CHINA PAPERS 3 Samuel Huntington - partei Marx

 
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CHINA PAPERS 3 Samuel Huntington

Warum Samuel Huntington?1 Auf Huntington, den ich zu kennen meinte, ohne ihn gelesen
zu haben, wurde ich durch den Aufsatz eines Chefideologen der KPCh, Jiang Shigong,
verwiesen, der in Peter Frankopan: Die neuen Seidenstraßen genannt wird2 und in der
Literaturliste unter einer Unmenge politologischer Titel zu China für mich herausragte.
Frankopans Hinweis auf Jiang Shigongs Aufsatz war dann auch schon das Wichtigste an
diesem Buch, wo im gehobenen SPIEGEL-Format durchaus interessante Lesefrüchte zu
diesem Thema zusammengetragen werden. Jiang Shigongs Aufsatz3 erschien meinem
ersten Eindruck nach nur für China-Sachverständigen verständlich zu sein. Was sich auf
Anhieb aus diesem Text herauslesen ließ, war, daß Jiang Shigong entscheidende Anleihen
bei Huntington macht, wodurch ich dazu angeregt wurde, The Clash of Civilizations zu
lesen. Wenn Autoren wie Spengler, Braudel e.a. mit ihren Schlüsselbegriffen Kultur,
Kulturkreis, Zivilisation Teil des ideologischen Grundgerüsts der heutigen KPCh werden
sollten, läge die Vermutung nahe, daß das auch Auswirkungen bis in die ‚westliche‘ Linke
hinein hat, womit der Aneignungsversuch von Huntington durch Jiang Shigong aufgehört
hätte, eine rein inner-chinesische Angelegenheit zu sein. Ich habe aus meinen Exzerpten
zwei Passagen herausgegriffen, aus denen klar wird, wie stark der chinesische Autor von
Huntington – was er selbstverständlich bestreitet – abhängig ist.

      Eine multipolare, multikulturelle Welt
204 Weltpolitik nach dem Kalten Krieg ist zum ersten Mal in der
Geschichte multipolar und
    multikulturell [multicivilizational] geworden.
Von einer multipolaren Welt träumen auch die Putinisten bei ihrer Forderung nach
Abschaffung der NATO; multikulturell ist außerdem links-grüner Standard.
      Bis 1500 waren Kontakte zwischen den Kulturen sporadisch; im 19. Jht.
      existierte ein multipolares internationales System aus Nationalstaaten:
      EN, FR, SP, OE, PR, DL, USA im Rahmen des westlichen Kulturkreises

1 Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations And the Remaking of World Order, London
  2002 (1997). Ders.: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21
  Jahrhundert, München, Wien 1996.
2 Peter Frankopan: Die neuen Seidenstraßen. Gegenwart und Zukunft unserer Welt, Berlin
  2019 (2018)
3 Jiang Shigong on ‚Philosophy and History: Interpreting the „Xi Jinping Era“ through Xi‘s
  Report to the Nineteenth National Congress of the CCP‘ (Australian Centre on China in the
  World; Translation: David Ownby) thechinastory.org
4 Die Randnummern beziehen sich auf die Seitenzahlen in der deutschen Ausgabe von
  Huntington, Clash of Civilizations.
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      [Western civilization] durch Interaktion und Kämpfe. Alle anderen
      Kulturen [civilization] wurden von den expandierenden westlichen
      Nationen erobert, kolonisiert oder zumindest massiv beeinflußt.
Im Zusammenhang damit stellt sich für mich die Frage, warum die kapitalistische PWeise
sich gerade im westlichen System entwickelt hat, nicht jedoch in den von den ‚westlichen‘
Nationalstaaten eroberten Weltregionen? Auch in China nicht, das bis ca. 1500 diesen
Staaten in vielem, was Infrastruktur, Technik, Kultur betrifft, bedeutend überlegen war.
Warum entstand der industrielle Kapitalismus zunächst ausschließlich in Europa (und
Nordamerika) und nicht auch anderswo?
     Der Kalte Krieg schuf eine bipolare Welt, die in drei Teile zerfiel: zum
     einen die relativ wohlhabenden Gesellschaften, die unter der Führung der
     USA standen; zum anderen den Teil, der von der SU dominiert wurde. Und
     als dritte Gruppe die Staaten der sog. ‚Dritten Welt‘, in der wiederum die
     Konkurrenz zwischen den ersten beiden Gruppen
21   ausgefochten wurde. Dieses triadische System des Kalten Krieges brach
1989 zusammen
     und wurde Geschichte. In der Welt nach dem Kalten Krieg sind die
     wichtigsten Unterscheidungen zwischen Völkern nicht mehr
     ideologischer, politischer oder ökonomischer Art. Sie sind
     kultureller Art [cultural]. Völker und Nationen versuchen heute die
     elementare Frage zu beantworten, vor der Menschen stehen
     können: Wer sind wir? Sie identifizieren sich über Herkunft, Religion,
     Sprache, Geschichte, Werte, Sitten und Gebräuche, Institutionen.
     Sie identifizieren sich mit kulturellen Gruppen: Stämmen,
     ethnischen Gruppen, religiösen Gemeinschaften, Nationen und,
     auf der weitesten Ebene, Kulturkreisen. [civilizations]
Von Huntington ausgehend müßten wir eigentlich kein Problem damit haben, Identität
auch auf den gender auszudehnen, da nach Judith Butler auch das Geschlecht kulturell
definiert ist, woraus deutlich wird, daß Huntington und Butler von demselben Kulturbegriff
ausgehen. Identitäre von Rechts und Links, was aus dem folgenden Satz deutlich wird.
      Menschen benutzen Politik nicht nur dazu, ihre Interessen zu
      fördern, sondern auch dazu, ihre Identität zu definieren. Wir
      wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und
      gegen wen wir sind.
       [People use politics not just to advance their interests but also to define their
       identity. We know who we are only when we know who we are not and often
       only when we know whom we are against.]
Frauen definieren sich als Frauen dadurch, daß sie keine Männer, Weiße dadurch, daß sie
keine Schwarzen, Deutsche dadurch, daß sie keine Ausländer sind... Ob Feminismus,
Ethnizismus oder Nationalchauvinismus, all diesen Selbstdefinitionen liegt dieselbe
eindimensionale Logik einer einfachen Negation zugrunde. Wer von ihr beherrscht wird, ist
von der von einer dritten Seite gelieferten Anerkennung des Kerns dieser Identität
abhängig.
      Zwar wird das Geschehen auf der Welt nach wie vor von
      Nationalstaaten bestimmt, aber deren wichtigste Gruppen verteilen
      sich nicht mehr auf drei Blöcke, sondern inzwischen auf die sieben
      oder acht großen Kulturen. [civilizations] Dazu gehören die nicht-

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      westlichen Gesellschaften in Ostasien, die ihren Wohlstand entwickeln
      und durch Ausweitung ihrer militärischen Macht ihren politischen Einfluß
      erhöhen.
Die Linke geht immer noch von dem alten Dualismus aus, der zwischen dem Westen und
dem Nicht-Westen wirksam sein soll. Sie definiert sich ebenfalls durch eine einfache
Negation.
        In dem Maße, wie Macht und Selbstbewußtsein der nichtwestlichen
        Gesellschaften zunehmen, pochen sie verstärkt auf ihre eigenen
        kulturellen Werte [their own cultural values] und verwerfen diejenigen,
        die ihnen der Westen »aufgezwungen« hat. Kissinger hat 6
        Großmächte ausfindig gemacht, die anderen Nationen ihr System
        aufzwingen: USA,
24      Europa, China, Japan, Rußland, Indien. Diese gehören zu fünf Kulturen
[civilizations],
        zusätzlich die arabischen Staaten, deren Ölreserven weltgeschichtlich
        einflußreich sind. In dieser neuen Welt ist Lokalpolitik die Politik
        der Ethnizität, Weltpolitik die Politik von Kulturkreisen. Die
        Rivalität der Supermächte wird abgelöst vom Konflikt der
        Kulturen.
      [The rivalry of the superpowers is replaced by the clash of civilizations]
      Weltpolitik wird heute nach Maßgabe von Kulturen und
      Kulturkreisen umgestaltet. In dieser Welt werden die
      hartnäckigsten, wichtigsten und gefährlichsten Konflikte nicht
      zwischen sozialen Klassen, Reichen und Armen oder anderen
      ökonomisch definierten Gruppen stattfinden, sondern zwischen
      Völkern, die unterschiedlichen kulturellen Einheiten angehören.
      [In this new world the most pervasive, important, and dangerous conflicts will
      not be between social classes, rich and poor or other economically defined
      groups, but between peoples belonging to different cultural entities.]
      Innerhalb der Kulturkreise treten Stammeskriege und ethnische
      Konflikte auf.
      [Tribal wars and ethnic conflicts will occur within civilizations.]
      Die Gewalt zwischen Staaten und Gruppen unterschiedlicher Kulturkreise
      [civilizations] trägt den Keim der Eskalation in sich, da diesen ihren
      Bruderländern [kin countries] zu Hilfe eilen. Aus dem Kampf der Kulturen
      [civilizations] in Bosnien, im Kaukasus, Mittelasien, Kaschmir werden
      größere Kriege: Rußland unterstützt Serbien; Saudi-Arabien, Türkei, Iran,
      Libyen liefern Geld und Waffen nach Bosnien, aber nicht aus
      ideologischen Gründen, sondern aufgrund kultureller
      Verwandtschaft. [cultural kinship]... Die gefährlichsten Konflikte
      aber sind jene an den Bruchlinien der Kulturen.
      [And the most dangerous cultural conflicts are those along the fault lines
      between civilizations.]
25     Die Welt im Kalten Krieg war durch unterschiedliche Ideologien getrennt,
jetzt finden die
       getrennten Teile, wie das deutsche Beispiel zeigt, auf Grund ihrer

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     gemeinsamen kulturellen Wurzeln zusammen, während die künstlichen
     Gebilde wie die UdSSR oder Jugoslawien oder Bosnien in einzelne Teile
     auseinanderfallen. Die Welt ordnet sich nach kulturellen
     Gemeinsamkeiten neu. Die wesentlichen kulturellen Unterschiede in
     der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Kulturkreise
     (wurzeln) eindeutig in ihren unterschiedlichen kulturellen
     Grundlagen. Der wirtschaftliche Erfolg Ostasiens
28   wurzelt in der Kultur Ostasiens. Aus der islamischen Kultur erklärt sich,
warum in der
     islamischen Welt die Demokratie nicht Fuß faßt, die Aussichten in den
     orthodoxen Staaten Osteuropas und in den muslimischen Republiken [?
     Türkei?] sind düster, während das westlich-christliche Erbe dort
     Fortschritte macht. Der Westen ist und bleibt auf Jahre hinaus der
     mächtigste Kulturkreis der Erde.
      [The West is and will remain for years to come the most powerful civilization.]
Schreibt d.A. noch fröhlich vor 9/11 und Lehman...
      Gleichwohl geht seine Macht zurück.
      [Yet its power relative to that of other civilizations is declining.]
      ... Eine zentrale Achse der Weltpolitik nach dem Kalten Krieg ist
      daher die Interaktion der westlichen Macht und Kultur mit der
      Macht und Kultur nicht-westlicher Gruppierungen.
      [A central axis of post-Cold War world politics is thus the interaction of Western
      power and culture with the power and culture of non-western civilizations.]
      Die Welt nach dem Kalten Krieg ist demnach eine Welt aus
      sieben oder acht großen Kulturkreisen [oder »Zivilisationen«].
      [In sum, the post-Cold War world is a world of seven or eight major civilizations.]

     ... Die Schlüsselthemen auf der internationalen Tagesordnung
     implizieren Unterschiede
29   zwischen Kulturen. Die Macht verschiebt sich allmählich vom
lange vorherrschenden
     Westen auf nichtwestliche Kulturkreise. Die globale Politik ist
     multipolar und multikulturell geworden.
        [Global politics has become multipolar and multicivilizational.]
Die zentralen Begriffe in diesem Buch sind a. die Kulturkreise (Zivilisationen) bestehend
aus b. der Kultur (Zivilisation), die eine Mischung aus ethnisch verwurzelten und tradierten
Religionen ist. Diese Kulturkreise gruppieren sich um einen Kernstaat, der durch seine
Anziehungskraft auf und seine Beziehung zu den Kulturen diesem Festigkeit verleiht,
wodurch verhindert werden soll, daß Kernstaat und Peripherie auseinanderdriften. Das
Charakteristische an diesen Beziehungen ist ihre Horizontalität, ähnlich den Zügen von
Figuren auf einem Schachbrett. Vertikale Beziehungen, also etwa die zwischen den Klassen
einer Gesellschaft, zwischen unterdrückten und Unterdrückernationen oder zwischen einer
Hegemonialmacht und den von ihr dominierten Staaten sind in Huntingtons
organizistischem Weltbild, das er u.a. von O. Spengler bezieht, relativ bedeutungslos: die
Geschichte der Staaten, Völker, Nationen ist ein ständiges Auf- und Ab im ewig
wiederkehrenden Zyklus von Geburt, Reife Absterben und Tod biologischer Organismen als
politische Evolutionsgeschichte. In Huntingtons geschichtslosem zweidimensionalen

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Konfliktschema (das mit Vorliebe auch in der von der Linken und linken Akademikern
verwendeten ‚Ebenen‘ zum Ausdruck kommt, auf denen sich die gesellschaftlichen
Widersprüche ‚abspielen‘ sollen) und in der sich darauf aufbauenden Geschichtsauffassung
bleibt unberücksichtigt, daß der ‚westliche‘ Kapitalismus nirgendwo anders denn im
Westen entstehen konnte und auch nur dort zu seinem gegenwärtigen Zustand gelangt ist.
Und daß gleichzeitig die vielen anderen nicht-‘westlichen‘ Kulturen, die sich vom
‚westlichen‘ Kolonialismus befreit zu haben meinen, bei ihrem Kapitalismus die rules of law
und die civil society als die unverzichtbaren Errungenschaften des Überbaus der
bürgerlichen Gesellschaft – ohne die der Kapitalismus nicht funktioniert – einfach
vergessen haben. Eines allerdings hat die nationale Bourgeoise der ‚Dritten Welt‘ nie
vergessen: daß in den antifeudalen Aufständen, die notwendig waren, um in den
orientalischen Despotien eine dem ‚westlichen‘ Kapitalismus vergleichbare Entwicklung
herbeizuführen, das Proletariat immer die revolutionäre Hefe abgegeben hat, um ein
Minimum an westlicher Entwicklung herbeizuführen. Sehen wir einmal ab von den
halsbrecherischen Versuchen, den ‚westlichen‘ Kapitalismus ‚gestützt auf die eigenen
Kraft‘ überspringen zu wollen, bei denen die Diktatur des Proletariats als ‚westlich‘
modernisierte Orientalische Despotie wieder zum Vorschein kommt. Mein vorläufiges
Resümee: Huntingtons Buch hätte spätestens seit Lehman seinem wohl verdienten
Vergessen anheimfallen können. Was es jedoch heute immer noch aktuell macht, ist die
ideologische Ausstrahlungskraft, die es über die VR China auf die ‚westliche‘ Linke ausübt
(und woraus diese ihre Politik – Stichwort: Identität – ableitet). Und eben diese es gilt es
für uns auf ihren Begriff zu bringen!

      Das Wesen von Kulturen
49    Die menschliche Geschichte ist die Geschichte von Kulturen.
      [Human history is the history of civilizations]
      Es ist unmöglich, die Entwicklung der Menschheit in anderen
      Begriffen zu denken.
       [It is impossible to think of the development of humanity in other terms.]
Also ist menschliche Geschichte keine Geschichte der historischen Menschheit und der
darin sich entfaltenden Klassenkämpfe mehr, sondern lediglich die Geschichte
menschlicher Kulturen als Entwicklungsgeschichte unterschiedlicher Gruppen von
Lebewesen angefangen von Bakterienkulturen und endend mit der Evolution des homo
sapiens. Die idealistische Geschichtsauffassung wird abgelöst durch den szientistischen
Materialismus, ohne ein sich selbst kritisierendes, sich selbst bestimmen sollend/wollendes
Subjekt zugrunde zu legen, dessen zentraler Begriff nicht mehr die Gesellschaft ist,
sondern Kulturen sind. Gesellschaft allerhöchstens im soziologischen Verständnis M.
Webers e.a.
      Diese Geschichte erstreckt sich von der sumerischen, über die
      ägyptische, die klassische, mesoamerikanische Epoche, bis zu den
      westlichen, islamischen, hinduistischen, sinischen Kulturen. Sie bilden
      die Grundlage menschlicher Identifikation5. Historiker, Soziologen,
      Anthropologen erforschen Voraussetzungen, Entstehung, Aufstieg,
      Wechselwirkungen, Errungenschaften, Niedergang und Zerfall
      der Kulturen...
      [As a result, the causes, emergence, rise, interactions, achievements, decline
      and fall of civilizations have provided the broadest identifications for people.]

5 Siehe oben (21): Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und
  gegen wen wir sind.

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50    Zu ihnen rechnet d.A. M. Weber, O. Spengler, A. Toynbee, F. Braudel, I.
Wallerstein e.a.
      Gemeinsam sind ihnen gewisse Aussagen über Wesen, Identität und
      Dynamik von Kulturen. Die Klärung der Begriffe Kultur und Zivilisation
      wird durch ihre unterschiedliche Bedeutung im Deutschen gegenüber
      dem Englischen [obwohl aus gemeinsamen Wurzeln im Lateinischen
      stammend!] erschwert. Hinzukommt daß beide Begriffe in Singular und
      Plural im Englischen unterschiedliche Bedeutungen haben.
      [First, a distinction exists between civilization in the singular and civilization in
      the plural.] Diese führt d.A. auf den im 19. Jahrhundert üblichen Gegensatz
      zwischen zivilisierten Völkern und Barbaren zurück. Dafür wurden
      wissenschaftliche Kriterien entwickelt, die es erlaubten, nicht-
      europäische Gesellschaften [sic? ...non-European societies... Nicht
      mehr: Kulturen?] als hinreichend »zivilisiert« zu beurteilen, um sie
      in das internationale System der Europäer einzuführen. In Abgrenzung
      dazu sprach man aber auch von Zivilisationen im Plural (=
      Kulturkreisen), was gleichbedeutend damit war, »stillschweigend auf
      eine ideale Zivilisation oder vielmehr auf das Ideal der
      Zivilisation [zu] verzichten« und die Idee aufzugeben, es gäbe nur
      einen einzigen Maßstab für Zivilisiertheit, der auf einige wenige
      privilegierte Völker oder Gruppen, die ‚Elite‘ der Menschheit,
      zuträfe.
      [This meant „renunciation of a civilization defined as an ideal, or rather an
      ideal“ and a shift away from the assumption there was a single standard for
      what was civilized, „confined in Braudel‘s phrase, „to a few privileged peoples
      or groups, humanity‘s ‚elite‘“.]
      Man akzeptierte nur noch Zivilisationen im Plural, die jede auf ihre Weise
      zivilisiert waren, sodaß es von nun an viele Zivilisationen gibt.
      [Civilization in the singular, in short, „lost one of its cachet“, and civilization in
      the plural sense could in fact be quite uncivilized in the singular sense.]
      Zivilisationen im Plural (= Kulturkreise) sind Hauptgegenstand des
      Buches,
      [Civilizations in the plural are the concern of this book.]
51   Zivilisation im Singular existiert nur noch als Weltzivilisation. Im
deutschen Sprachgebrauch
     wird Zivilisation (= Technik) der Kultur (= Werte, Ideale, Sitten)
     entgegengesetzt. Dagegen verstehen manche westlichen Anthropologen
     und Historiker unter Kultur eine primitive, statische,
     nichtstädtische Gesellschaft, während komplexe, entwickelte,
     städtische und dynamische Gesellschaften als Zivilisationen
     bezeichnet werden. Diese Ansicht hat sich aber nicht durchgesetzt.
     Nach Braudel sei es illusorisch, »die Kultur nach Art der Deutschen
     von ihrer Grundlage, der Zivilisation, trennen zu wollen«.
      [These efforts to distinguish culture and civilization, however, have not caught
      on, and outside Germany, there is overwhelming agreement with Braudel that it
      is „delusory to wish in the German way to separate culture from its foundation

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      civilization.“]
      Zivilisation und Kultur meinen beide [im englischen
      Sprachgebrauch] die gesamte Lebensweise eines Volkes; eine
      Zivilisation ist eine Kultur in großem Maßstab [im Deutschen ist
      es genau umgekehrt – A.d.Ü.] Beide implizieren die »Werte,
      Normen, Institutionen und Denkweisen, denen
      aufeinanderfolgende Generationen einer gegebenen Gesellschaft
      primäre Bedeutung beimessen«. (Thomas S. Kuhn, Die Struktur
      wissenschaftlicher Revolutionen (1967), 37.)
      [Civilization and culture both refer to the overall way of life of a people, and a
      civilization is a cultural writ6 large. Both involve the „values, norms, institutions,
      and modes of thinking to which successive generations in a given society have
      attached primary importance.] [...]
52   Die entscheidenden Elemente, die eine Kultur definieren, wurden
von den Athenern
     benannt, als sie den Spartanern versicherten, sie würden sie
     nicht an die Perser verraten. Dieses waren Blut, Sprache, Religion,
     Lebensweise, eben das, was sie von den Persern und anderen
     Nichtgriechen unterschied.
      [Blood, language, religion, way of life, were what the Greeks had in common and
      what distinguished them from Persians and other non-Greeks.]
      Von allen objektiven Elementen, die eine Kultur definieren, ist
      jedoch das wichtigste für gewöhnlich die Religion, wie die
      Athener betonten. In ganz hohem Maße identifiziert man die
      großen Kulturen der Menschheitsgeschichte [welche Menschheit –
      welche Geschichte auf einmal?] mit den großen Religionen der Welt;
      und Menschen, die Ethnizität und Sprache miteinander teilen,
      sind fähig, so im Libanon, im frühen Jugoslawien und auf dem
      indischen Subkontinent –, einander abzuschlachten, weil sie an
      verschiedene Götter glauben.
Für die Athener waren die Spartaner ebenso Nichtgriechen, wie es auch die Perser
waren; nämlich in beiden Fällen Nicht-Athener! Diese unterschieden nicht zwischen den
Metropolen und der ‚Dritten Welt‘, auch nicht zwischen primitiven und aufgeklärten
Religionen. Ihr gemeinsames Schicksal war, daß sie sich bekriegen und einander
versklaven mußten, gleichgültig, welchen Namen sie diesem Schicksal beilegten. Nach
Xenophanes sind für die Griechen die Götter hellhäutig, für die Äthiopier dunkelhäutig.
Entscheidend ist, daß diese Götter über das Schicksal der Griechen und über das der
Äthiopier bestimmen. Es bleibt unklar, ob nach der Definition d.A.s Griechen und Spartaner
demselben Kulturkreis angehören. Geht man von den von ihm bezeichneten
Unterscheidungsmerkmalen aus (blood, language, religion), dann spielen diese, wie
sich am Beispiel von Die Perser von Aischylos zeigt, keine nennenswerte keine Rolle.7 Aber:

6 Erlaß, (Heilige) Schrift, Vorladung vor Gericht.
7 »Aischylos verschließt gewiß nicht die Augen vor den Leistungen seiner
  Landsleute. Den triumphalen Erfolg der Perserkriege aber schreibt er dem Wirken
  der Götter zu, die nicht wollten, daß Xerxes die ihm als Mensch und Herrscher
  gesetzten Grenzen überschritte. Kein Wort der Feindschaft oder gar Gehässigkeit
  gegenüber dem geschlagenen Gegner läßt sich in diesem Stück nachweisen. Im

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    Es gibt eine signifikante Entsprechung zwischen der an
    kulturellen Merkmalen orientierten Einteilung der Menschen in
    Kulturkreise und ihrer an physischen Merkmalen orientierten
    Einteilung in Rassen. Freilich sind Kulturkreis und Rasse nicht
    identisch. Angehörige einer Rasse können durch ihre
    Zugehörigkeit zu unterschiedlichen
53  Kulturkreisen tief gespalten | sein. Angehörige verschiedener
Rassen können durch einen
    Kulturkreis geeint sein. Das trifft besonders auf die missionarischen
    Religionen zu (Islam, Christentum), die Gesellschaften aus den
    verschiedensten Rassen (umfassen) können.
       [A significant correspondence exists between the divisions of people by cultural
       characteristics into civilizations and their division by physical characteristics into
       races. Yet civilization and race are not identical. People of the same race can be
       deeply divided by civilization; people of different races may be united by
       civilization. In particular, the great missionary religions, Christianity and Islam,
       encompass societies from a variety of races.]
Da der A. bemerkt, daß er sich hier auf ziemlich schlüpfriges Gelände begeben hat,
schränkt er den Rassenbegriff auf bestimmte ‚Rassenmerkmale‘ (physical size, head
shapes, and skin colors) ein, mit deren Erwähnung er betonen will, was er mit Rasse
nicht meint. Selbst eine Verlegenheitslösung wie diese erweist sich im Deutschen als
ungleich schwieriger, wenn die biologistische Bedeutung des Begriffs Rasse nicht von der
anthropologischen getrennt werden kann. Deshalb wird im heutigen deutschen
Sprachgebrauch dieser Begriff nur noch auf die Tierwelt angewandt, während man sich im
Unterschied zum Englischen, wo der Rückbezug von races (Völker) auf race (Rasse) die
biologistische Bedeutung nicht automatisch einschließt, auf den anthropologischen Begriff
der Ethnie geeinigt hat. Ungeklärt bleibt aber weiterhin, was mit Huntingtons Verschiebung
des Rassen-Begriffs auf denjenigen der Kulturen gewonnen ist. Minister-/Präsident Putin
bezeichnete eine Zeit lang die von Rußland okkupierten Teile der Ost-Ukraine als Novo-
Rossija und deren Einwohner als Russen, da dort angeblich alle Russisch sprechen und der
orthodoxen Kirche (einschließlich der Russischen Armee und den russischen
Geheimdiensten) angehören, sich also nach Huntingtons Definition dort kulturell keine
Ukrainer befinden. (Und wenn, wären sie nach dem bekannten syrischem Muster einfach
zu vertreiben, zu internieren oder zu liquidieren.) Putin könnte sich mit der Okkupation des
(völkerrechtlich) zu Ukraine gehörenden Donbass demnach wortgetreu auf Huntingtons
Begriff der civilizations (Kulturkreise) berufen, ohne sich um Völkerrecht, Geschichte, Politik

  Gegenteil, im Traum der Atossa [der Mutter des Xerxes] erscheinen Persien und
  Hellas als gleichberechtigte Schwestern; die von Dareios errungene Macht wird
  als Lohn persischer Tüchtigkeit ausdrücklich anerkannt, und der Bericht über die
  Schlacht von Salamis schildert die Katastrophe eines tapferen, ja
  bewundernswerten Gegners. ... Das in den Persern deutlich ausgedrückte
  Bewußtsein, das Perser und Griechen unter derselben göttlichen Ordnung stehen,
  nimmt dem durchaus empfundenen Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren
  seine Schärfe.« Albrecht Diehle: Griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis
  Hellenismus, München 1991, 124 f. Aus gutem Grund: Der Begriff der Fairness ist zwar auf
  Barbaren nicht anwendbar, er regelt aber das Verhältnis des Adels untereinander,
  gleichgültig, ob sie Athener oder Perser sind.. Dabei können blood, language, religion
  zwar auch hier eine Rolle spielen. Allerdings nur in dem Sinne, wie dadurch Besitz, Einfluß,
  Prestige der miteinander konkurrierenden Adelsfamilien möglichst vermehrt werden.

                                                                                   parteimarx.org
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kümmern zu müssen und damit der NS-Rassentheorie eine moderne kulturalistische
Bedeutung verleihen sowie darüber hinaus den Kulturalismus als (ideologische)
Legitimationsgrundlage für den großrussischen Expansionismus fruchtbar machen.
      Die wesentlichen Unterschiede zwischen Menschengruppen
      betreffen ihre Werte, Überzeugungen, Institutionen und
      Gesellschaftsstrukturen, nicht ihre Körpergröße, Kopfform und
      Hautfarbe.
      [The crucial distinction among human groups concern their values, beliefs,
      institutions, and social structures, not their physical size, head shapes, and skin
      colors.]
      Drittens sind Kulturkreise in sich geschlossen in dem Sinne, daß
      keiner ihrer einzelnen Bestandteile ganz verstanden werden
      kann ohne Bezug auf die Gesamtkultur. Zivilisationen
      »umschließen,ohne von anderen umschlossen zu sein«, wie
      Toynbee behauptet. Eine Zivilisation ist eine Totalität.
      [Third, civilizations are comprehensive, that is, none of their constituent unity
      can be fully understood without reference to the encompassing civilization.
      Toynbee argued, „comprehend without being comprehended by others.” A
      civilization is a „totality“.]
      Ein Kulturkreis ist ... die größte kulturelle Einheit. Dörfer,
      Regionen, ethnische Gruppen, Nationalitäten, religiöse Gruppen
      besitzen, auf unterschiedlichen Ebenen [sic!] der kulturellen
      Heterogenität ihre je eigene Kultur.
      [A civilization is the broadest cultural identity. Villages, regions, ethnic groups,
      nationalities, all have distinct cultures at different levels of cultural
      heterogeneity.]
Der Kulturkreis verliert damit seine von Lenin erhoffte Funktion als melting pot der
verschiedenen Nationen und ethnischen Gruppen und verwandelt sich zurück in eine
Ansammlung ‚divergenter‘ Familienclans, sowie Angehörigen von Stammesstrukturen,
Sekten, die als feindliche Gruppen einander spinnefeind getrennt voneinander ihre
unterschiedliche Kultur leben.
     Dennoch gehören das deutsche und das italienische Dorf trotz aller
     kulturellen Unterschiede demselben Kulturkreis an, der sich von
     arabischen oder chinesischen
54   Kulturkreisen unterscheidet. Ein Kulturkreis ist demnach die höchste
kulturelle
     Gruppierung von Menschen und die allgemeinste Ebene [sic!]
     kultureller Identität. [sic! Hier treffen sich Rechte und Linke nicht nur
     bei der Verteilung russischer Geldspritzen in Ibiza!] des Menschen
     unterhalb der Ebene [sic!], die den Menschen von anderen
     Lebewesen unterscheidet.8

8 FAZ 20.08.2019: Arbeit ohne Heiligenschein. Hier zieht eine Tierschützerin (auf
  unterschiedlichen ‚Ebenen‘) eine Parallele zwischen ihrem persönlichen Einsatz für
  unmenschlich behandelte Tiere und der Rettung von Menschen im Mittelmeer. Bei der
  Ziehung solcher Parallelen (oder der Bestimmung von ‚Ebenen‘, die den Menschen von
  anderen Lebewesen unterscheidet) kippt der linke Sozialdarwinismus unversehens in
  den rechten um!

                                                                                 parteimarx.org
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       [A civilization is thus the highest cultural grouping and the broadest level of
       cultural identity people have short of that which distinguishes human from other
       species.]
       Diese Ebene ist definiert durch Sprache, Geschichte, Religion, Sitten,
       Institutionen und subjektive Identifikation der Menschen mit ihr.
In dieser Anthropologie wird die menschliche Gattung zur x-beliebigen Spezies neben und
in Konkurrenz mit allen anderen Lebewesen (species). Folglich stellt sich die Frage, ob der
vom Autor dadurch auf den Kopf gestellte Gattungsbegriff nicht seinerseits ‚rassistisch‘
sein könnte: so, wie die NSen die Menschheit vor ‚ den Juden‘ retten wollten, rettet d.A.
seine Kulturkreise vor den vorgeblichen Anmaßungen der historischen Menschheit.
       Die Kultur [civilization], der sich der heutige Einwohner Roms als
       zugehörig betrachtet, ist die allgemeinste Ebene [!!!] der
       Identifikation, mit der er sich nachdrücklich identifiziert als
       Römer, Italiener, Katholik etc. Der Kulturkreis [civilizations] ist das
       umfassendste ‚Wir‘, in dem er sich kulturell zu Hause fühlt gegenüber
       allen anderen, d.h. den ‚Sie‘ da draußen.9 Ausgehend von großen und
       kleinen Kulturkreisen wird unterschieden zwischen großen und
       »peripheren Zivilisationen«, großen und gescheiterten Zivilisationen.
       Nachfolgend geht es um die Zivilisationen, die allgemein als die
       großen der menschlichen Geschichte angesehen werden.
      [This book is concerned with what are generally considered the major
      civilizations in human history.]
Aber welche Realität besitzt diese human history bei all den v.A. eingezogenen und
einbezogenen Ebenen, Kulturkreisen, Identitäten, Kulturen, in die sich die menschliche
Gattung der humans analog zu den Tierarten, Tierrassen etc soziologisch, biologisch,
entwicklungsgeschichtlich (‚historisch‘) aufspaltet, dann überhaupt noch?
56    [...] Da Kulturkreise – fünftens – keine politischen, sondern
kulturelle Größen sind,
     tun sie nichts von dem, was Regierungen tun: die Ordnung
     aufrechterhalten, für Gerechtigkeit sorgen, Steuern erheben,
     Kriege führen, Verträge aushandeln und dergleichen mehr. Die
     politische Zusammensetzung von Kulturkreisen ist in jedem
     anders und variiert im Laufe der Zeit innerhalb jedes Kreises. Ein
     solcher Kulturkreis mag Stadtstaaten, Bundesstaaten oder Empires
     enthalten, die sich ständig ablösen und verändern.
       [Fifth, since civilizations are cultural not political entities, they do not, as such,
       maintain order, establish justice, collect taxes, fight wars, negotiate treaties or
       do any other things [?] which governments do. The political composition of
       civilizations varies between civilizations and varies over time within a
       civilization. A civilization may thus contain one or many political units...]
       Im Extremfall können Kulturkreis und politische Einheit, wie das Beispiel
       Chinas zeigt, deckungsgleich sein [sic!]. China, bemerkt Lucian Pye,10
       »ist eine Zivilisation, die vorgibt, ein Staat zu sein«. Japan ist ein
       Kulturkreis, der ein Staat ist. Die meisten Kulturkreise enthalten
       allerdings mehr als einen Staat oder eine politische Einheit. [...]
9 Das könnten auch die ‚Gelbwesten‘ guten Gewissens von sich behaupten...!
10 Lucian P. Pye: China: Erratic State, Frustrated Society, in: Foreign Affairs 69 (1990), 58.

                                                                                        parteimarx.org
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     In der modernen Welt enthalten der westliche, der
     lateinamerikanische, der islamische, der hinduistische und sogar
     der chinesische Kulturkreis [!] zwei oder mehr Staaten, wobei es
     in einigen von ihnen einen Kern oder Führungsstaat [!] gibt:
     China, Indien, Rußland. Die islamischen Staaten verfügen über keinen
     Kernstaat, ebensowenig Lateinamerika und
57   Afrika. Die Forschung sei sich nicht einig über die Gesamtzahl der
Kulturkreise, ...die es in
     der Geschichte gegeben hat. Sie hat sich auf mindestens 12
     Hochkulturen geeinigt. Zu den großen zeitgenössischen
     Kulturkreisen zählt der chinesische oder sinische Kulturkreis. [...]
58   Der von vielen Gelehrten verwendete Begriff „sinisch“
bezeichnet treffend die
     gemeinsame Kultur Chinas und der chinesischen Gemeinschaften
     in Südostasien und anderswo außerhalb Chinas sowie der
     verwandten Kulturen Vietnams und Koreas.
      [The term „Sinic“ ... describes the common culture of China and the Chinese
      communities in Southeast Asia and elsewhere outside of China as well as
      related cultures [sic!] of Vietnam and Korea.]

      Huntingtons Definition der gemeinsame(n) Kultur Chinas und der
      chinesischen Gemeinschaften in Südostasien ist der entscheidende
      Anknüpfungspunkt in Jiang Shigongs Aufsatz: Philosophy and
      History....11 Darin heißt es im ersten Kapitel [1] unter der
      Zwischenüberschrift The Historical positioning of the Xi Jinping era: from
      natural time to political time, daß der Sozialismus chinesischen
      Charakters in eine neue Ära eingetreten sei, was bedeute, daß das
      Chinesische Volk, das lange in der Modernen Zeit gelitten habe, jetzt
      einen großen Sprung vom Aufstehen zum Reichwerden und Starkwerden
      gemacht hat, Begriffe, die die Mao Zedong-, Deng Xiaoping- und die Xi
      Jinping-Ära charakterisieren. Die Charakterisierung dieser Epochen sei
      nicht akademischer, sondern politischer Natur, worin eine elementare
      Methode, die in der chinesischen Philosophie Verwendung findet, zur
      Anwendung komme. Im Unterschied dazu beruhe die westliche
      Philosophie auf dem binären Gegensatz zwischen der Erscheinung und
      der Existenz, dem Leben auf der Erde und Gott im Himmel, woraus sich
      die unterschiedlichen Abarten vom Ende der Geschichte ableiten. Die
      Chinesen wollten dagegen nicht wissen, wie sie in den Himmel kommen,
      sondern die universelle Bedeutung klären, wie dem historisch
      vorhandenen Verhältnis Familie-Staat-Universum eine dauerhafte
      Bedeutung zu verleihen sei. Die chinesischen suchten nicht wie die
      modernen Historiker nach objektiven Fakten, sondern in gewissen
      Tatsachen philosophisch nach universellen Werten und Bedeutungen
11 Siehe: Fn. 3. Die folgenden Zitate aus Jiangs Aufsatz stammen aus [3] Communism and the
   great revival of the Chinese nation.

                                                                                parteimarx.org
CHINA PAPERS 3                       Samuel Huntington                             Seite 12

      nach der Devise: Die chinesischen ‚Klassiker‘ sind die Geschichte. Daher
      müsse die Konstruktion der Legitimität in der chinesischen Ordnung
      zunächst eine historische Konstruktion sein. Die Bestimmung der von
      chinesischen Kaisern beherrschten klassischen politischen Ordnung in
      Gestalt der Qi-, Han-, Ming- etc. Dynastien wird 1840 durch den
      westlichen Kolonialismus unterbrochen. For this reason, China‘s
      political disagreements often also begin from differences in
      historical narratives. ... Berichte an den Parteitag beginnen mit der
      Geschichte der Partei und der des Landes. They discuss the
      development of and changes to the Party‘s line, principles and
      policies, adjusting the periodisation as necessary. This is the
      dialectical relationship between inheritance and tradition in the
      Party‘s historical tradition...

      Es folgen die Stationen der Periodisierung der Parteigeschichte von Mao
      über Deng bis Xi, die Jiang Shigong als generational politics
      bezeichnet, die sich auf die Chinese Confucian culture [!] und den
      ‚klassischen‘ Begriff des ‚Mandats‘ [des Himmels] stütze, das nun auf die
      nationalen Führer per Verfassung übertragen worden sei. Aber die
      moderne Geschichtsauffassung kümmere sich nicht um die Differenz
      zwischen politischer und natürlicher Zeit. Hinzu komme die Tatsache, daß
      im Fall der KPCh the political authority of every generation comes
      from their belief in Marxism and from the power bequeathed12 to
      them by the people of the entire nation. [3]13 Chinesische
      Geschichte umfaßt also nicht allein die Differenz zwischen der natürlichen
      und der politischen Zeit, sondern darüber hinaus die (Marxistische)
      Parteigeschichte, die d.A. in den folgenden Kapiteln unter der Überschrift
      The construction of political time: correctly understanding the positioning
      of a leader in history und Communism and the great revival of the
      Chinese nation, alle unter einen Hut zu bringen versucht...
Diese Kapitel am liebsten übergehen zu wollen, kollidiert mit der Versuchung, die
maoistische Parteigeschichte gegen die Version der Neuen Bourgeoisie, die in der KP das
Ruder übernommen hat, gegenzurechnen. Aber das ist nicht mein Thema. In diesen
Zusammenhang gehört auch der Versuch des Autors, den Marxismus oder Marx als
Theoretiker – genauer: Marx als Philosoph – unter den Ost- (= China) West- (= der
‚Westen‘) Gegensatz zu subsumieren:
      Both utopianism and communism are ideas that trace their
      origins to the Western civilisational [!] tradition. It was
      Christianity‘s historical concept of linear time that changed the
      classical view of time as cyclical. ... This is why Marxism can be
      read as a secular version of determinism. Diesem Utopismus habe
      KM. den wissenschaftlichen Sozialismus entgegengestellt. If we say that

12 überliefert, vererbt
13 Die folgenden Zitate stammen aus dem Abschnitt [3] unter der Überschrift: Communism and
   the great revival of the Chinese nation, CHINA PAPERS 4,5.

                                                                              parteimarx.org
CHINA PAPERS 3                    Samuel Huntington                         Seite 13

       in Marx‘s time, socialism had not been built, meaning that
       communism could only be a distant philosophical notion, then
       after Russia and China built socialist countries, the ‚time table‘
       and the ‚route map‘ for the realisation of communist society
       became more accessible. Communism now confronts the
       challenge of being transformed from a philosophical concept to a
       ‚communist society‘ with concrete institutions and structures. Es
       ließe sich aber auch die dieser Ansicht widersprechende These vertreten,
       daß je konkreter der Marx-Engelssche Kommunismus in kapitalistisch
       unentwickelten Ländern realisiert werden sollte, desto mehr mußte sich
       der Marxismus von ihm entfernen. Aber so einfach liegen die Dinge
       natürlich nicht.
       Wenn nun Xi Jinping die Rückkehr zu kommunistischen Prinzipien
       hervorhebt, dann meint er damit nicht die kommunistische Gesellschaft
       und den wissenschaftlichen Sozialismus, but is instead using the idea
       that ‘those who do not forget their original intention will
       prevail’, drawn from traditional culture. [!] Womit wir wieder beim
       Kern unseres Themas angekommen sind. In so doing he [Xi Jinping]
       removes communism from the specific social setting from the
       Western empirical scientific tradition, and astutely14 transforms
       it into the Learning by Heart in Chinese traditional philosophy,
       which turn elevates communism to a kind of ideal faith or a
       spiritual belief. Communism is not only a concrete society to be
       realized in the distant future but it also, and more importantly, is
       the highest ideal that will be absorbed into current political
       practice, a vibrant political state. … Precisely within the context
       of traditional Chinese culture, [!] the understanding of this
       highest ideal is no longer that of Marx who thought within the
       Western theoretical tradition; it is no longer the humanity’s
       Garden of Eden, ‘unalienated’ by the division of labor within
       society. Instead it is intimately linked to the ideal of ‘great unity
       under Heaven’ from the Chinese cultural [!] tradition.

       Dieser Marxismus ist nicht nur anti-’westlich’ in dem Sinne, daß er ‘den
       Westen’ durch ‘den Osten’ ersetzen will, sondern im Marx-Engelsschen
       Verständnis vom Kommunismus auch anti-kommunistisch, indem er ihn
       durch einen Sozialismus chinesischen [= konfuzianischen] Charakters
       ersetzt, d.h. sich von den Mao-Tsetung-Ideen und von Marx das
       herauspickt, was mit diesem Marxismus nicht unmittelbar kollidiert. For
       this reason, communism will never again be like it was under
       Mao Zedong – something that was meant to take a real social
       form in the here and now – but is instead the Party‘s highest
       ideal and faith. Eine Idealisierung, die ähnlich wie in der Sowjetunion

14 scharfsinnig, gewitzt

                                                                       parteimarx.org
CHINA PAPERS 3                      Samuel Huntington                    Seite 14

      bewirkt hat, daß Lenin heute ein toter Hund ist.

      Also streiten wir nicht länger darüber, welche Fehler und Abweichungen
      dieser Marxismus enthält, sondern welche politische Bedeutung seine
      Verwirklichung heute hat. Damit wären wir mitten drin in den politischen
      Verhältnissen des ‚Westens‘, die sich ebensowenig vom chinesischen
      ‚Kommunismus‘ trennen lassen wie vom neuen Zarentum Moskaus.
      Abgesehen davon, daß der in diesem (von Sinologen offenbar als relevant
      eingestuften) Text einen Sozialdarwinismus praktiziert, von dem die
      Feinde des ‚Westens‘ auf allen ‚Ebenen‘ tief beeinflußt sind. Spätestens
      hier sollten auch alle Versuche enden, den Marxisten ihre Abweichungen
      vom ‚wahren‘ Marxismus unter die Nase zu reiben. (Von der Marxschen
      Position aus betrachtet war der Marxismus von Beginn an ein großes
      Mißverständnis, das sich zu einer gewaltigen Lüge entwickelt hat!15)
      Seine Verwandlung in einen modernen Anti-Kommunismus ist weiterhin
      völlig unzureichend erfaßt.
      We can say that Xi Jinping‘s new reading of communist concepts
      is a model of the Signification of Marxism in the new era, in
      which Marxism is not only be integrated into China‘s current
      situation but must also be absorbed into Chinese culture. ... The
      great revival of the Chinese nation must be closely linked to the
      building of Socialism with Chinese Characteristics. ... And this
      means that Socialism with Chinese Characteristics must once
      again assume position within the world communist movement.
      [3] Wen Jiang Shigong unter diese gruselige Vorstellung auch immer
      subsumieren mag... Das chinesische Volk wird seine bösen Geister selbst
      zu bekämpfen wissen. Was wir dabei zu tun haben, ist zu verhindern, daß
      sie sich im ‚Westen‘ ungehindert weiter ausbreiten werden.

15 Marx: »Alles was ich weiß ist, daß ich kein Marxist bin.«

                                                                    parteimarx.org
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