Charles Baudelaire und die Vervielfachung der Individualität

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Charles Baudelaire
       und die Vervielfachung der Individualität

                          Norbert Miller

                                Wollt’, ich könnt’ sein wie Jupiter selig
                                                  in tausend Gestalten,
                                             wär’ Verwendung für jede.

In vier Folgen erschien während der ersten Märzhälfte 1851, fünf
Jahre vor dem Skandal um die Fleurs du mal, in der Zeitschrift Le
Messager de l’Assemblée ein längerer Aufsatz von Charles Baudelaire
unter dem Titel: »Du vin et du hachisch, comparés comme moyens
de multiplication de l’individualité«. Aus Briefandeutungen geht
hervor, dass der Dichter und Schriftsteller schon damals den Plan
hatte, die Fernwirkungen zu untersuchen, die von Drogen auf das
Bewusstsein, vor allem aber auf den schöpferischen Prozess von und
bei Künstlern erwartet werden können. Kein unbedenkliches The-
ma für einen Dichter und Essayisten, der schon immer durch seine
Schriften gleichermaßen Aufmerksamkeit und Abscheu erregt hatte.
An Alkohol-Exzesse hatte Baudelaire sich schon in seiner Schulzeit
gewöhnt, mit Haschisch war er um 1842, vermutlich kurz nach der
Rückkehr von seiner großen Reise in den Indischen Ozean in Berüh-
rung gekommen. Zu unregelmäßigen Zeiten kehrte der Opiumesser,
vor allem auf den berühmten Séancen im Hotel Pimodan auf der
Île Saint-Louis zurück und machte sich wohl Notizen, die er Jahre
später für die Haschischdichtung (Le Poème du hachisch) in seinem
Prosaband Les Paradis artificiels (1860) wiederverwendete. Einmal
mehr sah er sich in die Lage versetzt, in herausfordernder Offenheit
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über den Gebrauch und Missbrauch von verpönten, ja verbotenen
Rausch-Substanzen zu sprechen und gleichzeitig diese Bekenntnisse
durch eine glaubwürdige Gestik des Vorbehalts, der Verwerfung, ja
des Abscheus, auf Distanz zu halten.
   Für das Verständnis des vergleichsweise knappen Zeitschriften-
beitrags und der daraus weitergesponnenen Abhandlung über die
künstlichen Paradiese ist der Hinweis förderlich, dass nur im Aufsatz
der Alkohol – und das noch beschränkt auf den Wein, nicht ausgedehnt
auf alle anderen Formen der Trunkenheit! – in halb ernst zu neh-
mendem, halb gespieltem Widerwillen gegen den Haschisch-Rausch
ausgespielt wird, der das Subjekt beinahe mechanisch auf sich selbst
zurückverweise. Von der aus vier Gedichten bestehenden, dem Wein
gewidmeten Abteilung der späteren Fleurs du mal waren damals die
programmatischen sechs Strophen: »L’Âme du Vin« erschienen, und
das ausgerechnet im Magazin des familles (vom Juni 1850; wiederab-
gedruckt in dem vom 27. September 1851 zum Druck freigegebenen
Almanach démocratique pour 1852: La République du peuple). Nicht
nur in der Tendenz, sondern zum Teil im wörtlichen Zitat stimmt das
Gedicht genau mit dem ersten Teil des späteren Aufsatzes überein; denn
hier wie dort wird der öffentlich verworfene, moralisch diffamierte
Alkohol, all das Saufen aus Armut und Verzweiflung, polemisch in
Schutz genommen gegen andere, das Bewusstsein verändernde Dro-
gen. Der Alkohol bleibe der Freund und Helfer der Armen, der Segen
in der Ausweglosigkeit, die – wenn schon flüchtige – Einladung zur
Geselligkeit für den Einsamen. Im Gedicht ist es die Seele des Weins,
der in jedem Glas verborgene Gott Bacchus als Festredner seiner selbst,
der in den leidenschaftlichen Strophen seiner Apologie den billigen
Fusel des armen Mannes mit Nektar und Ambrosia vergleicht, dem
Mahl und Trank der Götter, zu dem der Herr selbst – in wundersamer
Verschränkung der Metaphern! – das kostbare Saatgut ausgestreut hat,
damit aus ihm die Dichtung und der Traum als die seltensten Blüten
dem Himmel zurückgeschenkt werden können.
    Un soir, l’âme du vin chantait dans les bouteilles:
    »Homme, vers toi je pousse, ô cher déshérité,
    Sous ma prison de verre et mes cires vermeilles,
    Un chant plein de lumière et de fraternité!
    [...]
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität    9

  En toi je tomberai, végétale ambroisie,
  Grain précieux jeté par l’éternel Semeur,
  Pour que de notre amour naisse la poésie
  Qui jaillira vers Dieu comme une rare fleur!«
  Eines Abends sang die Seele des Weines in den Flaschen:
  »Zu dir, o Mensch, erhebe ich, o teurer Enterbter, in meinem
  Glasverlies und unter rotem Siegellack ein strahlendes, ein
  brüderliches Lied!
  [...]
  Pflanzliches Ambrosia, werde ich in dich sinken, kostbares
  Korn, das der ewige Sämann ausgeworfen hat, auf dass uns-
  rer Liebe die Poesie entspringe, die sich zu Gott erheben wird
  wie eine seltene Blume!«
Manierierter als die anderen Gedichte der Abteilung, von toller Be-
weglichkeit in den nur halb verfugten Anspielungen, wurde dieses
Poem über die Seele des Weins zum ersten Schlüssel, mit dessen Hilfe
Baudelaire sich die verbotenen Kammern und Gänge einer gegen-
göttlichen, einer dämonischen Dichtung aufschließen wollte. Eine
genuine Zusammengehörigkeit zwischen dem Akt der künstlerischen
Schöpfung und der passiv-entgrenzten Phantasie des Trinkers ließ
sich so als eine Art Grundgleichung für das Verhältnis des schöpferi-
schen Ich zu seinem Schöpfer ausdeuten. Für seinen Aufsatz änderte
Baudelaire die Tendenz, aus der er den Wein mit jener Geisterstimme
reden lässt, die nur Geistern vernehmlich ist. Die Paraphrase wird,
so umakzentuiert, zu einem neuen, zu einem Prosagedicht (in der
emphatischen Steigerung des gesprochenen Worts bereits getragen
vom halb gebrochenen Pathos der eigenen, gleichzeitig entstehenden
poèmes en prose!), das der beinahe wörtlich übernommenen Schluss-
strophe eine ganz veränderte Botschaft entnimmt:
  Wie ein pflanzliches Ambrosia werde ich tief in deine Brust
  stürzen. Ich werde das Korn sein, das da Frucht bringt in der
  unter Schmerzen aufgegrabenen Furche. Aus unserer innigen
  Verbindung wird die Poesie entstehen. Wir beide, ein Gott
  werden wir zusammen sein, und uns aufschwingen in die Un-
  endlichkeit, wie die Vögel, die Schmetterlinge, die Marienfäden,
  die Düfte und alles, was Flügel hat.
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Aus dem Bund zwischen dem Alkohol und dem trinkenden Dichter
entspringt nicht mehr eine Poesie, die sich zu Gott emporhebt wie eine
seltene Blume: Gott selbst werden sie gemeinsam sein im Angesicht
der Unendlichkeit. Der blasphemisch auszudeutende Hinweis auf
die Versuchungen des Erlösers durch den Satan wird aufgehoben in
der Auflösung des Bildes von der fremd aufblühenden Blume durch
die schwirrende Aufzählung alles dessen, was – im näheren oder
ferneren Verständnis des Wortes – Flügel hat.
   Für die Zwecke seiner Abhandlung verändert Baudelaire an der
Rede des Weins die vorausstehenden Strophen und gibt den bloßen
Andeutungen des Segens, der vom Göttertrank für den gewöhnlichen
Sterblichen ausgehen kann, durch kräftigere Markierungen und Bei-
spiele den sozialen Charakter, das Menschenverbindende, das dem
Wein inne wohnt. Fraternité, die Brüderlichkeit als das dritte und
wichtigste der Zwingworte aus der Französischen Revolution wird
jetzt dem Glücks- und Hoffnungsgesang dieses neuen Geistes aus der
Flasche zugrunde gelegt: Der von Weinbauern unter harten Mühen
gepflegte, geerntete und gekelterte Wein weiß in seinem gläsernen
Kerker, dass er seine Existenz der menschlichen Arbeit verdankt. So
wird er dem Armen, dem Unglücklichen, dem Ausgestoßenen im
Trinken das Glück und den Traum der Unendlichkeit zurückbringen
und seinen Enthusiasmus der leidenden, selbst der stumpfen Krea-
tur für den Augenblick zurückgeben. Im Gedicht bleibt es bei der
hymnischen Selbstfeier des Weins, der im Voraus den Dank der von
ihm beglückten genießt, den des arbeitsmüden Mannes oder des zur
sonntäglichen Freude erweckten Weibes, der Wiedergenesenen und
der mit neuer Kraft ausgestatteten Kämpfer. In der Rede des Weins
gewinnen die Metaphern die Anschaulichkeit des täglichen, auch des
modernen Lebens:
     Reichlich will ich dir meine Schuld bezahlen, denn groß ist
     meine Lust, wenn ich tief in eine Kehle stürze, die von der Ar-
     beit durstig ist. Die Brust eines rechtsschaffenden Mannes ist
     ein Aufenthalt, der mir weit mehr behagt als diese trübseligen,
     fühllosen Keller. Sie ist ein fröhliches Grab, darin ich meinen
     Auftrag mit Begeisterung erfülle. In dem Magen des Arbeiters
     veranstalte ich ein gewaltiges Drunter und Drüber und über
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität     11

  unsichtbare Treppen steige ich von dort in sein Gehirn auf, wo
  ich meinen höchsten Tanz vollführe [...]
Auffallend an Baudelaires Untersuchung ist der breit ausgeführte
Vergleich zwischen der täglichen Last des Proletariers und dem als
immer peinigenden Sporn empfundenen Schaffen des Künstlers. In
einer bürgerlichen, saturierten Gesellschaft, die ihre Opfer verlangt,
bleiben sie beide Außenseiter, niedergedrückt ins Elend und in die
Hoffnungslosigkeit. Darum das Bestreben Baudelaires, die soziale
Funktion des Weins – die härteren Stufen des Alkoholkonsums bleiben
ausgespart: der Schnaps, der Absinth! – gegen das elitäre Haschisch
auszuspielen, dessen Genuss jedes Ich auf sich selbst zurückweist.
Die Anregung zu dem Lobgedicht auf den Wein, die Freisetzung des
poetischen Überschwangs, ja der poetischen Trunkenheit durch das
gewissermaßen lyrische Heraufrufen von Alkohol-Assoziationen, hat
ihr Vorbild natürlich und selbstverständlich in Baudelaires schon
länger zurückliegender Lektüre von Thomas de Quinceys Confessions
of an English Opium Eater (zuerst erschienen im London Magazine
von September bis Oktober 1821, eine anonyme, romanhafte Bearbei-
tung der englischen Vorlage von Alfred de Musset erschien in Paris
1828). Besonders der Anfang des zweiten Abschnitts übernimmt den
Hymnen-Ton, mit dem de Quincey das Opium in geradezu mystischen
Tönen gefeiert hatte. Da hieß es:
  Oh gerechtes, unendlich zartes, machtvolles Opium, das du den
  Herzen der Armen und der Reichen ohne Unterschied für die
  Wunden, die nie verheilen, und für die Qualen, die den Geist
  zur Aufruhr treiben, lindernden Balsam bringst! Sprachgewal-
  tiges Opium, das du mit deiner Redekraft die Pläne des Zorns
  entführst und dem Schuldigen für eine Nacht die Hoffnungen
  seiner Jugend zurückgibst [...] Du rufst vor den Richterstuhl der
  Träume zum Triumph der leidenden Unschuld die Meineidigen
  und die falsches Zeugnis reden, und die Urteile der ungerech-
  ten Richter stößt du um. Aus den Tiefen der Dunkelheit, aus
  dem phantastischen Bildstoff der Gehirne führst du Städte und
  Tempel auf, schöner als die Werke des Phidias und Praxiteles,
  herrlicher als die Pracht von Babylon und Hekatompylos [...] Du
  allein teilst dem Menschen diese Gaben aus, und du verwahrst
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     die Schlüssel des Paradieses, oh gerechtes, unendlich zartes,
     machtvolles Opium.
Jetzt überführt Baudelaire diesen Lobpreis des Opiums in seinen
festlich-antikisierenden Prosa-Hymnus auf Dionysos-Bakchos.
     Tiefe Freuden des Weines, wer hat euch nicht gekannt? Wer
     einen Gewissensbiß zu beschwichtigen, eine Erinnerung her-
     aufzubeschwören, einen Schmerz zu ertränken, ein Luftschloß
     zu erbauen hatte, sie alle haben dich angerufen, geheimnisvoller
     Gott, der sich in den Fasern des Weinstocks verbirgt. Wie groß
     sind doch die Schauspiele des Weines, die eine innere Sonne
     erleuchtet. Wie wahr und voller Inbrunst ist diese zweite Jugend,
     die der Mensch aus ihm schöpft! Aber wie fürchterlich auch
     sind seine zerschmetternden Wonnen und seine entnervenden
     Bezauberungen! [...]
     Manchmal ist mir ich höre den Wein sprechen – er spricht
     mit seiner Seele, mit jener Geisterstimme, die nur Geistern
     vernehmlich ist.
Baudelaire paraphrasiert das Gedicht, das wir eben in Auszügen
angeführt und beschrieben haben, mit seinen eigenen charakteris-
tischen Veränderungen und Erweiterungen. Aus der Emphase, die
zur zitierten Rede des Weins hinführte, löst er sich und schaltet vor
die Sentenzen oder Glaubenssätze im dritten Teilabschnitt zwei mit
leichterer Hand nacherzählte Szenen. Sie sind wie Beleg-Geschichten
oder Gleichnisse in seine Predigt eingestreut. Da ist die eigentliche
Künstleranekdote, die das Zusammenwirken zweier Musiker zum
Exempel deklariert: mit dem jungen Niccolò Paganini, der sich sein
dämonisches Geigenspiel selbst beigebracht oder es vom Teufel ge-
lernt hat, treibt sich im Elend ein nicht weniger begabter, spanischer
Gitarrenspieler herum: zwei Ausgestoßene, die als Vagabunden oder
Zigeuner durch die Straßen und Kneipen ziehen, im Augenblick des
Konzerts jedoch über ihre Armut hinaus zu göttlicher Größe auf-
wachsen: »Mein Spanier war so begabt, dass er wie Orpheus sagen
durfte: Ich bin der Herr der Natur.« Allein zurückgelassen, schlägt
sich der Spanier mit seiner Gitarre eher kümmerlich durch, auch
wenn sein Talent nie unbemerkt bleibt. Als er einmal zur festgesetzten
Stunde nicht zum Musizieren erscheint, findet man ihn betrunken
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität      13

neben seinem neuen Freund, einem Steinmetz und Bestattungs-
Unternehmer. Der wird im Suff vom Gitarristen angestiftet, ihn auf
seiner Fiedel zu begleiten. Und, oh Wunder: Der Steinmetz versucht,
auf der betrunkenen Geige irgend etwas zu spielen, die erstbeste
Weise, die ihm einfällt:
  Mit einem Mal erklingt eine Melodie, kräftig und süß, verspielt
  und gesammelt zugleich, und diese Melodie umhüllt, erstickt,
  löscht und verbirgt den kreischenden Lärm. Die Gitarre singt
  so laut, dass man die Geige nicht mehr hört. Und dennoch spielt
  sie die gleiche Weise, die weinselige Weise, die der Steinmetz an-
  gestimmt hatte. – Die Gitarre spricht mit gewaltiger Klangfülle,
  sie redet, sie singt, sie deklamiert mit bestürzendem Schwung,
  mit einer unerhörten Sicherheit und Reinheit des Vortrags. Die
  Gitarre improvisiert eine Variation über das Thema der wie von
  einem Blinden gestrichenen Geige. Sie ließ sich davon führen,
  und umhüllte die schmächtige Nacktheit der Töne mütterlich
  mit einem prächtigen Gewand. Mein Leser wird verstehen, dass
  sich so etwas nicht beschreiben läßt; ein wahrheitsliebender und
  ernstzunehmender Zeuge hat mir von der Begebenheit erzählt.
Der Geist des Weins ist wie der Heilige Geist erst über die Künstler
gekommen, den die Geige quälenden Steinmetz und den neuen,
der Natur enthobenen Orpheus, dann über das Spiel der beiden
selbst, unauflöslich ineinander verwoben durch den die Musik selbst
weckenden Melodie-Einfall oder -Zufall, schließlich über die wie im
Märchen vom Geigenspiel trunken gewordenen Zuhörer. »Unter wel-
cher Sonne hat er seine letzten Träume geträumt?« sinniert Baudelaire
»in welchem Boden ruht seine kosmopolitische Höhle? In welchem
Straßengraben hat er sein Leben ausgehaucht?«
   Das ist die eine, die Künstler-Anekdote. Die abschließenden Fragen
übertragen das unbegreifliche Wunder der trunkenen Fidel und der
vollkommenen Gitarre auf das Verhältnis von Bacchus und Apoll, von
Wein und göttlicher Kunst. Dieser Anekdote geht jedoch ein schein-
bar banales, fast jede Nacht in Paris zu beobachtendes Genrebild im
niederländischen Geschmack voraus. Adrian Brouwer oder David
Teniers hätten derlei Schaustücke malen können. Nur verwandelt
sich unter Baudelaires Blick der derbe Schwank in ein bewegendes
Zeugnis für die Menschenliebe jenseits aller Menschenkenntnis, wofür
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nur der Wein gelegentlich zu sorgen weiß. Beide Geschichten sind
Prosagedichte avant la lettre, die in der Anordnung der vom Poeten
erwartbaren Rangfolge gehorchen, im spontanen Überschwang des
Glückstraums dagegen jede vorgegebene Rangordnung auf den Kopf
stellen. Im sprachschöpferischen Enthusiasmus und in der Heiterkeit
nimmt dieses Genrebild eine Sonderstellung innerhalb von Baudelai-
res Werk ein. Da haben auf ihrem nächtlichen Weg von Auberge zu
Auberge zwei Saufkumpane jenen inneren Zielpunkt erreicht, an dem
die Temperamente zwangsläufig nach einem individuell anderen, in
Opposition stehenden Ziel zusteuern:
     Ein Mann liegt ausgestreckt auf der Erde, auf dem Rücken, die
     Augen aufgeschlagen und gen Himmel gerichtet; ein anderer
     steht vor ihm, der nur durch Gebärden zu ihm spricht, während
     der am Boden nur mit den Augen antwortet; beide scheinen
     von einem unbeschreiblichen Wohlwollen durchdrungen. Die
     Gebärden des Stehenden scheinen dem Geist des Liegenden zu
     sagen: »Komm, komm, das Glück erwartet uns, zwei Schritt von
     hier, an der Straßenecke. Noch haben wir die Ufer des Kummers
     nicht ganz aus den Augen verloren, wir sind noch nicht auf dem
     offenen Meer der Träume; nur Mut, mein Freund, sag deinen
     Beinen, sie sollten deinem Geist willfahren.« – Dies alles unter
     harmonischem Schwanken und Schaukeln. Der andere trieb
     vermutlich schon auf dem offenen Meer (er schwamm nebenbei
     in der Gosse), denn sein seliges Lächeln erwiderte: »Laß deinen
     Freund in Frieden, das Ufer des Kummers ist schon weit genug
     hinter wohltätigen Nebeln verschwunden; der Himmel der
     Träume hat mir schon alles gewährt.« Ich glaube sogar einen
     undeutlichen Satz vernommen zu haben, oder viel mehr einen
     Seufzer, der mit lallenden Worten aus seinem Munde kam:
     »Man muß vernünftig sein.« Das ist der Gipfel der Erhabenheit.
Auch diesem Gipfelpunkt des Erhabenen weiß Baudelaire noch eine
steigernde Pointe beizufügen: In freundschaftlicher Aufwallung
will der Gebärden-Freund die Trennung von seinem ins Liegen
festgebannten Blicke-Freund aufheben, will das gesellige Glück in
integrum wiederherstellen. Dazu holt er für die gemeinsame Ausfahrt
einen Strick, den er dem lächelnden und seligen Herzensbruder
unterschlingt. Und so machen sie sich, das Pferd und der Wagen,
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität    15

der Steuermann und das Schiff, auf zu ihrem Rendezvous mit dem
Glück auf dem offenen Meer:
  Der Mann, der gefahren oder vielmehr geschleift wird und dabei
  mit seinem Rücken das Pflaster blank reibt, lächelt noch immer
  sein unaussprechliches Lächeln. – Die Menge steht wie gebannt,
  keiner rührt sich; was zu schön ist, was die poetischen Kräfte
  des Menschen übersteigt, erregt eher Staunen als Rührung. (La
  foule reste stupéfaite; car ce qui est trop beau, ce qui dépasse
  les forces poétiques de l’homme cause plus d’étonnement que
  d’attendrissement.)
Wenn aber das Schöne, wenn der Zustand des vollendeten Glücks
alle Vorstellungskraft übersteigt, dann lässt auch der Wein, dieser
alle Welt zusammenführende Gott, den Einzelnen auf der höchsten
Stufe und für die Dauer des Augenblicks allein zurück. Ehrfürchtig,
nicht zärtlich betrachtet die Menge das Schauspiel; jeder für sich
erkennt die beiden Trunkenen, der eine mit sprechenden Augen, der
andere in stummer Verzückung, den Abstand zwischen ihnen, und
den Abstand, der sie beide noch immer auf ihren Wegen ins offene
Meer trennt.
   Auf eine lange Geschichte der literarischen Trunkenheit konnte nach
1830 in der Pariser Bohème jeder zurückblicken, der sich als Dichter,
Maler oder Musiker verstand. Wer an den legendären Gelagen der
Romantiker, die sich als Gruppe selbst La Jeune France nannten, in
den vor dem Abriss stehenden Häusern der Rue du Doyenné teilnahm,
trug in Kostüm und Erinnerung Jahrhunderte einstiger Künstlerherr-
lichkeit mit sich: Nerval staffierte seine Träume von Schlössern und
Gärten aus dem Valois mit Figuren aus der Zeit von Henri Quatre,
Théophile Gautier schleppte vom Trödel auf Leinwand gezauberte fêtes
galantes von Watteau und Fragonard herbei, denen Camille Corot seine
eigenen Landschaften als Wandmalereien gegenüberstellte. Céléstin
Nanteuil illustrierte Historien und Romane aus dem Mittelalter à la
Notre-Dame de Paris, während der Baron Loève-Veimars aus seinen
Übersetzungen von E.T.A. Hoffmanns Nachtstücken oder den Elixiren
des Teufels vorlas. Gemeinsam schwelgten man in der französischen
Literatur zwischen Renaissance und Frühbarock, aus deren Fundus
Nerval mit Hilfe seiner Freunde, vor allem aber gestützt auf seine
eigene immense Belesenheit eine Auswahl herausgegeben und ihren
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für die Gegenwart verbindlichen Charakter durch ein langes, altkluges
Vorwort verteidigt hatte . Wie er schwärmte auch Gautier von den
Libertins oder Freigeistern jener Übergangsepoche, vor allem von der
aufrührerischen Lyrik des Théophile de Viau und von den phantas-
tischen Weltentwürfen des Raufbolds und Liedersängers Cyrano de
Bergerac. Überall da war das Saufen als den eigenen Ausbrüchen der
dichterischen Phantasie nahe empfunden, der Gott Bacchus als der
zweite Schutzgott der Poesie neben Apoll angesehen worden.
   Auch Baudelaire, der diesem wie jedem anderen Treiben nur von au-
ßen zusah, waren seit Jugendtagen die Saufreden aus François Rabelais’
Gargantua et Pantagruel vertraut, in denen wiederum die Erinnerung
an das wilde Dichten des so elend verkommenen, göttlichen Poeten
François Villon nachlebte, und wie allen anderen Romantikern standen
ihm die Auftritte des trinkfesten Sir John Falstaff und der erhabene
Wahnsinn der Trinkgelage aus Shakespeares Lustspielen vor Augen:
immerwährende Herausforderung der eigenen inszenatorischen
Einbildungskraft. Dass er deshalb die Szenen in Auerbachs Keller aus
Goethes Faust-Tragödie bewunderte, teilte er mit Alexandre Dumas
und Hector Berlioz. Vor allem aber sah er unter den nach Frankreich
hinüberwirkenden Romantikern den zu früh verstorbenen Berliner
Dichter und Komponisten Ernst Theodor Amadeus Hoffmann als ein
ihm wahlverwandtes Vorbild an. Der Kammergerichtsrat, der nach
getaner Arbeit nächtens mit seinem engsten Freund Ludwig Devirent
und anderen seiner Serapionsbrüder im Weinhaus von Lutter & Weg-
ner zechte und danach seine unvergleichlichen Fantasiestücke und
Märchen verfasste, war ihm vertrauter noch als den meisten Artisten
seiner Umgebung. In Jules Barbiers und Michel Carrés berühmtem
Theaterstück von 1851 Les Contes d’Hoffmann wurde diese Vision des
trunkenen Genies zum heroischen Rahmen einer dreigeteilten Tragödie
des in der Welt verlorenen Dichters erhoben, deren Auswirkungen
durch Jacques Offenbachs gleichnamige Oper von 1881 ja bis in die
Gegenwart spürbar sind.
   Am Saufen selbst hatte Baudelaire keinerlei darstellerisches Interesse.
Nicht an der delirierenden Glockenrede des vom Wein verwirrten
Janotus, Rektors an der Sorbonne, und nicht an den hundert anderen
Späßen über feuchte oder trockene Trunkenheit bei Rabelais, sondern
einzig am fernab gelegenen und heiligen Flaschenorakel der Bakbuk,
zu dem der Riese Pantagruel mit seinem ganzen Hofstaat, wie einst
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