Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug - sui ...

Die Seite wird erstellt Anna Kohler
 
WEITER LESEN
Corona-Prävention im Straf- und
Massnahmenvollzug
Temporäre Einschränkungen der Therapiefrequenz und Grenzen der
ausserordentlichen bedingten Entlassung

Thierry Urwyler / Thomas Noll / Astrid Rossegger *%

Die Corona-Pandemie erfordert diverse Anpassungen im Justizvollzug. Dabei sind
teilweise neue, unbekannte Wege einzuschlagen. Die Autoren gehen im nachfolgen-
den Beitrag den Fragen nach, ob temporäre Einschränkungen der Therapiefre-
quenz juristisch zulässig sind und ob der anzustrebenden Reduktion des Insassen-
bestands mit einer extensiven Auslegung von Art. 86 Abs. 4 StGB begegnet werden
könnte. Während die erste Frage bei strikter Beachtung der Verhältnismässigkeit
zu bejahen ist, wird die systematische Anwendung von Art. 86 Abs. 4 StGB als Lö-
sungsoption verworfen.

I. Einführung ........................................................................................................... 194
II. Temporäre Einschränkung der Therapiefrequenz .............................................. 195
   1. Bedeutung von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2 für
      Psychotherapien in der Freiheit ...................................................................... 196
   2. Unanwendbarkeit von Art. 10a COVID-19-Verordnung 2
      für den Justizvollzug ....................................................................................... 196
   3. Ausgestaltung im Justizvollzug ....................................................................... 197
III. Extension der bedingten Entlassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB ........................ 202
   1. Inhalt der Forderung .......................................................................................203
   2. Kritische Würdigung .......................................................................................203
IV. Abschliessende Bemerkungen ............................................................................ 208

Zitiervorschlag: Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention
                 im Straf- und Massnahmenvollzug, in: sui-generis 2020, S. 193

URL:                   sui-generis.ch/130

DOI:                   https://doi.org/10.21257/sg.130

   ____________________________
* Dr. iur Thierry Urwyler, Akademischer Mitarbeiter, Forschung und Entwicklung, Justizvollzug und
  Wiedereingliederung (Zürich) und Lehrbeauftragter Universität Luzern; Dr. med. und Dr. iur.
  Thomas Noll, Akademischer Mitarbeiter, Forschung und Entwicklung, Justizvollug und Wieder-
  eingliederung (Zürich); PD Dr. rer. nat. Astrid Rossegger, Stv. Haupabteilungsleiterin, Forschung
  und Entwicklung/Co-Leiterin Arbeitsgruppe Forensische Psychologie Universität Konstanz.

   Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter
   gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

I. Einführung                                                   im Justizvollzug entgegengewirkt und
1                                                               woraus ergibt sich die verfassungs- und
    Das Corona-Virus stellt die Schweiz vor
                                                                völkerrechtliche Legitimität dieses Vor-
    menschliche, organisatorische und ver-
                                                                gehens?
    fassungsrechtliche Herausforderungen.
    Weitreichende Eingriffe in die alltägliche             2    Auf generell-abstrakter Ebene ist die
    Lebensgestaltung wurden vorgenommen,
                                                                Antwort klar: Der Staat trägt für die Ge-
    um die Ausbreitung des Virus zu verlang-
                                                                sundheit der inhaftierten Personen eine
    samen und damit den notwendigen
                                                                umfassende «menschen- und grund-
    Schutz von Leib und Leben zu gewähr-
                                                                rechtliche Verantwortung» (Fürsorge-
    leisten.1 Auch das Strafrecht im weiteren
                                                                pflicht, Schutzpflicht)7 und ist epidemien-
    Sinne wird sich noch lange mit den Teil-
                                                                gesetzlich8 zur Reduktion von Infektions-
    fragen rund um das Corona-Virus be-
                                                                risiken verpflichtet. Es sind daher alle
    schäftigen: Der Aufschub von Gerichts-
                                                                gesetzlich vorgesehenen und verhältnis-
    verhandlungen/Einvernahmen,         deren
                                                                mässigen Mittel zu verwenden, um die
    modifizierte Durchführung , die Ausle-
                                2
                                                                Ansteckung von inhaftierten Personen
    gung von Haftgründen3 oder die Ver-
                                                                mit übertragbaren Krankheiten zu ver-
    handlungsfähigkeit bei Risikogruppen4
                                                                meiden.9 Die Strategie von Justizvollzug
    illustrieren den Einfluss der Pandemie
                                                                und Wiedereingliederung des Kantons
    auf das Verfahrensrecht. Weiter haben
                                                                Zürich orientiert sich zu diesem Zweck
    die     Strafnormen     der    COVID-19-
                                                                an den nationalen (Bundesamt für Ge-
    Verordnung 2 materiell-strafrechtliche
                                                                sundheit [BAG], Konferenz der Kantona-
    Spannungsfelder (Legalitätsprinzip) er-
                                                                len Justiz und Polizeidirektorinnen und
    öffnet.5 Sodann ist auch das Straf- und
                                                                -direktoren [KKJPD]) und internationa-
    Massnahmenvollzugsrecht mit zahlrei-
                                                                len Vorgaben (World Health Organization
    chen Herausforderungen konfrontiert.6
                                                                [WHO], Committee fort he Prevention of
    Die Kernfragen in dieser Rechtsmaterie
                                                                Torture [CPT]), wobei u.a. das Einhalten
    lauten: Mit welchen präventiven Mass-
                                                                sozialer Distanz (sog «social distancing»),
    nahmen wird einer Verbreitung des Virus
                                                                eingeschränkte Besuchsrechte (Art. 84
    ____________________________                                Abs. 2 StGB), der Einsatz von Trenn-
1   Vgl. Verordnung 2 über Massnahmen zur Be-                   scheiben, Sistierungen von Ausgang/
    kämpfung des Coronavirus (COVID-19), (COVID-
    19-Verordnung 2) vom 13. März 2020 (Stand am
                                                                Urlaub und ultima ratio Isolationen
    4. April 2020).
2   Art. 1 Verordnung über Massnahmen in der Jus-
    tiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang
    mit dem Coronavirus (COVID-19-Verordnung
    Justiz und Verfahrensrecht) vom 16. April 2020.
3   Urteil des Bundesgerichts 1B_112/2020 vom                   ____________________________
    20. März 2020 E. 3.3.                                   7   Übersicht über die einschlägigen Quellen bei Jörg
4   Urteil des Bundesstrafgerichts SN.2020.10                   Künzli/Alberto Achermann, Bekämpfung von In-
    (SK.2019.45) vom 17. März 2020 E. 8.                        fektionskrankheiten im Freiheitsentzug, Jusletter
5   «Strafrechtsprofessor Marcel Niggli tadelt Bun-             7. Mai 2007, Rz. 5 ff. und Zitat Rz. 24.
    desrat – Corona-Bussen sind verfassungswid-             8   Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 28; vgl. sodann
    rig!», Blick am 6. April 2020.                              Art. 30 der Epidemienverordnung.
6   Zur internationalen Berichterstattung auch der          9   Vgl. Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 26 und 31;
    Überblick bei Prisonstudies; in der Schweiz stell-          zentral sodann: EGMR, Guide on the case-law of
    vertretend: «Coronavirus hinter Gittern – Wenn              the European Convention on Human Rights,
    Gefängnisse zu tickenden Zeitbomben werden»,                Prisoners’ rights, Updated on 31 December 2019,
    SRF Tagesschau vom 29. März 2020.                           Rz. 122 ff.

                                              sui-generis 2020, S. 194
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     (Art. 78 lit. b StGB; Art. 90 Abs. 1 lit. b                   nach Art. 86 Abs. 4 StGB in zulässi-
     StGB)10 als Präventionsinstrumente ein-                       ger Weise umgesetzt werden könnte.
     gesetzt werden.11 Darüber hinaus gibt es
     zwei weitere mögliche Massnahmen zur
                                                         3     Mit der vorliegenden Publikation wollen
     Reduktion der Infektionsgefahr, welche                    die Autoren Antworten auf diese zwei
     eine erhöhte juristische Komplexität                      Forschungsfragen formulieren und die
     aufweisen und eine differenzierte Be-                     darauf fussenden Entscheidungen von
     trachtung erfordern.                                      Justizvollzug und Wiedereingliederung
                                                               im Kanton Zürich für Dritte transparent
     1. Erstens stellt sich die Frage, ob bzw.                 und kritisierbar machen.13
        in welchem Rahmen es erlaubt oder
        gar geboten ist, nicht dringende psy-
                                                        II. Temporäre Einschränkung der
        chotherapeutische Interventionen in
                                                            Therapiefrequenz
        ihrer Frequenz einzuschränken, um
        die Verbreitungsgefahr des Virus zu              4     Wie einleitend erwähnt wurde, formu-
        minimieren. Anlass zu dieser Abklä-                    liert Art. 10a COVID-19-Verordnung ein
        rung ergibt sich aus Art. 10a der                      Verbot von nicht dringenden Untersu-
        COVID-19-Verordnung 2 (Fassung                         chungen, Behandlungen und Therapien
        vom 21. März 2020). Diese Norm                         zwecks Eindämmung der Infektionsrisi-
        formuliert ein Verbot für nicht drin-                  ken und Sicherstellung von medizini-
        gende Untersuchungen, Behandlun-                       schen Ressourcen. Dieses Verbot tangiert
        gen und Therapien. Es wird zu prü-                     auch Psychotherapien im Rahmen der
        fen sein, ob dieser Standard auch im                   allgemeinen Gesundheitsversorgung in
        Justizvollzug anwendbar ist bzw. ob                    der Freiheit (vgl. II.1). Allerdings wird
        sich analoge Standards aufdrängen.                     sich zeigen, dass Art. 10a COVID-19-
                                                               Verordnung 2 den Justizvollzug nicht
     2. Zweitens interessiert12, ob eine Re-                   reguliert (vgl. II.2). Dennoch könnten
        duktion des Insassenbestands in Ein-                   analoge Schutzstandards zur Infektions-
        richtungen des Freiheitsentzugs mit                    vermeidung im Justizvollzug angebracht
        einer erweiterten Interpretation der                   sein. Solche Einschränkungen stehen
        ausserordentlichen bedingten Ent-                      jedoch in einem Spannungsfeld mit dem
        lassung nach der Hälfte der Strafe                     ebenso verfassungs- und konventions-
                                                               rechtlichen Anspruch auf adäquate the-
     ____________________________                              rapeutische Versorgung. Dieses Span-
10   Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens bei Tröpf-            nungsfeld ist nach Massgabe der Ver-
     cheninfektionen auch: Künzli/Achermann (Fn. 7),
                                                               hältnismässigkeit aufzulösen (vgl. II.3).
     Rz. 35.
11   KKJPD, Zusammenfassung der nationalen und
     internationalen Rechtsgrundlagen und Empfeh-
     lungen zum Umgang mit COVID 19 in Anstalten
     des Freiheitsentzugs (Stand: 6. April 2020) –             ____________________________
     Orientierungshilfe an die für den Justizvollzug      13   Die in diesem Beitrag erläuterten Rechtsfragen
     zuständigen Stellen (zit. KKJPD, Zusammenfas-             wurden während der Pandemie von der Ge-
     sung); sodann BAG, Neues Coronavirus: Mass-               schäftsleitung von Justizvollzug und Wiederein-
     nahmen, Verordnung und Erläuterungen (zit.                gliederung an die Autoren in der Hauptabteilung
     BAG, Neues Coronavirus)                                   «Forschung & Entwicklung» herangetragen. Die
12   Medienmitteilung von humanrights.ch «Corona-              vorliegenden Abhandlungen repräsentieren die
     virus: Das Leben von Gefangenen steht über Si-            Essenz der dafür notwendigen Rechtsabklärun-
     cherheitsinteressen» vom 23. März 2020.                   gen.

                                            sui-generis 2020, S. 195
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

1. Bedeutung von Art. 10a COVID-19-                            de Überlastung der Kliniken zu vermei-
   Verordnung 2 für Psychotherapien                            den. Folglich sollen psychotherapeuti-
   in der Freiheit                                             sche Interventionen nach Möglichkeit
5    Die COVID-19-Verordnung 2 (Fassung                        weitergeführt werden, wobei die moder-
     vom 21. März 2020) limitiert im Rahmen                    nen Kommunikationsmittel zu nutzen
     der allgemeinen Gesundheitsversorgung                     sind, um die Ziele der bundesrätlichen
     medizinische Untersuchungen, Behand-                      Verordnung tunlichst gut umzusetzen.15
     lungen oder Therapien, welche nicht                       Ähnlich lauten die Vorgaben der Dachor-
     dringender Natur sind (Art. 10a Abs. 2-4).                ganisation der in der Schweiz tätigen
     Nach Art. 10a Abs. 3 gelten jene Eingriffe                Psychologinnen und Psychologen (FSP):
     als nicht dringend, die «zu einem späte-                  Therapien sollen nach Beurteilung
     ren Zeitpunkt durchgeführt werden                         der Dringlichkeit fortgesetzt werden, wo-
     können, ohne dass bei der betroffenen                     bei Telefon-, Video- oder E-Mail-
     Person Nachteile zu erwarten sind, die                    Behandlungen zu prüfen sind.16
     über geringe physische und psychische
     Beschwerden und Beeinträchtigungen                  2. Unanwendbarkeit von Art. 10a
     hinausgehen» (lit. a) bzw. die «überwie-               COVID-19-Verordnung 2 für den
     gend oder vollständig ästhetischen Zwe-                Justizvollzug
     cken, der Steigerung der Leistungsfä-               7     Grundsätzlich hätte der Bund im Rah-
     higkeit oder dem Wohlbefinden dienen»                     men des Epidemiengesetzes die Möglich-
     (lit. b). In der Erläuterung zur COVID-                   keit, Massnahmen für den Justizvollzug
     19-Verordnung 2 wurde dieser Schritt                      zu definieren.17 Mit Art. 10a der COVID-
     wie folgt begründet: Es soll zum einen                    19-Verordnung 2 (Pflichten der Gesund-
     vermieden werden, dass sich unnötig                       heitseinrichtungen) wurde jedoch nur die
     Menschenansammlungen bilden, und                          allgemeine Gesundheitsversorgung regu-
     zum anderen sollen Kapazitäten der Ge-                    liert und nicht der Straf- und Massnah-
     sundheitsversorgung nicht ohne zwin-                      menvollzug.18 Dieses Auslegungsresultat
     genden Grund gebunden werden.14                           begründet sich wie folgt: Das Verbot von
                                                               nicht dringenden medizinischen Unter-
6    Die Berufsverbände haben diese Leitli-                    suchungen, Behandlungen und Thera-
     nien aufgenommen, gleichzeitig aber ein                   pien gilt gemäss Art. 10a Abs. 2 COVID-
     extensives Dringlichkeitsverständnis stipu-               19-Verordnung 2 nur für die «Gesund-
     liert. Die Dachorganisation der psychiat-                 heitseinrichtungen nach Artikel 6 Absatz
     risch-psychotherapeutisch tätigen Ärzte                   3 Buchstabe m». Unter diesen Begriff fal-
     und Ärztinnen der Schweiz (Foederatio                     len insbesondere «Spitäler, Kliniken und
     Medicorum Psychiatricorum et Psycho-                      Arztpraxen sowie Praxen und Einrich-
     therapeuticorum [FMPP]) stellt fest, dass                 tungen von Gesundheitsfachpersonen
     psychische Dekompensationen nach                          nach Bundesrecht und kantonalem
     Möglichkeit zu verhindern sind, um                        ____________________________
     Hospitalisationen und die damit drohen-              15   Fachinformation der FMPP zur aktuellen
                                                               Coronavirus-Pandemie (Stand 6. April 2020).
     ____________________________                         16   FAQ Coronavirus der FSP (nur für Mitglieder
14   Erläuterungen zur Verordnung 2 vom 13. März               zugänglich; Stand 06. April 2020).
     2020 über Massnahmen zur Bekämpfung des              17   Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 75 f.
     Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2), Fassung         18   So auch die Interpretation bei KKJPD, Zusam-
     vom 25. März 2020, Stand 28. März 2020, S. 17.            menfassung (Fn. 11).

                                           sui-generis 2020, S. 196
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     Recht» (Art. 6 Abs. 3 lit. m). Der Justiz-                ten auf eine adäquate therapeutische
     vollzug ist kein Teil dieser allgemeinen                  Versorgung (vgl. II.3.a.bb). Dieses
     Gesundheitsversorgung. Vielmehr stellt                    verfassungs- und konventionsrechtliche
     er einen Teil der öffentlichen Verwaltung                 Spannungsverhältnis ist nach Massgabe
     im Sinne von Art. 6 Abs. 3 lit. j COVID-                  der Verhältnismässigkeit aufzulösen
     19-Verordnung 2 dar. Diese Interpretati-                  (II.3.b).
     on wird durch die Ausführungen des
     BAG gestützt, welches unter der öffentli-                 a) Konventions- und
     chen Verwaltung nach Art. 6 Abs. 3 lit. j                    verfassungsrechtliches
     Anstalten des Freiheitsentzugs explizit                      Spannungsverhältnis
     inkludierte und zusätzlich ausführte, es
     werde empfohlen, «in Anstalten des                        aa) Anspruch der inhaftierten
     Freiheitsentzugs (Gefängnisse, Justiz-                        Person auf Schutz vor
     vollzugsanstalten) die Massnahmen zur                         Infektionskrankheiten
     Verminderung des Übertragungsrisikos                9     Der Staat tragt aufgrund Art. 2 und 3
     und zur Bekämpfung des Coronavirus
                                                               EMRK (Art. 10 BV) eine umfassende ver-
     (COVID-19) an den Empfehlungen in-
                                                               fassungs- und konventionsrechtliche
     ternationaler Organisationen, nament-
                                                               Schutzpflicht für das Leben und die Ge-
     lich an den Empfehlungen der Weltge-
                                                               sundheit von inhaftierten Personen. 20
     sundheitsorganisation (WHO) und des
                                                               Ansteckungen von inhaftierten Personen
     Europarats auszurichten.»19 Aus diesen
                                                               mit übertragbaren Krankheiten sind da-
     Gründen ist Art. 10a COVID-19-
                                                               her bestmöglich zu vermeiden.21 Nun ist
     Verordnung 2 nicht auf den Justizvollzug
                                                               es so, dass durch Therapiesitzungen In-
     anwendbar. Entsprechend obliegt es da-
                                                               fektionsrisiken ansteigen: Durch War-
     her den Kantonen (Art. 1a COVID-19-
                                                               tebereiche, die räumlichen Verhältnisse
     Verordnung 2), zu entscheiden, ob und in
                                                               (z.B. Raumgrösse oder Möglichkeit der
     welchem Rahmen die Vorgaben von
                                                               Lüftung) usw. werden Personenzirkulati-
     Art. 10a COVID-19-Verordnung 2 für der
                                                               on und -ansammlungen gefördert, was
     Justizvollzug Relevanz entfalten.
                                                               wiederum während Pandemien Infekti-
                                                               onsrisiken steigen lässt. Angesichts die-
3. Ausgestaltung im Justizvollzug
                                                               ser Ausgangslage wäre es mit Blick auf
8    Nachfolgend ist der Frage nachzugehen,
     ob sich im Justizvollzug trotz fehlender                  ____________________________
                                                          20   Übersicht über die einschlägigen Quellen bei
     direkter Anwendbarkeit von Art. 10a                       Künzli/Achermann, (Fn. 7), Rz. 5 ff. und Zitat
     COVID-19-Verordnung 2 gleichgelagerte                     Rz. 24; vgl. auch Rule 24 ff. der Nelson Mandela
                                                               Rules, The United Nations Standard Minimum
     Lösungsmodelle aufdrängen. Es wird                        Rules for the Treatment of Prisoners.
     sich zeigen, dass der Anspruch der inhaf-            21   Vgl. Künzli/Achermann (Fn. 7), Rz. 26 und 31;
     tierten Person auf Schutz vor Infektions-                 zur Rechtsprechung des EGMR sodann: EGMR,
                                                               Guide on the case-law of the European Conven-
     krankheiten für eine analoge Ausgestal-                   tion on Human Rights, Prisoners’ rights, Updated
     tung spricht (vgl. II.3.a.aa). Gleichzeitig               on 31 December 2019, Rz. 122 ff.; Rule 30 der
                                                               Nelson Mandela Rules, The United Nations
     gerät dieser Lösungsansatz in einen Ziel-                 Standard Minimum Rules for the Treatment of
     konflikt mit dem Anspruch von Inhaftier-                  Prisoners; ebenso Freiheitsentzug, Die Empfeh-
                                                               lungen      des     Europarates,      Europäische
     ____________________________                              Strafvollzugsgrundsätze,      Godesberg    2007,
19   BAG, Neues Coronavirus (Fn. 11).                          Rz. 42.3.

                                           sui-generis 2020, S. 197
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

      die staatliche Schutzpflicht plausibel, die                  serhalb dieser Extremkonstellationen be-
      Vorgaben der COVID-19-Verordnung 2                           stehen jedoch gewisse Ermessensspiel-
      mutatis mutandis auf den Straf- und                          räume.25
      Massnahmenvollzug anzuwenden, da
      sich in diesem Rahmen (mindestens)                           b) Auflösung des verfassungs- und
      dieselben Herausforderungen wie im                              konventionsrechtlichen
      Rahmen der allgemeinen Gesundheits-                             Spannungsverhältnisses
      versorgung stellen.                                    11    Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die
                                                                   Ansprüche der inhaftierten Person auf
      bb)Anspruch der inhaftierten                                 Schutz vor Infektionen und auf die Ge-
         Person auf therapeutische Ver-                            währleistung einer angemessenen psy-
         sorgung                                                   chiatrischen und psychotherapeutischen
10    Eine Einschränkung des therapeutischen                       Versorgung in einem sensiblen Span-
      Angebots tangiert jedoch automatisch                         nungsverhältnis (Zielkonflikt) stehen.
      andere verfassungs- und konventions-                         Nachfolgend wird ein Lösungsmodell
      rechtliche Verpflichtungen. Die Gewähr-                      präsentiert, das diesen Konflikt nach
      leistung einer adäquaten medizinischen                       Massgabe der Verhältnismässigkeit auf-
      und psychotherapeutischen Versorgung                         löst.
      gehört zu den positiven Leistungspflich-
      ten des Staates im Freiheitsentzug auf-                      aa) Gewährleistung der medizi-
      grund des Folterverbots (Art. 3 EMRK,                            nisch-psychologischen Grund-
      Art. 10 BV) und stellt bei inhaftierten                          versorgung
      Personen überdies eine Voraussetzung                   12    Für die Belange der allgemeinen Ge-
      für die Gesetzmässigkeit des Freiheits-
                                                                   sundheitsversorgung bildet das Äquiva-
      entzugs nach Art. 5 EMRK (Art. 31 BV)
                                                                   lenzprinzip den Ausgangspunkt aller
      dar.22 Vor diesem Hintergrund dürften
                                                                   Überlegungen. Danach muss die Ge-
      Vollzugsinstitutionen therapeutische An-
                                                                   sundheitsfürsorge für inhaftierte Perso-
      gebote nicht generell-abstrakt einschrän-
                                                                   nen mit jener für Personen in Freiheit
      ken: Ein «therapeutic abandonment»
                                                                   gleichwertig sein (Art. 75 StGB).26 Unter
      wäre mit Art. 3 (Art. 10 BV) und 5 EMRK
                                                                   II.1 wurde dargelegt, dass die Berufsver-
      (Art. 31 BV) unvereinbar.23 Ebenso wäre
                                                                   bände die von Art. 10a COVID-19-
      eine generell-abstrakte Einschränkung
                                                                   Verordnung 2 geforderte Dringlichkeit
      des Therapieangebots auf einzelne
                                                                   extensiv auslegen und Psychotherapien
      Behandlungsformen (z.B. pharmakologi-
                                                                   bestmöglich weiterführen. Folglich muss
      sche Behandlung) unzulässig.24 Aus-
                                                                   aufgrund des Äquivalenzprinzips auch
      ____________________________                                 die somatische und psychiatrische
 22   Urteil des EGMR 34602/16 vom 21. Januar 2020
      (Strazimiri v. Albania) § 103 ff.; Urteil des EGMR
      18052/11 vom 31. Januar 2019 (Rooman v. Belgi-               gen seiner Pflicht kein therapeutisches Umfeld
      um [GC]) § 146 ff. und 169 ff.                               (inkl. Psychotherapie etc.) zur Verfügung gestellt
 23   Urteil des EGMR 34602/16 vom 21. Januar 2020                 hatte).
      (Strazimiri v. Albania) § 103 ff.                       25   Urteile des EGMR 15669/13 and 76140/13 vom
 24   Urteil des EGMR 34602/16 vom 21. Januar 2020                 17. März 2020 (Kosenko v. Russia) § 37 ff.
      (Strazimiri v. Albania) § 123 (So rügte der EGMR        26   Benjamin Brägger, Gefängnismedizin, in: Benja-
      einen Staat zu Recht, der sich bei einer psychisch           min Brägger (Hrsg.). Das schweizerische Voll-
      gestörten Person nur auf pharmakologische                    zugslexikon Von der vorläufigen Festnahme zur
      Interventionen beschränkt und ansonsten entge-               bedingten Entlassung, Basel 2014.

                                                sui-generis 2020, S. 198
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     Grundversorgung für inhaftierte Perso-                    währleistungspflicht nach Art. 3 und 5
     nen bestmöglich gewährleistet werden.27                   EMRK (bzw. Art. 10 und 31 BV) muss
     Dies gilt umso mehr, weil angesichts der                  auch für sie die Maxime der bestmögli-
     Corona-bedingten Vollzugsrestriktionen                    chen Aufrechterhaltung des therapeuti-
     Stressfaktoren vorliegen, welche psychi-                  schen Angebots gelten (vgl. II.3.a.bb).29
     sche Leiden initiieren oder verstärken                    Die längerfristige Ausrichtung solcher
     können (z.B. Depressivität, [Auto]-                       Massnahmen öffnet sich jedoch der Be-
     Aggressivität etc.).28 In diesen Konstella-               trachtung, dass nicht alle diese Interven-
     tionen überwiegen die Interessen der in-                  tionen «dringlich» im engeren Sinne sind
     haftierten Person auf somatische und                      (analoger Massstab zu Art. 10a COVID-
     psychische Unversehrtheit das Interesse                   Verordnung 2).30 Angesichts dieser Aus-
     auf Vermeidung von Infektionsrisiken.                     gangslage könnten einzelne Komponen-
     Dabei ist anzumerken, dass die jeweili-                   ten des deliktpräventiven Therapieange-
     gen Interventionen zwecks Minimierung                     bots temporär eingeschränkt werden.
     des Infektionsrisikos in Übereinstim-
     mung der Hygienevorgaben der COVID-                 14    Im Rahmen des Zuständigkeitsbereichs
     19-Verordnung 2 (Art. 6 Abs. 4) bzw. den                  des Psychiatrisch-Psychologischen Diens-
     Empfehlungen des Bundesamts für Ge-                       tes (PPD) in Justizvollzug und Wieder-
     sundheit vorgenommen werden.                              eingliederung wurde diese Massnahme
                                                               ergriffen: Sowohl im stationären als auch
     bb)Temporäre Frequenzein-                                 im ambulanten Therapiesetting wurden
        schränkungen bei deliktpräven-                         Gruppensitzungen vorläufig sistiert. Mi-
        tiven Therapien                                        lieutherapeutische Angebote werden für
13                                                             die Klienten in stationären Massnahmen
     In einem zweiten Schritt stellt sich die
                                                               beibehalten (unter Beachtung der Vorga-
     Frage, ob Einschränkungen bei delikt-
                                                               ben des Bundes). Einzelsitzungen werden
     präventiven psychotherapeutischen Inter-
                                                               nach Indikation in reduzierter Frequenz
     ventionen möglich wären. Solche finden
                                                               weitergeführt bzw. dort wo möglich (am-
     sowohl im Rahmen von strafrechtlichen
     Massnahmen (Art. 56 ff. StGB) als auch                    ____________________________
     freiwilligen Psychotherapien während                 29   KKJPD, Zusammenfassung (Fn. 11).
                                                          30   Einen anderen als den hier argumentierten Weg
     des Strafvollzugs oder der Verwahrung                     gehen Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27),
     statt und streben eine Reduktion des                      Rz. 29, in dem sie die Dringlichkeit aufgrund des
                                                               von ihnen angenommenen mangelnden Wirk-
     Rückfallrisikos an. Angesichts der verfas-
                                                               samkeitsnachweis für rehabilitative Therapien
     sungs- und konventionsrechtlichen Ge-                     annehmen. Dieses Argument ist jedoch ange-
                                                               sichts des internationalen Forschungsstands zur
     ____________________________                              Evaluation von deliktpräventiven Interventionen
27   KKJPD, Zusammenfassung (Fn. 11); Michael                  nicht haltbar; Vgl. Thierry Urwyler, Wirksamkeit
     Liebrenz/Jonas      Weber/Ueli   Kieser/Roman             therapeutischer Interventionen bei erwachsenen
     Schleifer, COVID-19 Pandemie: Psychiatrische              Sexualstraftätern: Implikationen der Evaluations-
     Versorgung von Inhaftierten, in: Jusletter                forschung auf die Verhältnismässigkeit therapeu-
     20. April 2020, Rz. 25.                                   tischer Massnahmen, in: 20 Jahre Amt für Jus-
28   Allgemein zu den Auswirkungen der Pandemie                tizvollzug Zürich – eine Festschrift, Schweizeri-
     auf die psychische Gesundheit: Julio Torales et           sche Zeitschrift für Kriminologie (SZK) 2019
     al., The Outbreak of COVID-19 Coronavirus and             (Sonderband), 100 ff.; generell sodann Jérôme
     Its Impact on Global Mental Health, Internatio-           Endrass et al., (Hrsg.), Interventionen bei Gewalt-
     nal Journal of Social Psychiatry 2020; vgl. so-           und Sexualstraftätern, Risk-Management, Metho-
     dann Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27),            den und Konzepte der forensischen Therapie,
     Rz. 22.                                                   Berlin 2013.

                                            sui-generis 2020, S. 199
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     bulante Behandlungen in Freiheit), via                   Rechtfertigung der hier zu betrachtenden
     Telefon-/Internetdienste durchgeführt.                   Eingriffe angerufen werden kann.31
     Bei inhaftierten Personen, die kurz vor
     der (bedingten) Entlassung stehen, wer-            16    Auf Basis dieser Feststellung ist zu prü-
     den Einzelsitzungen möglichst mit nor-                   fen, ob den Einschränkungen hinrei-
     maler Intensität weitergeführt, um ein                   chende öffentliche Interessen zugrunde
     geordnetes Übergangsmanagement sicher-                   liegen. Dies ist der Fall. Vorliegend geht
     zustellen.                                               es um den Schutz von hochwertigen
                                                              Rechtsgütern von inhaftierten Personen
     cc) Verfassungs- und konventions-                        vor unmittelbaren Gefahren. Zum einen
         rechtliche Zulässigkeit der Ein-                     sind die Inhaftierten vor Infektionen zu
         schränkung                                           schützen (vgl. II.3.a.aa) und zum ande-
15                                                            ren muss sichergestellt sein, dass auch
     Die vorangehenden Einschränkungen
                                                              bei einer Ausbreitung des Virus eine
     greifen in das Recht der inhaftierten Per-
                                                              adäquate psychotherapeutische Versor-
     son auf therapeutische Versorgung ein
                                                              gung durch das Therapiepersonal sicher-
     (II.3.a.aa) und müssen daher rechtsstaat-
                                                              gestellt wäre (vgl. II.3.a.bb).
     lichen Eingriffsanforderungen (Art. 36 BV)
     standhalten. Hinsichtlich der gesetzli-            17    Darüber hinaus halten die temporären
     chen Grundlage könnten grundsätzlich
                                                              Frequenzeinschränkungen von delikt-
     allgemeine Vorschriften zum Strafvollzug
                                                              präventiven Psychotherapien einer Ver-
     (Art. 75 Abs. 1 StGB) oder Art. 30 EpV
                                                              hältnismässigkeitsprüfung stand. Durch
     angerufen werden: Beide dieser Normen
                                                              die Einschränkungen der Therapiefre-
     enthalten jedoch keine explizite Formu-
                                                              quenz werden sowohl die Personenzirku-
     lierung, welche eine temporäre Therapie-
                                                              lation als auch -konzentration in bestimm-
     einschränkung legitimieren würde und
                                                              ten Bereichen von Justizvollzugseinrich-
     wären daher von der Normbestimmtheit
                                                              tungen minimiert und das Risiko einer
     (und -stufe bei Art. 30 EpV) als proble-
                                                              Infektion mit dem Corona-Virus für in-
     matisch einzustufen, zumal die Ein-
                                                              haftierte Personen gesenkt (Eignung
     schränkungen deliktpräventiver Thera-
                                                              bzgl. Schutz von Leib und Leben). Zeit-
     pien durchaus eine gewisse Intensität
                                                              gleich kann sichergestellt werden, dass
     aufweist. Auf kantonaler Ebene könnte
                                                              die zuständigen Fachpersonen (Psycho-
     § 23a StJVG als Gesetzesgrundlage ange-
                                                              therapeutInnen.) bei einer grösseren
     rufen werden. Diese Norm erwähnt zwar
                                                              Verbreitung der Infektionskrankheit
     die hier diskutierten Therapieeinschrän-
                                                              (auch     unter    den    Mitarbeitenden)
     kungen nicht explizit, berechtigt aber in
                                                              eine adäquate psychotherapeutische Ver-
     nicht abschliessender Aufzählung zu
                                                              sorgung auf lange Frist aufrechterhalten
     Sicherheits- und Schutzmassnahmen.
                                                              können (Eignung bzgl. Gewährleistung
     Selbst wenn man strengste Anforderun-
                                                              Therapieressourcen).
     gen an die Normdichte als gerechtfertigt
     halten würde, wäre die ausserordentliche
     Lage nach Epidemiengesetz geradezu ein
     idealtypischer Anwendungsfall der poli-                  ____________________________
     zeilichen Generalklausel, welche zur                31   Vgl. zum Rechtsinstitut: Andreas Zünd/Christoph
                                                              Errass, Die polizeiliche Generalklausel in der
                                                              Schweiz.

                                          sui-generis 2020, S. 200
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

18   Sodann besteht die Pflicht, diese Ein-                    Therapiedichte potenzielle Negativeffek-
     schränkungen auf das Minimum zu be-                       te für die betroffenen Personen resultie-
     schränken (Erforderlichkeit; Übermass-                    ren. Konkret besteht die Möglichkeit,
     verbot). Die unter II.3.b.bb erwähnten                    dass betroffene Personen erst später
     Limitationen beachten diese Leitplan-                     Therapiefortschritte erzielen, was sich
     ken: Wo keine Konsultationen in Anwe-                     negativ auf ihren Vollzugsverlauf (be-
     senheit bei genügend grossen und gelüf-                   dingte Entlassung usw.) auswirken
     teten Räumen (allenfalls hinter einer                     kann.33 Auf der anderen Seite ist das
     Trennscheibe) möglich sind, sollen tele-                  wohlverstandene Interesse derselben
     fonische/digitale Kommunikationswege                      (und aller anderen) inhaftierten Perso-
     genutzt und erst dann zu Sistierungen                     nen zu beachten, nicht mit dem Corona-
     von Therapiesitzungen geschritten wer-                    Virus angesteckt zu werden, womit Ge-
     den.32 Auch diese Anforderungen werden                    fahren für Leib und Leben einhergehen.
     im Status Quo eingehalten. Wo möglich,                    Darüber hinaus besteht ein Interesse al-
     werden digitale Kontaktmöglichkeiten                      ler inhaftierten Personen darin, auch bei
     eingesetzt. Einzelsitzungen im Freiheits-                 einer Eskalation der Infektionsrate (inkl.
     entzug werden in ihrer Frequenz einge-                    Erkrankungsfällen beim Therapieperso-
     schränkt, aber nicht aufgehoben, womit                    nal) langfristig therapeutische Angebote
     der Eingriff auf das sachlich Erforderliche               nutzen zu können. In einer Gesamtwür-
     eingeschränkt wird. Einzig für Gruppen-                   digung überwiegen diese öffentlichen
     sitzungen ist aufgrund der akzentuierten                  Interessen das private Interesse der in-
     Infektionsproblematik eine temporäre                      haftierten Person auf umfassende und
     Sistierung das sachlich mildeste Mittel.                  konstante Gewährleistung des deliktprä-
     Zur Gewährleistung der Erforderlichkeit                   ventiven Therapieangebots während der
     in zeitlicher Hinsicht werden die ein-                    Pandemiephase. Die Verbreitung des Vi-
     schränkenden Massnahmen zudem be-                         rus in Einrichtungen des Justizvollzugs
     fristet (vorläufig bis am 15. Mai 2020 bei                hätte potenziell gravierende (z.T. irrever-
     Justizvollzug und Wiedereingliederung                     sible34) Gesundheitsfolgen für zahlreiche
     des Kantons Zürich) und laufend an neue                   Inhaftierte und für Personen in ambulan-
     Umstände und/oder Vorgaben nationaler                     ter Behandlung in Freiheit und könnte
     und      internationaler    Organisationen                für Einzelne sogar zum Tod führen.
     (WHO, BAG-Richtlinien und -Empfeh-                        Würde im Verbreitungsfall zudem das
     lungen etc.) angepasst. Damit beschrän-                   therapeutische Angebot an deliktpräven-
     ken sich die Eingriffe auf das sachlich,                  tiven Therapien bei vermehrten Krank-
     zeitlich, räumlich und personell Notwen-                  heitsfällen unter dem Therapiepersonal
     dige.                                                     zusammenbrechen, wären ultimativ
                                                               grössere Einschnitte in das Recht auf
19   Die Massnahmen sind auch verhältnis-                      therapeutische Angebote zu befürchten. 35
     mässig im engeren Sinne. Auf Seiten der
                                                               ____________________________
     inhaftierten Person ist zu berücksichti-             33   «Die Gefangenen können jetzt skypen», Tagesan-
     gen, dass aus den Einschränkungen der                     zeiger vom 27. März 2020.
                                                          34   «Video reveals lung damage in US coronavirus
     ____________________________                              patient: People need to take this seriously», CNN
32   KKJPD, Zusammenfassung (Fn. 11); zu digitalen             health vom 27. März 2020.
     Therapiemöglichkeiten auch Liebrenz/Weber/           35   Im vorliegenden Fall entsteht folglich die beson-
     Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 30 ff.                     dere Situation, dass durch eine temporäre Ein-

                                           sui-generis 2020, S. 201
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

      Angesichts dieser Ausgangslage sind die                   Personen ein wichtiges Mittel in einer
      temporären Einschränkungen eine ver-                      Pandemie-Gesamtstrategie.36        Kompli-
      hältnismässige Folge der staatlichen                      zierter wird die Beantwortung der Frage,
      Schutzpflicht während einer Notlage und                   mit welchen konkreten Instrumenten
      halten einer menschenrechtlichen Be-                      diese Forderung umzusetzen ist. Sofern
      trachtung stand.                                          Ermessensspielräume wie bei der
                                                                Bestimmung des Termins für den Antritt
 20   Abschliessend drängen sich folgende                       einer Freiheitsstrafe37 bzw. Ersatzfreiheit-
      Bemerkungen zum zuvor erwähnten Ri-                       strafe38 genutzt werden, scheint dies
      siko von therapeutischen Negativeffekte                   sinnvoll, sofern die Haftzwecke (insb.
      auf. Sofern die Einschränkungen kurz-                     Rückfallrisiko) es erlauben.39 Ebenso
      fristiger Natur sind (z.B. ein Unterbruch                 kann die bedingte Entlassung nach
      von wenigen Wochen), sollte sich das Ri-                  Art. 86 Abs. 1 StGB oder der Einsatz be-
      siko für diese Effekte in überschaubarem                  sonderer Vollzugsformen (E-Monitoring
      Ausmass halten. Erst wenn die Notlage                     etc.) den erwünschten Effekt herbeifüh-
      und die korrespondierenden Einschrän-                     ren, dass sich weniger Personen in Haft
      kungen länger anhalten, wäre ein gehäuf-                  befinden. Dabei handelt es sich jedoch
      tes Vorkommen dieser Negativfolgen                        nicht um eine Corona-spezifische Adap-
      wahrscheinlich. Wenn es im Einzelfall zu                  tion der massgeblichen Normen, sondern
      therapeutischen Verzögerungen oder gar                    schlicht um eine erwünschte Nebenfolge
      Rückschritten kommt, müssten diese für                    einer auch ausserhalb von Krisenzeiten
      die inhaftierte Person entstehenden                       anwendbaren korrekten Gesetzesausle-
      Nachteile bei der Verhältnismässigkeits-                  gung. Von diesen juristischen Gestal-
      prüfung zugunsten der inhaftierten Per-                   tungsmöglichkeiten abgesehen sind aber
      son (z.B. Fortführung der Massnahme,                      auch Vorschläge formuliert worden, die
      bedingte Entlassung etc.) berücksichtigt                  einer genaueren Betrachtung bedürfen:
      werden.                                                   Einer davon betrifft die Forderung nach
                                                                einer extensiven Auslegung von Art. 86
                                                                Abs. 4 StGB.40
III. Extension der bedingten Entlas-
     sung nach Art. 86 Abs. 4 StGB
 21   Unter diesem Titel soll auf die zweite                    ____________________________
                                                           36   «Wie reagiert der Justizvollzug auf COVID-19?»,
      Forschungsfrage eingegangen und ge-                       Schweizerisches Kompetenzzentrum für Justi-
      prüft werden, ob unter Art. 86 Abs. 4 StGB                zvollzug; CPT, Statement of principles relating to
                                                                the treatment of persons deprived of their liberty
      eine extensivere Entlassungspraxis in                     in the context of the coronavirus disease (COVID-
      Pandemiezeiten möglich wäre. Einleitend                   19) pandemic issued on 20 March 2020.
      wurde bereits erwähnt, dass in Einrich-              37   «Wie sich die Corona-Krise auf den Justizvollzug
                                                                auswirkt», Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB),
      tungen des Freiheitsentzugs erhöhte In-                   17. März 2020.
      fektionsrisiken bestehen. Daher ist eine             38   Vgl. hierzu etwa «Berliner Justiz setzt Ersatzfrei-
      Reduktion der Anzahl von inhaftierten                     heitsstrafe aus», RBB, 14. März 2020.
                                                           39   «Coronavirus hinter Gittern – Wenn Gefängnisse
                                                                zu tickenden Zeitbomben werden» (Fn. 6); «Wie
                                                                sich die Corona-Krise auf den Justizvollzug aus-
      schränkung des psychotherapeutischen Angebots             wirkt» (Fn. 37); «Wegen Coronavirus: In diesem
      die langfristige Gewährleistung des Rechts auf            Kanton werden Kleinkriminelle nicht mehr ver-
      therapeutische Versorgung nach Art. 5 EMRK                haftet», watson, 5. April 2020.
      und Art. 31 BV gewährleistet werden kann.            40   Medienmitteilung humanrights.ch (Fn. 12).

                                            sui-generis 2020, S. 202
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

1. Inhalt der Forderung                                         sprochen werden. Es wird sich zeigen,
22    In einer Medienmitteilung vom 23. März                    dass Art. 86 Abs. 4 nicht unabhängig von
      2020 äusserte humanrights.ch (eine                        Art. 86 Abs. 1 StGB ausgelegt werden
      Menschenrechtsorganisation) ihre Be-                      kann (III.2.a) und es bei generellen In-
      sorgnis über den Schutz der Gesundheit                    fektionsrisiken am Personenbezug im
      von inhaftierten Personen während der                     Sinne von Art. 86 Abs. 4 StGB fehlt
      Pandemie und formulierte mehrere An-                      (III.2.b). Hinzu kommen Herausforde-
      liegen. Viele davon verdienen Zustim-                     rungen der Umsetzung, welche der Voll-
      mung (Einhaltung der Verhältnismässig-                    ständigkeit halber zu nennen sind
      keit, äquivalenter Schutz etc.). Ebenso                   (III.2.c). Abschliessend gilt es aufzuzei-
      wurde gefordert, dass die Anzahl Gefan-                   gen, welche juristischen Alternativen
      gener in Einrichtungen des Freiheitsent-                  zielführender wären (III.2.d).
      zugs reduziert werden solle. Als eines der
      möglichen Mittel wurde dabei die aus-                     a) Legalprognose als
      serordentliche bedingte Entlassung nach                      Basisvoraussetzung
      Art. 86 Abs. 4 StGB genannt. Diese Norm             24    In einem ersten Schritt ist auf den syste-
      hat den folgenden Wortlaut: «Hat der                      matischen Zusammenhang von Art. 86
      Gefangene die Hälfte seiner Strafe, min-                  Abs. 4 StGB und Art. 86 Abs. 1 StGB ein-
      destens aber drei Monate verbüsst, so                     zugehen. Der Gesetzgeber stellte klar,
      kann er ausnahmsweise bedingt entlas-                     dass die ausserordentliche bedingte Ent-
      sen werden, wenn ausserordentliche, in                    lassung nach Art. 86 Abs. 4 StGB gleich
      der Person des Gefangenen liegende                        wie die ordentliche bedingte Entlassung
      Umstände dies rechtfertigen.». Gemäss                     im Rahmen einer Gesamtwürdigung eine
      humanrights.ch soll während der                           günstige Legalprognose42 i.S.v. Art. 86
      Corona-Pandemie «die Notwendigkeit                        Abs. 1 StGB voraussetzt.43 Diese gesetz-
      des Schutzes der Gesundheit bei beson-                    geberischen Leitlinien wurden von der
      ders gefährdeten Personen als ‘ausser-                    Rechtsprechung zurecht bestätigt.44 Die
      ordentliche, in der Person des Gefange-                   bedingte Entlassung und die mit ihr ver-
      nen liegende Umstände’ ausgelegt» und                     folgte Wiedereingliederung ist kein
      folglich inhaftierte Personen systema-                    Selbstzweck, sondern «sondern auch ein
      tisch nach Verbüssung der Hälfte der                      Mittel, um die Allgemeinheit vor neuen
      Strafe entlassen werden.41                                ____________________________
                                                           42   Präziser noch: Die Abwesenheit einer doppelt
                                                                negativen Differenzialprognose = die Abwägung
2. Kritische Würdigung                                          zwischen der Prognose bei Vollverbüssung der
23                                                              Strafe versus die Prognose bei bedingter Entlas-
      Der Ratio des erwähnten Ansinnens, den                    sung unter Bewährungshilfe und Auflagen (BSK-
      Insassenbestand in Vollzugseinrichtun-                    Koller, Art. 86 n 16).
      gen so tief wie möglich zu halten und
                                                           43   Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung
                                                                des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allge-
      damit das Leben der Inhaftierten zu                       meine Bestimmungen, Einführung und Anwen-
      schützen, ist vollumfänglich beizupflich-                 dung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes
                                                                sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugend-
      ten. Dennoch muss der darauf gestützten
                                                                strafrecht, 2120 «Eine günstige Resozialisie-
      Forderung nach einer extensiven Inter-                    rungsprognose dieser Art wird auch vorausge-
      pretation von Art. 86 Abs. 4 StGB wider-                  setzt für die ausserordentliche bedingte Entlas-
                                                                sung nach der Hälfte der Strafdauer».
      ____________________________                         44   Urteil des Bundesgerichts 6B_240/2012 vom
 41   Medienmitteilung humanrights.ch (Fn. 12).                 4. Dezember 2012 E. 2.1.

                                             sui-generis 2020, S. 203
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     Straftaten zu schützen».45 Daraus ergibt                  sonen eine äquivalente Gesundheitsfür-
     sich, dass eine bedingte Entlassung nach                  sorge erfahren (vgl. I, II sowie III.2.d).
     der Hälfte der Strafe zumindest bei jenen                 Ausschlaggebend ist im vorliegenden Zu-
     Personen nicht in Frage käme, welche ei-                  sammenhang sodann die Feststellung,
     ne ungünstige Prognose i.S.v Art. 86                      dass bei der für eine bedingte Entlassung
     Abs. 1 StGB aufweisen. Die unter III.1 ge-                anfallenden Gesamtwürdigung nicht abs-
     forderte systematische Entlassung aller                   trakte Sicherheitserwägungen, sondern
     verurteilten Personen fällt daher bereits                 konkrete Risiken für Leib, Leben und
     aus diesen Gründen für einen Teil der                     andere hochwertige Rechtsgüter von
     inhaftierten Personen ausser Betracht.                    Dritten zu berücksichtigen sind, wobei
                                                               das Rückfallrisiko freilich je nach inhaf-
25   In diesem Zusammenhang drängen sich                       tierter Person variiert. Gemäss Angaben
     einige Bemerkungen zur sensiblen Ab-                      des Bundesamts für Statistik werden ca.
     wägung im Rahmen von Art. 86 StGB                         35% der entlassenen Personen innert
     auf. Die Forderungen nach einer extensi-                  drei Jahren wieder mit einem Verbre-
     veren Entlassungspraxis wurden von der                    chen oder Vergehen rückfällig.47 Ebenso
     unter dem Titel «Das Leben von Gefan-                     konnten Untersuchungen im Kanton Zü-
     genen steht über Sicherheitsinteressen»                   rich aufzeigen, dass ca. 11-15% der ent-
     vorgebracht. Im Text wurde dazu weiter                    lassenen Straftäter im Beobachtungszeit-
     ausgeführt, «das Recht auf Leben und                      raum (Beobachtungszeitraum im Schnitt
     Gesundheit der Gefangenen und der Mit-                    7.9 Jahre) mit einer schweren Gewalt-
     arbeitenden» müsse höher gestellt wer-                    oder Sexualstraftat rückfällig wurden.48
     den «als abstrakte Sicherheitsinteres-                    Sodann entspricht es einem kriminologi-
     sen».46 Die gewählten Formulierungen                      schen Erfahrungswert, dass die Zeit un-
     zeichnen ein verzerrtes Bild von den Ent-                 mittelbar nach der Entlassung als eigent-
     scheidungsprozessen im Straf- und Mass-                   liche Hochrisikophase gilt, in der sich die
     nahmenvollzug im Rahmen der beding-                       meisten Rückfälle ereignen.49 Diese As-
     ten Entlassung. Nicht näher mit Voll-                     pekte wären neben anderen Faktoren im
     zugsfragen befasste Lesende könnten bei                   Rahmen einer der Gesamtwürdigung
     den erwähnten Formulierungen zur In-                      nach Art. 86 Abs. 1 StGB zu berücksichti-
     terpretation gelangen, dass im Status                     gen. Aus diesen Bedingungen geht her-
     Quo der Justizvollzug die Gesundheit                      vor, dass der Entscheid über eine beding-
     und das Leben von Gefangenen unspezi-                     te Entlassung eine komplexe Abwägung
     fischen Sicherheitsabwägungen opfert.                     zwischen Resozialisierungszielen und Si-
                                                               ____________________________
26   Eine solche Wahrnehmung würde jedoch                 47   Zahlen des BFS über die Rückfallrate innerhalb
     nicht den Tatsachen entsprechen. Es                       von drei Jahren nach einer Entlassung für ein
                                                               Verbrechen oder ein Vergehen, nach demografi-
     werden in Erfüllung der staatlichen                       schen Merkmalen und Anzahl Vorstrafen vom
     Schutzpflicht zahlreiche Massnahmen                       3. Dezember 2019.
                                                          48   Katharina Seewald et al., Effectiveness of a risk–
     ergriffen, damit eine Verbreitung des Vi-                 need–responsivity-based treatment program for
     rus nicht stattfindet und inhaftierte Per-                violent and sexual offenders: Results of a retro-
                                                               spective, quasi-experimental study, Legal and
     ____________________________                              Criminological Psychology, 2018, 23, 85–99.
45   Urteil des Bundesgerichts 6B_32/2019 vom             49   Thierry Urwyler et al., Die Führungsaufsicht und
     28. Februar 2019 E. 2.10; BGE 124 IV 193 E. 3.            ihre potenziellen Alternativen, in: Jusletter
46   Medienmitteilung humanrights.ch (Fn. 12).                 3. Februar 2020, Rz. 3.

                                           sui-generis 2020, S. 204
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     cherheitsinteressen der Allgemeinheit                       personenbezogene Umstände waren
     darstellt. Es wäre unzulässig, hochwerti-                   demgegenüber irreversible Krankheiten
     ge Rechtsgüter von Dritten durch undif-                     der inhaftierten Person oder wenn sich
     ferenzierte Entlassungspraxen zu gefähr-                    eine inhaftierte Person in einer Katastro-
     den, wenn im Einzelfall ein ungünstiges                     phenlage für einen besonders gefährli-
     Risikoprofil bei einer inhaftierten Person                  chen Einsatz zur Verfügung stellt ge-
     vorliegt. Es wäre wünschenswert gewe-                       nannt.52
     sen, dass die hier reflektierte Forderung
     (III.1) den sensiblen Risiko-Abwägungs-               28    Das Schrifttum – sofern es sich über die
     vorgang im Rahmen der bedingten Ent-                        Inhalte der Materialien und Gerichtsur-
     lassung stärker zum Ausdruck gebracht                       teile hinaus zur Frage äussert53 – kriti-
     hätte.                                                      sierte in Teilen die moralisierenden Fall-
                                                                 gruppen des Gesetzgebers und stellte
     b) Fehlender Personenbezug                                  sich überwiegend auf den Standpunkt,
        allgemeiner Infektionsrisiken                            dass spezialpräventive Gesichtspunkte
27                                                               den Ausschlag geben sollen.54 Auch bei
     Eine bedingte Entlassung zur Strafhälfte
                                                                 dieser Interpretation bleibt indes der
     käme nach dem Gesagten allenfalls für
                                                                 Personenbezug der Norm das kennzeich-
     jene Personen in Frage, welche eine
                                                                 nende Merkmal, da letztlich die Indivi-
     günstige Legalprognose im Sinne von
                                                                 dualprognose einer konkreten inhaftier-
     Art. 86 Abs. 1 StGB aufweisen. Auf Basis
                                                                 ten Person anwendungsbestimmend für
     dieser Feststellung bleibt zu prüfen, ob
     die einschlägigen Tatbestandsmerkmale
                                                                 Alexander Marcel/Wiprächtiger Hans (Hrsg.),
     von Art. 86 Abs. 4 StGB während der                         Basler Kommentar, Strafrecht, Strafgesetzbuch,
     Pandemie      vorliegen.   Legitimations-                   Jugendstrafgesetz, 4. A., Basel 2018.
     grundlage für eine Entlassung nach der
                                                            52   Botschaft (Fn. 43); vgl. auch Günther Straten-
                                                                 werth, Schweizerisches Strafrecht. Allgemeiner
     Strafhälfte sind nach dem Gesetzestext                      Teil II: Strafen und Massnahmen, Bern 2006, § 4
     «ausserordentliche, in der Person des                       N 69 (besonders verdienstliches Verhalten).
                                                            53   Keine über Materialien und Urteile hinausgehen-
     Gefangenen liegende Umstände.» Damit                        den Ausführungen enthalten beispielsweise Ste-
     hat der Gesetzgeber zwar eine offene                        fan Heimgartner, Art. 86 N 12, in: Andreas Do-
     Formulierung gewählt.50 Unbestritten                        natsch (Hrsg.) StGB/JStG Kommentar, 20. A.,
                                                                 Zürich 2018; Michel Dupuis et al., Petit Commen-
     war jedoch immer, dass es sich um per-                      taire CP, Basel 2017, Art. 86 N 13; Wolfgang
     sonenbezogene Umstände der inhaftier-                       Wohlers, Art. 86 N 4, in: Wolfgang Wohlers/
                                                                 Gunhild Godenzi/Stephan Schlegel, Schweizeri-
     ten Person selbst handeln muss; der Tod
                                                                 sches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 4. A.,
     eines Familienangehörigen oder ein sta-                     Bern 2020.
     tistischer Rückgang der Delikte, welche                54   Stefan Trechsel/Peter Aebersold, Art. 86 N 16, in:
                                                                 Stefan Trechsel/Marc Pieth (Hrsg.), Schweizeri-
     die Verurteilung des Betroffenen veran-                     sches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 3. A.,
     lasst haben, sollten nach der Vorstellung                   Zürich/St.Gallen 2017; André Kuhn, Art. 86 N 8,
     des Gesetzgebers keine ausserordentli-                      in: Roth Robert/Moreillon Laurent (Hrsg.),
                                                                 Commentaire Romand, Code pénal I, Art. 1-110,
     chen Gründe darstellen.51 Beispiele für                     Basel 2009; Die Praxis der bedingten Entlassung
                                                                 aus dem Strafvollzug, Eine empirische Studie zur
     ____________________________                                Anwendung des Art. 86 StGB in den Kantonen
50   Botschaft (Fn. 43).                                         Bern, Freiburg, Luzern und Waadt, Berlin/Bern
51   Botschaft (Fn. 43); vgl. auch Daniel Jositsch/              2019, 372. Cornelia Koller, Art. 86 N 18, in: Niggli
     Gian Ege/Christian Schwarzenegger, Strafrecht               Alexander Marcel/Wiprächtiger Hans (Hrsg.),
     II, Strafen und Massnahmen, 9. A., Zürich 2018,             Basler Kommentar, Strafrecht, Strafgesetzbuch,
     S. 252; Cornelia Koller, Art. 86 N 18, in: Niggli           Jugendstrafgesetz, 4. A., Basel 2018.

                                              sui-generis 2020, S. 205
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     Art. 86 Abs. 4 StGB wäre (d.h. nur wenn               29    Aus dem Gesagten geht hervor, dass die
     die Prognose wegen a.o. Umständen                           von Art. 86 Abs. 4 StGB genannten aus-
     günstig ausfiele, könnte die bedingte                       serordentlichen Umstände eine konkrete
     Entlassung zur Strafhälfte gewährt wer-                     inhaftierte Person betreffen müssen
     den). Schliesslich knüpfen auch die                         (Krankheit, besondere Verdienste, insb.
     Richtlinien der Strafvollzugskonkordate,                    Verbesserung Legalprognose). Bei der
     die als Auslegungshilfen bei der Interpre-                  Corona-Pandemie handelt es sich jedoch
     tation von Art. 86 Abs. 4 StGB beigezo-                     nicht um solche individuelle Besonder-
     gen werden können55, an personenbezo-                       heit, die eine ausserordentliche bedingte
     gene Umstände an: Genannt werden z.B.                       Entlassung rechtfertigen könnten, son-
     der Gesundheitszustand eines Insassen,                      dern um ein Phänomen mit Systemrele-
     die besondere Betroffenheit der inhaf-                      vanz, das alle in der Schweiz lebenden
     tierten Person durch die Folgen der Tat,                    Menschen betrifft und für den Grossteil
     durch aussergewöhnliche Entbehrungen                        der Personen (auch der Inhaftierten) als
     erfolgte Verbesserungen der Legalprog-                      Gesundheits- bzw. (Risikogruppen) Le-
     nose oder die Erfüllung finanzieller                        bensrisiko in Erscheinung tritt.58 Zwar
     Pflichten aus der Verurteilung/dem Voll-                    wird nicht bestritten, dass eine Corona-
     zugsverfahren.56 Sodann hat auch die                        Infektion mit einem erhöhten Risiko für
     Rechtsprechung immer auf konkrete                           die Gesundheit (z.B. Lungenentzündung)
     Personenumstände Bezug genommen                             und bei Risikogruppen für das Leben
     und Art. 86 Abs. 4 StGB in die Nähe ei-                     einhergeht und dass die Infektionsgefahr
     nes Gnadenakts (Begnadigung -> Einzel-                      in Einrichtungen des Freiheitsentzugs
     fallgerechtigkeit) gestellt.57                              tendenziell erhöht ist.59 Es bleibt aber bei
     ____________________________                                einem für alle Inhaftierten bestehenden
55   Dabei sind die Richtlinien freilich nicht bindend           Risiko (probabilistische Grösse) und kei-
     (a.M. scheinbar das Verwaltungsgericht des Kan-             nem auf eine konkrete inhaftierte Person
     tons Zürich VB.2010.00459 vom 11. November
     2010 E. 3). Der Position des Verwaltungsgerichts            bezogenen ausserordentlichen Umstand
     muss jedoch widersprochen werden. Bei der Aus-              (z.B. eine irreversible Krankheit). Eine
     legung von Art. 86 Abs. 4 StGB sind die normalen            bedingte Entlassung zur Strafhälfte
     Auslegungsgrundsätze zu beachten, d.h. es ist der
     Sinn der Norm durch grammatikalische, histori-              könnte daher erst dann diskutiert wer-
     sche, teleologische und systematische Auslegung             den, wenn eine Person sich mit dem Vi-
     zu ermitteln. In diesem Rahmen können konkor-
     datliche Richtlinien nur – aber immerhin – Hil-
     fen bei der Auslegung von Normen mit unklarem               Urteil     des     Verwaltungsgerichts     Zürich
     Normgehalt sein.                                            VB.2010.00459 vom 11. November 2010, (nicht
56   Ostschweizer Strafvollzugskommission, Richtli-              erfüllt); Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich
     nien betreffend die bedingte Entlassung aus dem             VB.2019.00165 vom 8. Juli 2019 (nicht erfüllt).
     Strafvollzug vom 7. April 2006, Rz. 2.2; Art. 3        58   Zur Risikoausprägung vgl. Liebrenz/Weber/
     Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvoll-           Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 1.
     zugskonkordats der Nordwest- und Innerschwei-          59   Liebrenz/Weber/Kieser/Schleifer (Fn. 27), Rz. 19;
     zer Kantone betreffend die bedingte Entlassung              nach Kenntnisstand der Autoren ist jedoch nicht
     aus dem Strafvollzug vom 26. Oktober 2018 (ent-             geklärt, wie stark die relative Risikoerhöhung
     halten nur den Gesundheitszustand und die                   (Ansteckungsrate Allgemeinbevölkerung v. Inhaf-
     schwere, nach der Verurteilung entstandene Be-              tierte) gegenüber den Personen in Freiheit tat-
     troffenheit).                                               sächlich ausfällt. Dabei fällt eine exakte Risiko-
57   Urteil des Bundesgericht 6B_240/2012 vom                    quantifizierung mangels gesicherter Datenlage
     4. Dezember 2012 (nicht erfüllt); Urteil des Bun-           schwer. Während kaum strittig sein dürfte, dass
     desgerichts 6B_715/2014 vom 27. Januar 2015,                ein erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht, ist un-
     (nicht erfüllt); Urteil des Bundesgerichts                  klar, wie hoch diese relative Risikoerhöhung ge-
     6B_891/2008 vom 20. Juni 2009 (nicht erfüllt);              genüber Personen in Freiheit ausfällt.

                                              sui-generis 2020, S. 206
Thierry Urwyler/Thomas Noll/Astrid Rossegger, Corona-Prävention im Straf- und Massnahmenvollzug

     rus infiziert und sich der Gesundheitszu-                  c) Herausforderungen der
     stand rapide verschlechtert. Dann läge                        Umsetzung
     der erforderliche Personenbezug des aus-              31   Abrundend sollen einige Umsetzungs-
     serordentlichen Umstands für den kran-                     herausforderungen der systematischen
     ken Insassen vor. Allerdings wäre Art. 86                  Anwendbarkeit von Art. 86 Abs. 4 StGB
     Abs. 4 StGB u.E. auch in diesen Konstel-                   diskutiert werden. Dabei gilt es zu beto-
     lationen nicht einschlägig, da die Mehr-                   nen, dass die nachfolgend genannten As-
     zahl von Krankheitsverläufen bei COVID-                    pekte keine Grundlagen darstellen, um
     19 mit einer Gesundung enden und die                       bedingte Entlassungen aus dem Straf-
     Genesenen zu alten Kräften zurückkeh-                      vollzug abzulehnen. Liegen die juristi-
     ren (mangelnde Irreversibilität i.S.v.                     schen Voraussetzungen nach Art. 86
     Art. 86 Abs. 4 StGB). Zielführender wä-                    Abs. 4 StGB vor, ist die bedingte Entlas-
     ren daher bei dieser Sachlage Verlegun-                    sung zu gewähren. Dennoch ist es abge-
     gen in Spitäler und spezialisierte Einrich-                bracht, zur vollständigen Erfassung der
     tungen (vgl. III.2.d).                                     Problematik die Konsequenzen einer
                                                                systemischen Entlassungspraxis nach
30   Der einzige den Autoren vorstellbare                       Art. 86 Abs. 4 StGB zu skizzieren: Würde
     Anwendungsfall für Art. 86 Abs. 4 StGB                     die bedingte Entlassung nach der Straf-
     würde eintreten, wenn aufgrund der                         hälfte während der Corona-Krise zur Re-
     Corona-Krise ein Zusammenbruch des                         gel, würde sich die Frage stellen, auf wel-
     Gesundheitssystems wegen mangelnder                        che Weise ein geordnetes Übergangsma-
     Personalressourcen droht. Würden sich                      nagement in kurzer Frist bereitgestellt
     in einer solchen Sachverhaltskonstellati-                  werden kann. Gerade bei Langzeitinhaf-
     on unter den inhaftierten Personen                         tierten oder sozial isolierten Personen
     solche mit medizinischer/pflegerischer                     könnte der Fall eintreten, dass nicht in-
     Ausbildung und akzeptablem extramura-                      nert kurzer Frist eine Wohnmöglichkeit
     len Risikoprofil befinden und wären die-                   sowie Arbeitsmöglichkeiten zur Verfü-
     se bereit, Einsätze in den Spitälern etc.                  gung gestellt werden könnten, womit die
     zu leisten, könnte sich Art. 86 Abs. 4                     Reintegration durch eine instabile Ent-
     StGB als einschlägig erweisen. Sieht man                   lassungssituation gefährdet wäre. Man-
     von diesem Sonderfall ab, wäre die aus-                    gels Wohnmöglichkeiten wären sodann
     serordentliche bedingte Entlassung nach                    Personenansammlungen in den sozialen
     Art. 86 Abs. 4 StGB nicht das richtige                     Auffangzentren möglich, was angesichts
     Mittel, um während der Pandemie die                        der bundesrätlichen Vorgaben, Perso-
     angestrebte Reduktion des Insassenbe-                      nenkonzentrationen wann immer mög-
     stands in Einrichtungen des Freiheits-                     lich tief zu halten, als fragwürdig er-
     entzugs herbeizuführen.60                                  scheint. Ebenso könnte sich bei Inhaf-
     ____________________________                               tierten mit Landesverweis je nach Sach-
60   Wenn überhaupt, müsste man generell-abstrakte
     Lösungen für alle Gefangenen ausserhalb der
                                                                lage die Situation einstellen, dass sie von
     Strukturen der Art. 75 ff. StGB unter dem Ge-              der einen in die andere Haft (Ausschaf-
     sichtspunkt der Amnestie (Art. 384 StGB) be-               fungshaft) verlegt werden. In all diesen
     trachten, wobei es sich bei einer Infektionswelle
     wohl um einen atypischen Fall einer Amnestie               Fällen bliebe die mit der bedingten Ent-
     handeln würde. Freilich wäre für eine solche die           lassung angestrebte Risikoreduktion für
     Bundesversammlung zuständig (Art. 384 Abs. 1               die betroffene Person aus.
     StGB).

                                              sui-generis 2020, S. 207
Sie können auch lesen