Arbeitshilfe zum Thema Flucht und Migration Soziale Rechte für Geflüchtete - Das Asylbewerberleistungsgesetz - Der Paritätische
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Arbeitshilfe zum Thema Flucht und Migration Soziale Rechte für Geflüchtete – Das Asylbewerberleistungsgesetz Der folgende Text ist eine teilweise Vorabveröffentlichung unserer umfangreichen Arbeitshilfe „Soziale Rechte für Flüchtlinge“, die in diesem Herbst in 3. Auflage erscheinen wird. Aufgrund der umfangreichen gesetzlichen Neuerungen im Bereich des Asylbewerberleistungsgesetzes, die schon am 21. August bzw. am 1. September 2019 in Kraft getreten sind, hoffen wir, dass diese Vorabveröffentlichung die Arbeit der Berater*innen schon jetzt erleichtern kann. Wir danken dem Autor, Claudius Voigt von der GGUA Münster, herzlich für die Erarbeitung dieser Arbeitshilfe. Stand: 25. September 2019
Inhalt Wer erhält Leistungen nach dem AsylbLG? .................................................................................................................................. 4 Grundleistungen, Analogleistungen, Anspruchseinschränkung? ....................................................................................... 5 In den ersten 18 Monaten: Grundleistungen nach § 3 und 3a AsylbLG ............................................................................ 6 Krankenhilfe: Notfallmedizin oder „bestmögliche Behandlung“? ........................................................................................ 12 Anrechnung von Einkommen und Vermögen, § 7 AsylbLG ................................................................................................... 14 Nach 18 Monaten: Analogleistungen nach § 2 AsylbLG entsprechend der Sozialhilfe des SGB XII ........................ 16 Anspruchseinschränkung gem. § 1a AsylbLG: Leistungskürzung als Sanktion .............................................................. 19 Wieviel darf gekürzt werden? ............................................................................................................................................................ 21 In welchen Fällen sieht das AsylbLG Leistungskürzungen als Sanktion vor? ................................................................... 22 Wie lange darf gekürzt werden? ...................................................................................................................................................... 26 Vollständiger Leistungsausschluss für in einem anderen EU-Staat International Schutzberechtigte .................... 27 Weiterführende Informationen ........................................................................................................................................................ 29 Impressum ................................................................................................................................................................................................ 29 2
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Das Asylbewerberleistungsgesetz ist ein Sonderso- Im August und September 2019 sind weitere gravie- zialhilfesystem, nach dem der Lebensunterhalt für rende Verschärfungen in Kraft getreten, die bestimmte Gruppen ausländischer Staatsangehöri- ger gedeckt werden soll. Es ist ursprünglich 1993 ein- ÎÎ die Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG auf geführt worden, um die Sozialhilfeleistungen für be- zahlreiche neue Gruppen (z. B. Dublin-Fälle) aus- stimmte Personengruppen absenken und in Form von weiten, Sachleistungen erbringen zu können. ÎÎ die Regelbedarfe für alle Alleinstehenden in Ge- Zuständig ist das Sozialamt. Leistungen zur meinschaftsunterkünften um zehn Prozent kür- Arbeitsmarktintegration müssen zusätzlich durch zen, eine Arbeitslos-/ Arbeitssuchendmeldung bei der beantragt werden. ÎÎ die Bedarfe für Haushaltsenergie und Wohnungs- instandhaltung aus dem Regelsatz herausrechnen, Am 18. Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht die um sie stattdessen gesondert zu erbringen und damalige Höhe der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG damit die ausgezahlten Regelsätze für alle kürzen, für verfassungswidrig erklärt, da diese evident unzu- reichend seien, ein verfassungsrechtlich geschütztes ÎÎ die Voraufenthaltszeit für die so genannten „Ana- menschenwürdiges Existenzminimum zu gewähr- logleistungen“ von 15 auf 18 Monate verlängern leisten. Dieses stehe „deutschen und ausländischen und Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.“1 ÎÎ für eine bestimmte Gruppe Geflüchteter (nämlich „vollziehbar ausreisepflichtige“ Personen ohne Im März 2015 hat der Gesetzgeber das AsylbLG dar- Duldung mit einem bestehendenSchutzstatus aufhin grundlegend reformiert, um die Vorgaben des in einem anderen EU-Staat) sogar jeglichen Leis- Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. Seitdem sind tungsanspruch streichen. jedoch in mehreren Änderungen bereits wieder weit- reichende Einschränkungen beschlossen worden. Der Paritätische hält viele dieser Verschärfungen und andere bestehende Einschränkungen im AsylbLG für verfassungsrechtlich nicht zulässig und setzt sich seit langem für eine Abschaffung des Asylbewerberleis- tungsgesetzes ein, da er es für ein diskriminierendes Gesetz hält. Stattdessen sollten die Leistungsberech- tigten in die regulären Sozialsysteme (SGB II, SGB XII, SGB V, SGB IX) einbezogen werden. 1 BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - asyl.net: M19839 3
Wer erhält Leistungen nach dem AsylbLG? Nach § 1 Abs. 1 AsylbLG erhalten Leistungen nach dem ÆÆ e ine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG (unter anderem) Ausländer*innen, die sich AufenthG besitzen; dies ist eine maximal sechsmo- tatsächlich in Deutschland aufhalten und die natige vorübergehende Aufenthaltserlaubnis; ÆÆ einen Asylantrag gestellt haben und daher eine ÆÆ eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Auf- Aufenthaltsgestattung besitzen; enthG besitzen, wenn der Zeitpunkt der erstma- ligen Duldung („Aussetzung der Abschiebung“) ÆÆ e in Asylgesuch geäußert haben und daher einen noch keine 18 Monate zurückliegt; wenn dieser Ankunftsnachweis besitzen; der Anspruch besteht Zeitpunkt schon mindestens 18 Monate zurück- auch, wenn der Ankunftsnachweis noch nicht aus- liegt, besteht Anspruch auf die regulären Sozial- gestellt worden ist; leistungen nach SGB II oder XII. ÆÆ e ine Duldung besitzen; auch eine „Grenzüber- Anders als die Leistungen des SGB II setzen die Leis- trittsbescheinigung“ oder andere im Gesetz gar tungen nach AsylbLG keinen Antrag voraus. Vielmehr nicht vorgesehene Bescheinigungen gelten unter müssen sie erbracht werden, sobald das Sozialamt Umständen rechtlich als Duldung; Kenntnis von den Bedarfen und den Ansprüchen hat (§ 6b AsylbLG in Verbindung mit § 18 SGB XII). Falls das ÆÆ v ollziehbar ausreisepflichtig sind, ohne im Besitz Sozialamt trotz Kenntnis die erforderlichen und zuste- einer Duldung zu sein; dies sind zum Beispiel „ille- henden Leistungen nicht erbringen sollte, können sie galisierte“ Menschen, die ohne Wissen der Auslän- auch rückwirkend durchgesetzt werden. derbehörde in Deutschland leben, oder Personen, denen die Ausländerbehörde die Ausstellung ei- ner Duldung verweigert; ÆÆ e ine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 oder § 24 AufenthG besitzen, wenn diese „wegen des Krieges im Heimatland“ erteilt worden ist; hier- zu gehören zum Beispiel syrische Familienange- hörige, die im Rahmen eines Landesaufnahme- programms nach Deutschland gekommen sind. Wenn die Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG nicht wegen des Krieges erteilt worden ist, besteht hingegen ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bzw. XII; 4
Grundleistungen, Analogleistungen, Anspruchseinschränkung? ÎÎ In den ersten 18 Monaten des Aufenthalts erhalten ÎÎ In bestimmten Fällen werden die Leistungen ge- Leistungsberechtigte die sogenannten „Grund- kürzt und entsprechen nur noch etwa der Hälfte leistungen“ nach § 3 bzw. § 3a AsylbLG. Diese der normalen Höhe der Grundleistungen (§ 1a; § unterliegen besonderen Regelungen, sind niedri- 5; § 5a, § 11 AsylbLG). Diese Anspruchseinschrän- ger als reguläre Sozialhilfeleistungen und können kungen werden genutzt, um für unterschiedliche zum Teil oder sogar vollständig als Sachleistungen Gruppen ein vermeintlich individuelles „Fehlver- erbracht werden. halten“ oder auch die bloße Anwesenheit im Bun- desgebiet zu sanktionieren. Die Kürzungsmöglich- ÎÎ Nach einem Aufenthalt von mehr als 18 Monaten keiten sind in den vergangenen Jahren drastisch werden normalerweise die sogenannten „Ana- ausgeweitet worden. Die Kürzungen widerspre- logleistungen“ nach § 2 AsylbLG erbracht. Diese chen nach unserer Einschätzung den Vorgaben entsprechen in Form und Höhe weitestgehend der des Bundesverfassungsgerichts und in vielen Fäl- normalen Sozialhilfe nach dem SGB XII. len auch europarechtlichen Vorschriften. ÎÎ Erstmals ist im August 2019 eine Gruppe Geflüch- Praxistipp: teter festgelegt worden, die gar keinen Anspruch auf Leistungen mehr besitzen (§ 1 Abs. 4 AsylbLG). Änderung der Voraufenthaltszeit von 15 auf 18 Es handelt sich um vollziehbar ausreisepflichtige Monate Personen, die einen internationalen Schutzstatus in einem anderen EU-Staat haben sollen. Sie er- Am 21. August 2019 ist die Voraufenthaltszeit für halten in Deutschland nur noch für zwei Wochen die Analogleistungen von 15 auf 18 Monate verlän- so genannte Überbrückungsleistungen und sind gert worden. Es gibt aber eine „Bestandsschutzre- danach normalerweise vollständig von Leistun- gelung“, nach der Personen, die zum Zeitpunkt der gen ausgeschlossen. Es gibt jedoch eine Härtefall- Gesetzesänderung bereits Anspruch auf Leistungen regelung, die nach unserer Auffassung in fast allen nach § 2 AsybLG hatten, nicht in die Grundleistun- Konstellationen nach zwei Wochen greifen muss. gen nach § 3 bzw. 3a AsylbG zurückfallen, auch Wenn eine Duldung erteilt worden ist, darf dieser wenn sie noch keine 18 Monate in Deutschland le- Leistungsausschluss gar nicht angewandt wer- ben (§ 15 AsylbLG). den. Der Paritätische kritisiert diesen gesetzlichen Leistungsausschluss scharf, da er nach unserer Überzeugung nicht mit dem Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Exis- tenzminimums zu vereinbaren ist. 5
In den ersten 18 Monaten: Grundleistungen nach § 3 und 3a AsylbLG Ankunftsnachweis, Aufenthaltsgestattung, Duldung Erste 18 Monate Ab 19. Monat Grundleistungen Analogleistungen § 3, 3a AsylbLG § 2 AsylbLG zuständig: Sozialamt zuständig: Sozialamt Gesundheitsleistungen Gesundheitsleistungen § 4 und 6 AsylbLG analog SGB V mit Gesundheitskarte In Landesaufnahmeeinrichtungen erhalten Leis- Diese „sollen“ zwar als Sachleistungen zur Verfügung tungsberechtigte nach dem AsylbLG die Leistungen gestellt werden, „soweit mit vertretbarem Verwal- für den „notwendigen Bedarf“ (Ernährung, Unter- tungsaufwand möglich“, aber in den meisten Bundes- kunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Ge- ländern wird der notwendige persönliche Bedarf als brauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts – das Geldleistung ausgezahlt. physische Existenzminimum) in Form von Sachleis- tungen. Zusätzlich müssen Leistungen für den „not- wenigen persönlichen Bedarf“ (das soziokulturelle Existenzminimum) erbracht werden. Hierzu gehören folgende Positionen: • Verkehr • Nachrichtenübermittlung • Freizeit, Unterhaltung, Kultur • Bildung • Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen • Andere Waren und Dienstleistungen. 6
Die Sätze für den „notwendigen persönlichen Bedarf“ in Landeseinrichtungen betragen gemäß § 3a AsylbLG ab September 2019: Bedarfsstufe 1 150 Euro (erwachsene Leistungsberechtigte, die als Alleinstehende in einer Wohnung le- (nicht anwendbar in Landesauf- ben sowie für jugendliche Leistungsberechtigte ohne Eltern in einer Wohnung) nahmeeinrichtungen, da es sich nicht um eine „Wohnung“ handelt) Bedarfsstufe 2 136 Euro (erwachsene Leistungsberechtigte, die in einer Aufnahmeeinrichtung leben, alleinstehend oder Partner*innen) Bedarfsstufe 3 120 Euro (erwachsene Leistungsberechtigte unter 25 Jahren, die zusammen mit mindes- tens einem Elternteil in einer Wohnung leben oder einer stationären Einrich- tung, z. B. der Behindertenhilfe, untergebracht sind; in einer Aufnahmeeinrich- tung gilt diese Bedarfsstufe nicht für unter 25jährige – sondern Bedarfsstufe 2) Bedarfsstufe 4 79 Euro (sonstige jugendliche Leistungsberechtigte vom Beginn des 15. bis zur Voll- endung des 18. Lebensjahres) Bedarfsstufe 5 97 Euro (Kinder vom Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres) Bedarfsstufe 6 84 Euro (Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres) In manchen Fällen kürzen die Behörden den Barbe- Praxistipp: trag um bestimmte Positionen, die in der Aufnahme- einrichtung als Sachleistung zur Verfügung gestellt Gericht sieht Kürzungen als nicht rechtmäßig an wird – zum Beispiel um den Anteil für Kommunikation, weil ein W-LAN-Zugang in der Einrichtung kostenlos Das Sozialgericht Landshut hat in einem Beschluss bereitgestellt wird. Gegen eine solche Kürzung sollte vom 17. August 20162 festgestellt, dass die anteili- durch einen Widerspruch vorgegangen werden, da es ge Kürzung eines Teils des notwendigen persönli- sich bei dem Barbetrag eben um einen „notwendigen chen Bedarfs wegen anderweitiger Bedarfsdeckung persönlichen Bedarf“ handelt, über dessen Nutzung nicht rechtmäßig sei. Das Gericht stellt fest, es sei auch persönlich entschieden werden können muss. „ausgeschlossen, einzelne Ausgaben regelbedarfsrele- vanter Positionen mit der Begründung herauszurech- nen, dass nicht jeder Leistungsempfänger jeden Be- darf gleichzeitig habe, nachdem dieser Ansatz bereits im Rahmen der Bemessung herangezogen wurde. (…) Durch die Gewährung auch nur eines Teils der Geld- leistungen muss eine gewisse Disponibilität gewähr- leistet sein, dass der Leistungsberechtigte durch die eigenverantwortliche Verwendung der pauschalierten Leistung einen gegenüber dem statistisch ermittelten Durchschnittsbetrag höheren Bedarf in einem Lebens- bereich durch geringere Ausgaben in einem anderen Lebensbereich ausgleichen kann.“ 2 SG Landshut, Beschluss v. 16.08.2016 – S 11 AY 64/16 ER. 7
Für Leistungsberechtigte, die nicht mehr in Landes- muss zusätzlich als Geldleistung gezahlt werden. Bei einrichtungen (sondern in einer eigenen Wohnung einer Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften oder einer kommunalen Gemeinschaftsunterkunft) un- „kann“ dieser gemäß § 3 Abs. 3 S. 6 AsylbLG dement- tergebracht sind, muss der monatliche Bedarf für das gegen teilweise oder sogar vollständig doch als Sach- physische Existenzminimum („notwendiger Bedarf“) leistung geleistet werden. In diesem Fall werden vom „vorrangig“ als Geldleistung erbracht werden. Nur aus- Auszahlungsbetrag bestimmte Anteile gekürzt. Falls nahmsweise, „soweit es nach den Umständen erforder- das Sozialamt keine Geldleistungen bewilligt, muss es lich ist“, dürfen Sachleistungen oder Gutscheine aus- nachvollziehbar und individuell begründen, warum es gegeben werden. Der notwendige persönliche Bedarf vom Normalfall der Geldleistung abweicht. Die Sätze für den „notwendigen Bedarf“ und den „notwendigen persönlichen Bedarf“ außerhalb von Landeseinrichtungen betragen ab September 2019: Regelbedarfe § 3; 3a AsylbLG 2019 „notwendiger „notwendiger Gesamt- Zusätzlich zu erbringen, Bedarf“ persönlicher bedarf „soweit notwendig und (physisches Exis- Bedarf“ angemessen“ tenzminimum) (soziales Exis- tenzminimum) Bedarfsstufe 1 194 Euro 150 Euro 344 Euro Unterkunft, Heizung, (erwachsene Leistungsberechtigte, die als Hausrat, Gebrauchs- Alleinstehende in einer Wohnung leben und Verbrauchsgüter sowie für jugendliche Leistungsberechtigte des Haushalts, Kosten ohne Eltern in einer Wohnung) der Wohnungsinstand- Bedarfsstufe 2 174 Euro 136 Euro 310 Euro haltung, Haushalts- (erwachsene Leistungsberechtigte ab 18 energie (Strom), Warm- Jahren, die in einer Aufnahmeeinrichtung wasser. leben oder Erwachsene, die als Partner*in- nen in einer Wohnung zusammen leben) Bedarfsstufe 3 155 Euro 120 Euro 275 Euro Außerdem: Bildungs- (erwachsene unverheiratete Leistungsbe- und Teilhabepaket. rechtigte unter 25 Jahren, die mit ihren El- tern in einer Wohnung leben oder Erwach- sene, die in einer stationären Einrichtung z. B. der Behindertenhilfe untergebracht sind) Bedarfsstufe 4 196 Euro 79 Euro 275 Euro (sonstige jugendliche Leistungsberechtigte vom Beginn des 15. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) Bedarfsstufe 5 171 Euro 97 Euro 268 Euro (Kinder vom Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres) Bedarfsstufe 6 130 Euro 84 Euro 214 Euro (Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres) Aus welchen Positionen sich die Leistungen genau zusammen setzen, hat das Integrationsministerium Rheinland-Pfalz zusammengestellt: https://t1p.de/5cpd und https://t1p.de/8kir 8
Hinweis Änderungen seit September 2019: Z ehnprozentige Kürzung für Alleinstehende in Gemeinschafts- unterkünften, Kosten für Strom werden gesondert erbracht Seit September 2019 sind Leistungsberechtigte, die als Alleinstehende in einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer Aufnahmeeinrichtung leben, nicht mehr der Bedarfsstufe 1, sondern der Bedarfsstufe 2 zugeordnet. Dies bedeutet eine Kürzung der Leistung um zehn Prozent. Die Bundesregierung begründet diese Kürzung da- mit, dass die Betroffenen in einer Gemeinschaftsunterkunft eine Art „Schicksalsgemeinschaft“ bilden würden und durch gemeinsamen Einkauf und gemeinsame Nutzung bestimmter Gegenstände Einsparungen erzielen könnten wie in einer Familie oder Partner*innenschaft. Der Paritätische hält diese Begründung für realitätsfern und daher nicht für verfassungskonform. Die Einstufung in Regelsatzstufe 2 ist für Alleinstehende hingegen nicht zulässig, wenn nur vorübergehend und kurzfristig eine Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft erfolgt oder wenn die Betroffenen in der Gemeinschaftsunterkunft eine abgeschlossene Wohnung bewohnen. In vielen Fällen dürfte eine Einstufung in Regelsatzstufe 2 für Alleinstehende in Gemeinschaftsunterkünften nicht rechtmäßig sein, da das menschenwürdige Existenzminimum nicht gedeckt ist. Dies dürfte insbesonde- re der Fall sein, wenn die anderen Personen in der Gemeinschaftsunterkunft nicht nach §§ 2 oder 3 AsylbLG leistungsberechtigt sind, weil sie z. B. Leistungen nach SGB II, Ausbildungsbeihilfe, Arbeitseinkommen oder Leistungen nach SGB XII erhalten oder aber einer Kürzung nach § 1a unterliegen. Weitere Argumente könnten sein, dass man mit den verbleibenden unter § 2 oder 3 AsylbLG fallenden Mitbewohner*innen keinen gemein- samen Nenner findet, um zusammen aus einem Topf zu wirtschaften (z. B. weil aus kulturellen, religiösen oder medizinischen Gründen unterschiedliche Essgewohnheiten bestehen, weil die Essenszeiten und -bedürfnisse sich wegen Schulbesuchs der Kinder, Teilnahme an Deutschkursen, ehrenamtlicher Tätigkeiten, Ausbildung oder Arbeit usw. unterscheiden oder weil aufgrund von Sprachproblemen oder Konflikten mit den Mitbewoh- ner*innen kein gemeinsames Wirtschaften möglich ist). Es empfiehlt sich, gegen die Einstufung in Regelsatzstufe 2 in derartigen Fällen Widerspruch und gegebe- nenfalls auch Klage beim Sozialgericht einzulegen und dies mit den oben genannten, im jeweiligen Einzelfall detailliert vorgetragenen Argumenten zu begründen. Im Zweifelsfall sollte anwaltlicher Rat eingeholt werden. Ebenfalls seit September 2019 werden die Bedarfe für Haushaltsenergie (Strom) und Wohnungsinstandhal- tung aus dem Regelsatz herausgerechnet und müssen gesondert erbracht werden. In einer Gemeinschafts- unterkunft erfolgt dies üblicherweise als Sachleistung. In einer Wohnung, in der ein eigener Vertrag mit dem Stromlieferanten besteht, muss das Sozialamt die Stromkosten in tatsächlicher Höhe erstatten, soweit diese notwendig und angemessen sind. Der ursprünglich im Regelsatz vorgesehene Anteil für Wohnungsinstandhaltung und Strom entspricht folgen- den Werten; notwendig und angemessen können aber abhängig vom Einzelfall auch höhere Beträge sein: Bedarfsstufe 1 38 Euro Bedarfsstufe 2 34 Euro Bedarfsstufe 3 30 Euro Bedarfsstufe 4 25 Euro Bedarfsstufe 5 16 Euro Bedarfsstufe 5 9 Euro 9
Paxistipp: Praxistipp: Grundleistungen waren bis einschließlich August Bildungs- und Teilhabepaket 2019 rechtswidrig zu niedrig – Nachzahlung der Differenz beantragen Die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets werden zum 1. August 2019 erweitert und das Ver- Die Grundleistungen sind zwischen 2016 und Sep- waltungsverfahren vereinfacht. So ist künftig kein tember 2019 nicht erhöht worden, obwohl dies vom gesonderter Antrag mehr erforderlich – mit Ausnah- Gesetz her jährlich vorgeschrieben ist. Daher haben me der Nachhilfeförderung. Das bedeutet, dass auch einige Gerichte einen Anspruch auf Nachzahlung rückwirkend Kosten übernommen werden müssen. der Differenz festgestellt. Die Betroffenen können Informationen dazu gibt es auf der Seite des Bundes- beim Sozialamt einen „Überprüfungsantrag“ nach § ministeriums für Arbeit und Soziales 44 SGB X für die Zeiträume des laufenden und des Vorjahres stellen. Dann muss das Sozialamt die alten Zu den Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets Bewilligungsbescheide prüfen und gegebenenfalls zählen gem. §§ 34, 34a und 34b SGB XII: die zu Unrecht vorenthaltenen Leistungen nach- ÆÆ Kosten für Klassenfahrten und Schulausflüge, zahlen. Der Paritätische hat dazu eine ausführliche auch für Kinder in Kindergärten oder Kitas Arbeitshilfe erstellt. ÆÆ Schulbedarf (Pauschalen von 100 bzw. 50 Euro pro Halbjahr). Dieser Betrag wird ab 2021 jährlich prozentual erhöht. Das Bundessozialgericht hat Zusätzlich zum Regelbedarf: mittlerweile festgestellt, dass auch über die Pau- schale hinaus die Eigenanteile für Schulbücher Bestimmte Leistungen müssen geson- zu übernehmen sind (BSG, Urteil vom 8. Mai dert beantragt werden 2019; Aktenzeichen B 14 AS 6/18 R und B 14 AS 13/18 R). Dies gilt auch für das AsylbLG. Der Regelsatz umfasst viele Bedarfe nicht. Diese müs- ÆÆ Schüler*innenfahrtkosten zur „nächstgelegenen sen daher gesondert beantragt und nach unterschied- Schule des gewählten Bildungsgangs“. Dazu ge- lichen Rechtsgrundlagen zusätzlich erbracht werden. hört ab August 2019 auch eine Schule mit beson- Dazu gehören zum Beispiel: derem Profil (z.B. mit sportlichem oder sprachli- chem Profil oder Ganztagsschulen). • Kosten der Unterkunft inkl. Heizung, Strom, Reno- vierungs- und Umzugskosten (wird für Personen in ÆÆ Außerschulische Lernförderung, wenn keine ver- Gemeinschaftsunterkünften als Sachleistung, für Per- gleichbaren schulischen Angebote bestehen. sonen in Wohnungen als Geldleistung bereitgestellt); Auf eine bestehende Versetzungsgefährdung kommt es dabei nicht mehr an. • Hausrat (hierzu gehören sowohl die Erstbeschaf- ÆÆ Kostenlose Mittagsverpflegung in Schule, Kin- fung als auch die „Ersatzbeschaffung“). Auch kleinere dergarten oder Kita. Der bisherige Eigenanteil Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts (z. B. von einem Euro pro Tag entfällt ab August 2019. Geschirr, Trockentücher, Putzmittel) gehören hierzu, ÆÆ Zuschuss zur Ermöglichung von außerschuli- da der Regelsatz diese Positionen nicht umfasst; scher Bildung und Teilhabe (15 Euro pro Monat z. B. für die Mitgliedschaft im Sportverein, für • Bildungs- und Teilhabepaket (§ 3 Abs. 4 AsylbLG). Ferienfreizeiten oder Musikunterricht). Der Umfang entspricht demjenigen, wie er auch im SGB XII vorgesehen ist. 10
• Mehrbedarf für Warmwasser. Für Personen, die in Das Sozialgericht Hildesheim hat einen Anspruch Privatwohnungen wohnen und das Warmwasser auf Förderung durch einen Integrationshelfer nach über Elektro- oder Gasboiler dezentral erwärmen, § 6 AsylbLG für ein Kind mit Mehrfachbehinderung muss das Sozialamt die Kosten für die Warmwas- festgestellt.5 (). seraufbereitung zusätzlich erbringen, da sie nicht im Regelsatz enthalten sind. Da deren Höhe nicht • Leistungen zur Behandlung chronischer Erkran- individuell ermittelbar ist, dürfte sich das Sozial- kungen amt an den Mehrbedarfszuschlägen nach § 30 Abs. 7 SGB XII orientieren. • Fahrtkosten zu Behörden, zum Arzt oder Kranken- haus, wenn diese „unerlässlich“ sind oder zur Erfül- • Passkosten: Die Kosten für die Beschaffung eines lung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungs- ausländischen Nationalpasses bzw. anderer erfor- pflicht erforderlich sind. derlicher Dokumente muss das Sozialamt zusätz- lich über § 6 AsylbLG erbringen. • Leistungen für kostenaufwändige Ernährung • Einmalige Beihilfen bei Schwangerschaft und Ge- • Leistungen für Rehabilitation burt. • Leistungen bei Pflegebedürftigkeit • Mehrbedarfe für Schwangere und für Alleinerzie- hende. Diese werden allerdings meist nicht pauschal • Kosten für Frauenhausaufenthalt wie im SGB II oder SGB XII erbracht, sondern die not- wendigen Mehraufwendungen (z. B. für Kinderbe- Praxistipp: treuung, Ernährungsmehrkosten) müssen individu- Leistungen für schutzbedürftige Personen mit be- ell glaubhaft gemacht und beantragt werden. Dies sonderen Bedürfnissen hat das Bundessozialgericht für den Mehrbedarf bei Alleinerziehenden im AsylbLG entschieden.3 Art. 21 der EU-Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/ EU) verlangt, dass die speziellen Bedürfnisse von Über § 6 AsylbLG können darüber hinaus Leistungen schutzbedürftigen Personen berücksichtigt werden beantragt werden, die nicht im Regelbedarf müssen. Zu den schutzbedürftigen Personen zählt die enthalten sind, aber dennoch für die Sicherung des Richtlinie unter anderen: „Minderjährige, unbegleitete Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, Schwan- für besondere Bedürfnisse von Kindern geboten oder gere, Alleinerziehende, Opfer des Menschenhandels, für die Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwir- Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, kungspflicht erforderlich sind, wie zum Beispiel: Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere For- • Dolmetscher*innenkosten zu Therapiezwecken men psychischer, physischer oder sexueller Gewalt er- (eine ausführliche Arbeitshilfe dazu finden Sie litten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weib- hier: https://t1p.de/c3ey) licher Genitalien“. Diese Vorgabe muss das Sozialamt auch bei der Bewilligung von speziellen Leistungen • Eingliederungsleistungen für Menschen mit Be- nach dem AsylbLG berücksichtigen (z. B. bei Leistun- hinderungen: Das Landessozialgericht Nieder- gen der Eingliederungshilfe, Pflegeleistungen, Kran- sachsen hat etwa das Sozialamt verpflichtet, die kenhilfeleistungen). Im Klartext: Es ist unserer Auffas- Kosten für ambulante Fachleistungsstunden im sung nach nicht rechtmäßig, spezielle Leistungen für Rahmen der Eingliederungshilfe für eine Frau mit diese Gruppen abzulehnen, obwohl die entsprechen- schwerer psychischer Erkrankung zu tragen.4 de Leistung deutschen Leistungsberechtigten in einer vergleichbaren Situation zugesprochen würde. 3 BSG, Urteil v. 25.10.2018 - B 7 AY 1/18 R. 4 LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 1. Februar 2018, L 8 AY 5 SG Hildesheim, Beschluss vom 30. August 2012; S 42 AY 140/12 ER. 16/17 B ER. 11
Krankenhilfe: Notfallmedizin oder „bestmögliche Behandlung“? Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG sind nicht Praxistipp: Mitglied der Gesetzlichen Krankenversicherung. Viel- mehr stellt das Sozialamt innerhalb der ersten 18 Eingeschränkter Behandlungsanspruch ist mit Monate üblicherweise Krankenscheine für die Kos- höherrangigem Recht nicht vereinbar. tenübernahme aus, die zum Teil für jede Behandlung beantragt werden müssen. § 4 AsylbLG sieht dabei Einschränkungen, die einen Anspruch auf Kranken- lediglich einen Kostenübernahmeanspruch vor, wenn behandlung unterhalb des Niveaus der Gesetzlichen es sich um die „erforderliche“ Behandlung „akuter Er- Krankenversicherung zur Folge haben, sind nicht mit krankungen und Schmerzzustände“ einschließlich der staatlichen Pflicht auf Sicherstellung des men- der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln „so- schenwürdigen physischen Existenzminimums ver- wie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur einbar. Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen“ handelt. Darüber hinaus müssen die üblichen Leistun- Auch mit dem Völkerrecht ist eine „Notfallmedizin“ gen bei Schwangerschaft und Geburt, die empfohle- nicht zu vereinbaren: nen Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen übernommen werden. In Art. 12 Abs. 1 des Internationalen Paktes über wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Verein- Die Behandlung chronischer Erkrankungen ohne ten Nationen (UN-Sozialpakt) heißt es: Schmerzen wäre demnach ausgeschlossen. Allerdings schreibt zusätzlich § 6 AsylbLG vor: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperli- „Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt wer- cher und geistiger Gesundheit an.“ den, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensun- terhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung In Deutschland ist dieser völkerrechtliche Vertrag gel- besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Er- tendes Recht – das indes fortlaufend ignoriert wird. füllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind.“ Zudem widerspricht die eingeschränkte Gesund- heitsversorgung zumindest für Asylsuchende „mit Daraus ergibt sich: Nahezu der gesamte Umfang der besonderen Bedürfnissen“ (z. B. Minderjährige, Al- medizinischen Behandlung, der auch in der Gesetz- leinerziehende, Menschen mit Behinderungen, lichen Krankenversicherung vorgesehen ist, muss er- Schwangere, Menschen mit schweren körperlichen bracht werden – insbesondere für Minderjährige und oder psychischen Erkrankungen, Opfer von Men- andere Personen mit besonderen Bedürfnissen. Auch schenhandel oder Gewalt) den Mindestanforderun- die Übernahme von Dolmetscherkosten muss über gen aus Art. 19 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie der EU § 6 AsylbLG übernommen werden, wenn diese für eine (Richtlinie 2013/33/EU). Behandlung erforderlich sind. Auch wenn in dem ent- sprechenden Paragrafen nur von „können“ die Rede ist, besteht nach überwiegender Auffassung ein An- spruch auf die „unerlässliche“ oder „gebotene“ Leis- tung: Ein Ermessen besteht nur in Bezug auf die Aus- gestaltung der Leistung, nicht jedoch in Bezug auf das „ob“. 12
Während des Grundleistungsbezugs dürfen von Leis- tungsberechtigten keine Eigenanteile bei der medi- Das Landessozialgericht Hessen hat auch aus diesen zinischen Behandlung und keine Rezeptgebühren Gründen und mit Verweis auf das Grundgesetz in verlangt werden, sofern sie nicht ausnahmsweise einem Beschluss vom 11. Juli 2018 das Sozialamt zur Mitglied der Gesetzlichen Krankenversicherung sind. Übernahme der Kosten für eine Hepatitis-C-Therapie Denn diese Kosten sind nicht im Regelsatz enthalten. (chronische Erkrankung) einer geduldeten Person Falls durch eine Erwerbstätigkeit ausnahmsweise doch verpflichtet: eine Mitgliedschaft in der Krankenkasse bestehen soll- te, muss das Sozialamt die Eigenanteile und Rezept- „Zwar ist die Erkrankung weder akut noch schmerz- gebühren zusätzlich über § 6 AsylbLG erbringen. Die haft, doch ist § 6 AsylbLG, wonach Leistungen gewährt Kostenerstattung sollte in diesem Fall beim Sozialamt werden können, wenn sie zur Sicherung der Gesundheit beantragt werden. unerlässlich sind, verfassungskonform weit auszulegen. Dies ist aufgrund der Menschenwürde und des Sozial- staatsprinzips (Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG) geboten (…). Praxistipp: Daher ist bis auf wenige Ausnahmen, insbesondere bei Gesundheitskarte für Flüchtlinge Bagatellerkrankungen oder Kurzaufenthalten, ein Leis- tungsniveau herzustellen, dass der Sozialhilfe nach §§ Einige Bundesländer haben mit den Krankenkassen 47ff SGB XII bzw. der gesetzlichen Krankenversicherung Verträge nach § 264 Abs. 1 SGB V abgeschlossen, nach SGB V entspricht.“6 nach denen auch Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG während der ersten 18 Monate eine elekt- Das Landessozialgericht Mecklenburg Vorpommern ronische Gesundheitskarte erhalten. Damit können hat am 28. August 2019 das zuständige Sozialamt sie normalerweise zum Arzt gehen, ohne zuvor eine verpflichtet, für einen geduldeten nahezu gehörlo- Genehmigung einzuholen. Der Leistungsumfang ist sen Antragsteller die Kosten einer Cochlea-Implanta- je nach Bundesland unterschiedlich geregelt, geht je- tion nach § 6 AsylbLG zu übernehmen, da „durch eine doch meist über die eingeschränkte Gesundheitsver- verfassungskonforme Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz sorgung hinaus. Für besondere Behandlungen (etwa 1 2. Alternative AsylbLG eine dem gesetzlichen Kran- Zahnersatz, Reha-Maßnahmen und Psychotherapie) kenversicherungsrecht entsprechende medizinische sind zum Teil weiterhin Einschränkungen vorgesehen. Versorgung zu gewährleisten“ sei. 7 Bislang haben derartige Verträge unter anderem Für die Praxis heißt das: Falls das Sozialamt die Kosten- die Bundesländer Bremen, Hamburg, Berlin, Schles- übernahme für eine geplante Behandlung einer Er- wig-Holstein, Thüringen und einige Kommunen in krankung ablehnt, weil sie weder akut noch schmerz- NRW und Niedersachsen abgeschlossen. haft sei, sollte gegen die Ablehnung ein Widerspruch eingelegt werden. Da es in der Regel schnell gehen Weitere Informationen zur Gesundheitskarte für Ge- muss, sollte zudem ein Eilantrag beim Sozialgericht flüchtete in den jeweiligen Bundesländern und zum eingelegt werden. jeweiligen Leistungsumfang finden Sie hier: http:// gesundheit-gefluechtete.info/ 6 LSG Hessen, Beschluss vom 11.07.2018 -L 4 AY 9/18 B ER. 7 LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 28.08.2019 - L 9 AY 13/19 B ER 13
Anrechnung von Einkommen und Vermögen, § 7 AsylbLG Auf die Grundleistungen des AsylbLG werden vor- Nicht als Einkommen angerechnet werden dürfen handenes Einkommen und Vermögen, „über das ver- fügt werden kann“, angerechnet. „Einkommen“ meint • Leistungen nach dem AsylbLG (z. B. Nachzahlun- dabei alle Einnahmen, die während des Bewilligungs- gen wegen früherer falscher Berechnungen), abschnitts eingehen (z. B. Arbeitseinkommen, Kinder- geld, Elterngeld, Steuerrückerstattungen). „Vermögen“ • Grundrenten nach dem Bundesversorgungsge- bedeutet alles, was bereits vor Beginn des Leistungs- setz oder Entschädigungen nach dem Entschädi- bezugs vorhanden war. gungsgesetz, Dies kann allerdings nur angerechnet werden, wenn • Schmerzensgeld, über das Vermögen oder Einkommen auch tatsächlich verfügt werden kann. Falls es etwa rein faktisch nicht • Die Aufwandsentschädigung im Rahmen der möglich ist, ein im Herkunftsland vorhandenes Haus Arbeitsgelegenheiten nach §§ 5; 5a AsylbLG oder Grundstück gegenwärtig zu verkaufen, ist die- („80-Cent-Jobs“), ses Vermögen gerade nicht verfügbar und darf auch nicht angerechnet werden. Das gleiche gilt zum Bei- • Fahrtkostenzuschuss für die Teilnahme am Integ- spiel auch für Kindergeld, auf das zwar ein Anspruch rationskurs oder der berufsbezogenen Deutsch- besteht, das aber noch nicht gezahlt wird oder auf ein sprachförderung, Arbeitseinkommen, das im laufenden Monat faktisch nicht ausgezahlt wird: Es ist nicht zulässig, Einkommen • Auch Leistungen der „Bundesstiftung Mutter und „fiktiv“ anzurechnen, sondern erst dann, wenn es auch Kind“ dürfen nicht auf den Anspruch nach § 3 bzw. tatsächlich vorhanden und verfügbar ist. 6 AsylbLG angerechnet werden. Das steht zwar nicht im Gesetz, ergibt sich aber aus § 5 Abs. 2 des Der Gesetzeswortlaut verlangt zudem, dass auch das „Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung Mutter und Einkommen und Vermögen von Familienangehörigen, Kind – Schutz des ungeborenen Lebens“. die im selben Haushalt leben, anzurechnen seien. Das Gesetz definiert den Begriff des „Familienangehöri- • Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche gen“ nicht. Mittlerweile hat das Bundessozialgericht Tätigkeiten, Übungsleiterpauschale bis 200 Euro entschieden, dass die Regelungen des SGB XII auch im monatlich Bereich des AsylbLG angewandt werden müssen: Das heißt zum Beispiel: Das Einkommen eines volljährigen Kindes darf nicht angerechnet werden; ebenso wenig Hinweis: dasjenige einer Schwiegertochter oder eines Schwie- gersohnes. Der Begriff des Familienangehörigen be- Seit September 2019 Freibetrag von 200 Euro schränkt sich in aller Regel auf die Kernfamilie aus monatlich für ehrenamtliche Aufwandsentschädi- verheirateten oder unverheirateten Partner*innen gungen und deren minderjährigen Kindern.8 Die Übungsleiterpauschale und Aufwandsentschä- digungen aus ehrenamtlichen oder künstlerischen Tätigkeiten sowie Aufwandsentschädigungen als Vormund sind nun bis zu 200 Euro im Monat anrech- nungsfrei (§ 7 Abs. 3 S. 2 AsylbLG). Diese Regelung ist zum 1. September 2019 neu eingeführt worden und entspricht weitgehend den Regelungen im SGB II und SGB XII. 8 Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Juni 2013; B 7 AY 6/11 R. 14
Einkommensanrechnung bei Erwerbstätigkeit Welches Vermögen ist anrechnungsfrei? Falls eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, darf ein Teil Es besteht ein Vermögens-Freibetrag von 200 Euro pro des Arbeitseinkommens nicht auf die Grundleistun- Person, um für gewisse Anschaffungen (z. B. Winter- gen angerechnet werden. Dadurch steht den Betroffe- kleidung) ansparen zu können. nen etwas mehr Geld zur Verfügung, als wenn sie nicht arbeiten würden. Zusätzlich sind nicht anrechenbar Vermögensgegen- stände, die für die „Aufnahme oder Fortsetzung einer Vom Bruttoeinkommen muss folgendes abgezogen Erwerbstätigkeit oder Berufsausbildung unentbehr- werden: lich sind“ und geschütztes Vermögen sein können. Dazu kann etwa ein Auto zählen, das für die Fahrt zur • zu zahlende Steuern und Sozialabgaben, Arbeit erforderlich ist. • gesetzlich vorgeschriebene Versicherungsbeiträ- ge (z. B. die Kfz-Haftpflicht, falls ein Auto vorhan- Praxistipp: den und für die Arbeit notwendig ist), Freibeträge im Überblick • sowie die „mit der Erzielung des Einkommens ver- bundenen notwendigen Ausgaben“ (z. B. Wer- Eine Übersicht über die Einkommens- und Vermö- bungskostenpauschale, Fahrtkosten zur Arbeit, gensfreibeträge im AsylbLG, SGB II und SGB XII fin- Gewerkschaftsbeiträge). den Sie hier: https://t1p.de/rljy Außerdem wird gemäß § 7 Abs. 3 S. 1 AsylbLG ein Frei- betrag von 25 Prozent des Bruttoeinkommens nicht als Einkommen berücksichtigt; dieser Freibetrag ist „gedeckelt“ auf 50 Prozent („notwendiger persönli- cher Bedarf“ plus „notwendiger Bedarf“) der jeweili- gen Regelbedarfsstufe (für eine allein stehende Person in einer Wohnung liegt der Regelbedarf im Jahr 2019 bei 344 Euro; der Freibetrag liegt also maximal bei 172 Euro). 15
Nach 18 Monaten: Analogleistungen nach § 2 AsylbLG entsprechend der Sozialhilfe des SGB XII Ankunftsnachweis, Aufenthaltsgestattung, Duldung Erste 18 Monate Ab 19. Monat Grundleistungen Analogleistungen § 3, 3a AsylbLG § 2 AsylbLG zuständig: Sozialamt zuständig: Sozialamt Gesundheitsleistungen Gesundheitsleistungen § 4 und 6 AsylbLG analog SGB V mit Gesundheitskarte Nach einem 18monatigen Aufenthalt muss das So- Praxistipp: zialamt automatisch Leistungen nach § 2 AsylbLG er- bringen (die so genannten „Analogleistungen“). Das Gesundheitskarte bei Analogleistungen bedeutet: Die Betroffenen bleiben zwar nach wie vor formal leistungsberechtigt nach dem AsylbLG, aber es Leistungsberechtigte, die die Analogleistungen werden nahezu sämtliche Vorschriften der „normalen“ erhalten, haben Anspruch auf Ausstellung einer Sozialhilfe des SGB XII auf sie angewandt (z. B. höhere elektronischen Gesundheitskarte von einer frei ge- Regelbedarfe, Krankenversicherungskarte ohne Ein- wählten Krankenkasse ohne Einschränkungen. Sie schränkungen beim Behandlungsanspruch, höhere sind damit zwar nicht Mitglied einer Krankenkasse Einkommens- und Vermögensfreibeträge, ausdrück- bzw. die Krankenkasse, aber sie haben Anspruch liche Anwendung der Mehrbedarfe). auf (fast) alle Leistungen wie gesetzlich Versicherte. Wenn das Sozialamt die Ausstellung einer Gesund- heitskarte verweigert, ist dies rechtswidrig: In § 264 Abs. 2 SGB V ist ausdrücklich festgeschrieben, dass für Leistungsberechtigte nach § 2 AsylbLG die Kran- kenbehandlung durch eine Krankenkasse über- nommen wird. Ein Ermessen besteht für das Sozial- amt hier nicht. 16
Seit September 2019 erhalten jedoch auch Leistungs- Zwei Voraussetzungen müssen für den Anspruch berechtigte nach § 2 AsylbLG nur die Regelbedarfs- nach § 2 AsylbLG erfüllt sein: stufe 2, wenn es sich um Alleinstehende in Gemein- schaftsunterkünften handelt. Sie unterliegen also 1. Ein Aufenthalt im Bundesgebiet von 18 Monaten gegenüber deutschen Personen, die zum Beispiel in „ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesge- einer Obdachlosenunterkunft leben, einer Kürzung biet“ und von zehn Prozent. Außerdem erhalten seitdem auch unverheiratete volljährige, aber unter 25jährige Kin- 2. Die Aufenthaltsdauer darf nicht „rechtsmiss- der, die mit einem Elternteil in einer Wohnung leben, bräuchlich selbst beeinflusst“ worden sein. nur noch Regelbedarfsstufe 3. Dies sind Sonderrege- lungen, die im SGB XII ansonsten nicht gelten. Wenn die leistungsberechtigte Person die Dauer ihres Aufenthalts „rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst Praxistipp: hat“, gelangt sie auch nach 18 Monaten Aufenthaltsdau- er nicht in die „Analogleistungen“, sondern bleibt in den Bestandsschutzregelung für „Altfälle“ Grundleistungen der §§ 3 und 3a AsylbLG. Ein solcher Rechtsmissbrauch ist aber nicht allein dadurch gegeben, Zum 21. August 2019 wurde die Voraufenthalts- dass der Betreffende nicht freiwillig ausreist, obwohl er zeit für die Analogleistungen von 15 auf 18 Monate aufgrund seiner Duldung dazu verpflichtet wäre. verlängert. In § 15 AsylbLG gibt es jedoch eine Be- standsschutzregelung, nach der für Personen, die Um die höheren Leistungen vorenthalten zu können, bereits vor dieser Änderung Anspruch auf Analog- müssen weitere aktive oder passive rechtsmissbräuch- leistungen hatten, der „alte“ § 2 AsylbLG weiter gilt liche Handlungen hinzukommen – etwa die Ver- – sie also nicht für einige Monate in die Grundleis- schleierung der Identität oder die Weigerung, an der tungen zurückfallen sollen. Diese Formulierung hat Passbeschaffung mitzuwirken. Und diese Handlungen aber auch zur Folge, dass für diese „Altfälle“ die ge- müssen zusätzlich kausal zu einer Verlängerung der nannten Änderungen bei den Regelbedarfsstufen Aufenthaltsdauer führen: Wenn eine Ausreise bzw. (Regelbedarfsstufe 2 für Alleinstehende in Gemein- eine Abschiebung ohnehin nicht möglich wäre, hat schaftsunterkünften sowie Regelbedarfsstufe 3 für das „rechtsmissbräuchliche“ Handeln keine Auswir- unter 25jährige volljährige Kinder, die mit ihren El- kungen und darf daher auch nicht zu einer Verweige- tern in einer Wohnung leben) nicht anwendbar sein rung der Analogleistungen führen. Bei Personen, die dürften. Vom Wortlaut her gilt für sie nämlich der eine Aufenthaltsgestattung besitzen (sich also noch frühere § 2 weiter fort. Falls das Sozialamt dies an- im Asylverfahren befinden), kann nie von einer rechts- ders handhaben sollte, sollten ein Widerspruch und missbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer Klage gegen den Bescheid geprüft werden. ausgegangen werden, da die Dauer des Asylverfahren gar nicht selbst zu beeinflussen ist. Das Bundessozialgericht hat in einem Grundsatzurteil zur Frage der „rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflus- sung der Aufenthaltsdauer“ formuliert, es müsse sich um ein sozialwidriges Verhalten von „erheblichem Gewicht“ handeln, damit überhaupt von einem Rechtsmissbrauch ausgegangen werden könne.9 Das Sozialamt muss be- weisen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind. In manchen Fällen könne ein rechtsmissbräuchliches Handeln oder Unterlassen sogar gerechtfertigt sein, nämlich dann, wenn es sich um „eine Reaktion auf oder 9 Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Juni 2008, B 8/9b AY 1/07 R. 17
eine vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwar- Praxistipp: tendes Fehlverhalten des Staates“ handle. Zudem sind manche Anforderungen der Behörden nicht zulässig Keine Zurechnung des „Rechtsmissbrauchs“ auf oder zumutbar. So hat das Bundessozialgericht am 30. andere Familienangehörige Oktober 2013 entschieden, dass nicht verlangt werden dürfe, eine so genannte „Freiwilligkeitserklärung“ ge- Nach dem Wortlaut von § 2 AsylbLG dürfen die genüber der Heimatbotschaft abzugeben, obwohl diese „Analogleistungen“ nur dann vorenthalten werden, gar nicht dem „inneren Willen“ entspricht. Deshalb kön- wenn der oder die Leistungsberechtigte die Aufent- ne es sich auch nicht um „Rechtsmissbrauch“ handeln.10 haltsdauer „selbst“ rechtsmissbräuchlich beeinflusst hat. Wenn nur ein Familienmitglied sich aus der Sicht Insgesamt dürfte der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs des Sozialamtes „rechtsmissbräuchlich“ verhält, darf aufgrund der „hohen Hürde“ und des strengen Be- dieses Fehlverhalten nicht auf die übrigen Fami- urteilungsmaßstabs nur in wenigen Fällen tatsäch- lienangehörigen übertragen werden: Kinder dürfen lich aufrechtzuerhalten sein. Daher sollten Leistungs- also nicht für das „Fehlverhalten“ der Eltern bestraft berechtigte, die auch nach 18 Monaten Aufenthalt werden, sondern müssen die „Analogleistungen“ er- dennoch nicht die Leistungen nach § 2 erhalten, die halten, auch wenn die Eltern sie nicht erhalten. Bescheide des Sozialamtes anfechten und vor dem So- zialgericht überprüfen lassen. Im Zweifel sollte hierzu Das Bundessozialgericht hat diese Auffassung in sei- anwaltlicher Rat eingeholt werden. nem oben genannten Urteil bestätigt: Der Grund für die Verweigerung der Leistungen nach § 2 AsylbLG Praxistipp: muss in der eigenen Person begründet sein. Sozialamt muss von Amts wegen auf die Analog- leistungen umstellen Praxistipp: Wichtig: Falls die Voraussetzungen vorliegen, muss Analogleistungen entsprechend SGB XII auch das Sozialamt automatisch auf die besseren Leis- während Studium oder Ausbildung tungen umstellen – einen gesonderten Antrag muss man dafür nicht stellen. Falls das Sozialamt dies nicht Nach Ablauf von 18 Monaten werden Leistungen tut, kann man auch rückwirkend die Differenz nach- entsprechend dem SGB XII erbracht – das eigentlich fordern, indem man einen Überprüfungsantrag ge- einen Ausschluss von Sozialhilfeleistungen wäh- mäß § 44 SGB X stellt. Das Bundessozialgericht hat im rend einer Ausbildung vorsieht. Allerdings ist in § 2 Jahr 2008 festgestellt, dass eine solche Nachzahlung AsylbLG seit 1. September 2019 klargestellt, dass in auch im Asylbewerberleistungsgesetz möglich ist. fast allen Fällen auch während einer Ausbildung An- spruch auf die sogenannten Analogleistungen nach dem AsylbLG besteht, gegebenenfalls aufstockend Praxistipp: zum Ausbildungsentgelt und der BAB oder dem Rechtsprechung zu § 2 AsylbLG BAföG. Eine ausführliche Darstellung hierzu finden Sie hier: https://t1p.de/yqin Eine ausführliche Darstellung der Rechtsprechung zu § 2 AsylbLG finden Sie in einem Beitrag im „Asyl- magazin 10/2008. Dieser ist zwar schon älter und die Rechtslage hat sich mittlerweile zum Teil geändert. Aber die Ausführungen zur Frage der „rechtsmiss- bräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer“ sind nach wie vor weitgehend aktuell. 10 Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Oktober 2013, B 7 AY 7/12 R. 18
Anspruchseinschränkung gem. § 1a AsylbLG: Leistungskürzung als Sanktion Seit März 2015 sind die Tatbestände für eine Leistungs- Diese Bedingungen sind jedoch in der nun geltenden kürzung als Sanktionsmaßnahme in mehreren Schritten Rechtslage bei keinem Kürzungstatbestand mehr drastisch ausgeweitet worden: Nunmehr kennt das Ge- erfüllt: In vielen Fällen ist die Kürzung nicht durch setz fast zwei Dutzend unterschiedliche Konstellationen, eine Verhaltensänderung abwendbar, da die bloße in denen die Leistungen auf einen Betrag gekürzt wer- Anwesenheit im Bundesgebiet sanktioniert wird; und den sollen, der noch nicht einmal mehr das physische in sämtlichen Konstellationen ist mittlerweile eine Existenzminimum deckt. Diese Leistungskürzungen wi- individuelle Bedarfserbringung des sozialen Exis- dersprechen nach Überzeugung des Paritätischen der tenzminimums gesetzlich ausgeschlossen. Die aktu- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das ell geltenden Kürzungstatbestände sind daher nach im Juli 2012 festgestellt hatte: „Die Menschenwürde ist Überzeugung des Paritätischen nicht verfassungskon- migrationspolitisch nicht zu relativieren“. form und auch mit der Rechtsprechung des Bundes- sozialgerichts nicht zu vereinbaren. Auch mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundes- sozialgerichts sind die geltenden Leistungskürzungen Sie widersprechen außerdem in vielen Fällen der nicht in Einklang zu bringen: Das Bundessozialgericht EU-Aufnahmerichtlinie und der EU-Rückführungsricht- hat zwar in einem Urteil vom 12. Mai 2017 die Leis- linie, insbesondere für besonders schutzbedürftige tungskürzung nach dem damals geltenden Recht für Personen, dem UN-Sozialpakt, der UN-Behinderten- zulässig erklärt. In dem Verfahren ging es um einen rechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonven- Mann, der sich über Jahre hinweg geweigert hatte, tion. einen Pass zu beschaffen und deshalb nicht abgescho- ben werden konnte. Als Voraussetzung für eine Zuläs- sigkeit hatte das Bundessozialgericht aber zwei Bedin- gungen aufgestellt: ÎÎ Die Leistungskürzung muss die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigen. Auch die Leistun- gen des sozialen Existenzminimums und alle an- deren Leistungen müssen erbracht werden, wenn dies der Einzelfall erfordert. ÎÎ Durch eine Verhaltensänderung muss man es je- derzeit in der Hand haben, wieder in den Genuss ungekürzter Leistungen zu gelangen.11 11 BSG, Urteil vom 12. Mai 2017, B 7 AY 1/16 R. 19
Praxistipp: Keine Leistungskürzung für schutzbedürftige Personen mit besonderen Bedürfnissen. Die EU-Aufnahmerichtlinie gilt für Asylsuchende – Bei allen minderjährigen Asylsuchenden muss der und zwar zunächst während eines in Deutschland Staat gem. Art. 23 „vorrangig das Wohl des Kindes“ laufenden Asylverfahrens. Aber auch nach Abschluss berücksichtigen und „einen der körperlichen, geisti- des Dublinverfahrens in Deutschland, wenn im Rah- gen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung men der Dublin-Verordnung eine Überstellung in des Kindes angemessenen Lebensstandard“ gewähr- einen anderen EU-Staat vorgesehen ist – solange in leisten. dem anderen EU-Staat noch kein Schutzstatus ge- währt worden ist. Für die Geltung der EU-Aufnahme- All dies wird im Falle einer Leistungskürzung nicht be- richtlinie ist also nicht zwingend das Vorliegen einer rücksichtigt, da dann nicht nur die Höhe der Leistun- Aufenthaltsgestattung Voraussetzung. gen auf ein eingeschränktes physisches Existenzmi- nimum beschränkt ist, sondern auch die zusätzlichen In Art. 21 definiert die EU-Aufnahmerichtlinie Grup- Leistungen nach § 6 AsylbLG gesetzlich ausgeschlos- pen von schutzbedürftigen Personen mit besonderen sen sind. Bedürfnissen. Dazu gehören Minderjährige, unbe- gleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, Aus diesem Grund hat das Land Berlin bereits per Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Erlass klargestellt, dass die Leistungskürzungen für Kindern, Opfer des Menschenhandels, Personen mit Minderjährige nicht anwendbar sind (siehe hier: schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit https://t1p.de/evlu ). Das Land Rheinland-Pfalz hat psychischen Störungen und Personen, die Folter, klargestellt, dass für besonders schutzbedürftige Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psy- Personen Art 19 der Aufnahmerichtlinie unmittelbar chischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten anwendbar sei und daher entgegen dem Wortlaut haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher des AsylbLG zusätzliche Leistungen gewährt werden Genitalien. Für ausreisepflichtige Personen definiert müssen – im Klartext: die Leistungskürzung nicht an- die EU-Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/ wendbar ist (siehe hier: https://t1p.de/4jk9). EG) denselben Personenkreis als schutzbedürftig. Im Asylmagazin finden Sie einen Artikel, in dem aus- Die EU-Aufnahmerichtlinie schreibt in ihrem Art. 19 führlich dargestellt wird, warum die Leistungskürzun- vor, dass diesen Personen mit besonderen Bedürfnis- gen in der jetzigen Form anderen Rechtsvorschriften sen stets die „erforderliche medizinische oder sonsti- widersprechen: https://t1p.de/ltgx ge Hilfe“ erbracht werden muss. Zudem muss gem. Art. 20 „in jedem Fall“ ein würdiger Lebensstandard Aus diesem Grund sollten gegen Leistungskürzun- gewährleistet werden. Art. 21 schreibt weiterhin vor, gen stets Rechtsmittel geprüft werden (Widerspruch dass bei besonders schutzbedürftigen Personen „ih- und Klage; parallel ein Eilantrag beim Sozialgericht). ren Bedürfnissen während der gesamten Dauer des Im Zweifel sollte hierzu anwaltlicher Rat hinzugezo- Asylverfahrens Rechnung“ getragen und „ihre Situa- gen werden. tion in geeigneter Weise verfolgt“ werden müssen. 20
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