Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug - sui ...
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Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug Temporäre Einschränkungen der Therapiefrequenz und Grenzen der ausserordentlichen bedingten Entlassung Thierry Urwyler / Thomas Noll / Astrid Rossegger *% Die Corona-Pandemie erfordert diverse Anpassungen im Justizvollzug. Dabei sind teilweise neue, unbekannte Wege einzuschlagen. Die Autoren gehen im nachfolgen- den Beitrag den Fragen nach, ob temporäre Einschränkungen der Therapiefre- quenz juristisch zulässig sind und ob der anzustrebenden Reduktion des Insassen- bestands mit einer extensiven Auslegung von Art. 86 Abs. 4 StGB begegnet werden könnte. Während die erste Frage bei strikter Beachtung der Verhältnismässigkeit zu bejahen ist, wird die systematische Anwendung von Art. 86 Abs. 4 StGB als Lö- sungsoption verworfen. I. Einführung ........................................................................................................... 194 II. Temporäre Einschränkung der Therapiefrequenz .............................................. 195 1. Bedeutung von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2 für Psychotherapien in der Freiheit ...................................................................... 196 2. Unanwendbarkeit von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2 für den Justizvollzug ....................................................................................... 196 3. Ausgestaltung im Justizvollzug ....................................................................... 197 III. Extension der bedingten Entlassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB ........................ 202 1. Inhalt der Forderung .......................................................................................203 2. Kritische Würdigung .......................................................................................203 IV. Abschliessende Bemerkungen ............................................................................ 208 Zitiervorschlag: Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug, in: sui-generis 2020, S. 193 URL: sui-generis.ch/130 DOI: https://doi.org/10.21257/sg.130 ____________________________ * Dr. iur Thierry Urwyler, Akademischer Mitarbeiter, Forschung und Entwicklung, Justizvollzug und Wiedereingliederung (Zürich) und Lehrbeauftragter Universität Luzern; Dr. med. und Dr. iur. Thomas Noll, Akademischer Mitarbeiter, Forschung und Entwicklung, Justizvollug und Wieder- eingliederung (Zürich); PD Dr. rer. nat. Astrid Rossegger, Stv. Haupabteilungsleiterin, Forschung und Entwicklung/Co-Leiterin Arbeitsgruppe Forensische Psychologie Universität Konstanz. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug I. Einführung im Justizvollzug entgegengewirkt und 1 woraus ergibt sich die verfassungs- und Das Corona-Virus stellt die Schweiz vor völkerrechtliche Legitimität dieses Vor- menschliche, organisatorische und ver- gehens? fassungsrechtliche Herausforderungen. Weitreichende Eingriffe in die alltägliche 2 Auf generell-abstrakter Ebene ist die Lebensgestaltung wurden vorgenommen, Antwort klar: Der Staat trägt für die Ge- um die Ausbreitung des Virus zu verlang- sundheit der inhaftierten Personen eine samen und damit den notwendigen umfassende «menschen- und grund- Schutz von Leib und Leben zu gewähr- rechtliche Verantwortung» (Fürsorge- leisten.1 Auch das Strafrecht im weiteren pflicht, Schutzpflicht)7 und ist epidemien- Sinne wird sich noch lange mit den Teil- gesetzlich8 zur Reduktion von Infektions- fragen rund um das Corona-Virus be- risiken verpflichtet. Es sind daher alle schäftigen: Der Aufschub von Gerichts- gesetzlich vorgesehenen und verhältnis- verhandlungen/Einvernahmen, deren mässigen Mittel zu verwenden, um die modifizierte Durchführung , die Ausle- 2 Ansteckung von inhaftierten Personen gung von Haftgründen3 oder die Ver- mit übertragbaren Krankheiten zu ver- handlungsfähigkeit bei Risikogruppen4 meiden.9 Die Strategie von Justizvollzug illustrieren den Einfluss der Pandemie und Wiedereingliederung des Kantons auf das Verfahrensrecht. Weiter haben Zürich orientiert sich zu diesem Zweck die Strafnormen der COVID-19- an den nationalen (Bundesamt für Ge- Verordnung 2 materiell-strafrechtliche sundheit [BAG], Konferenz der Kantona- Spannungsfelder (Legalitätsprinzip) er- len Justiz und Polizeidirektorinnen und öffnet.5 Sodann ist auch das Straf- und -direktoren [KKJPD]) und internationa- Massnahmenvollzugsrecht mit zahlrei- len Vorgaben (World Health Organization chen Herausforderungen konfrontiert.6 [WHO], Committee fort he Prevention of Die Kernfragen in dieser Rechtsmaterie Torture [CPT]), wobei u.a. das Einhalten lauten: Mit welchen präventiven Mass- sozialer Distanz (sog «social distancing»), nahmen wird einer Verbreitung des Virus eingeschränkte Besuchsrechte (Art. 84 ____________________________ Abs. 2 StGB), der Einsatz von Trenn- 1 Vgl. Verordnung 2 über Massnahmen zur Be- scheiben, Sistierungen von Ausgang/ kämpfung des Coronavirus (COVID-19), (COVID- 19-Verordnung 2) vom 13. März 2020 (Stand am Urlaub und ultima ratio Isolationen 4. April 2020). 2 Art. 1 Verordnung über Massnahmen in der Jus- tiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang mit dem Coronavirus (COVID-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht) vom 16. April 2020. 3 Urteil des Bundesgerichts 1B_112/2020 vom ____________________________ 20. März 2020 E. 3.3. 7 Übersicht über die einschlägigen Quellen bei Jörg 4 Urteil des Bundesstrafgerichts SN.2020.10 Künzli/Alberto Achermann, Bekämpfung von In- (SK.2019.45) vom 17. März 2020 E. 8. fektionskrankheiten im Freiheitsentzug, Jusletter 5 «Strafrechtsprofessor Marcel Niggli tadelt Bun- 7. Mai 2007, Rz. 5 ff. und Zitat Rz. 24. desrat – Corona-Bussen sind verfassungswid- 8 Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 28; vgl. sodann rig!», Blick am 6. April 2020. Art. 30 der Epidemienverordnung. 6 Zur internationalen Berichterstattung auch der 9 Vgl. Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 26 und 31; Überblick bei Prisonstudies; in der Schweiz stell- zentral sodann: EGMR, Guide on the case-law of vertretend: «Coronavirus hinter Gittern – Wenn the European Convention on Human Rights, Gefängnisse zu tickenden Zeitbomben werden», Prisoners’ rights, Updated on 31 December 2019, SRF Tagesschau vom 29. März 2020. Rz. 122 ff. sui-generis 2020, S. 194
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug (Art. 78 lit. b StGB; Art. 90 Abs. 1 lit. b nach Art. 86 Abs. 4 StGB in zulässi- StGB)10 als Präventionsinstrumente ein- ger Weise umgesetzt werden könnte. gesetzt werden.11 Darüber hinaus gibt es zwei weitere mögliche Massnahmen zur 3 Mit der vorliegenden Publikation wollen Reduktion der Infektionsgefahr, welche die Autoren Antworten auf diese zwei eine erhöhte juristische Komplexität Forschungsfragen formulieren und die aufweisen und eine differenzierte Be- darauf fussenden Entscheidungen von trachtung erfordern. Justizvollzug und Wiedereingliederung im Kanton Zürich für Dritte transparent 1. Erstens stellt sich die Frage, ob bzw. und kritisierbar machen.13 in welchem Rahmen es erlaubt oder gar geboten ist, nicht dringende psy- II. Temporäre Einschränkung der chotherapeutische Interventionen in Therapiefrequenz ihrer Frequenz einzuschränken, um die Verbreitungsgefahr des Virus zu 4 Wie einleitend erwähnt wurde, formu- minimieren. Anlass zu dieser Abklä- liert Art. 10a COVID-19-Verordnung ein rung ergibt sich aus Art. 10a der Verbot von nicht dringenden Untersu- COVID-19-Verordnung 2 (Fassung chungen, Behandlungen und Therapien vom 21. März 2020). Diese Norm zwecks Eindämmung der Infektionsrisi- formuliert ein Verbot für nicht drin- ken und Sicherstellung von medizini- gende Untersuchungen, Behandlun- schen Ressourcen. Dieses Verbot tangiert gen und Therapien. Es wird zu prü- auch Psychotherapien im Rahmen der fen sein, ob dieser Standard auch im allgemeinen Gesundheitsversorgung in Justizvollzug anwendbar ist bzw. ob der Freiheit (vgl. II.1). Allerdings wird sich analoge Standards aufdrängen. sich zeigen, dass Art. 10a COVID-19- Verordnung 2 den Justizvollzug nicht 2. Zweitens interessiert12, ob eine Re- reguliert (vgl. II.2). Dennoch könnten duktion des Insassenbestands in Ein- analoge Schutzstandards zur Infektions- richtungen des Freiheitsentzugs mit vermeidung im Justizvollzug angebracht einer erweiterten Interpretation der sein. Solche Einschränkungen stehen ausserordentlichen bedingten Ent- jedoch in einem Spannungsfeld mit dem lassung nach der Hälfte der Strafe ebenso verfassungs- und konventions- rechtlichen Anspruch auf adäquate the- ____________________________ rapeutische Versorgung. Dieses Span- 10 Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens bei Tröpf- nungsfeld ist nach Massgabe der Ver- cheninfektionen auch: Künzli/Achermann (Fn. 7), hältnismässigkeit aufzulösen (vgl. II.3). Rz. 35. 11 KKJPD, Zusammenfassung der nationalen und internationalen Rechtsgrundlagen und Empfeh- lungen zum Umgang mit COVID 19 in Anstalten des Freiheitsentzugs (Stand: 6. April 2020) – ____________________________ Orientierungshilfe an die für den Justizvollzug 13 Die in diesem Beitrag erläuterten Rechtsfragen zuständigen Stellen (zit. KKJPD, Zusammenfas- wurden während der Pandemie von der Ge- sung); sodann BAG, Neues Coronavirus: Mass- schäftsleitung von Justizvollzug und Wiederein- nahmen, Verordnung und Erläuterungen (zit. gliederung an die Autoren in der Hauptabteilung BAG, Neues Coronavirus) «Forschung & Entwicklung» herangetragen. Die 12 Medienmitteilung von humanrights.ch «Corona- vorliegenden Abhandlungen repräsentieren die virus: Das Leben von Gefangenen steht über Si- Essenz der dafür notwendigen Rechtsabklärun- cherheitsinteressen» vom 23. März 2020. gen. sui-generis 2020, S. 195
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug 1. Bedeutung von Art. 10a COVID-19- de Überlastung der Kliniken zu vermei- Verordnung 2 für Psychotherapien den. Folglich sollen psychotherapeuti- in der Freiheit sche Interventionen nach Möglichkeit 5 Die COVID-19-Verordnung 2 (Fassung weitergeführt werden, wobei die moder- vom 21. März 2020) limitiert im Rahmen nen Kommunikationsmittel zu nutzen der allgemeinen Gesundheitsversorgung sind, um die Ziele der bundesrätlichen medizinische Untersuchungen, Behand- Verordnung tunlichst gut umzusetzen.15 lungen oder Therapien, welche nicht Ähnlich lauten die Vorgaben der Dachor- dringender Natur sind (Art. 10a Abs. 2-4). ganisation der in der Schweiz tätigen Nach Art. 10a Abs. 3 gelten jene Eingriffe Psychologinnen und Psychologen (FSP): als nicht dringend, die «zu einem späte- Therapien sollen nach Beurteilung ren Zeitpunkt durchgeführt werden der Dringlichkeit fortgesetzt werden, wo- können, ohne dass bei der betroffenen bei Telefon-, Video- oder E-Mail- Person Nachteile zu erwarten sind, die Behandlungen zu prüfen sind.16 über geringe physische und psychische Beschwerden und Beeinträchtigungen 2. Unanwendbarkeit von Art. 10a hinausgehen» (lit. a) bzw. die «überwie- COVID-19-Verordnung 2 für den gend oder vollständig ästhetischen Zwe- Justizvollzug cken, der Steigerung der Leistungsfä- 7 Grundsätzlich hätte der Bund im Rah- higkeit oder dem Wohlbefinden dienen» men des Epidemiengesetzes die Möglich- (lit. b). In der Erläuterung zur COVID- keit, Massnahmen für den Justizvollzug 19-Verordnung 2 wurde dieser Schritt zu definieren.17 Mit Art. 10a der COVID- wie folgt begründet: Es soll zum einen 19-Verordnung 2 (Pflichten der Gesund- vermieden werden, dass sich unnötig heitseinrichtungen) wurde jedoch nur die Menschenansammlungen bilden, und allgemeine Gesundheitsversorgung regu- zum anderen sollen Kapazitäten der Ge- liert und nicht der Straf- und Massnah- sundheitsversorgung nicht ohne zwin- menvollzug.18 Dieses Auslegungsresultat genden Grund gebunden werden.14 begründet sich wie folgt: Das Verbot von nicht dringenden medizinischen Unter- 6 Die Berufsverbände haben diese Leitli- suchungen, Behandlungen und Thera- nien aufgenommen, gleichzeitig aber ein pien gilt gemäss Art. 10a Abs. 2 COVID- extensives Dringlichkeitsverständnis stipu- 19-Verordnung 2 nur für die «Gesund- liert. Die Dachorganisation der psychiat- heitseinrichtungen nach Artikel 6 Absatz risch-psychotherapeutisch tätigen Ärzte 3 Buchstabe m». Unter diesen Begriff fal- und Ärztinnen der Schweiz (Foederatio len insbesondere «Spitäler, Kliniken und Medicorum Psychiatricorum et Psycho- Arztpraxen sowie Praxen und Einrich- therapeuticorum [FMPP]) stellt fest, dass tungen von Gesundheitsfachpersonen psychische Dekompensationen nach nach Bundesrecht und kantonalem Möglichkeit zu verhindern sind, um ____________________________ Hospitalisationen und die damit drohen- 15 Fachinformation der FMPP zur aktuellen Coronavirus-Pandemie (Stand 6. April 2020). ____________________________ 16 FAQ Coronavirus der FSP (nur für Mitglieder 14 Erläuterungen zur Verordnung 2 vom 13. März zugänglich; Stand 06. April 2020). 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung des 17 Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 75 f. Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2), Fassung 18 So auch die Interpretation bei KKJPD, Zusam- vom 25. März 2020, Stand 28. März 2020, S. 17. menfassung (Fn. 11). sui-generis 2020, S. 196
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug Recht» (Art. 6 Abs. 3 lit. m). Der Justiz- ten auf eine adäquate therapeutische vollzug ist kein Teil dieser allgemeinen Versorgung (vgl. II.3.a.bb). Dieses Gesundheitsversorgung. Vielmehr stellt verfassungs- und konventionsrechtliche er einen Teil der öffentlichen Verwaltung Spannungsverhältnis ist nach Massgabe im Sinne von Art. 6 Abs. 3 lit. j COVID- der Verhältnismässigkeit aufzulösen 19-Verordnung 2 dar. Diese Interpretati- (II.3.b). on wird durch die Ausführungen des BAG gestützt, welches unter der öffentli- a) Konventions- und chen Verwaltung nach Art. 6 Abs. 3 lit. j verfassungsrechtliches Anstalten des Freiheitsentzugs explizit Spannungsverhältnis inkludierte und zusätzlich ausführte, es werde empfohlen, «in Anstalten des aa) Anspruch der inhaftierten Freiheitsentzugs (Gefängnisse, Justiz- Person auf Schutz vor vollzugsanstalten) die Massnahmen zur Infektionskrankheiten Verminderung des Übertragungsrisikos 9 Der Staat tragt aufgrund Art. 2 und 3 und zur Bekämpfung des Coronavirus EMRK (Art. 10 BV) eine umfassende ver- (COVID-19) an den Empfehlungen in- fassungs- und konventionsrechtliche ternationaler Organisationen, nament- Schutzpflicht für das Leben und die Ge- lich an den Empfehlungen der Weltge- sundheit von inhaftierten Personen. 20 sundheitsorganisation (WHO) und des Ansteckungen von inhaftierten Personen Europarats auszurichten.»19 Aus diesen mit übertragbaren Krankheiten sind da- Gründen ist Art. 10a COVID-19- her bestmöglich zu vermeiden.21 Nun ist Verordnung 2 nicht auf den Justizvollzug es so, dass durch Therapiesitzungen In- anwendbar. Entsprechend obliegt es da- fektionsrisiken ansteigen: Durch War- her den Kantonen (Art. 1a COVID-19- tebereiche, die räumlichen Verhältnisse Verordnung 2), zu entscheiden, ob und in (z.B. Raumgrösse oder Möglichkeit der welchem Rahmen die Vorgaben von Lüftung) usw. werden Personenzirkulati- Art. 10a COVID-19-Verordnung 2 für der on und -ansammlungen gefördert, was Justizvollzug Relevanz entfalten. wiederum während Pandemien Infekti- onsrisiken steigen lässt. Angesichts die- 3. Ausgestaltung im Justizvollzug ser Ausgangslage wäre es mit Blick auf 8 Nachfolgend ist der Frage nachzugehen, ob sich im Justizvollzug trotz fehlender ____________________________ 20 Übersicht über die einschlägigen Quellen bei direkter Anwendbarkeit von Art. 10a Künzli/Achermann, (Fn. 7), Rz. 5 ff. und Zitat COVID-19-Verordnung 2 gleichgelagerte Rz. 24; vgl. auch Rule 24 ff. der Nelson Mandela Rules, The United Nations Standard Minimum Lösungsmodelle aufdrängen. Es wird Rules for the Treatment of Prisoners. sich zeigen, dass der Anspruch der inhaf- 21 Vgl. Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 26 und 31; tierten Person auf Schutz vor Infektions- zur Rechtsprechung des EGMR sodann: EGMR, Guide on the case-law of the European Conven- krankheiten für eine analoge Ausgestal- tion on Human Rights, Prisoners’ rights, Updated tung spricht (vgl. II.3.a.aa). Gleichzeitig on 31 December 2019, Rz. 122 ff.; Rule 30 der Nelson Mandela Rules, The United Nations gerät dieser Lösungsansatz in einen Ziel- Standard Minimum Rules for the Treatment of konflikt mit dem Anspruch von Inhaftier- Prisoners; ebenso Freiheitsentzug, Die Empfeh- lungen des Europarates, Europäische ____________________________ Strafvollzugsgrundsätze, Godesberg 2007, 19 BAG, Neues Coronavirus (Fn. 11). Rz. 42.3. sui-generis 2020, S. 197
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug die staatliche Schutzpflicht plausibel, die serhalb dieser Extremkonstellationen be- Vorgaben der COVID-19-Verordnung 2 stehen jedoch gewisse Ermessensspiel- mutatis mutandis auf den Straf- und räume.25 Massnahmenvollzug anzuwenden, da sich in diesem Rahmen (mindestens) b) Auflösung des verfassungs- und dieselben Herausforderungen wie im konventionsrechtlichen Rahmen der allgemeinen Gesundheits- Spannungsverhältnisses versorgung stellen. 11 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Ansprüche der inhaftierten Person auf bb)Anspruch der inhaftierten Schutz vor Infektionen und auf die Ge- Person auf therapeutische Ver- währleistung einer angemessenen psy- sorgung chiatrischen und psychotherapeutischen 10 Eine Einschränkung des therapeutischen Versorgung in einem sensiblen Span- Angebots tangiert jedoch automatisch nungsverhältnis (Zielkonflikt) stehen. andere verfassungs- und konventions- Nachfolgend wird ein Lösungsmodell rechtliche Verpflichtungen. Die Gewähr- präsentiert, das diesen Konflikt nach leistung einer adäquaten medizinischen Massgabe der Verhältnismässigkeit auf- und psychotherapeutischen Versorgung löst. gehört zu den positiven Leistungspflich- ten des Staates im Freiheitsentzug auf- aa) Gewährleistung der medizi- grund des Folterverbots (Art. 3 EMRK, nisch-psychologischen Grund- Art. 10 BV) und stellt bei inhaftierten versorgung Personen überdies eine Voraussetzung 12 Für die Belange der allgemeinen Ge- für die Gesetzmässigkeit des Freiheits- sundheitsversorgung bildet das Äquiva- entzugs nach Art. 5 EMRK (Art. 31 BV) lenzprinzip den Ausgangspunkt aller dar.22 Vor diesem Hintergrund dürften Überlegungen. Danach muss die Ge- Vollzugsinstitutionen therapeutische An- sundheitsfürsorge für inhaftierte Perso- gebote nicht generell-abstrakt einschrän- nen mit jener für Personen in Freiheit ken: Ein «therapeutic abandonment» gleichwertig sein (Art. 75 StGB).26 Unter wäre mit Art. 3 (Art. 10 BV) und 5 EMRK II.1 wurde dargelegt, dass die Berufsver- (Art. 31 BV) unvereinbar.23 Ebenso wäre bände die von Art. 10a COVID-19- eine generell-abstrakte Einschränkung Verordnung 2 geforderte Dringlichkeit des Therapieangebots auf einzelne extensiv auslegen und Psychotherapien Behandlungsformen (z.B. pharmakologi- bestmöglich weiterführen. Folglich muss sche Behandlung) unzulässig.24 Aus- aufgrund des Äquivalenzprinzips auch ____________________________ die somatische und psychiatrische 22 Urteil des EGMR 34602/16 vom 21. Januar 2020 (Strazimiri v. Albania) § 103 ff.; Urteil des EGMR 18052/11 vom 31. Januar 2019 (Rooman v. Belgi- gen seiner Pflicht kein therapeutisches Umfeld um [GC]) § 146 ff. und 169 ff. (inkl. Psychotherapie etc.) zur Verfügung gestellt 23 Urteil des EGMR 34602/16 vom 21. Januar 2020 hatte). (Strazimiri v. Albania) § 103 ff. 25 Urteile des EGMR 15669/13 and 76140/13 vom 24 Urteil des EGMR 34602/16 vom 21. Januar 2020 17. März 2020 (Kosenko v. Russia) § 37 ff. (Strazimiri v. Albania) § 123 (So rügte der EGMR 26 Benjamin Brägger, Gefängnismedizin, in: Benja- einen Staat zu Recht, der sich bei einer psychisch min Brägger (Hrsg.). Das schweizerische Voll- gestörten Person nur auf pharmakologische zugslexikon Von der vorläufigen Festnahme zur Interventionen beschränkt und ansonsten entge- bedingten Entlassung, Basel 2014. sui-generis 2020, S. 198
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug Grundversorgung für inhaftierte Perso- währleistungspflicht nach Art. 3 und 5 nen bestmöglich gewährleistet werden.27 EMRK (bzw. Art. 10 und 31 BV) muss Dies gilt umso mehr, weil angesichts der auch für sie die Maxime der bestmögli- Corona-bedingten Vollzugsrestriktionen chen Aufrechterhaltung des therapeuti- Stressfaktoren vorliegen, welche psychi- schen Angebots gelten (vgl. II.3.a.bb).29 sche Leiden initiieren oder verstärken Die längerfristige Ausrichtung solcher können (z.B. Depressivität, [Auto]- Massnahmen öffnet sich jedoch der Be- Aggressivität etc.).28 In diesen Konstella- trachtung, dass nicht alle diese Interven- tionen überwiegen die Interessen der in- tionen «dringlich» im engeren Sinne sind haftierten Person auf somatische und (analoger Massstab zu Art. 10a COVID- psychische Unversehrtheit das Interesse Verordnung 2).30 Angesichts dieser Aus- auf Vermeidung von Infektionsrisiken. gangslage könnten einzelne Komponen- Dabei ist anzumerken, dass die jeweili- ten des deliktpräventiven Therapieange- gen Interventionen zwecks Minimierung bots temporär eingeschränkt werden. des Infektionsrisikos in Übereinstim- mung der Hygienevorgaben der COVID- 14 Im Rahmen des Zuständigkeitsbereichs 19-Verordnung 2 (Art. 6 Abs. 4) bzw. den des Psychiatrisch-Psychologischen Diens- Empfehlungen des Bundesamts für Ge- tes (PPD) in Justizvollzug und Wieder- sundheit vorgenommen werden. eingliederung wurde diese Massnahme ergriffen: Sowohl im stationären als auch bb)Temporäre Frequenzein- im ambulanten Therapiesetting wurden schränkungen bei deliktpräven- Gruppensitzungen vorläufig sistiert. Mi- tiven Therapien lieutherapeutische Angebote werden für 13 die Klienten in stationären Massnahmen In einem zweiten Schritt stellt sich die beibehalten (unter Beachtung der Vorga- Frage, ob Einschränkungen bei delikt- ben des Bundes). Einzelsitzungen werden präventiven psychotherapeutischen Inter- nach Indikation in reduzierter Frequenz ventionen möglich wären. Solche finden weitergeführt bzw. dort wo möglich (am- sowohl im Rahmen von strafrechtlichen Massnahmen (Art. 56 ff. StGB) als auch ____________________________ freiwilligen Psychotherapien während 29 KKJPD, Zusammenfassung (Fn. 11). 30 Einen anderen als den hier argumentierten Weg des Strafvollzugs oder der Verwahrung gehen Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27), statt und streben eine Reduktion des Rz. 29, in dem sie die Dringlichkeit aufgrund des von ihnen angenommenen mangelnden Wirk- Rückfallrisikos an. Angesichts der verfas- samkeitsnachweis für rehabilitative Therapien sungs- und konventionsrechtlichen Ge- annehmen. Dieses Argument ist jedoch ange- sichts des internationalen Forschungsstands zur ____________________________ Evaluation von deliktpräventiven Interventionen 27 KKJPD, Zusammenfassung (Fn. 11); Michael nicht haltbar; Vgl. Thierry Urwyler, Wirksamkeit Liebrenz/Jonas Weber/Ueli Kieser/Roman therapeutischer Interventionen bei erwachsenen Schleifer, COVID-19 Pandemie: Psychiatrische Sexualstraftätern: Implikationen der Evaluations- Versorgung von Inhaftierten, in: Jusletter forschung auf die Verhältnismässigkeit therapeu- 20. April 2020, Rz. 25. tischer Massnahmen, in: 20 Jahre Amt für Jus- 28 Allgemein zu den Auswirkungen der Pandemie tizvollzug Zürich – eine Festschrift, Schweizeri- auf die psychische Gesundheit: Julio Torales et sche Zeitschrift für Kriminologie (SZK) 2019 al., The Outbreak of COVID-19 Coronavirus and (Sonderband), 100 ff.; generell sodann Jérôme Its Impact on Global Mental Health, Internatio- Endrass et al., (Hrsg.), Interventionen bei Gewalt- nal Journal of Social Psychiatry 2020; vgl. so- und Sexualstraftätern, Risk-Management, Metho- dann Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27), den und Konzepte der forensischen Therapie, Rz. 22. Berlin 2013. sui-generis 2020, S. 199
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug bulante Behandlungen in Freiheit), via Rechtfertigung der hier zu betrachtenden Telefon-/Internetdienste durchgeführt. Eingriffe angerufen werden kann.31 Bei inhaftierten Personen, die kurz vor der (bedingten) Entlassung stehen, wer- 16 Auf Basis dieser Feststellung ist zu prü- den Einzelsitzungen möglichst mit nor- fen, ob den Einschränkungen hinrei- maler Intensität weitergeführt, um ein chende öffentliche Interessen zugrunde geordnetes Übergangsmanagement sicher- liegen. Dies ist der Fall. Vorliegend geht zustellen. es um den Schutz von hochwertigen Rechtsgütern von inhaftierten Personen cc) Verfassungs- und konventions- vor unmittelbaren Gefahren. Zum einen rechtliche Zulässigkeit der Ein- sind die Inhaftierten vor Infektionen zu schränkung schützen (vgl. II.3.a.aa) und zum ande- 15 ren muss sichergestellt sein, dass auch Die vorangehenden Einschränkungen bei einer Ausbreitung des Virus eine greifen in das Recht der inhaftierten Per- adäquate psychotherapeutische Versor- son auf therapeutische Versorgung ein gung durch das Therapiepersonal sicher- (II.3.a.aa) und müssen daher rechtsstaat- gestellt wäre (vgl. II.3.a.bb). lichen Eingriffsanforderungen (Art. 36 BV) standhalten. Hinsichtlich der gesetzli- 17 Darüber hinaus halten die temporären chen Grundlage könnten grundsätzlich Frequenzeinschränkungen von delikt- allgemeine Vorschriften zum Strafvollzug präventiven Psychotherapien einer Ver- (Art. 75 Abs. 1 StGB) oder Art. 30 EpV hältnismässigkeitsprüfung stand. Durch angerufen werden: Beide dieser Normen die Einschränkungen der Therapiefre- enthalten jedoch keine explizite Formu- quenz werden sowohl die Personenzirku- lierung, welche eine temporäre Therapie- lation als auch -konzentration in bestimm- einschränkung legitimieren würde und ten Bereichen von Justizvollzugseinrich- wären daher von der Normbestimmtheit tungen minimiert und das Risiko einer (und -stufe bei Art. 30 EpV) als proble- Infektion mit dem Corona-Virus für in- matisch einzustufen, zumal die Ein- haftierte Personen gesenkt (Eignung schränkungen deliktpräventiver Thera- bzgl. Schutz von Leib und Leben). Zeit- pien durchaus eine gewisse Intensität gleich kann sichergestellt werden, dass aufweist. Auf kantonaler Ebene könnte die zuständigen Fachpersonen (Psycho- § 23a StJVG als Gesetzesgrundlage ange- therapeutInnen.) bei einer grösseren rufen werden. Diese Norm erwähnt zwar Verbreitung der Infektionskrankheit die hier diskutierten Therapieeinschrän- (auch unter den Mitarbeitenden) kungen nicht explizit, berechtigt aber in eine adäquate psychotherapeutische Ver- nicht abschliessender Aufzählung zu sorgung auf lange Frist aufrechterhalten Sicherheits- und Schutzmassnahmen. können (Eignung bzgl. Gewährleistung Selbst wenn man strengste Anforderun- Therapieressourcen). gen an die Normdichte als gerechtfertigt halten würde, wäre die ausserordentliche Lage nach Epidemiengesetz geradezu ein idealtypischer Anwendungsfall der poli- ____________________________ zeilichen Generalklausel, welche zur 31 Vgl. zum Rechtsinstitut: Andreas Zünd/Christoph Errass, Die polizeiliche Generalklausel in der Schweiz. sui-generis 2020, S. 200
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug 18 Sodann besteht die Pflicht, diese Ein- Therapiedichte potenzielle Negativeffek- schränkungen auf das Minimum zu be- te für die betroffenen Personen resultie- schränken (Erforderlichkeit; Übermass- ren. Konkret besteht die Möglichkeit, verbot). Die unter II.3.b.bb erwähnten dass betroffene Personen erst später Limitationen beachten diese Leitplan- Therapiefortschritte erzielen, was sich ken: Wo keine Konsultationen in Anwe- negativ auf ihren Vollzugsverlauf (be- senheit bei genügend grossen und gelüf- dingte Entlassung usw.) auswirken teten Räumen (allenfalls hinter einer kann.33 Auf der anderen Seite ist das Trennscheibe) möglich sind, sollen tele- wohlverstandene Interesse derselben fonische/digitale Kommunikationswege (und aller anderen) inhaftierten Perso- genutzt und erst dann zu Sistierungen nen zu beachten, nicht mit dem Corona- von Therapiesitzungen geschritten wer- Virus angesteckt zu werden, womit Ge- den.32 Auch diese Anforderungen werden fahren für Leib und Leben einhergehen. im Status Quo eingehalten. Wo möglich, Darüber hinaus besteht ein Interesse al- werden digitale Kontaktmöglichkeiten ler inhaftierten Personen darin, auch bei eingesetzt. Einzelsitzungen im Freiheits- einer Eskalation der Infektionsrate (inkl. entzug werden in ihrer Frequenz einge- Erkrankungsfällen beim Therapieperso- schränkt, aber nicht aufgehoben, womit nal) langfristig therapeutische Angebote der Eingriff auf das sachlich Erforderliche nutzen zu können. In einer Gesamtwür- eingeschränkt wird. Einzig für Gruppen- digung überwiegen diese öffentlichen sitzungen ist aufgrund der akzentuierten Interessen das private Interesse der in- Infektionsproblematik eine temporäre haftierten Person auf umfassende und Sistierung das sachlich mildeste Mittel. konstante Gewährleistung des deliktprä- Zur Gewährleistung der Erforderlichkeit ventiven Therapieangebots während der in zeitlicher Hinsicht werden die ein- Pandemiephase. Die Verbreitung des Vi- schränkenden Massnahmen zudem be- rus in Einrichtungen des Justizvollzugs fristet (vorläufig bis am 15. Mai 2020 bei hätte potenziell gravierende (z.T. irrever- Justizvollzug und Wiedereingliederung sible34) Gesundheitsfolgen für zahlreiche des Kantons Zürich) und laufend an neue Inhaftierte und für Personen in ambulan- Umstände und/oder Vorgaben nationaler ter Behandlung in Freiheit und könnte und internationaler Organisationen für Einzelne sogar zum Tod führen. (WHO, BAG-Richtlinien und -Empfeh- Würde im Verbreitungsfall zudem das lungen etc.) angepasst. Damit beschrän- therapeutische Angebot an deliktpräven- ken sich die Eingriffe auf das sachlich, tiven Therapien bei vermehrten Krank- zeitlich, räumlich und personell Notwen- heitsfällen unter dem Therapiepersonal dige. zusammenbrechen, wären ultimativ grössere Einschnitte in das Recht auf 19 Die Massnahmen sind auch verhältnis- therapeutische Angebote zu befürchten. 35 mässig im engeren Sinne. Auf Seiten der ____________________________ inhaftierten Person ist zu berücksichti- 33 «Die Gefangenen können jetzt skypen», Tagesan- gen, dass aus den Einschränkungen der zeiger vom 27. März 2020. 34 «Video reveals lung damage in US coronavirus ____________________________ patient: People need to take this seriously», CNN 32 KKJPD, Zusammenfassung (Fn. 11); zu digitalen health vom 27. März 2020. Therapiemöglichkeiten auch Liebrenz/Weber/ 35 Im vorliegenden Fall entsteht folglich die beson- Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 30 ff. dere Situation, dass durch eine temporäre Ein- sui-generis 2020, S. 201
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug Angesichts dieser Ausgangslage sind die Personen ein wichtiges Mittel in einer temporären Einschränkungen eine ver- Pandemie-Gesamtstrategie.36 Kompli- hältnismässige Folge der staatlichen zierter wird die Beantwortung der Frage, Schutzpflicht während einer Notlage und mit welchen konkreten Instrumenten halten einer menschenrechtlichen Be- diese Forderung umzusetzen ist. Sofern trachtung stand. Ermessensspielräume wie bei der Bestimmung des Termins für den Antritt 20 Abschliessend drängen sich folgende einer Freiheitsstrafe37 bzw. Ersatzfreiheit- Bemerkungen zum zuvor erwähnten Ri- strafe38 genutzt werden, scheint dies siko von therapeutischen Negativeffekte sinnvoll, sofern die Haftzwecke (insb. auf. Sofern die Einschränkungen kurz- Rückfallrisiko) es erlauben.39 Ebenso fristiger Natur sind (z.B. ein Unterbruch kann die bedingte Entlassung nach von wenigen Wochen), sollte sich das Ri- Art. 86 Abs. 1 StGB oder der Einsatz be- siko für diese Effekte in überschaubarem sonderer Vollzugsformen (E-Monitoring Ausmass halten. Erst wenn die Notlage etc.) den erwünschten Effekt herbeifüh- und die korrespondierenden Einschrän- ren, dass sich weniger Personen in Haft kungen länger anhalten, wäre ein gehäuf- befinden. Dabei handelt es sich jedoch tes Vorkommen dieser Negativfolgen nicht um eine Corona-spezifische Adap- wahrscheinlich. Wenn es im Einzelfall zu tion der massgeblichen Normen, sondern therapeutischen Verzögerungen oder gar schlicht um eine erwünschte Nebenfolge Rückschritten kommt, müssten diese für einer auch ausserhalb von Krisenzeiten die inhaftierte Person entstehenden anwendbaren korrekten Gesetzesausle- Nachteile bei der Verhältnismässigkeits- gung. Von diesen juristischen Gestal- prüfung zugunsten der inhaftierten Per- tungsmöglichkeiten abgesehen sind aber son (z.B. Fortführung der Massnahme, auch Vorschläge formuliert worden, die bedingte Entlassung etc.) berücksichtigt einer genaueren Betrachtung bedürfen: werden. Einer davon betrifft die Forderung nach einer extensiven Auslegung von Art. 86 Abs. 4 StGB.40 III. Extension der bedingten Entlas- sung nach Art. 86 Abs. 4 StGB 21 Unter diesem Titel soll auf die zweite ____________________________ 36 «Wie reagiert der Justizvollzug auf COVID-19?», Forschungsfrage eingegangen und ge- Schweizerisches Kompetenzzentrum für Justi- prüft werden, ob unter Art. 86 Abs. 4 StGB zvollzug; CPT, Statement of principles relating to the treatment of persons deprived of their liberty eine extensivere Entlassungspraxis in in the context of the coronavirus disease (COVID- Pandemiezeiten möglich wäre. Einleitend 19) pandemic issued on 20 March 2020. wurde bereits erwähnt, dass in Einrich- 37 «Wie sich die Corona-Krise auf den Justizvollzug auswirkt», Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), tungen des Freiheitsentzugs erhöhte In- 17. März 2020. fektionsrisiken bestehen. Daher ist eine 38 Vgl. hierzu etwa «Berliner Justiz setzt Ersatzfrei- Reduktion der Anzahl von inhaftierten heitsstrafe aus», RBB, 14. März 2020. 39 «Coronavirus hinter Gittern – Wenn Gefängnisse zu tickenden Zeitbomben werden» (Fn. 6); «Wie sich die Corona-Krise auf den Justizvollzug aus- schränkung des psychotherapeutischen Angebots wirkt» (Fn. 37); «Wegen Coronavirus: In diesem die langfristige Gewährleistung des Rechts auf Kanton werden Kleinkriminelle nicht mehr ver- therapeutische Versorgung nach Art. 5 EMRK haftet», watson, 5. April 2020. und Art. 31 BV gewährleistet werden kann. 40 Medienmitteilung humanrights.ch (Fn. 12). sui-generis 2020, S. 202
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug 1. Inhalt der Forderung sprochen werden. Es wird sich zeigen, 22 In einer Medienmitteilung vom 23. März dass Art. 86 Abs. 4 nicht unabhängig von 2020 äusserte humanrights.ch (eine Art. 86 Abs. 1 StGB ausgelegt werden Menschenrechtsorganisation) ihre Be- kann (III.2.a) und es bei generellen In- sorgnis über den Schutz der Gesundheit fektionsrisiken am Personenbezug im von inhaftierten Personen während der Sinne von Art. 86 Abs. 4 StGB fehlt Pandemie und formulierte mehrere An- (III.2.b). Hinzu kommen Herausforde- liegen. Viele davon verdienen Zustim- rungen der Umsetzung, welche der Voll- mung (Einhaltung der Verhältnismässig- ständigkeit halber zu nennen sind keit, äquivalenter Schutz etc.). Ebenso (III.2.c). Abschliessend gilt es aufzuzei- wurde gefordert, dass die Anzahl Gefan- gen, welche juristischen Alternativen gener in Einrichtungen des Freiheitsent- zielführender wären (III.2.d). zugs reduziert werden solle. Als eines der möglichen Mittel wurde dabei die aus- a) Legalprognose als serordentliche bedingte Entlassung nach Basisvoraussetzung Art. 86 Abs. 4 StGB genannt. Diese Norm 24 In einem ersten Schritt ist auf den syste- hat den folgenden Wortlaut: «Hat der matischen Zusammenhang von Art. 86 Gefangene die Hälfte seiner Strafe, min- Abs. 4 StGB und Art. 86 Abs. 1 StGB ein- destens aber drei Monate verbüsst, so zugehen. Der Gesetzgeber stellte klar, kann er ausnahmsweise bedingt entlas- dass die ausserordentliche bedingte Ent- sen werden, wenn ausserordentliche, in lassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB gleich der Person des Gefangenen liegende wie die ordentliche bedingte Entlassung Umstände dies rechtfertigen.». Gemäss im Rahmen einer Gesamtwürdigung eine humanrights.ch soll während der günstige Legalprognose42 i.S.v. Art. 86 Corona-Pandemie «die Notwendigkeit Abs. 1 StGB voraussetzt.43 Diese gesetz- des Schutzes der Gesundheit bei beson- geberischen Leitlinien wurden von der ders gefährdeten Personen als ‘ausser- Rechtsprechung zurecht bestätigt.44 Die ordentliche, in der Person des Gefange- bedingte Entlassung und die mit ihr ver- nen liegende Umstände’ ausgelegt» und folgte Wiedereingliederung ist kein folglich inhaftierte Personen systema- Selbstzweck, sondern «sondern auch ein tisch nach Verbüssung der Hälfte der Mittel, um die Allgemeinheit vor neuen Strafe entlassen werden.41 ____________________________ 42 Präziser noch: Die Abwesenheit einer doppelt negativen Differenzialprognose = die Abwägung 2. Kritische Würdigung zwischen der Prognose bei Vollverbüssung der 23 Strafe versus die Prognose bei bedingter Entlas- Der Ratio des erwähnten Ansinnens, den sung unter Bewährungshilfe und Auflagen (BSK- Insassenbestand in Vollzugseinrichtun- Koller, Art. 86 n 16). gen so tief wie möglich zu halten und 43 Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allge- damit das Leben der Inhaftierten zu meine Bestimmungen, Einführung und Anwen- schützen, ist vollumfänglich beizupflich- dung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugend- ten. Dennoch muss der darauf gestützten strafrecht, 2120 «Eine günstige Resozialisie- Forderung nach einer extensiven Inter- rungsprognose dieser Art wird auch vorausge- pretation von Art. 86 Abs. 4 StGB wider- setzt für die ausserordentliche bedingte Entlas- sung nach der Hälfte der Strafdauer». ____________________________ 44 Urteil des Bundesgerichts 6B_240/2012 vom 41 Medienmitteilung humanrights.ch (Fn. 12). 4. Dezember 2012 E. 2.1. sui-generis 2020, S. 203
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug Straftaten zu schützen».45 Daraus ergibt sonen eine äquivalente Gesundheitsfür- sich, dass eine bedingte Entlassung nach sorge erfahren (vgl. I, II sowie III.2.d). der Hälfte der Strafe zumindest bei jenen Ausschlaggebend ist im vorliegenden Zu- Personen nicht in Frage käme, welche ei- sammenhang sodann die Feststellung, ne ungünstige Prognose i.S.v Art. 86 dass bei der für eine bedingte Entlassung Abs. 1 StGB aufweisen. Die unter III.1 ge- anfallenden Gesamtwürdigung nicht abs- forderte systematische Entlassung aller trakte Sicherheitserwägungen, sondern verurteilten Personen fällt daher bereits konkrete Risiken für Leib, Leben und aus diesen Gründen für einen Teil der andere hochwertige Rechtsgüter von inhaftierten Personen ausser Betracht. Dritten zu berücksichtigen sind, wobei das Rückfallrisiko freilich je nach inhaf- 25 In diesem Zusammenhang drängen sich tierter Person variiert. Gemäss Angaben einige Bemerkungen zur sensiblen Ab- des Bundesamts für Statistik werden ca. wägung im Rahmen von Art. 86 StGB 35% der entlassenen Personen innert auf. Die Forderungen nach einer extensi- drei Jahren wieder mit einem Verbre- veren Entlassungspraxis wurden von der chen oder Vergehen rückfällig.47 Ebenso unter dem Titel «Das Leben von Gefan- konnten Untersuchungen im Kanton Zü- genen steht über Sicherheitsinteressen» rich aufzeigen, dass ca. 11-15% der ent- vorgebracht. Im Text wurde dazu weiter lassenen Straftäter im Beobachtungszeit- ausgeführt, «das Recht auf Leben und raum (Beobachtungszeitraum im Schnitt Gesundheit der Gefangenen und der Mit- 7.9 Jahre) mit einer schweren Gewalt- arbeitenden» müsse höher gestellt wer- oder Sexualstraftat rückfällig wurden.48 den «als abstrakte Sicherheitsinteres- Sodann entspricht es einem kriminologi- sen».46 Die gewählten Formulierungen schen Erfahrungswert, dass die Zeit un- zeichnen ein verzerrtes Bild von den Ent- mittelbar nach der Entlassung als eigent- scheidungsprozessen im Straf- und Mass- liche Hochrisikophase gilt, in der sich die nahmenvollzug im Rahmen der beding- meisten Rückfälle ereignen.49 Diese As- ten Entlassung. Nicht näher mit Voll- pekte wären neben anderen Faktoren im zugsfragen befasste Lesende könnten bei Rahmen einer der Gesamtwürdigung den erwähnten Formulierungen zur In- nach Art. 86 Abs. 1 StGB zu berücksichti- terpretation gelangen, dass im Status gen. Aus diesen Bedingungen geht her- Quo der Justizvollzug die Gesundheit vor, dass der Entscheid über eine beding- und das Leben von Gefangenen unspezi- te Entlassung eine komplexe Abwägung fischen Sicherheitsabwägungen opfert. zwischen Resozialisierungszielen und Si- ____________________________ 26 Eine solche Wahrnehmung würde jedoch 47 Zahlen des BFS über die Rückfallrate innerhalb nicht den Tatsachen entsprechen. Es von drei Jahren nach einer Entlassung für ein Verbrechen oder ein Vergehen, nach demografi- werden in Erfüllung der staatlichen schen Merkmalen und Anzahl Vorstrafen vom Schutzpflicht zahlreiche Massnahmen 3. Dezember 2019. 48 Katharina Seewald et al., Effectiveness of a risk– ergriffen, damit eine Verbreitung des Vi- need–responsivity-based treatment program for rus nicht stattfindet und inhaftierte Per- violent and sexual offenders: Results of a retro- spective, quasi-experimental study, Legal and ____________________________ Criminological Psychology, 2018, 23, 85–99. 45 Urteil des Bundesgerichts 6B_32/2019 vom 49 Thierry Urwyler et al., Die Führungsaufsicht und 28. Februar 2019 E. 2.10; BGE 124 IV 193 E. 3. ihre potenziellen Alternativen, in: Jusletter 46 Medienmitteilung humanrights.ch (Fn. 12). 3. Februar 2020, Rz. 3. sui-generis 2020, S. 204
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug cherheitsinteressen der Allgemeinheit personenbezogene Umstände waren darstellt. Es wäre unzulässig, hochwerti- demgegenüber irreversible Krankheiten ge Rechtsgüter von Dritten durch undif- der inhaftierten Person oder wenn sich ferenzierte Entlassungspraxen zu gefähr- eine inhaftierte Person in einer Katastro- den, wenn im Einzelfall ein ungünstiges phenlage für einen besonders gefährli- Risikoprofil bei einer inhaftierten Person chen Einsatz zur Verfügung stellt ge- vorliegt. Es wäre wünschenswert gewe- nannt.52 sen, dass die hier reflektierte Forderung (III.1) den sensiblen Risiko-Abwägungs- 28 Das Schrifttum – sofern es sich über die vorgang im Rahmen der bedingten Ent- Inhalte der Materialien und Gerichtsur- lassung stärker zum Ausdruck gebracht teile hinaus zur Frage äussert53 – kriti- hätte. sierte in Teilen die moralisierenden Fall- gruppen des Gesetzgebers und stellte b) Fehlender Personenbezug sich überwiegend auf den Standpunkt, allgemeiner Infektionsrisiken dass spezialpräventive Gesichtspunkte 27 den Ausschlag geben sollen.54 Auch bei Eine bedingte Entlassung zur Strafhälfte dieser Interpretation bleibt indes der käme nach dem Gesagten allenfalls für Personenbezug der Norm das kennzeich- jene Personen in Frage, welche eine nende Merkmal, da letztlich die Indivi- günstige Legalprognose im Sinne von dualprognose einer konkreten inhaftier- Art. 86 Abs. 1 StGB aufweisen. Auf Basis ten Person anwendungsbestimmend für dieser Feststellung bleibt zu prüfen, ob die einschlägigen Tatbestandsmerkmale Alexander Marcel/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), von Art. 86 Abs. 4 StGB während der Basler Kommentar, Strafrecht, Strafgesetzbuch, Pandemie vorliegen. Legitimations- Jugendstrafgesetz, 4. A., Basel 2018. grundlage für eine Entlassung nach der 52 Botschaft (Fn. 43); vgl. auch Günther Straten- werth, Schweizerisches Strafrecht. Allgemeiner Strafhälfte sind nach dem Gesetzestext Teil II: Strafen und Massnahmen, Bern 2006, § 4 «ausserordentliche, in der Person des N 69 (besonders verdienstliches Verhalten). 53 Keine über Materialien und Urteile hinausgehen- Gefangenen liegende Umstände.» Damit den Ausführungen enthalten beispielsweise Ste- hat der Gesetzgeber zwar eine offene fan Heimgartner, Art. 86 N 12, in: Andreas Do- Formulierung gewählt.50 Unbestritten natsch (Hrsg.) StGB/JStG Kommentar, 20. A., Zürich 2018; Michel Dupuis et al., Petit Commen- war jedoch immer, dass es sich um per- taire CP, Basel 2017, Art. 86 N 13; Wolfgang sonenbezogene Umstände der inhaftier- Wohlers, Art. 86 N 4, in: Wolfgang Wohlers/ Gunhild Godenzi/Stephan Schlegel, Schweizeri- ten Person selbst handeln muss; der Tod sches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 4. A., eines Familienangehörigen oder ein sta- Bern 2020. tistischer Rückgang der Delikte, welche 54 Stefan Trechsel/Peter Aebersold, Art. 86 N 16, in: Stefan Trechsel/Marc Pieth (Hrsg.), Schweizeri- die Verurteilung des Betroffenen veran- sches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 3. A., lasst haben, sollten nach der Vorstellung Zürich/St.Gallen 2017; André Kuhn, Art. 86 N 8, des Gesetzgebers keine ausserordentli- in: Roth Robert/Moreillon Laurent (Hrsg.), Commentaire Romand, Code pénal I, Art. 1-110, chen Gründe darstellen.51 Beispiele für Basel 2009; Die Praxis der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug, Eine empirische Studie zur ____________________________ Anwendung des Art. 86 StGB in den Kantonen 50 Botschaft (Fn. 43). Bern, Freiburg, Luzern und Waadt, Berlin/Bern 51 Botschaft (Fn. 43); vgl. auch Daniel Jositsch/ 2019, 372. Cornelia Koller, Art. 86 N 18, in: Niggli Gian Ege/Christian Schwarzenegger, Strafrecht Alexander Marcel/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), II, Strafen und Massnahmen, 9. A., Zürich 2018, Basler Kommentar, Strafrecht, Strafgesetzbuch, S. 252; Cornelia Koller, Art. 86 N 18, in: Niggli Jugendstrafgesetz, 4. A., Basel 2018. sui-generis 2020, S. 205
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug Art. 86 Abs. 4 StGB wäre (d.h. nur wenn 29 Aus dem Gesagten geht hervor, dass die die Prognose wegen a.o. Umständen von Art. 86 Abs. 4 StGB genannten aus- günstig ausfiele, könnte die bedingte serordentlichen Umstände eine konkrete Entlassung zur Strafhälfte gewährt wer- inhaftierte Person betreffen müssen den). Schliesslich knüpfen auch die (Krankheit, besondere Verdienste, insb. Richtlinien der Strafvollzugskonkordate, Verbesserung Legalprognose). Bei der die als Auslegungshilfen bei der Interpre- Corona-Pandemie handelt es sich jedoch tation von Art. 86 Abs. 4 StGB beigezo- nicht um solche individuelle Besonder- gen werden können55, an personenbezo- heit, die eine ausserordentliche bedingte gene Umstände an: Genannt werden z.B. Entlassung rechtfertigen könnten, son- der Gesundheitszustand eines Insassen, dern um ein Phänomen mit Systemrele- die besondere Betroffenheit der inhaf- vanz, das alle in der Schweiz lebenden tierten Person durch die Folgen der Tat, Menschen betrifft und für den Grossteil durch aussergewöhnliche Entbehrungen der Personen (auch der Inhaftierten) als erfolgte Verbesserungen der Legalprog- Gesundheits- bzw. (Risikogruppen) Le- nose oder die Erfüllung finanzieller bensrisiko in Erscheinung tritt.58 Zwar Pflichten aus der Verurteilung/dem Voll- wird nicht bestritten, dass eine Corona- zugsverfahren.56 Sodann hat auch die Infektion mit einem erhöhten Risiko für Rechtsprechung immer auf konkrete die Gesundheit (z.B. Lungenentzündung) Personenumstände Bezug genommen und bei Risikogruppen für das Leben und Art. 86 Abs. 4 StGB in die Nähe ei- einhergeht und dass die Infektionsgefahr nes Gnadenakts (Begnadigung -> Einzel- in Einrichtungen des Freiheitsentzugs fallgerechtigkeit) gestellt.57 tendenziell erhöht ist.59 Es bleibt aber bei ____________________________ einem für alle Inhaftierten bestehenden 55 Dabei sind die Richtlinien freilich nicht bindend Risiko (probabilistische Grösse) und kei- (a.M. scheinbar das Verwaltungsgericht des Kan- nem auf eine konkrete inhaftierte Person tons Zürich VB.2010.00459 vom 11. November 2010 E. 3). Der Position des Verwaltungsgerichts bezogenen ausserordentlichen Umstand muss jedoch widersprochen werden. Bei der Aus- (z.B. eine irreversible Krankheit). Eine legung von Art. 86 Abs. 4 StGB sind die normalen bedingte Entlassung zur Strafhälfte Auslegungsgrundsätze zu beachten, d.h. es ist der Sinn der Norm durch grammatikalische, histori- könnte daher erst dann diskutiert wer- sche, teleologische und systematische Auslegung den, wenn eine Person sich mit dem Vi- zu ermitteln. In diesem Rahmen können konkor- datliche Richtlinien nur – aber immerhin – Hil- fen bei der Auslegung von Normen mit unklarem Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich Normgehalt sein. VB.2010.00459 vom 11. November 2010, (nicht 56 Ostschweizer Strafvollzugskommission, Richtli- erfüllt); Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich nien betreffend die bedingte Entlassung aus dem VB.2019.00165 vom 8. Juli 2019 (nicht erfüllt). Strafvollzug vom 7. April 2006, Rz. 2.2; Art. 3 58 Zur Risikoausprägung vgl. Liebrenz/Weber/ Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvoll- Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 1. zugskonkordats der Nordwest- und Innerschwei- 59 Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 19; zer Kantone betreffend die bedingte Entlassung nach Kenntnisstand der Autoren ist jedoch nicht aus dem Strafvollzug vom 26. Oktober 2018 (ent- geklärt, wie stark die relative Risikoerhöhung halten nur den Gesundheitszustand und die (Ansteckungsrate Allgemeinbevölkerung v. Inhaf- schwere, nach der Verurteilung entstandene Be- tierte) gegenüber den Personen in Freiheit tat- troffenheit). sächlich ausfällt. Dabei fällt eine exakte Risiko- 57 Urteil des Bundesgericht 6B_240/2012 vom quantifizierung mangels gesicherter Datenlage 4. Dezember 2012 (nicht erfüllt); Urteil des Bun- schwer. Während kaum strittig sein dürfte, dass desgerichts 6B_715/2014 vom 27. Januar 2015, ein erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht, ist un- (nicht erfüllt); Urteil des Bundesgerichts klar, wie hoch diese relative Risikoerhöhung ge- 6B_891/2008 vom 20. Juni 2009 (nicht erfüllt); genüber Personen in Freiheit ausfällt. sui-generis 2020, S. 206
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug rus infiziert und sich der Gesundheitszu- c) Herausforderungen der stand rapide verschlechtert. Dann läge Umsetzung der erforderliche Personenbezug des aus- 31 Abrundend sollen einige Umsetzungs- serordentlichen Umstands für den kran- herausforderungen der systematischen ken Insassen vor. Allerdings wäre Art. 86 Anwendbarkeit von Art. 86 Abs. 4 StGB Abs. 4 StGB u.E. auch in diesen Konstel- diskutiert werden. Dabei gilt es zu beto- lationen nicht einschlägig, da die Mehr- nen, dass die nachfolgend genannten As- zahl von Krankheitsverläufen bei COVID- pekte keine Grundlagen darstellen, um 19 mit einer Gesundung enden und die bedingte Entlassungen aus dem Straf- Genesenen zu alten Kräften zurückkeh- vollzug abzulehnen. Liegen die juristi- ren (mangelnde Irreversibilität i.S.v. schen Voraussetzungen nach Art. 86 Art. 86 Abs. 4 StGB). Zielführender wä- Abs. 4 StGB vor, ist die bedingte Entlas- ren daher bei dieser Sachlage Verlegun- sung zu gewähren. Dennoch ist es abge- gen in Spitäler und spezialisierte Einrich- bracht, zur vollständigen Erfassung der tungen (vgl. III.2.d). Problematik die Konsequenzen einer systemischen Entlassungspraxis nach 30 Der einzige den Autoren vorstellbare Art. 86 Abs. 4 StGB zu skizzieren: Würde Anwendungsfall für Art. 86 Abs. 4 StGB die bedingte Entlassung nach der Straf- würde eintreten, wenn aufgrund der hälfte während der Corona-Krise zur Re- Corona-Krise ein Zusammenbruch des gel, würde sich die Frage stellen, auf wel- Gesundheitssystems wegen mangelnder che Weise ein geordnetes Übergangsma- Personalressourcen droht. Würden sich nagement in kurzer Frist bereitgestellt in einer solchen Sachverhaltskonstellati- werden kann. Gerade bei Langzeitinhaf- on unter den inhaftierten Personen tierten oder sozial isolierten Personen solche mit medizinischer/pflegerischer könnte der Fall eintreten, dass nicht in- Ausbildung und akzeptablem extramura- nert kurzer Frist eine Wohnmöglichkeit len Risikoprofil befinden und wären die- sowie Arbeitsmöglichkeiten zur Verfü- se bereit, Einsätze in den Spitälern etc. gung gestellt werden könnten, womit die zu leisten, könnte sich Art. 86 Abs. 4 Reintegration durch eine instabile Ent- StGB als einschlägig erweisen. Sieht man lassungssituation gefährdet wäre. Man- von diesem Sonderfall ab, wäre die aus- gels Wohnmöglichkeiten wären sodann serordentliche bedingte Entlassung nach Personenansammlungen in den sozialen Art. 86 Abs. 4 StGB nicht das richtige Auffangzentren möglich, was angesichts Mittel, um während der Pandemie die der bundesrätlichen Vorgaben, Perso- angestrebte Reduktion des Insassenbe- nenkonzentrationen wann immer mög- stands in Einrichtungen des Freiheits- lich tief zu halten, als fragwürdig er- entzugs herbeizuführen.60 scheint. Ebenso könnte sich bei Inhaf- ____________________________ tierten mit Landesverweis je nach Sach- 60 Wenn überhaupt, müsste man generell-abstrakte Lösungen für alle Gefangenen ausserhalb der lage die Situation einstellen, dass sie von Strukturen der Art. 75 ff. StGB unter dem Ge- der einen in die andere Haft (Ausschaf- sichtspunkt der Amnestie (Art. 384 StGB) be- fungshaft) verlegt werden. In all diesen trachten, wobei es sich bei einer Infektionswelle wohl um einen atypischen Fall einer Amnestie Fällen bliebe die mit der bedingten Ent- handeln würde. Freilich wäre für eine solche die lassung angestrebte Risikoreduktion für Bundesversammlung zuständig (Art. 384 Abs. 1 die betroffene Person aus. StGB). sui-generis 2020, S. 207
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