Community Health Nursing - Entwicklung, Probleme, Lehren aus der US-amerikanischen Situation
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166 Doris Schaeffer Community Health Nursing Entwicklung, Probleme, Lehren aus der US-amerikanischen Situation Mit ungeahnt raschem Tempo schreitet derzeit in der BRD die Akademisierung der Pflege voran. Sie soll zur Innovation der Praxis in den unterschiedlichen Aufgabenfeldern der Pflege beitragen und gleichzeitig die Professionalisierung eines der traditionsreichsten Berufe im Gesundheitswesen einleiten. Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, sich eingehender mit den USA zu befassen. Dort hielt die Pflege bereits um die lahrhundertwende Einzug in die Hochschulen und wurde verbunden damit die Professionalisierung in Gang gesetzt - ungefähr zu jener Zeit, als im deutschsprachigen Raum ernsthaft mit der Verberuflichung begonnen wurde. Folglich konnte dort eine Fülle von positiven und negativen Erfahrungen gewonnen werden, mit denen eine Auseinandersetzung lohnenswert ist. Das gilt auch für die durch diesen Prozeß angestoßenen Verän- derungen der Pflegepraxis, die hier exemplarisch an einem Aufga- benfeld nachvollzogen werden. Daß die Wahl dabei auf den Bereich Community Health Nursing - ambulante Pflege - fiel, hat einen besonderen Grund. Er fristet in der hiesigen Pflegediskussion nach wie vor ein randständiges Dasein und findet auch in den neuen Stu- diengängen noch längst nicht die seiner Relevanz gemäße Berück- sichtigung - wie kritische Stimmen mittlerweile bemerken (Wiese 1995). Auch diesbezüglich kann sich eine Auseinandersetzung mit den US-amerikanischen Verhältnissen als lehrreich erweisen. Dort spielte dieses Aufgabenfeld bei der Akademisierung der Pflege von Beginn an eine wichtige Rolle. Schon 1910 wurde der erste Stu- diengang für Public Health Nursing gegründet und seither gilt es- mittlerweile umbenannt in Community Health Nursing - als eines der zentralen Aufgabengebiete, für das in den akademischen Aus- bildungen auf allen Ebenen qualifiziert wird. Zu zeigen, daß das nicht ohne Konsequenzen geblieben ist und wie sich ambulante Pflege auf der Basis nunmehr langjährig gewachsener Professio- nalisierung ausnimmt, ist Anliegen der folgenden Ausführungen. Zunächst wird der Stellenwert der US-amerikanischen Pflege im JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 167 Gefüge der Gesundheitsberufe skizziert, dann Organisation und Funktions- und Arbeitsweise im Bereich Community Health Nur- sing dargelegt und abschließend diskutiert, welche Lehren daraus für die hiesige Entwicklung zu ziehen sind. Situation der Pflege in den USA Die Pflege nimmt im US-amerikanischen Gesundheitswesen eine bedeutsamere Rolle ein als in der Bundesrepublik Deutschland. Das zeigt sich allein an der höheren Anzahl der Pflegekräfte, die 1981 in der BRD lediglich 33 pro 10000 Einwohner, in den USA dagegen 56 betrug (Alber 1990). Auch das Qualifikationsniveau ist höher und kaum mit der bundesdeutschen Situation vergleichbar - ein Tatbestand, der angesichts der langen akademischen Tradition nicht überrascht. Die Anhebung des Qualifikationsniveaus vollzog sich lange Zeit schleichend und war zunächst auf Leitungsfunktionen beschränkt, hat inzwischen aber den gesamten Berufsstand erfaßt: wer sich in den USA als Pflegekraft qualifiziert, tut dies mittlerweile mehrheitlich an der Hochschule (dazu: Doheny et al. 1992). Ähnlich weitreichende Unterschiede sind auch hinsichtlich des Status und Grades an Autonomie der US-amerikanischen Pflege festzustellen. Selbstständig leitet sie pflegerische und medizinische Einrichtungen - vom ambulanten Pflegedienst bis hin zur Kranken- hausabteilung. Sie hat eigenständig Zugang zu Patienten (ist inzwi- schen sogar oft erste Anlaufstelle und übermittelt ihrerseits zum Arzt), und selbstverständlich ist sie selbst für die Einschätzung und Beurteilung des Bedarfs ihrer Klientel und die Durchführung ihrer Arbeit zuständig. Parallel zu dieser Entwicklung -Ausdruck der voranschreitenden Professionalisierung - hat sich zugleich auch das Kompetenzgefüge und die Arbeitsteilung mit anderen Berufen verändert. Einerseits hat sich die vertikale Kompetenzgrenze verschoben: die US-ameri- kanische Pflege nimmt sehr viele (diagnostische und therapeuti- sche) Aufgaben wahr, die hierzulande zum Kompetenzbereich der Medizin gehören. Ähnliches ist auch mit Blick auf die Sozialarbeit zu konstatieren: beispielsweise obliegt in den USA nicht der Sozial- arbeit, sondern der Pflege die Regulation der Überleitung aus dem Krankenhaus (dazu: Moers/Schaeffer 1993a). Gleichzeitig hat sich die horizontale Kompetenzgrenze verlagert und sich insgesamt eine Ausweitung des Aufgabenfelds der Pflege vollzogen. So gehören beispielsweise gesundheitsförderliche, präventive und rehabilitative JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
168 Doris Schaeffer Aufgaben zum Tätigkeitsfeld der Pflege, ebenso psycho-soziale Unterstützung, versorgungsorganisatorische Aufgaben sowie eine ganze Vielzahl von im weitesten Sinn pädagogischen Funktionen. Letztere machen einen zentralen Teil der Pflegerolle aus. »Nursing is teaching« - so das professionelle Selbst- und Aufgabenverständnis, das auf allen Ebenen pflegerischen Handeins bekundet wird. Was das bedeutet und wie sich die genannten Unterschiede im Grad der Professionalisierung in der Praxis niederschlagen, soll nun am Auf- gabenfeld Community Health Nursing dargestellt werden. Aufgaben-, AngebotsproJil und Berufe in der ambulanten Pflege Betrachten wir zunächst die Infrastruktur im ambulanten Pflege- sektor, Sie ist vornehmlich dadurch gekennzeichnet, daß bereits seit den vierziger Jahren eine prioritär ambulante Versorgung angestrebt wird. Das Netz an Pflegediensten und anderen ambulanten Versor- gungsinstanzen ist folglich sehr viel dichter und der Stellenwert des Krankenhauses ein anderer. Mehr als hierzulande ist es Zentrum der High Tech-Medizin und auf höchste Behandlungsintensität erfor- dernde Beschwerden konzentriert. Die Verweildauern sind wesent- lich kürzer, d.h. die Patienten werden weitaus rascher als in der BRD üblich wieder entlassen. So beträgt die maximale Kranken- hausaufenthaltsdauer nach einer Geburt mittlerweile nur noch 6 Stunden. Diese Entwicklung ist für die ambulante Pflege nicht ohne Folgen geblieben. Das ihr abgenötigte Aufgabenspektrum ist parallel dazu sehr viel breiter und komplizierter geworden ~ eine Entwick- lung, die zukünftig auch auf die bundesdeutsche Pflege zukommt. Ähnlich wie hier teilt sich die Versorgung in kommerzielle bzw. private und freigemeinnützige Pflegedienste. Allerdings kommt den privaten Pflegeanbietern in den USA eine größere Bedeutung zu; in der Regel gehören sie - entsprechend der Zweiteilung der amerika- nischen Gesundheitsversorgung - zu jenem Teil der Versorgungs- landschaft, von dem allein die sich im Genuß einer privaten Kran- kenversicherung befindenden, meist den höheren sozialen Schichten angehörenden Patienten betreut werden. Da diese Dienste kommer- ziell arbeiten, haben sie ihr Serviceangebot strikt auf Leistungen beschränkt, die gewinnbringend erbracht werden können, reduzieren sich z.B. ausschließlich auf parenterale Ernährung oder Infusions- therapie. Gerade im Bereich privater Pflegedienste ist daher eine sehr große Partialisierung von Leistungen und Zersplitterung von Diensten zu beobachten. JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 169 Anders ist die Verfahrensweise der freigemeinnützigen Pflege- dienste, die zum anderen Teil der »Zweiklassenmedizin« (Strauss 1967) gehören und zu deren Klientel vornehmlich nicht oder schlecht Versicherte oder durch staatliche Sozial- und Gesundheits- programme abgesicherte Patienten zählen. Diese Dienste versu- chen, das gesamte Spektrum an Pflegeleistungen anzubieten, das für einen Verbleib in der häuslichen Umgebung im Fall von Krank- heit und Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Kontrastierend ließe sich sagen: der Partialisierung und Zersplitterung versuchen sie In- tegration entgegenzustellen. Was bedeutet das? Das Angebot deckt die gesamte Bandbreite des Bedarfs ab. Das reicht vom monitoring bei Risikoschwangerschaften, nachgeburtlicher Pflege und Bera- tung von jungen Müttern, Betreuung bei Diabetes oder Herz-Kreis- lauf-Krankheiten über die Pflege von psychisch oder suchtkranken Patienten, bei chronischen oder altersbedingten Erkrankungen bis hin zur Pflege von Krebs- oder Aids-Patienten, also von Schwerst- und Terminalkranken. Ambulante Schwerstkrankenpflege - inklusi- ve der dazu erforderlichen medizinisch induzierten Pflegeleistun- gen wie z.B. Durchführung von Infusions- oder Schmerztherapie, die hierzulande an rechtlichen Hürden scheitert - gehört folglich ebenso zum Standardangebot wie »hospice care«, also Palliativ- pflege und Sterbebegleitung - um nur zwei in der bundesdeutschen Pflege sich mittlerweile empfindlich bemerkbar machende Lücken zu benennen. Konzeptionell interessant ist, daß nicht nur krankheitsbezogen agiert wird, sondern das gesundheitliche Wohlbefinden im Mittel- punkt pflegerischen Interesses steht. Anders gesagt: besteht schon in den US-amerikanischen Pflegetheorien Einigkeit darüber, daß es der Pflege vorrangig um die Sicherung der Gesundheit geht, die mehr ist als Abwesenheit von krankheitswertigern Leiden, so hat diese Sichtweise auch in die Praxis der Pflegedienste Eingang ge- funden. Der auch hierzulande seit geraumer Zeit angemahnte Paradigmenwechsel - weg von der nur krankheitsorientierten hin zur gesundheitsbezogenen Pflege (exemplarisch: Rosenbrock! Noack/Moers 1993) - gehört in der US-amerikanischen pflege also zum Alltag, zumindest zur Alltagsphilosophie. Das gleiche gilt für den sogenannten »aggregate approach« (Swanson/ Albrecht 1993), eine Zugriffsweise, die nicht einzig auf das Individuum konzentriert ist, sondern es als Teil eines sozialen Aggregats - einer Bevölke- rungs(sub)gruppe bzw. einer speziellen sozialen Umwelt - betrach- tet und dieses konstitutiv einbezieht. Die Forderung danach ist auch JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
170 Doris Schaeffer in der BRD in den letzten Jahren zusehends lauter geworden, von ihrer Realisierung sind wir indes weit entfernt. Erst jüngst wurde beispielsweise - angestoßen durch die Pflegeversicherung - ver- mehrt begonnen, über Angehörigenkonzepte und familienorientierte Pflege nachzudenken. Angesichts der beeindruckenden Breite des Serviceprofils, die mit den begrenzten Möglichkeiten hiesiger Pflegedienste kaum ver- gleichbar ist, nimmt es nicht wunder, daß es sich um sehr große Dienste handelt. Zur Illustration seien die Beschäftigtenzahlen zweier Pflegedienste der »Visiting Nurses Association« angeführt, der ältesten gemeinnützigen ambulanten Pflegeorganisation in den USA, die, ähnlich wie hier die Wohlfahrtsverbände, Träger zahlrei- cher Pflegedienste ist. In San Jose, einer mittelgroßen Stadt in Califomien, gehören 60 Verwaltungs angestellte, 70 Pflegekräfte und 40 Hilfspflegekräfte (Nurse Aids), 5 Sozialarbeiter, außerdem Gesundheitsberufe wie Krankengymnasten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Ernährungsberater und »Recreation Therapists« zum Pflegedienst der Visiting Nurses. In San Francisco sind es 90 Verwaltungsangestellte, 100 Pflegekräfte, 120 Hilfs- pflegekräfte, 10 Sozialarbeiter und ebenfalls die genannten anderen Gesundheitsberufe. Außerdem gesellen sich noch ehrenamtliche Helfer hinzu. In San Francisco sind es allein 300, die dort von drei der zehn Sozialarbeiter rekrutiert, ausgebildet und supervidiert wer- den. Die immense Größe der Dienste erklärt sich teilweise dadurch, daß sie für die gesamte »comrnunity« - Stadt, Gemeinde, Region- zuständig sind und nicht dezentralisiert arbeiten. Gleichzeitig ist sie Ausdruck der enorm hohen Patientenzahlen und der Tatsache, daß in den USA eine sehr viel weitreichendere Realisierung der Prämisse »ambulant vor stationär« erfolgt. Betrachtet man die Beschäftigtenstruktur unter beruflichen Gesichtspunkten, werden andere wichtige Unterschiede im Vergleich zur bundesdeutschen Situation deutlich. Auffällig ist zunächst einmal der hohe Anteil an Verwaltungskräften. Er erklärt sich durch das kom- plizierte Versicherungswesen sowie den nicht minder komplizierten Verfahren der Kostenregulation. Gleichzeitig ist er nicht ohne Einfluß auf die Tätigkeit der Pflegekräfte: sie sind - anders als bundes- deutsche Pflegekräfte - von zahlreichen administrativen Aufgaben entlastet. Gleichzeitig spielt die sogenannte »paper work« auch im Alltag amerikanischer Pflegedienste eine wichtige Rolle. Allerdings handelt es sich dabei um professionsgebundene Arbeiten: Pflege- dokumentationen und -auswertungen, Evaluationsarbeiten etc. JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 171 Auffällig ist weiterhin, daß nahezu alle ambulant tätigen Gesund- heitsberufe unter dem Dach der Pflege zu finden sind, also auch Krankengymnasten, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten etc. zum Personal gehören. Während diese Helferberufe hierzulande der Pflege übergeordnet und eigenständig organisiert sind, ist für die USA typisch, daß sie der Pflege subsumiert sind - Ausdruck des höheren Status der Pflege, der sich somit auch institutionell nieder- schlägt. Für die Betreuung der Patienten erwachsen daraus unschätz- bare Vorteile. Weil diese Berufe Teil des Community Health Nursing Services sind, können sie ohne Koordinations- und Kooperations- aufwand in die Betreuung integriert werden. Dies, wie auch die dadurch mögliche Einbeziehung in die wöchentlichen Arbeitsbe- sprechungen bzw. Fallkonferenzen, erleichtert zudem die Sicherstel- lung einer ineinandergreifenden und kontinuierlichen Versorgung. Und schließlich ist dadurch möglich, gesundheitsförderliche und rehabilitative Pflege nicht nur zu proklamieren, sondern sie zu rea- lisieren, denn diese ist entscheidend auf eine enge Zusammenarbeit mit eben diesen Berufen angewiesen. Gleichzeitig minimiert sich damit der externe Kooperations- aufwand, der sich größtenteils auf die Medizin (niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser), soziale Dienste und Selbsthilfegruppen beschränkt. Dabei sind die Reibungsflächen in der Kooperation mit der Medizin aufgrund des anderen Kompetenzprofils der Pflege relativ gering. Außerdem verfügen die meisten Community Health Nursing Services über einen Vertragsarzt, der für fachliche Rück- fragen, plötzlich auftretende Krisen und Problemsituationen zur Verfügung steht und behilflich ist, wenn die Kooperation mit der Medizin Schwierigkeiten aufwirft. Jeder, der mit dem Alltag hiesiger ambulanter Pflegedienste vertraut ist, wird wissen, wie ressourcen- und zeitraubend sich hierzulande diese Kooperation darstellt (Garms- Homolovä 1994; Schaeffer 1992) und wie häufig die Aufrechterhal- tung einer häuslichen Versorgung an den Koordinationsschwierig- keiten und Desintegrationserscheinungen im hiesigen Gesundheits- wesen scheitert. Was die Pflegekräfte betrifft, so ist noch ein anderes Moment be- achtenswert: die Qualifikation. Alle Pflegekräfte haben eine staatli- che Zulassung als Registered Nurse, sind also staatlich examinierte Pflegekräfte mit einer dreijährigen Ausbildung (zum Ausbildungs- system siehe: Moers/Schaeffer 1993b; Steppe 1993; Mischo-Kellingl Wittneben 1995). Viele von ihnen - speziell jene, die auf Leitungs- ebenen tätig sind - verfügen zugleich über einen Hochschulabschluß JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
172 Doris Schaeffer (meist auf einem mit dem Fachhochschulabschluß vergleichbaren Niveau, zuweilen jedoch auch auf universitärem Niveau). Die soge- nannten Nurse-Aids, die in der direkten Pflege wie auch in der Hauspflege tätig sind, haben eine sechswöchige Ausbildung, die ebenfalls mit einem staatlichen Test abschließt. Vergleichend sei ergänzt, daß in der BRD Hauspflegekräfte weitgehend ohne jede Qualifikation arbeiten. Erst in jüngerer Zeit zeichnen sich hier Ver- änderungen ab. Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle, daß der Anteil der Nurse Aids in der praktischen Pflege unter dem Druck der aktuellen Finanzkrise derzeit stark expandiert und oft- mals sie es sind, die die »eigentliche« Pflege sicherstellen - ein Aspekt, auf den zurückzukommen sein wird. Anzuführen sind des weiteren die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die sowohl in die Patientenbetreuung, Angehörigenberatung als auch in die Verwal- tungstätigkeiten integriert sind. Auch sie nehmen ihre Tätigkeit nicht ohne Qualifizierung auf und werden außerdem laufend super- vidiert - Standards, die bei uns nur in einigen Bereichen zum Alltag gehören. I Zusammenfassend betrachtet: zentrale und bedenkenswerte Un- terschiede bestehen in der Integration möglichst aller für eine um- fassende Patientenbetreuung erforderlichen Berufe, die im übrigen ebenso wie die ambulante Pflege keine Kommstruktur vorausset- zen, sondern sich als zugehende Dienste verstehen, sowie in der Sicherstellung einer qualifizierten Pflege. Organisationsstruktur ambulanter Pflegedienste Dem weit gefaßten Leistungsspektrum der Dienste entspricht deren ausdifferenzierte Organisationsstruktur (siehe Abbildung). Hier sind Arbeitsgruppen/Abteilungen analog den unterschiedlichen Aufgabenstellungen ambulanter Pflege vorgesehen. Den Pflege- kräften ermöglicht diese Organisation, sich auf bestimmte Aufga- benbereiche zu konzentrieren und spezielle Expertise auszubilden, d.h. sie müssen nicht alle gleichermaßen alle Anforderungen bewäl- tigen, wie dies die hiesige ambulante Pflegepraxis kennzeichnet und Ursache zahlreicher Überforderungen ist. Den Pflegediensten wie- derum gelingt es durch die ausdifferenzierte Organisationsstruktur, flexibel auf spezielle Patientenproblematiken zu reagieren oder Veränderungen von Bedarfslagen abzupuffern. Stoßen sie dabei an Grenzen, ist die Regel, daß neue ArbeitsgruppeniAbteilungen ge- gründet oder entsprechende Programme konzipiert werden. Diese JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 173 orientieren sich an den Besonderheiten des regionalen Bedarfs. Die Angebotsprofile der Dienste variieren daher je nach epidemiologi- schen Gegebenheiten in der jeweiligen Region.' Dadurch gelingt es, die Organisationsstruktur stets in enge Übereinstimmung mit den an die Pflege herangetragenen Patientenproblematiken zu brin- gen und somit ein Auseinanderklaffen von Angebotsstruktur und Bedarfslagen möglichst zu vermeiden. Eben dieses fällt der bundes- deutschen ambulanten Pflege bislang außerordentlich schwer, wie ein Blick auf die Geschichte der hiesigen ambulanten Pflege be- zeugt (Deppe/Priester 1987; Garrns-Homolovä/Schaeffer 1992). Die Gründe dafür sind vielfältig, entscheidend aber ist, daß sie - wie andere Bereiche der Krankenversorgung auch - zu sehr an den Imperativen des Versorgungssystems und zu wenig an den Proble- matiken ihrer Klientel orientiert ist und die Berücksichtigung be- darfsorientierter Gesichtspunkte bei der Versorgungsgestaltung sich erst jetzt durchzusetzen beginnt. Die Abbildung. zeigt allerding auch, daß Flexibilität und Be- darfsgerechtigkeit einen »Preis« haben und mit Hierarchisierungen verbunden sind. Die Pflegedienste verfügen über zwei Leitungs- ebenen, die beide von hochqualifizierten (meist weiblichen) Pflege- kräften besetzt sind. Zum einen gibt es die Ebene der Gesamtlei- tung, der das Management des Dienstes obliegt. Unterhalb dieser Organisationsstrnktur von Community Health Nursing-Diensten Narse Cese Maoagen Patlcotco JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
174 Doris Schaeffer Ebene gibt es eine weitere Leitungsebene, die für die Einzel- bereiche zuständig ist (siehe auch: BernhardlWalsh 1995). Bei den wenigen bundesdeutschen Umsetzungsversuchen ähnlicher Organi- sationsstrukturen wird darauf seitens der Pflege zumeist skeptisch reagiert. Ein Blick in die Praxis zeigt jedoch, daß das Modell der »einfachen« Hierarchie und des Pflegegeneralisten, das die ambu- lante Pflegelandschaft in der BRD beherrscht, zusehends ungeeignet ist, der Problem- und Bedarfsvielfalt der Klientel der ambulanten Pflege gerecht zu werden. Mit anderen Worten: auch hierzulande werden wir über neue Organisationsmodelle ambulanter Pflege- dienste nachdenken müssen. Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang, daß die auf den Leitungsebenen wahrgenommenen Managementfunk- tionen (mit Ausnahme des administrativen Bereichs) vorrangig auf pjlegebezogene Aufgaben zielen. Neben Planungs- Konzeptent- wicklungs- und Supervisionsfunktionen zählt dazu vor allem die Fortbildung der Mitarbeiter. Sie dient zur Qualitätssicherung sowie zur Entwicklung und Einhaltung einer professionellen Standards entsprechenden Pflege und schließt neben der Vermittlung neuesten pflegewissenschaftlichen Wissens und laufenden Informationen über aktuelle pflegerelevante Erkenntnisse und Entwicklungen auch deren Transfer in die Praxis ein: in der Pflege verwendete Konzepte und Strategien werden im Licht des neu erworbenen Wis- sens reflektiert und gegebenenfalls modifiziert. Fortbildung, »nur- sing education«, gilt also als zentraler Teil der Managementrolle - ein Aspekt, der in der BRD bislang zu wenig bedacht wurde. Funktions- und Arbeitsweise Die Arbeitsweise ist - wie überall in der US-amerikanischen Pfle- ge - durch einen hohen Grad an Systematisierung bei gleichzeiti- gem Bemühen um Patientenorientierung gekennzeichnet. Nicht das reibungslose Funktionieren des Dienstes, sondern der Patient soll im Mittelpunkt des Handeins der Pflege stehen - so das dekla- rierte Ziel. Um das zu ermöglichen, wird nach den Prinzipien des Pflegeprozesses verfahren, d.h. jede Pflege unterliegt dem Zyklus von Informationssammlung, Zielfestlegung, Planung, Durchfüh- rung und Evaluation. Außerdem wurde case management als arbeitsstrukturierendes Konzept eingeführt. Dieses urprünglich aus der Sozialarbeit stammende Verfahren, das auch bei uns vermehrt diskutiert wird (exemplarisch: Wendt 1991), hat sehr breit Eingang JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 175 in die Pflegepraxis gefunden (CoheniCesta 1993). Die ihm zugrun- de liegende Idee ist, für den Patienten gangbare Pfade durch das Dickicht des Versorgungs wesens und die Vielfalt seiner Instanzen zu bahnen, dabei Sorge für eine dem individuellen Fall und der be- sonderen Problematik des Patienten entsprechende Betreuung zu tragen und Versorgungsdiskontinuitäten oder sonstige Folgeerschei- nungen bestehender Struturdefizite des Krankenversorgungswesens zu verhindern. Daher schließt case management neben fallorien- tierter Pflegeplanung und -organisation auch die Versorgungskoor- dination ein und dient in den USA aufgrund der komplizierten Finanzierungsmodalitäten auch zur Kontrolle der Kosten. Was das für die Arbeitsweise ambulanter Pflegedienste bedeutet, soll kurz geschildert werden. Benötigt ein Patient ambulante Pflege, werden zunächst (durch eine eigens dafür zuständige »assessment- nurse«) die für die Aufnahme ambulanter Pflege erforderlichen Informationen (Einschätzung des Bedarfumfangs, Klärung der Finanzierungsmöglichkeiten, Ermittlung der Überleitungsmodali- täten etc.) eingeholt. Anschließend wird entschieden, ob der Patient übernommen und welcher Arbeitsgruppe/Abteilung er übermittelt werden kann. Dort wird der Patient einem Nurse Case Manager zugeteilt, der fortan für ihn zuständig ist. Jeder Nurse Case Manager hat ungefähr 40 Patienten, die er mindestens einmal wöchentlich kontaktiert und für die er ansonsten telefonisch zur Verfügung steht. Bei Patienten mit komplexem Pflege- und Betreuungsbedarf - so z.B. bei Krebs- und Aids-Patienten oder im Bereich hospice care - ist die Fallzahl niedriger, so daß der Kontakt enger gestaltet werden kann. Die Zuständigkeit des Nurse Case Manager für den ihm überant- worteten Patienten bleibt auch dann bestehen, wenn sich der Pflege- bedarf des Patienten im Laufe der Zeit verändert und er (zusätzlich) von einer anderen Arbeitsgruppe/ Abteilung gepflegt wird oder wenn zwischenzeitlich Krankenhausaufenthalte notwendig sind. Dabei verfährt der Nurse Case Manager nach dem Prinzip der Anwalt- schaft (advocacy). Gemeint ist, daß er stellvertretend für den Patien- ten agiert und unter Wahrung seiner Interessen die Koordination und Kontrolle seiner Betreungssituation übernimmt. In diesem Sinn sorgt er dafür, daß Wechsel der Versorgungssart bzw. der beteiligten Helferberufe keine Versorgungsbrüche oder sonstigen Einbußen nach sich ziehen und verhinderbare Labilisierungen seiner Situation vermieden werden. Leitend ist für ihn also die Sorge um das Wohl des Patienten, die Sicherung von Kontinuität sowie die Vermeidung von Destabilisierungen. JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
176 Doris Schaeffer Zu Beginn seiner Tätigkeit erstellt der Nurse Case Manager zu- nächst gemeinsam mit dem Patienten und seinen Angehörigen eine umfassende Problemanamnese. Diese konzentriert sich auf die Krankheitssituation und die aktuelle körperliche Befindlichkeit des Patienten, seine psychische und soziale Situation und ganz beson- ders auch auf seine Alltagsroutinen des Krankheitsmanagements: wie geht er mit Symptomen um, wie handhabt er Schmerzsitua- tionen, wie sein Alltagsleben, wie strukturiert er den Tagesablauf mit Krankheit etc. Alsdann wird das soziale Umfeld in den Blick genommen: sind Angehörige/informelle Helfer vorhanden, können sie Aufgaben übernehmen, verfügen sie über die dazu notwendigen Voraussetzungen etc. Und als drittes schließlich wird die Versor- gungssituation des Patienten erörtert: weIche Dienste benötigt er, um mit seiner Situation zurechtzukommen, weIche sind bereits ak- ti viert, weIche nicht, auf weIchem Informationsstand sind sie, was ist erforderlich, um sie an die eingetretene Situation anzupassen. Diesem Schritt folgt die Zieldejinition und die Planung der Pflege. Dabei wird festgelegt, weIche täglich notwendigen Pflege- und Unterstützungsarbeiten erforderlich sind, weIche neuen Dienste zu aktivieren und weIche bereits involvierten zu kontaktieren sind, weIche eigenen Ressourcen zur Verfügung stehen und weIchen An- leitungs bedarf der Patient und seine Angehörigen haben, um die eingetretene Problemsituation zu bewältigen. Sodann besteht die Aufgabe des Nurse Case Managers in dreierlei: Caring: die Betreuung des Patienten. Caring umfaßt sowohl die konkrete Betreuung des Patienten als auch die Sicherstellung seiner Betreuung, d.h. die Versorgungsorganisation und -koordination. Alle für die Sicherstellung der in seiner Situation und Problematik notwendigen Dienste und Hilfen - seien es pflegedienstinterne (Pflege, Hauspflege, Physiotherapie etc.) oder pflegedienstexterne - werden von dem Nurse Case Manager mobilisiert, von ihm vor Ort eingefädelt, aufeinander abgestimmt und fortan koordiniert. Dabei kontrolliert er nicht nur die Leistungsausführung, sondern trägt auch Sorge dafür, daß Desintegrationserscheinungen vermieden, die Ver- träglichkeit der Dienste und Hilfen gesichert ist und Schnittstellen- probleme so gelöst werden, daß sie für den Patienten keine nega- tiven Konsequenzen haben (dazu: Schaeffer 1995). In dieser Monitoring-Funktion hat er oftmals auch Vermittlungsfunktionen wahrzunehmen, sei es, daß er Inkompatibilitätserscheinungen der Dienste ausgleichen, sei es, daß er Konflikte regulieren muß. Auch dabei handelt er nach dem Prinzip der Anwaltschaft und stellt die JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 177 Sorge um das Wohl des Patienten allen anderen Kriterien voran. Teaching: die Unterweisung und Anleitung der Patienten. Dazu ge- hört die Vermittlung von Wissen (über die Krankheit, die Erforder- nisse der Krankheitsbewältigung, die Möglichkeiten der Wiederher- stellung einer gesundheitlichen Balance bzw. gesundheitlichen Wohlbefindens), die Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung und ggf. bei der Anpassung an das Leben mit bedingter Gesundheit, die Einleitung notwendiger Korrekturen der Lebensweise und der Alltagsorganisation, die Remobilisierung von Gesundheitspoten- tialen sowie die Förderung von Fähigkeiten zur Verbesserung des Selbstmanagements im Umgang mit der Situation. Besonders dem letztgenannten Punkt, der Erhöhung der Eigenkompetenz, wird in der US-amerikanischen Pflege große Bedeutung beigemessen. Die genannten Maßnahmen zielen nicht allein auf den Patienten, sondern richten sich auch an die Angehörigen mit dem Ziel, sie bei der Wahrnehmung von Pflegeaufgaben zu unterstützen und die dazu nötigen Kompetenzen zu vermitteln sowie ihnen dabei behilf- lich zu sein, die mit der Krankheit des anderen sich auch in ihrem Leben vollziehenden Veränderungen zu bewältigen und auf diese Weise Überlastungserscheinungen vorzubeugen. Wie wichtig diese »caring for the carers« genannte Aufgabe ist, bestätigen hiesige Untersuchungen über die Nutzer ambulanter Pflegedienste: nicht eben selten werden pflegende Angehörige aus Überforderungs- gründen ihrerseits zu Klienten der Dienste (Naegele 1991; Garms- Homolovä/Schaeffer 1992). Supervision: fortlaufende Evaluation der praktischen Pflege, um auf diese Weise ein gleichermaßen ziel- und ergebnisorientiertes Handeln zu ermöglichen. Dabei ist ein anderes Supervisions- verständnis leitend als in der hiesigen Praxis. Im Vordergrund ste- hen die organisations- und aufgabenbezogene Kontrolle der Arbeit der Pflegekräfte sowie die Einhaltung professioneller Standards in der gegebenen Pflegesituation, weniger die personenbezogene Steue- rung der pflegerischen Professionalität. Das dazu wichtigste Mittel ist eine wöchentliche Besprechung, die in Form einer Fallkonferenz durchgeführt wird. Hier wird die Situation der einzelnen Patienten möglichst unter Hinzuziehung aller beteiligten Berufe erörtert und reflektiert, werden Pflegeplanungenund -strategien gegebenenfalls der konkreten -Situation des Patienten entsprechend revidiert bzw. modifiziert und Arbeitsteilungen besprochen. Die Aufgaben des Nurse Case Manager wurden deshalb so aus- führlich dargelegt, um zu zeigen, daß manuelle Pflegetätigkeiten, JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
178 Doris Schaeffer wie sie die hiesige Praxis dominieren, in der US-amerikanischen Pflege in vielen Bereichen eher von untergeordneter Bedeutung sind. Stattdessen stehen versorgende und eine ganze Reihe von im weitesten Sinne »pädagogischen« Funktionen (Wissensvermittlung, Initiierung von Lernprozessen, Sozialisationsfunktionen, Einleitung von Verhaltensveränderungen, Supervision in Form von koopera- tiver Ergebnissicherung etc.) im Vordergrund. Sie sind Ausdruck der im Zuge der Professionalisierung erfolgten Erweiterung des Pflegeverständnisses und -handelns, Dieses prägt auch den Alltag der praktischer Pflege, zu dem an dieser Stelle nur soviel gesagt sei, daß in ihm ebenfalls das Selbstver- ständnis der US-amerikanischen Pflege - »nursing is teaching« - leitend ist (ausführlicher dazu: Schaeffer/Moers 1995). Denn das Ziel pflegerischer Interventionen besteht in der Wiederherstellung von Autonomie; entsprechend begreift die Pflege ihre Aufgabe als kurzfristige Hilfe mit dem Ziel, die Patienten in ihren Selbstfürsorge- fähigkeiten zu stärken und sie und ihre Angehörigen zu befähigen, den Umgang mit der Krankheit möglichst eigenständig zu bewäl- tigen: empowerment, Unterstützung und Anleitung spielen daher auch hier eine wichtige Rolle. Die Darstellung der Arbeitsweise der Community Health Nur- sing Services sollte nicht beendet werden, ohne daß nicht auch Schwachstellen thematisiert werden, mit denen sich auseinanderzu- setzen nicht weniger lohnenswert ist wie die Beschäftigung mit den unbestrittenen Errungenschaften, die die Professionalisierung mit sich brachte. Die in diesem Zusammenhang wichtigsten Punkte scheinen mir folgende zu sein: - So einleuchtend und richtig es aus professionstheoretischer Per- spektive betrachtet ist, als Ziel pflegerischen Handeins die Wie- derherstellung von Autonomie mit und trotz Krankheit anzustre- ben, zeigt sich hier jedoch eine Schwäche des Konzepts: es sieht keine Langzeitpflege vor und kann damit vielen Problemlagen - speziell denen chronisch und chronisch-degenerativ Erkrankter- nicht gerecht werden. Grundsätzlich bildet die Sicherstellung von Langzeitversorgung - long term care - wie auch die Versor- gung chronisch Kranker in den USA ein großes Problem (Strauss/ Corbin 1988; Estes et al. 1993). - 60 Mio. Amerikaner sind heute nicht oder unterversichert, die Gesundheitsreform ist gescheitert, drastische Beschneidungen der staatlichen Sozial- und Gesundheitsprogramme zur Kuration der amerikanischen Haushaltsdefizite sind geplant und partiell , JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 179 bereits realisiert. Von ihnen ist die ambulante Pflege in doppelter Weise betroffen. Radikale Verweildauerkürzungen im Kranken- haussektor führen erneut zu einem enormen Zufluß an Patienten in die ambulante Versorgung. Die ambulante Pflege - selbst von der Einsparungswelle erfaßt - vermag dem kaum noch Stand zu halten, zumal es überwiegend »Problempatienten« sind, die auf sie zuströmen: Alte, sozial Schwache und »Austherapierte«. Seit- her entwickelt sich die freigemeinützige ambulante Pflege - so hat es den Anschein - zur Armenfürsorge. im Rahmen derer sie aus Kostengründen nicht mehr leisten kann als notdürftig Unterversorgungerscheinungen aufzufangen. Angesichts dieser Situation sind theoretisch tragfähige und sinnvolle Pflegekon- zepte in der Praxis kaum durchzuhalten und zeichnet sich ein be- denkliches Gefälle zwischen Konzept(anspruch) und Realität ab. - Die voran schreitende Professionalisierung bei gleichzeitigem Finanzierungsdruck könnte - so deutet sich an - zu einer Dequali- fizierung der konkreten Pflegepraxis führen. Mit wachsendem Finanzierungsproblemen steigt der Anteil der Nurse Aids in der Pflegepraxis derzeit sprunghaft an (Rein 1995). Oft sind sie es, die den Patienten täglich versorgen, während der Beitrag der qualifizierten Pflege auf Supervisionsfunktionen beschränkt ist. Zunehmend kompensieren auch ehrenamtliche Helfer diese Lücke, die in vielen Bereichen der Krankenversorgung trotz ent- gegengesetzter Absichtserklärung mittlerweile weite Teile der Patientenversorgung bestreiten. Wird dieser Entwicklung nicht entgegengesteuert. könnte sich die Professionalisierung als »Bume- rang« erweisen: sie hätte dann - zynisch formuliert - der Pflege zur Statusaufbesserung. nicht aber den Patienten geholfen. Lehren für die in der BRD begonnene Akademisierung der Pflege Mit großer zeitlicher Verzögerung haben wir in der BRD begonnen, dem Beispiel vieler anderer Länder zu folgen und die Akademisie- rung der Pflege in Angriff zu nehmen. Damit soll eine nachholende Modernisierung wie auch ein Professionalisierungsprozeß initiiert werden. Mit den zurückliegenden Ausführungen sollte gezeigt wer- den, daß das Studium der Situation in Ländern mit inzwischen lang- jährig gewachsener Professionalisierungstradition eine wichtige Aufgabe in diesem Prozeß sein wird. Daß das ein lohnenswertes Unterfangen ist und sowohl für die Frage nach den praktischen Konsequenzen von Professionalisierungsprozessen als auch für die JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 2S
180 Doris Schaeffer Innovation einzelner Aufgabenfelder der Pflege und für die Lösung sich dort stellender Probleme eine Fülle von Anregungen zu liefern vermag, sollte exemplarisch an der US-amerikanischen Pflege- praxis im Bereich Community Health Nursing verdeutlicht werden. Trotz der erwähnten Schattenseiten sind dieser eine ganze Reihe von Innovationsanregungen zu entnehmen. Stichwortartig seien die wichtigsten von ihnen hier wiederholt: die Breite des Problem- bearbeitungsspektrums ambulanter Pflege, die Zusammenfassung und Kooperationsdichte aller für eine hinreichend umfassende und gesundheitssichernde Pflege erforderlichen Berufe, ausdifferenzierte und aufgabengerechte Organisationsstrukturen, patientenorientierte Arbeitsweise, case management sowie ganz besonders die Erweite- rung des pflegerischen Selbst- und Aufgabenverständnisses um ver- sorgende und »pädagogische« Aufgaben, die sich nicht nur auf Krankheitsbe- und verarbeitung, sondern ebenso auf Gesundheitser- haltung beziehen. Vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle, daß mit der Akademisierung der Pflege auch hierzulande ein Wandel des Berufsprofils und eine Veränderung der allseits für verbesse- rungswürdig erachteten Pflegepraxis intendiert wird, so liegt es auf der Hand, wie hoch der Stellenwert der Auseinandersetzung mit solchen Anregungen ist. Dabei ist allerdings vor allzu großer Übertragungseuphorie und erst recht vor bloßem Kopieren zu war- nen. Ohne wissenschaftlich gestützte Transferleistungen inklusive der dazu notwendigen Forschung ist Versuchen der Nutzbarma- chung andernorts meist wenig Erfolg beschert, wie aus zahlreichen Innovationsversuchen im hiesigen Gesundheitswesen zu lernen ist, die nicht eben selten US-amerikanische Vorbilder kopierten - und scheiterten. Die Professionalisierung der Pflege rief auch eine Reihe fragwür- diger Erscheinungen hervor, denen wir in der BRD zu entgehen ver- suchen sollten. Als erstes ist in diesem Zusammenhang nochmals die bedenkliche Tendenz zur Dequalifizierung der Pflegepraxis in Erinnerung zu rufen (siehe auch Hirschfeld 1994). Des weiteren ist das sich abzeichnende Gefälle zwischen Theorie und Praxis anzu- führen bzw. - mit Blick auf die zurückliegenden Ausführungen - zwischen Konzept und Realität. Dies ist Resultat der Tatsache, daß die US-amerikanische Pflege den gesellschaftlichen und politischen Kontextbedingungen ihres Handeins zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat (ebd.). Auch sich heute abzeichnende Lücken und Defizite in der pflegerischen Versorgung sind zu einem nicht uner- heblichen Teil diesem Umstand geschuldet. JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 181 Im Zuge der Professionalisierung wird eine wichtige Aufgabe darin bestehen, ein neues Rollenverständnis pflegerischen Handeins zu entwickeln und zur Erweiterung des Pflegehandelns beizutragen. Gezeigt werden sollte, daß dabei im weitesten Sinn »pädagogi- schen« Funktionen grundlegende Bedeutung zukommt. Angedeutet werden sollte zugleich, daß diese je nach Aufgabenbereich andere Gewichtungen und Ausprägungen aufweisen müssen. Beides ist im Auge zu behalten, um nicht zu starre und zu wenig alltagstaugliche Selbst- und Aufgabendefinitionen einzuleiten. Nicht minder wichtig scheint es mir - eingedenk der hohen Bedeutung pädagogischer Aufgaben im Pflegehandeln auf professionell gestützter Basis -, darauf hinzuweisen, daß die Entwicklung von Pflegepädagogik nicht auf Ausbildungsfragen beschränkt sein kann (wie hierzulande derzeit üblich). Vielmehr muß in enger Verschränkung mit den ent- stehenden Pflegewissenschaften eine Neukonzeptualisierung dieser und anderer, die eng gesteckten Grenzen des Pflegehandelns erwei- ternden Funktionen erfolgen, die ihrerseits in die Ausbildung der Pflegelehrer und über diese vermittelt in die Praxis einfließen sollten. Jetzt, da der »Sprung an die Universitäten« geschafft ist und Pfle- gewissenschaften auf universitärer Ebene verankert werden, besteht eine vordringliche Aufgabe darin, die Wissenschaftsentwicklung vor- anzutreiben. Aufbau von Pflegeforschung, Theorieentwicklung und Erarbeitung einer universal gültigen Wissensbasis, Erkenntnistransfer und Konzeptentwicklung sowie Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs sind die dabei als zentral zu definierenden Aufgaben. Zu warnen ist aber davor, diese anzugehen, ohne die derzeit brennenden Probleme in der Pflege vor Augen zu haben und ohne über eine Vision davon zu verfügen, wohin die Pflege sich hierzulande entwickeln soll. Auch diese Lehre ist der Situation der US-amerikanischen Pflege zu entnehmen. Die Wissenschaftsentwicklung folgte dort seit der »pflegewissenschaftlichen Wende« weitgehend wissenschaftsimma- nenten Kriterien und geriet dabei unversehens in allzu große Distanz zur Alltagsrealität. Soll hierzulande ein ähnliches Auseinanderdriften von Theorie und Praxis vermieden werden, ist eine Gratwanderung erforderlich: es gilt, Pflegewissenschaft als akademische Disziplin zu entwickeln und dabei zugleich den Bezug zur Afltagsrealität pflege- rischen Handeins wie auch zu den drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen im Bereich der Pflege zu wahren. Korrespondenzadresse: Doris Schaeffer, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Arbeitsgruppe Public Health, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
182 Doris Schaejjer Anmerkungen Das gilt z.B. für die AIDS-Kranken versorgung, in der in vielerlei Hinsicht Pionier- funktionen übernommen und Innovationen erprobt wurden, deren Relevanz für andere Bereiche der Krankenversorgung erst langsam entdeckt und zur Kenntnis genommen wird. U .a. wurde dort von Beginn an hoher Wert auf die Einbeziehung informeller ehrenamtlicher Helfer gelegt - erinnert sei z.B. an das Buddy-Konzepi -, ebenso darauf, daß diese die für ihr Engagement notwendige Qualifizierung und fachliche Unterstützung erhalten (siehe dazu: SchaefferlMoers 1992; Ewers 1995). 2 So verfügt Z.B. derVNA-Pflegedienst in San Francisco, wo bislang mehr als 20000 AIDS-Fälle gemeldet wurden, über einen sehr großen Arbeitsbereich und zahlrei- che Projekte, die ausschließlich auf die besonderen Betreuungs- und Versorgungs- erfordernisse von AIDS-Patienten zugeschnitten sind. U.a. wurde jüngst ein soge- nanntes »Hotel-Projekt« konzipiert (Robb 1994), das dazu dient, der wachsenden Zahl wohnungs loser und in sogenannten »Läusepensionen« lebender Erkrankter Rechnung zu tragen. Lite raturverzeichnis Alber, J. (1990): Gesundheitspolitische Entwicklungen in den OECD-Ländern: Zur Einordnung der bundesdeutschen Erfahrung. Zeitschrift für Sozialreform, 36: 126-128 Bernhard, L.A.; M. Walsh (1995): Leadership. The Key to Professionalization of Nur- sing. St. Louis: Mosby Cohen, E.L.;T.G. Cesta (I 993): Nursing Care Management: From Concept to Evalua- tion. St. Louis: Mosby Deppe, H.-U.; K. Priester (1987): Modelluntersuchung ambulante Krankenpflege.Ar- beitsweise und Stellung im Gesundheitswesen. Wiesbaden: HLT Gesellschaft für Forschung, Planung, Entwicklung Doheny, M.; C. Cook; C. Stopper (l992):The Discipline ofNursing -An Introduction. 3rd edition, Norwalk: Appleton & Lange Estes, c.L. et al. (1993): The Long Term Care Crisis. Elders Trapped in the No-Care Zone. Newbury Park, London, New Dehli: Sage Ewers, M. (1995): Hand in Hand. Pflegekurse für Freunde, (Wahl- )Familien und an- dere Laienpflegekräfte. Berlin: Deutsche Aids-Hilfe Garrns-Homolovä, V. (1994): Das freundliche Desinteresse der Ärzte an Pflege, Feh- lende Kooperation zwischen Medizinern und Pflegekräften blockiert die Quali- tätssicherung in der ambulanten Versorgung. Forum Sozialstation, Nr. 70: 18-24 Garms-Hornolovä, v.; D. Schaeffer (1992): Versorgung alter Menschen. Sozial- stationen zwischen wachsendem Bedarf und Restriktionen. Freiburg: Lambertus Hirschfeld, M. (1994): Aufgaben und Ziele in der WHO im Kontext der allgemeinen Veränderungen im Gesundheitswesen sowie internationale Trends in Pflege- wissenschaft und -forschung - Entwicklungen, Probleme, Einschätzung.ln: Hes- sisches Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (Hg.): Der Beitrag der Pflegewissenschaft zur Entwicklung der pflegerischen Praxis. Vervielf. Manu- skript. Wiesbaden Mischo-Kelling, M.; K. Wirtneben (1995): Pflegebildung und Pflegetheorien. Mün- chen, Wien Baltimore: Urban und Schwarzenberg JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
Community Health Nursing 183 Moers, M.; D. Schaeffer (1993a): AIDS-Krankenversorgung in San Francisco. Inno- vative Versorgungsstrategien und Betreuungsmodelle. Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik, Wissenschafts- zentrum Berlinfür Sozialforschung, P93-203. Berlin: WZB Moers, M.; D. Schaeffer (1993\l): Pflegestudiengänge und Pflegewissenschaften. Er- fahrungen aus den USA. Pflege. Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe, 6: 52-64 Naegele, G. (1991): Bedarfsentwicklung ,.-das Beispiel Altenpflege. Anforderungen an die Qualifizierung von Fachkräften. In: Rabe-Kleberg. U. et al. (Hg.): Dienst- leistungsberufe in Krankenpflege, Altenpflege und Kindererziehung: Pro Person. Bielefeld: KT -Verlag, S.60-76 Rein, M. (1995): Social Services as Employer ofBlackWorkers in Central Cities. Un- veröffentlichtes Manuskript Robb, V. (1994): The Hotel Project: A Community Approach to Persons with AIDS. Nurs. Clin. North.Am., 29: 521-531 Rosenbrock, R.; H. Noack; M. Moers (1993): Öffentliche Gesundheit und Pflege in NRW. QualitativeAbschätzung des Bedarfs an akademischen Fachkräften. Gutach- ten im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein Westfalen Schaeffer, D. (1992): Grenzen ambulanter Pflege. Veröffentlichungsreihe der For- schungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. P92-21 O. Berlin: WZB Schaeffer, D. (1995): Prävention und Gesundheitsförderung chronisch Kranker als Aufgabe kurativer Institutionen. Gesundheitswesen, 57: 145-150 Schaeffer, D.; M. Moers (1992): Professionelle Versorgung von HIV - und AIDS-Pati- enten. Zwischenbericht des Projekts »Versorgung und Betreuung von Patienten mit HIV -Symptomen. Präventive Potentiale kurativer Institutionen«. Veröffent- lichungsreihe der Forschungsgruppe Gesundheitsrisiken und Präventionspolitik, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, P92-208. Berlin: WZB Schaeffer, D.; M. Moers (1995): Ambulante Pflege von HIV- und AIDS-Patienten. Veröffentlichungsreihe der Arbeitsgruppe Public Health, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, P95-201. Berlin: WZB Schaeffer, D.; M. Moers; R. Rosenbrock (Hg.) (1994): Public Health und Pflege. Zwei neue gesundheitswissenschaftliche Disziplinen. Berlin: edition sigma Steppe, H. (1993): Pflege als Wissenschaft - am Beispiel der USA. In: Seidl, E. (Hg.): Betrifft: Pflegewissenschaft. Beiträge zum Selbstverständnis einer neuen Wissen- schaftsdisziplin. Wien, München, Bern: Wilhelm Maudrich, S.15-60 Strauss, A. (1967): Medical Ghettos. Transaction. May 1967: 7-15 and 62 Strauss, A.; J. Corbin (1988): Shaping a New Health Care System. The Explosion of Chronic Illness as a Catalyst for Change. San Francisco: Jossey Bass Swanson, J.M.; M.Albrecht (Ed.) (1993): Community Health Nursing. Promoting the Health of Aggregates. Philadelphia, London, Toronto: WB Saunders Company Wendt, W.R. (Hg.) (1991): Unterstützung fallweise. Case Management in der Sozial- arbeit. Freiburg: Lambertus Wiese, M. (1995): Akademisierung der Pflege an der Universität. Unveröffentlichtes Manuskript. Kassel JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 25
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