückgang gab Pandemieeindämmung bedeuten auch Ver- es bei Menschen mit Behinderung: 33 Pro- änderungen hinsichtlich der Klient*innen zent der Befragten der Online-Erhebung ga- und deren Anliegen. ben an, dass diese seltener Beratung gesucht In der quantitativen Befragung gaben hatten. Der Rückgang niedrigschwelliger 28 Prozent der Befragten an, dass sich die Beratung („Spontanberatung“) wurde ange- Klientel während der Pandemie verändert geben, ebenso ein Zuwachs an Beratungen hat. Differenzierungen nach Lebenslagen für Menschen, die von den veränderten (di- zeigten sich vor allem in den Interviews: gitalen) Antragsprozedere der Ämter und Erwähnt wird einerseits, dass Personen Behörden überfordert waren. aus grundsätzlich (finanziell) abgesicher- In der Online-Befragung wurde nach Ver- ten Lebenssituationen seltener Beratung in änderungen in der Inanspruchnahme der Anspruch nahmen. Waren diese Personen einzelnen Beratungsfelder gefragt. Hinsicht- aber von Einkommenseinbußen durch vor lich der Beratung nach § 219 StGB blieb die allem pandemiebedingte Kurzarbeit be- Inanspruchnahme weitgehend unverändert troffen, waren sie häufiger Klient*innen (58 %), jeweils ein Fünftel gab an, dass die in den Beratungsstellen. Klient*innen mit 219-Beratung seltener beziehungsweise häu- lebenslagenunabhängigen Beratungsanlie- figer in Anspruch genommen worden ist. gen, beispielsweise zu Elterngeld, Eltern- Die Inanspruchnahme von Beratungen zu zeit etc., nahmen seltener Beratungen wahr. Partnerschaft und Sexualität hat sich dagegen Für Menschen mit eingeschränkten oder gravierend verändert: 69 Prozent gaben an, ohne Deutschkenntnisse gaben 57 Prozent dass dieser Bereich seltener in Anspruch ge- der Befragten an, dass diese seltener als nommen wurde. Auch alle weiteren Themen Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
Krolzik-Matthei, Wienholz, Licht, Böhm | Schwangerschaftsberatung und Sexuelle Bildung 215 der Beratung (Kinderwunsch, Verhütung, gruppen, Elternfrühstücke, Begleitung nach PND) wurden seltener in Anspruch genom- der Geburt, Hausbesuche). Während einer- men (54 %). Differenzierter nach den Bera- seits Angebote wie die Unterstützung beim tungsanliegen gefragt, gaben 61 Prozent der Ausfüllen von Anträgen nicht mehr statt- Befragten an, dass es Veränderungen gab. finden können, haben andererseits klein- Auch hinsichtlich der Anliegen nahmen teilige Unterstützungsleistungen durch die Fragen zur lebenslagenunabhängigen (fi- Beratungsstellen zugenommen. So berichtet nanziellen) Unterstützung für Familien eher eine Interviewte, dass durch die Schließung ab, weil entsprechende Informationen in der der Ämter und Behörden für den Publi- Vermutung der Interviewten eher selbst- kumsverkehr die Klient*innen in besonders ständig online gesucht wurden. Vervielfacht schwierigen Lebenslagen in die Beratungs- hatten sich Beratungen zu konkreten Un- stelle kamen und dort um ganz praktische terstützungen für Familien in finanziellen Unterstützung, zum Beispiel beim Kopieren Notlagen, insbesondere betrifft dies Anträge von Unterlagen, gebeten haben. Es finden an die Stiftung Mutter-und-Kind. Aber auch sich Hinweise darauf, dass die Kontakte mit Beratungen zu Auswirkungen von Kurzar- Klient*innen häufig pragmatischer abliefen beitergeld auf die Berechnung des Eltern- und auf Informationen über antragsnotwen- geldes kann dafür exemplarisch angeführt dige Fakten und den Austausch von Unter- werden: „Was sich natürlich verändert hat, lagen reduziert waren. sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Wenn ich jetzt während der Pandemie Kurz- arbeitergeld bekommen habe, dass viele da Beratung nach § 219 StGB nicht wussten, wie wird das Elterngeld be- rechnet, also Unsicherheiten.“ (Frau Voigt) Die Beratung nach § 219 StGB hat in den Be- Darüber hinaus nahmen die Berate- ratungsstellen hohe Priorität. In der Online- r*innen einen deutlich gestiegenen existen- Befragung gaben 94 Prozent der Befragten ziellen Druck auf Schwangere und ihre (zu- an, dass dieses Angebot in ihrer Beratungs- künftigen) Familien wahr. Das betrifft den stelle kontinuierlich aufrechterhalten wur- finanziellen, aber vor allem auch den psy- de – auch während des ersten Lockdowns chischen Druck, da übliche Unterstützungs- im März 2020. Die besondere rechtliche angebote gerade für belastete Familien (z. B. Lage und die hohe Priorität spiegeln sich in Haushaltshilfe) in der Pandemie nicht mehr der Nutzung der Beratungsformate für die oder schwieriger verfügbar sind: „[…] vor 219-Beratung wider. Sobald die Möglichkeit allem mehr diese psychische Belastung der bestand, wurde die 219-Beratung vor Ort in Familien und auch dieser Druck zu Hause. der Beratungsstelle durchgeführt: „Also am Also, diese Frauen einfach, […] diese gan- Anfang natürlich gar nicht, es war ja vier zen sozialen Komponenten fallen weg, wo Wochen sozusagen nur per Telefon, Chat. die sich austauschen können, treffen mit Und haben dann die SKB, die Schwanger- Freundinnen oder so. Also, die sind so iso- schaftskonfliktberatung wieder Präsenz ge- liert.“ (Frau Huber) macht.“ (Frau Wolf) Sämtliche niedrigschwelligen Angebote Notwendigerweise fanden jedoch auch und Zugangsmöglichkeiten der Beratungs- diese Beratungen per Telefon oder – deut- stellen sind weggebrochen (bspw. Krabbel- lich seltener – per Video statt. In diesen Fäl- Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
216 Aus der Praxis len konnte die Beratungsbescheinigung onaler Ebene, dass es zu Einschränkungen nicht unmittelbar persönlich übergeben und Engpässen beim Zugang zu und der In- werden. Trotz möglicherweise bestehender anspruchnahme von Schwangerschaftsab- Kontaktbeschränkungen, so zeigen es die brüchen kommt, unter anderem durch quantitativen Daten, wurde die Beratungs- Überlastungen der Krankenhäuser in der bescheinigung überwiegend persönlich Versorgung von Covid-19-Patient*innen. übergeben (65 %). Die zweithäufigste Vari- Die Interviewten3 schilderten eher geringe ante war der Postversand an die beratene bis keine Einschränkungen im Zeitraum des Person (56 %), gefolgt vom E-Mail-Versand ersten Lockdowns und zu Beginn der Pan- (20 %). Andere Varianten (Fax, Brief oder demie in Deutschland. Tendenzen wurden E-Mail an Ärzt*in) wurden sehr selten ge- dort allerdings erkennbar. So deutete sich nutzt. Die konkrete Umsetzung erforderte an, dass in Gegenden, in denen die Zahl der von Trägern, Beratungsstellen und den ein- durchführenden Ärzt*innen und Kliniken zelnen Berater*innen vor allem zu Beginn ohnehin gering ist, es auch entsprechend zu viel Engagement und Kreativität. Die Inter- pandemiebedingten Engpässen kam. In Re- viewaussagen zeigten die große Sorgfalt und gionen mit ausreichender Versorgung Sensibilität für Fragen zu Anonymität, Da- konnte diese auch während der Pandemie tenschutz und der Sicherstellung, dass der aufrechterhalten werden. Hinweise darauf, eingetragene Name auf der Beratungsbe- „dass es einen Mehraufwand für die Frauen scheinigung mit dem der beratenen Person bedeutete, dann vielleicht doch noch mal und der Empfängerin übereinstimmt: ein bisschen weiter zu fahren“ (Frau Voigt) „[…] wir haben eine Liste erstellt mit kamen vor, wurden von den Interviewten Code-Wörtern oder mit Passwörtern, aber als durchaus zumutbar eingeschätzt. und die Frauen haben dann ein Pass- Eine andere Interviewte, tätig in einer Bera- wort bekommen oder ein Code-Wort, tungsstelle in einer Region mit ohnehin ein- was sie dann an der Tür bei Abholung geschränkter Versorgung, berichtet aller- des Scheins gesagt haben. Und dann den dings von größeren Versorgungsproblemen: Schein bekommen haben und auch ihren „[…] gerade im Frühjahr, wo auch das Namen an der Tür ausgefüllt haben. Da- Krankenhaus auch noch gar nicht so ge- bei geht es nicht darum, dass wir Iden- nau wusste, wie geht das jetzt weiter, wie tität prüfen, ne, das macht man generell entwickeln sich die Zahlen hier auch im nicht in der Schwangerschaftskonfliktbe- Landkreis, und die haben dann vorsorg- ratung, aber einfach, dass die nicht mit lich viele Eingriffe abgesagt, sodass es dem leeren Schein nach Hause gehen.“ sehr, sehr schwierig war für die Frauen, (Frau Wolf) überhaupt einen Platz zu finden, wo sie So konnte vermieden werden, dass die den Eingriff haben machen lassen kön- Beratenen bei Abholung noch einmal ihren nen.“ (Frau Kramarczik) Namen nennen und entsprechend ihre Iden- In der Folge mussten die Berater*innen die tität preisgeben mussten. vorhandenen Adresslisten mit Kliniken und Gefragt wurden die Interviewten auch Praxen, die Abbrüche durchführen, neu re- nach ihrer Wahrnehmung der medizini- schen Versorgungslage. Hintergrund sind 3 Aus der quantitativen Erhebung liegen hierzu Befürchtungen auf nationaler und internati- keine Ergebnisse vor. Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
Krolzik-Matthei, Wienholz, Licht, Böhm | Schwangerschaftsberatung und Sexuelle Bildung 217 cherchieren und den Umkreis erweitern. barkeit und Erleichterung zurück. Durch Insgesamt ergeben sich aus den bisher vor- die gehäuften Absagen konnten teilweise handenen Interviewdaten keine Hinweise spontan Termine vereinbart werden, wovon auf einen flächendeckenden medizinischen einige Einrichtungen profitierten. Präsenz- Versorgungsengpass. Ein ähnliches Bild veranstaltungen in Schulen wurden unter lässt sich für die Arbeit der Krankenkassen den bekannten Maßnahmen durchgeführt während der ersten Pandemiemonate zeich- (z. B. Masken, Abstand, Lüften) und Ange- nen. Die Interviewten berichteten weitestge- bote hygienekonform umstrukturiert: Auf hend von funktionierenden Strukturen für Bewegungsspiele oder Methoden, bei denen die ungewollt Schwangeren bei der Beantra- Materialien von den Teilnehmenden be- gung der Kostenübernahme für den Ab- rührt werden, wurde weitestgehend verzich- bruch. Aber auch hier deutet sich ein wie- tet. Einige Berater*innen berichteten von derkehrendes Narrativ an: Was vor der Pan- Gruppenteilungen und -reduzierungen. Die demie schlecht war, wurde unter Umstrukturierung beinhaltete in einem Fall Pandemiebedingungen schlechter. Was vor- die Implementierung von Frontalunterricht. her gut war, war auch weiterhin gut oder zu- Ließen die Bestimmungen es zu, wurden mindest ausreichend funktional. auch Alternativen, beispielsweise Präsenz- termine in Außenbereichen von Mutter- Kind-Einrichtungen und Frauenhäusern, Sexuelle Bildung erprobt. Auch andere Projekte, die unter Sexueller Bildung verortet werden können Die Sexuelle Bildung wurde durch die Co- (z. B. eine Ausstellung zum Welt-AIDS-Tag vid-19-Pandemie erheblich eingeschränkt, oder Straßenstände), wurden von den Bera- wie sich in der quantitativen Befragung tungsstellen abgesagt. zeigt: 98 Prozent der Berater*innen ga- Strategien zum Auffangen des fehlenden ben an, dass sie das Angebot der Sexuellen Präsenzangebotes gestalteten sich unter- Bildung nicht wie zuvor aufrechterhalten schiedlich: Themen der Sexuellen Bildung konnten. 84 Prozent der Befragten bestä- wurden digital aufgearbeitet, um Schulen tigten, dass weniger Angebote durchgeführt Materialien zur Verfügung zu stellen, On- wurden. Eine Interviewpartnerin berichtet: line-Formate für Jugendliche waren zum „[…] das ist tatsächlich, also das ist wirk- Befragungszeitpunkt in Planung, manche lich unser Sorgenkind, muss ich echt sagen.“ Beratungsstellen boten Online-Angebote (Frau Huber) Ob und in welcher Form An- per Video für Multiplikator*innen an und gebote Sexueller Bildung stattfanden, wurde konnten somit eine neue Zielgruppe er- von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie schließen. Doch berichtete eine Befragte die qualitative Befragung verdeutlicht. So auch davon, dass sie für die sexualpädago- spielen vor allem das jeweilige Pandemiege- gischen Angebote keine digitale Alternati- schehen, die regionalen Verordnungen und ve angeboten hatte, da sie sich als „nicht so die diesbezügliche Ausgestaltung seitens der technikaffin“ (Frau Hoffmann) erlebe. Einrichtungen und Beratungsstellen eine Die Einschränkungen der sexualpädago- Rolle. gischen Angebote hatten Auswirkungen auf Fanden sexualpädagogische Angebote die Vernetzung der Beratungsstelle: So be- statt, meldeten daran Interessierte Dank- richteten immerhin 30 Prozent der Befragten Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
218 Aus der Praxis von einem Wegfall von Kooperationsstruk- „[…] natürlich auch immer im Hinterkopf. turen. Besonders der reduzierte Kontakt Wenn Sie so eine Stelle bewilligt bekommen, zwischen Beratungsstellen und Schulen müssen Sie natürlich eigentlich am Ende des wurde auch in den Interviews bestätigt. Die Jahres auch eine vernünftige Statistik vor- Sexuelle Bildung scheint im Netzwerk kei- weisen können, ne?“ (Frau Kramarczik) ne Priorität zu haben, stattdessen steht die In den Interviews wird mit Blick auf die Vermeidung von Infektionsrisiken durch unterschiedlichen Zielgruppen sexueller Gruppenzusammentreffen im Vordergrund. Bildung unter anderem ein Rückgang der Ebenso stellt die Planung externer Angebote Projekte mit geflüchteten Personen be- unter Pandemiebedingungen für die Schu- schrieben, dieser habe sich allerdings bereits len eine größere Herausforderung dar. Doch vor Corona abgezeichnet. Insgesamt werden die Kooperationspartner*innen wüssten vor allem Sorgen um sogenannte „Rand- um die Existenz der Beratungsstellen: „Die gruppen“ (Frau Huber) geäußert. Hierbei fragen dann eh nach, wenn sie etwas brau- werden nicht-heterosexuelle Jugendliche chen.“ (Frau Bauer) und Personen, die sexualisierte Gewalt Auf die Beratungsstellen hatten die Ein- erleb(t)en, genannt, die sich nach Angebo- schränkungen der sexualpädagogischen ten Sexueller Bildung gelegentlich bei den Projekte Auswirkungen bezüglich der Team- Beraterinnen meldeten. zusammenstellung und der Aufgabenvertei- lung. 33 Prozent der Befragten berichteten, dass die für die Sexuelle Bildung zuständi- Fazit und Ausblick gen Kolleg*innen nun im Bereich der Be- ratungen eingesetzt worden seien, wodurch Als Schockstarre beschrieben Interviewte sich die Beratungskapazitäten erhöhten und ihre erste Reaktion mit Beginn des Lock- die Terminvergabe flexibler gestaltet werden downs im März 2020. Innerhalb kürzester konnte. Nur 5 Prozent der Berater*innen ga- Zeit und unter sich täglich ändernden Rah- ben an, dass Sexualpädagog*innen ihrer Be- menbedingungen mussten Beratungsstellen ratungsstelle in Kurzarbeit gehen mussten. und Berater*innen Wege finden, um den Insgesamt nutzten 66 Prozent der Befragten Beratungsstellenalltag oder zumindest das den Wegfall Sexueller Bildung zur Umstruk- gesetzlich verankerte Angebot von Bera- turierung vorhandener Angebote: „Insofern tungen nach § 219 StGB aufrechterhalten gab es da Umstellungen, aber die konnte ich zu können. Während die psychosoziale Ver- jetzt auch in dem Bereich Sexualpädagogik sorgung – wenn auch anders ausgestaltet – sehr gut nutzen und war auch wichtig, glau- unter den Pandemiebedingungen der ersten be ich, dass wir da zukunftsfähig bleiben.“ Welle gesichert war, lässt sich dies aus den (Frau Haag) Eine weitere Auswirkung für vorliegenden Daten für Fragen nach der die Beratungsstellen stellten die Einbußen medizinischen Versorgung beim Schwan- bei Eigenmitteln dar, was 20 Prozent der Be- gerschaftsabbruch nicht eindeutig sagen. fragten bestätigten. Sexuelle Bildung dient Unterstützt von angepassten gesetzlichen den Beratungsstellen als Finanzierungsquel- Vorgaben und getragen vom engagiert- le und muss in Sachberichten nachgewie- pragmatischen Handeln der Berater*innen sen werden. Dies ist nun nicht oder nur in entwickelte sich dieser Umstellungs- und verringerter Zahl möglich und ist als Sorge Anpassungsprozess in den ersten Monaten Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
Krolzik-Matthei, Wienholz, Licht, Böhm | Schwangerschaftsberatung und Sexuelle Bildung 219 der Pandemie. Die neu oder verstärkt zum Hofer, S. 2020: Schwangerschaftsberatung online und telefonisch möglich, abrufbar unter: https:// Einsatz kommenden Möglichkeiten der Be- www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/coro- ratung auf Distanz stellten für Fachkräfte navirus-krise-schwangerschaftsabbruch-bera- und Klient*innen Herausforderungen dar. tung-online-telefon-pandemie [04.05.2021]. Gleichzeitig eröffneten die neuen Formate pro familia Bundesverband 2020: Gemeinsame Er- klärung der Zivilgesellschaft. In: pro familia Maga- Möglichkeiten der Flexibilisierung und Ziel- zin, Heft 2/2020, 5–6. gruppenorientierung. Ullrich, P. 2006: Das explorative ExpertInneninterview. Für den Bereich der Sexuellen Bildung Modifikationen und konkrete Umsetzung der Aus- hatte die Pandemie in den ersten Monaten wertung von ExpertInneninterviews nach Meu- ser/Nagel. In: Engartner et al. (Hrsg.): Die Trans- gravierende Folgen. Und auch die Gruppe formation des Politischen. Berlin, 100–109. der Klient*innen, die ohnehin in schwieri- gen, belasteten Situationen lebt, konnte zum Katja Krolzik-Matthei Teil schwieriger oder gar nicht mehr von ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich den Beratungsstellen erreicht werden. Soziale Arbeit.Medien.Kultur der Hochschule Merse- burg. Inwiefern sich diese Tendenzen von E-Mail: katja.krolzik-matthei@hs-merseburg.de Chancen auf der einen und Herausforde- rungen auf der anderen Seite in der Phase Sabine Wienholz der zweiten und dritten Welle der Pandemie ist seit 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin unter der Professur für Schulpädagogik an der Erziehungs- entwickelt haben, wird die Studie in einer wissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig zweiten Erhebungswelle bundesweit quanti- beschäftigt. tativ und in weiteren 40 Interviews ab Mai E-Mail: Sabine.Wienholz@uni-leipzig.de 2021 untersuchen. Johanna Licht ist u. a. Referentin für Sexuelle Bildung I bei der AIDS- Literatur Hilfe Halle. Baier, A./von Rauch, C. 2020: Schwangerschaftsab- E-Mail: johannalicht@web.de brüche in Zeiten von Corona – eine Zwischenbi- lanz, abrufbar unter: https://doctorsforchoice. Maika Böhm de/2020/04/zwischenbilanz-corona ist Professorin für Sexualwissenschaft und Familien- [04.05.2021]. planung an der Hochschule Merseburg. Böhm, M./Licht, J./Krolzik-Matthei, K./Urban, M. E-Mail: maika.boehm@hs-merseburg.de 2020: Das Forschungsprojekt „Schwanger- schaftsberatung während der Covid-19-Pande- mie aus Sicht von Beratungsfachkräften“. In: Fo- rum Sexualaufklärung. Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln, 42–43. Beltz Juventa | Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit · Nr. 3/2021
Sie können auch lesen