Charles Baudelaire und die Vervielfachung der Individualität
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Charles Baudelaire und die Vervielfachung der Individualität Norbert Miller Wollt’, ich könnt’ sein wie Jupiter selig in tausend Gestalten, wär’ Verwendung für jede. In vier Folgen erschien während der ersten Märzhälfte 1851, fünf Jahre vor dem Skandal um die Fleurs du mal, in der Zeitschrift Le Messager de l’Assemblée ein längerer Aufsatz von Charles Baudelaire unter dem Titel: »Du vin et du hachisch, comparés comme moyens de multiplication de l’individualité«. Aus Briefandeutungen geht hervor, dass der Dichter und Schriftsteller schon damals den Plan hatte, die Fernwirkungen zu untersuchen, die von Drogen auf das Bewusstsein, vor allem aber auf den schöpferischen Prozess von und bei Künstlern erwartet werden können. Kein unbedenkliches The- ma für einen Dichter und Essayisten, der schon immer durch seine Schriften gleichermaßen Aufmerksamkeit und Abscheu erregt hatte. An Alkohol-Exzesse hatte Baudelaire sich schon in seiner Schulzeit gewöhnt, mit Haschisch war er um 1842, vermutlich kurz nach der Rückkehr von seiner großen Reise in den Indischen Ozean in Berüh- rung gekommen. Zu unregelmäßigen Zeiten kehrte der Opiumesser, vor allem auf den berühmten Séancen im Hotel Pimodan auf der Île Saint-Louis zurück und machte sich wohl Notizen, die er Jahre später für die Haschischdichtung (Le Poème du hachisch) in seinem Prosaband Les Paradis artificiels (1860) wiederverwendete. Einmal mehr sah er sich in die Lage versetzt, in herausfordernder Offenheit
8 Norbert Miller über den Gebrauch und Missbrauch von verpönten, ja verbotenen Rausch-Substanzen zu sprechen und gleichzeitig diese Bekenntnisse durch eine glaubwürdige Gestik des Vorbehalts, der Verwerfung, ja des Abscheus, auf Distanz zu halten. Für das Verständnis des vergleichsweise knappen Zeitschriften- beitrags und der daraus weitergesponnenen Abhandlung über die künstlichen Paradiese ist der Hinweis förderlich, dass nur im Aufsatz der Alkohol – und das noch beschränkt auf den Wein, nicht ausgedehnt auf alle anderen Formen der Trunkenheit! – in halb ernst zu neh- mendem, halb gespieltem Widerwillen gegen den Haschisch-Rausch ausgespielt wird, der das Subjekt beinahe mechanisch auf sich selbst zurückverweise. Von der aus vier Gedichten bestehenden, dem Wein gewidmeten Abteilung der späteren Fleurs du mal waren damals die programmatischen sechs Strophen: »L’Âme du Vin« erschienen, und das ausgerechnet im Magazin des familles (vom Juni 1850; wiederab- gedruckt in dem vom 27. September 1851 zum Druck freigegebenen Almanach démocratique pour 1852: La République du peuple). Nicht nur in der Tendenz, sondern zum Teil im wörtlichen Zitat stimmt das Gedicht genau mit dem ersten Teil des späteren Aufsatzes überein; denn hier wie dort wird der öffentlich verworfene, moralisch diffamierte Alkohol, all das Saufen aus Armut und Verzweiflung, polemisch in Schutz genommen gegen andere, das Bewusstsein verändernde Dro- gen. Der Alkohol bleibe der Freund und Helfer der Armen, der Segen in der Ausweglosigkeit, die – wenn schon flüchtige – Einladung zur Geselligkeit für den Einsamen. Im Gedicht ist es die Seele des Weins, der in jedem Glas verborgene Gott Bacchus als Festredner seiner selbst, der in den leidenschaftlichen Strophen seiner Apologie den billigen Fusel des armen Mannes mit Nektar und Ambrosia vergleicht, dem Mahl und Trank der Götter, zu dem der Herr selbst – in wundersamer Verschränkung der Metaphern! – das kostbare Saatgut ausgestreut hat, damit aus ihm die Dichtung und der Traum als die seltensten Blüten dem Himmel zurückgeschenkt werden können. Un soir, l’âme du vin chantait dans les bouteilles: »Homme, vers toi je pousse, ô cher déshérité, Sous ma prison de verre et mes cires vermeilles, Un chant plein de lumière et de fraternité! [...]
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität 9 En toi je tomberai, végétale ambroisie, Grain précieux jeté par l’éternel Semeur, Pour que de notre amour naisse la poésie Qui jaillira vers Dieu comme une rare fleur!« Eines Abends sang die Seele des Weines in den Flaschen: »Zu dir, o Mensch, erhebe ich, o teurer Enterbter, in meinem Glasverlies und unter rotem Siegellack ein strahlendes, ein brüderliches Lied! [...] Pflanzliches Ambrosia, werde ich in dich sinken, kostbares Korn, das der ewige Sämann ausgeworfen hat, auf dass uns- rer Liebe die Poesie entspringe, die sich zu Gott erheben wird wie eine seltene Blume!« Manierierter als die anderen Gedichte der Abteilung, von toller Be- weglichkeit in den nur halb verfugten Anspielungen, wurde dieses Poem über die Seele des Weins zum ersten Schlüssel, mit dessen Hilfe Baudelaire sich die verbotenen Kammern und Gänge einer gegen- göttlichen, einer dämonischen Dichtung aufschließen wollte. Eine genuine Zusammengehörigkeit zwischen dem Akt der künstlerischen Schöpfung und der passiv-entgrenzten Phantasie des Trinkers ließ sich so als eine Art Grundgleichung für das Verhältnis des schöpferi- schen Ich zu seinem Schöpfer ausdeuten. Für seinen Aufsatz änderte Baudelaire die Tendenz, aus der er den Wein mit jener Geisterstimme reden lässt, die nur Geistern vernehmlich ist. Die Paraphrase wird, so umakzentuiert, zu einem neuen, zu einem Prosagedicht (in der emphatischen Steigerung des gesprochenen Worts bereits getragen vom halb gebrochenen Pathos der eigenen, gleichzeitig entstehenden poèmes en prose!), das der beinahe wörtlich übernommenen Schluss- strophe eine ganz veränderte Botschaft entnimmt: Wie ein pflanzliches Ambrosia werde ich tief in deine Brust stürzen. Ich werde das Korn sein, das da Frucht bringt in der unter Schmerzen aufgegrabenen Furche. Aus unserer innigen Verbindung wird die Poesie entstehen. Wir beide, ein Gott werden wir zusammen sein, und uns aufschwingen in die Un- endlichkeit, wie die Vögel, die Schmetterlinge, die Marienfäden, die Düfte und alles, was Flügel hat.
10 Norbert Miller Aus dem Bund zwischen dem Alkohol und dem trinkenden Dichter entspringt nicht mehr eine Poesie, die sich zu Gott emporhebt wie eine seltene Blume: Gott selbst werden sie gemeinsam sein im Angesicht der Unendlichkeit. Der blasphemisch auszudeutende Hinweis auf die Versuchungen des Erlösers durch den Satan wird aufgehoben in der Auflösung des Bildes von der fremd aufblühenden Blume durch die schwirrende Aufzählung alles dessen, was – im näheren oder ferneren Verständnis des Wortes – Flügel hat. Für die Zwecke seiner Abhandlung verändert Baudelaire an der Rede des Weins die vorausstehenden Strophen und gibt den bloßen Andeutungen des Segens, der vom Göttertrank für den gewöhnlichen Sterblichen ausgehen kann, durch kräftigere Markierungen und Bei- spiele den sozialen Charakter, das Menschenverbindende, das dem Wein inne wohnt. Fraternité, die Brüderlichkeit als das dritte und wichtigste der Zwingworte aus der Französischen Revolution wird jetzt dem Glücks- und Hoffnungsgesang dieses neuen Geistes aus der Flasche zugrunde gelegt: Der von Weinbauern unter harten Mühen gepflegte, geerntete und gekelterte Wein weiß in seinem gläsernen Kerker, dass er seine Existenz der menschlichen Arbeit verdankt. So wird er dem Armen, dem Unglücklichen, dem Ausgestoßenen im Trinken das Glück und den Traum der Unendlichkeit zurückbringen und seinen Enthusiasmus der leidenden, selbst der stumpfen Krea- tur für den Augenblick zurückgeben. Im Gedicht bleibt es bei der hymnischen Selbstfeier des Weins, der im Voraus den Dank der von ihm beglückten genießt, den des arbeitsmüden Mannes oder des zur sonntäglichen Freude erweckten Weibes, der Wiedergenesenen und der mit neuer Kraft ausgestatteten Kämpfer. In der Rede des Weins gewinnen die Metaphern die Anschaulichkeit des täglichen, auch des modernen Lebens: Reichlich will ich dir meine Schuld bezahlen, denn groß ist meine Lust, wenn ich tief in eine Kehle stürze, die von der Ar- beit durstig ist. Die Brust eines rechtsschaffenden Mannes ist ein Aufenthalt, der mir weit mehr behagt als diese trübseligen, fühllosen Keller. Sie ist ein fröhliches Grab, darin ich meinen Auftrag mit Begeisterung erfülle. In dem Magen des Arbeiters veranstalte ich ein gewaltiges Drunter und Drüber und über
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität 11 unsichtbare Treppen steige ich von dort in sein Gehirn auf, wo ich meinen höchsten Tanz vollführe [...] Auffallend an Baudelaires Untersuchung ist der breit ausgeführte Vergleich zwischen der täglichen Last des Proletariers und dem als immer peinigenden Sporn empfundenen Schaffen des Künstlers. In einer bürgerlichen, saturierten Gesellschaft, die ihre Opfer verlangt, bleiben sie beide Außenseiter, niedergedrückt ins Elend und in die Hoffnungslosigkeit. Darum das Bestreben Baudelaires, die soziale Funktion des Weins – die härteren Stufen des Alkoholkonsums bleiben ausgespart: der Schnaps, der Absinth! – gegen das elitäre Haschisch auszuspielen, dessen Genuss jedes Ich auf sich selbst zurückweist. Die Anregung zu dem Lobgedicht auf den Wein, die Freisetzung des poetischen Überschwangs, ja der poetischen Trunkenheit durch das gewissermaßen lyrische Heraufrufen von Alkohol-Assoziationen, hat ihr Vorbild natürlich und selbstverständlich in Baudelaires schon länger zurückliegender Lektüre von Thomas de Quinceys Confessions of an English Opium Eater (zuerst erschienen im London Magazine von September bis Oktober 1821, eine anonyme, romanhafte Bearbei- tung der englischen Vorlage von Alfred de Musset erschien in Paris 1828). Besonders der Anfang des zweiten Abschnitts übernimmt den Hymnen-Ton, mit dem de Quincey das Opium in geradezu mystischen Tönen gefeiert hatte. Da hieß es: Oh gerechtes, unendlich zartes, machtvolles Opium, das du den Herzen der Armen und der Reichen ohne Unterschied für die Wunden, die nie verheilen, und für die Qualen, die den Geist zur Aufruhr treiben, lindernden Balsam bringst! Sprachgewal- tiges Opium, das du mit deiner Redekraft die Pläne des Zorns entführst und dem Schuldigen für eine Nacht die Hoffnungen seiner Jugend zurückgibst [...] Du rufst vor den Richterstuhl der Träume zum Triumph der leidenden Unschuld die Meineidigen und die falsches Zeugnis reden, und die Urteile der ungerech- ten Richter stößt du um. Aus den Tiefen der Dunkelheit, aus dem phantastischen Bildstoff der Gehirne führst du Städte und Tempel auf, schöner als die Werke des Phidias und Praxiteles, herrlicher als die Pracht von Babylon und Hekatompylos [...] Du allein teilst dem Menschen diese Gaben aus, und du verwahrst
12 Norbert Miller die Schlüssel des Paradieses, oh gerechtes, unendlich zartes, machtvolles Opium. Jetzt überführt Baudelaire diesen Lobpreis des Opiums in seinen festlich-antikisierenden Prosa-Hymnus auf Dionysos-Bakchos. Tiefe Freuden des Weines, wer hat euch nicht gekannt? Wer einen Gewissensbiß zu beschwichtigen, eine Erinnerung her- aufzubeschwören, einen Schmerz zu ertränken, ein Luftschloß zu erbauen hatte, sie alle haben dich angerufen, geheimnisvoller Gott, der sich in den Fasern des Weinstocks verbirgt. Wie groß sind doch die Schauspiele des Weines, die eine innere Sonne erleuchtet. Wie wahr und voller Inbrunst ist diese zweite Jugend, die der Mensch aus ihm schöpft! Aber wie fürchterlich auch sind seine zerschmetternden Wonnen und seine entnervenden Bezauberungen! [...] Manchmal ist mir ich höre den Wein sprechen – er spricht mit seiner Seele, mit jener Geisterstimme, die nur Geistern vernehmlich ist. Baudelaire paraphrasiert das Gedicht, das wir eben in Auszügen angeführt und beschrieben haben, mit seinen eigenen charakteris- tischen Veränderungen und Erweiterungen. Aus der Emphase, die zur zitierten Rede des Weins hinführte, löst er sich und schaltet vor die Sentenzen oder Glaubenssätze im dritten Teilabschnitt zwei mit leichterer Hand nacherzählte Szenen. Sie sind wie Beleg-Geschichten oder Gleichnisse in seine Predigt eingestreut. Da ist die eigentliche Künstleranekdote, die das Zusammenwirken zweier Musiker zum Exempel deklariert: mit dem jungen Niccolò Paganini, der sich sein dämonisches Geigenspiel selbst beigebracht oder es vom Teufel ge- lernt hat, treibt sich im Elend ein nicht weniger begabter, spanischer Gitarrenspieler herum: zwei Ausgestoßene, die als Vagabunden oder Zigeuner durch die Straßen und Kneipen ziehen, im Augenblick des Konzerts jedoch über ihre Armut hinaus zu göttlicher Größe auf- wachsen: »Mein Spanier war so begabt, dass er wie Orpheus sagen durfte: Ich bin der Herr der Natur.« Allein zurückgelassen, schlägt sich der Spanier mit seiner Gitarre eher kümmerlich durch, auch wenn sein Talent nie unbemerkt bleibt. Als er einmal zur festgesetzten Stunde nicht zum Musizieren erscheint, findet man ihn betrunken
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität 13 neben seinem neuen Freund, einem Steinmetz und Bestattungs- Unternehmer. Der wird im Suff vom Gitarristen angestiftet, ihn auf seiner Fiedel zu begleiten. Und, oh Wunder: Der Steinmetz versucht, auf der betrunkenen Geige irgend etwas zu spielen, die erstbeste Weise, die ihm einfällt: Mit einem Mal erklingt eine Melodie, kräftig und süß, verspielt und gesammelt zugleich, und diese Melodie umhüllt, erstickt, löscht und verbirgt den kreischenden Lärm. Die Gitarre singt so laut, dass man die Geige nicht mehr hört. Und dennoch spielt sie die gleiche Weise, die weinselige Weise, die der Steinmetz an- gestimmt hatte. – Die Gitarre spricht mit gewaltiger Klangfülle, sie redet, sie singt, sie deklamiert mit bestürzendem Schwung, mit einer unerhörten Sicherheit und Reinheit des Vortrags. Die Gitarre improvisiert eine Variation über das Thema der wie von einem Blinden gestrichenen Geige. Sie ließ sich davon führen, und umhüllte die schmächtige Nacktheit der Töne mütterlich mit einem prächtigen Gewand. Mein Leser wird verstehen, dass sich so etwas nicht beschreiben läßt; ein wahrheitsliebender und ernstzunehmender Zeuge hat mir von der Begebenheit erzählt. Der Geist des Weins ist wie der Heilige Geist erst über die Künstler gekommen, den die Geige quälenden Steinmetz und den neuen, der Natur enthobenen Orpheus, dann über das Spiel der beiden selbst, unauflöslich ineinander verwoben durch den die Musik selbst weckenden Melodie-Einfall oder -Zufall, schließlich über die wie im Märchen vom Geigenspiel trunken gewordenen Zuhörer. »Unter wel- cher Sonne hat er seine letzten Träume geträumt?« sinniert Baudelaire »in welchem Boden ruht seine kosmopolitische Höhle? In welchem Straßengraben hat er sein Leben ausgehaucht?« Das ist die eine, die Künstler-Anekdote. Die abschließenden Fragen übertragen das unbegreifliche Wunder der trunkenen Fidel und der vollkommenen Gitarre auf das Verhältnis von Bacchus und Apoll, von Wein und göttlicher Kunst. Dieser Anekdote geht jedoch ein schein- bar banales, fast jede Nacht in Paris zu beobachtendes Genrebild im niederländischen Geschmack voraus. Adrian Brouwer oder David Teniers hätten derlei Schaustücke malen können. Nur verwandelt sich unter Baudelaires Blick der derbe Schwank in ein bewegendes Zeugnis für die Menschenliebe jenseits aller Menschenkenntnis, wofür
14 Norbert Miller nur der Wein gelegentlich zu sorgen weiß. Beide Geschichten sind Prosagedichte avant la lettre, die in der Anordnung der vom Poeten erwartbaren Rangfolge gehorchen, im spontanen Überschwang des Glückstraums dagegen jede vorgegebene Rangordnung auf den Kopf stellen. Im sprachschöpferischen Enthusiasmus und in der Heiterkeit nimmt dieses Genrebild eine Sonderstellung innerhalb von Baudelai- res Werk ein. Da haben auf ihrem nächtlichen Weg von Auberge zu Auberge zwei Saufkumpane jenen inneren Zielpunkt erreicht, an dem die Temperamente zwangsläufig nach einem individuell anderen, in Opposition stehenden Ziel zusteuern: Ein Mann liegt ausgestreckt auf der Erde, auf dem Rücken, die Augen aufgeschlagen und gen Himmel gerichtet; ein anderer steht vor ihm, der nur durch Gebärden zu ihm spricht, während der am Boden nur mit den Augen antwortet; beide scheinen von einem unbeschreiblichen Wohlwollen durchdrungen. Die Gebärden des Stehenden scheinen dem Geist des Liegenden zu sagen: »Komm, komm, das Glück erwartet uns, zwei Schritt von hier, an der Straßenecke. Noch haben wir die Ufer des Kummers nicht ganz aus den Augen verloren, wir sind noch nicht auf dem offenen Meer der Träume; nur Mut, mein Freund, sag deinen Beinen, sie sollten deinem Geist willfahren.« – Dies alles unter harmonischem Schwanken und Schaukeln. Der andere trieb vermutlich schon auf dem offenen Meer (er schwamm nebenbei in der Gosse), denn sein seliges Lächeln erwiderte: »Laß deinen Freund in Frieden, das Ufer des Kummers ist schon weit genug hinter wohltätigen Nebeln verschwunden; der Himmel der Träume hat mir schon alles gewährt.« Ich glaube sogar einen undeutlichen Satz vernommen zu haben, oder viel mehr einen Seufzer, der mit lallenden Worten aus seinem Munde kam: »Man muß vernünftig sein.« Das ist der Gipfel der Erhabenheit. Auch diesem Gipfelpunkt des Erhabenen weiß Baudelaire noch eine steigernde Pointe beizufügen: In freundschaftlicher Aufwallung will der Gebärden-Freund die Trennung von seinem ins Liegen festgebannten Blicke-Freund aufheben, will das gesellige Glück in integrum wiederherstellen. Dazu holt er für die gemeinsame Ausfahrt einen Strick, den er dem lächelnden und seligen Herzensbruder unterschlingt. Und so machen sie sich, das Pferd und der Wagen,
Einleitung oder die Vervielfachung der Individualität 15 der Steuermann und das Schiff, auf zu ihrem Rendezvous mit dem Glück auf dem offenen Meer: Der Mann, der gefahren oder vielmehr geschleift wird und dabei mit seinem Rücken das Pflaster blank reibt, lächelt noch immer sein unaussprechliches Lächeln. – Die Menge steht wie gebannt, keiner rührt sich; was zu schön ist, was die poetischen Kräfte des Menschen übersteigt, erregt eher Staunen als Rührung. (La foule reste stupéfaite; car ce qui est trop beau, ce qui dépasse les forces poétiques de l’homme cause plus d’étonnement que d’attendrissement.) Wenn aber das Schöne, wenn der Zustand des vollendeten Glücks alle Vorstellungskraft übersteigt, dann lässt auch der Wein, dieser alle Welt zusammenführende Gott, den Einzelnen auf der höchsten Stufe und für die Dauer des Augenblicks allein zurück. Ehrfürchtig, nicht zärtlich betrachtet die Menge das Schauspiel; jeder für sich erkennt die beiden Trunkenen, der eine mit sprechenden Augen, der andere in stummer Verzückung, den Abstand zwischen ihnen, und den Abstand, der sie beide noch immer auf ihren Wegen ins offene Meer trennt. Auf eine lange Geschichte der literarischen Trunkenheit konnte nach 1830 in der Pariser Bohème jeder zurückblicken, der sich als Dichter, Maler oder Musiker verstand. Wer an den legendären Gelagen der Romantiker, die sich als Gruppe selbst La Jeune France nannten, in den vor dem Abriss stehenden Häusern der Rue du Doyenné teilnahm, trug in Kostüm und Erinnerung Jahrhunderte einstiger Künstlerherr- lichkeit mit sich: Nerval staffierte seine Träume von Schlössern und Gärten aus dem Valois mit Figuren aus der Zeit von Henri Quatre, Théophile Gautier schleppte vom Trödel auf Leinwand gezauberte fêtes galantes von Watteau und Fragonard herbei, denen Camille Corot seine eigenen Landschaften als Wandmalereien gegenüberstellte. Céléstin Nanteuil illustrierte Historien und Romane aus dem Mittelalter à la Notre-Dame de Paris, während der Baron Loève-Veimars aus seinen Übersetzungen von E.T.A. Hoffmanns Nachtstücken oder den Elixiren des Teufels vorlas. Gemeinsam schwelgten man in der französischen Literatur zwischen Renaissance und Frühbarock, aus deren Fundus Nerval mit Hilfe seiner Freunde, vor allem aber gestützt auf seine eigene immense Belesenheit eine Auswahl herausgegeben und ihren
16 Norbert Miller für die Gegenwart verbindlichen Charakter durch ein langes, altkluges Vorwort verteidigt hatte . Wie er schwärmte auch Gautier von den Libertins oder Freigeistern jener Übergangsepoche, vor allem von der aufrührerischen Lyrik des Théophile de Viau und von den phantas- tischen Weltentwürfen des Raufbolds und Liedersängers Cyrano de Bergerac. Überall da war das Saufen als den eigenen Ausbrüchen der dichterischen Phantasie nahe empfunden, der Gott Bacchus als der zweite Schutzgott der Poesie neben Apoll angesehen worden. Auch Baudelaire, der diesem wie jedem anderen Treiben nur von au- ßen zusah, waren seit Jugendtagen die Saufreden aus François Rabelais’ Gargantua et Pantagruel vertraut, in denen wiederum die Erinnerung an das wilde Dichten des so elend verkommenen, göttlichen Poeten François Villon nachlebte, und wie allen anderen Romantikern standen ihm die Auftritte des trinkfesten Sir John Falstaff und der erhabene Wahnsinn der Trinkgelage aus Shakespeares Lustspielen vor Augen: immerwährende Herausforderung der eigenen inszenatorischen Einbildungskraft. Dass er deshalb die Szenen in Auerbachs Keller aus Goethes Faust-Tragödie bewunderte, teilte er mit Alexandre Dumas und Hector Berlioz. Vor allem aber sah er unter den nach Frankreich hinüberwirkenden Romantikern den zu früh verstorbenen Berliner Dichter und Komponisten Ernst Theodor Amadeus Hoffmann als ein ihm wahlverwandtes Vorbild an. Der Kammergerichtsrat, der nach getaner Arbeit nächtens mit seinem engsten Freund Ludwig Devirent und anderen seiner Serapionsbrüder im Weinhaus von Lutter & Weg- ner zechte und danach seine unvergleichlichen Fantasiestücke und Märchen verfasste, war ihm vertrauter noch als den meisten Artisten seiner Umgebung. In Jules Barbiers und Michel Carrés berühmtem Theaterstück von 1851 Les Contes d’Hoffmann wurde diese Vision des trunkenen Genies zum heroischen Rahmen einer dreigeteilten Tragödie des in der Welt verlorenen Dichters erhoben, deren Auswirkungen durch Jacques Offenbachs gleichnamige Oper von 1881 ja bis in die Gegenwart spürbar sind. Am Saufen selbst hatte Baudelaire keinerlei darstellerisches Interesse. Nicht an der delirierenden Glockenrede des vom Wein verwirrten Janotus, Rektors an der Sorbonne, und nicht an den hundert anderen Späßen über feuchte oder trockene Trunkenheit bei Rabelais, sondern einzig am fernab gelegenen und heiligen Flaschenorakel der Bakbuk, zu dem der Riese Pantagruel mit seinem ganzen Hofstaat, wie einst
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