Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt

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Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Germanistische Literaturwissenschaft
Seminar: Deutschsprachige Literatur von 1989 bis heute
Dozentin: PD Dr. Gisela Horn
Verfasser: Jette Fröhlich, Theresa Petzold, Evelin Takacs, Sebastian Vieth, Sabrina Walther

                           Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt
1 Biografisches zum Autor

Daniel Kehlmann wurde 1975 in München als Sohn eines Regisseurs und
einer Schauspielerin geboren. 1981 zogen sie nach Wien, wo Kehlmann
Philosophie und Germanistik studierte. Später erhielt er Poetikdozenturen in
Mainz, Wiesbaden und Göttingen und arbeitete als Literaturkritiker für den
Spiegel, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, u.a.
Ich und Kaminski war sein erster (auch international) erfolgreicher Roman.
                                                                                   www.kehlmann.com
Mit Die Vermessung der Welt wurde er weltweit berühmt. Er erhielt neben
anderen den Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Doderer-Preis und den Kleist-Preis (alle
2006).
Kehlmann lebt zur Zeit als freier Schriftsteller in Wien und Berlin. Zuletzt veröffentlichte er eine
Sammlung von Aufsätzen mit dem Titel Lob: Über Literatur (Rowohlt: 2010).

2 Wirkung und Rezeption

Die Vermessung der Welt wurde bisher in mehr als 40 Sprachen übersetzt und allein in der
deutschsprachiger Ausgabe 1,5 Millionen mal verkauft. Der Roman gilt als einer der größten
Erfolge der Nachkriegsliteratur und wird verbreitet als Schullektüre eingesetzt.
Die Literaturkritik bewertete den Roman überwiegend positiv:
   •     „ein wunderbar lesbarer Text voller gebildeter Anspielungen und Zitate und versteckter
         Kleinode“ (Jakob Augstein, Die Zeit)
   •     „Ein subtiler Humorist, ein Meister hochartifizieller Erzählkunst. Ein exquisites
         Lesevergnügen.“ (NZZ)
   •     „Unterhaltsam, humorvoll und auf schwerelose Weise tiefgründig und intelligent.“ (FAZ)
Kritik war selten und galt fast ausschließlich der Diskrepanz zwischen Geschichte und den
Geschehnissen im Roman.
3 Authentizitätsproblematik

Grundsätzlich seien alle Abweichungen beabsichtigt, sagt Kehlmann.
Dennoch sollen die wichtigsten Abweichungen kurz genannt werden, um den historischen
Hintergrund nicht unberücksichtigt zu lassen:

1.   Gauß hat Kant nie getroffen.
2.   Die Daguerretypie war 1828 noch nicht entdeckt.
3.   Die Osterformel entstand nicht in Gauß´ Jugendzeit.
4.   Über lateinische Werke wurde nicht in Englisch gesprochen
     („Occam´s razor“, S. 246)

Die schärfste Kritik erntete Kehlmann jedoch für die einseitige Darstellung der Hauptfiguren:
Gauß wäre weder zahlenfixiert, weltfremd und an seiner Familie desinteressiert gewesen, noch war
Humboldt arbeitswütig, vermessungswild und ausschließlich an Naturwissenschaften interessiert.

4 Biografisches zu Humboldt und Gauß

Alexander von Humboldt (1769-1859) war ein Naturforscher mit weltweitem Wirkungsfeld und gilt
als Mitbegründer der Geographie als empirische Wissenschaft. Seine Forschungsreisen führten ihn
nach Lateinamerika, die USA und Zentralasien. Wissenschaftliche Feldforschung betrieb er in den
Bereichen Physik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Vulkanologie, Botanik, Astronomie und
Klimatologie.
Goethe besucht er 1795 in Jena und 1831 in Weimar, 1798 trifft er in Paris auf Bonpland und 1804
auf Jefferson in den USA.

Carl Friedrich Gauß (1777-1855), Mathematiker, Astronom, Geodät und Physiker, entwickelte mit
18 Jahren die Grundlagen der modernen Ausgleichsrechnung und mathematischen Statistik. Mit 30
war er Professor und Sternwartedirektor in Göttingen. Unter anderem gehen auf ihn zurück: Das
gaußsche Fehlerfortpflanzungsgesetz, die Osterformel, Normalverteilung und Glockenkurve sowie
die gaußschen Zahlen. Er war zweimal verheiratet und hatte insgesamt 6 Kinder.

5 Figuren

Humboldt ist ein Abenteurer, der sich mit der Praxis der Wissenschaft beschäftigt. Für ihn zählt
seine Mission mehr als seine zwischenmenschlichen Beziehungen. So macht es den Eindruck, dass
er kein Verständnis für Frauen bzw. Sexualität hat. Er hat große Probleme sich in fremde Kulturen
einzugliedern, auch in seiner eignen Kultur fühlt er sich nicht heimisch. Sein großer Traum ist die
Welt zu vermessen und die Natur zu verstehen, obwohl er selbst weltfremd bleibt.

Gauß ist ein Mathematiker, der in der Welt der Zahlen lebt. Oberflächlich betrachtet hat er ein
normales, bürgerliches Leben: er hat eine Frau, Kinder und Arbeit. Aber in der tieferen Struktur
zeigt sich, dass er als Mann, Vater und Professor öfter scheitert. (Hochzeitsrede S.148, erste Nacht
mit Johanna S.150, Geburt Josephs S. 154-155, Professor S.154) Der Roman beschreibt seinen
zwiespaltigen Charakter: auf der einen Seite steht ein mathematisches Genie und auf der anderen
Seite steht seine soziale Inkompetenz. Auf wissenschaftlicher Ebene erkennt und löst er Probleme,
welche für die meisten Menschen unlösbar sind. Doch auf sozialer Ebene wirkt er realitätsfremd.
Seinr Frau fasst zusammen: Er ist blind für Dinge, die jeder sonst sieht. (S. 152)

Beide Charaktere scheinen weltfremd: sie entfernen sich von der bürgerlichen, sozialen und realen
Welt und ziehen sich immer weiter zurück in ihre Forschung. Dieser Rückzug bezieht sich auf die
körperliche und geistige Ebene. Bei Humboldt ist das an seiner Forschungsexpedition und seinem
Unverständnis für menschliche Beziehungen zu erkennen, bei Gauß an der Isolation in seinem
Zimmer und der sozialen Distanz zu seinen Mitmenschen.

6 Motive

6.1 Natur
Angesiedelt in der Zeit der Wende vom 18. Zum 19. Jh. beschreibt der Roman die „systematische
Aneignung des Raums durch den Menschen“. Zum einen wird der Makrokosmos (Weltraum) und,
zum anderen, der Mikrokosmos (irdischer Lebensraum) erforscht. Das abstrakte Objekt Raum wird
durch die Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der organischen und anorganischen Natur
konkretisiert. Natur taucht im Roman dabei in zwei Formen auf:
   •   Natur in wilder und gefährlicher Form (Humboldt Südamerika Expedition)
   •   Natur in kultivierter und gebändigter Form (vgl. S. 185)
Zeitgleich wird jedoch auch auf die Gefahr der Zerstörung der Natur durch die Forschung und,
unterschwellig, auf die Verantwortung des Menschen, im Einklang mit der Natur zu leben,
verwiesen. Der Konflikt beider Positionen (Natur bewahren vs. Erkenntnis vorantreiben) spiegelt
sich in den Figuren Gauß und dessen Sohn Eugen wider (vgl. S.191), die zeitgleich auch für die
gegensätzlichen Positionen der Epochen des Rationalismus (Gauß) und der Weimarer Klassik
(Eugen) stehen.
6.2 Altern und Tod
Mit fortschreitender Handlung des Romans, altern auch Gauß und Humboldt. Zu Beginn der
Handlung noch durch jugendliche Dynamik getrieben, werden im Handlungsverlauf sichtbare
Anzeichen des Alters deutlich. Gauß muss mit 30 Jahren erkennen, dass „seine Fähigkeit zur
Konzentration“ nachlässt (S. 155), Humboldt spürt die Auswirkungen des Alterns gegen Ende des
Romans, als die Expeditionen immer schwerer fallen und er sich „einige Male […] von Ehrenberg
stützen lassen.“ muss (S.278).
Das Motiv     des Todes, kehrt im Werk mehrmals wieder. Humboldt muss bereits früh erste
Erfahrungen mit dem (schmerzvollen) Tod seiner Mutter (S.35) sammeln. Gauß begegnet die
Allmacht des Todes in doppelter Härte, als seine erste Frau, Johanna, und der gemeinsame Sohn
sterben (S. 161). Er muss erkennen, dass die Macht des Menschen über das eigene Schicksal durch
die Macht der Natur relativiert werden muss (S.220).
Die Motive Altern und Tod verknüpfen sich auch mit dem wissenschaftlichen Niedergang der
beiden Forscher. Humboldts eigentlichem Tod wird metaphorisch vorausgegriffen, als er sich an
Gauß erinnert, der von einer Geraden spricht, der nichts mehr hinzugefügt werden kann und dies
auf sein Leben bezieht (S. 280). Er ersehnt sich ein Verschwinden in „Landschaften von denen man
als Kind geträumt habe“ (S.289), als ein „davongehen und nie heimkehren“ (S.289). Gauß wird
indessen vom einst unterlegenen Martin Bartels wissenschaftlich "überflügelt" (S.299) und gelangt
damit zu einer ähnlich resignierenden Lebensbilanz wie Humboldt. Seinen Tod ersehnt er sich
jedoch nicht als bloßes Verschwinden, sondern „als eine Erkenntnis von Unwirklichkeit. [Denn]
dann würde er begreifen [...]" (282).

6.2 Weitere Motive:
   •   Wissenschaft – Naturwissenschaft – Vermessung
   •   Gegensätze (z.B.: Humboldt – Gauß, Wissenschaft – Kunst, Deutschland – Südamerika)
   •   gebrochener Realismus (Historisches und Mystik)
   •   Suche (nach wissenschaftlicher Erkenntnis und Platz im Leben)
   •   Liebe und Sexualität

7. Themenvorschläge:
   •   Die Vermessung/Entdeckung der Welt durch zwei Personen und Wege, wie sie kaum
       unterschiedlicher sein könnten.
   •   Suche nach einem Platz in der Welt.
   •   Deutschsein im Ausland
8 Sprache und Erzähltechnik

Kurze, prägnante Sätze sowie eine nüchterne, klare Sprache vermittelt einen distanzierten Eindruck.
Es ähnelt der sachlich-wissenschaftlichen Syntax eines Historikers. Der zusätzlich verwendete
ironische Sprachstil verstärkt die Wirkung der Distanz zum gesamten Geschehen. Ironisch, fast
schon satirisch wird die Begrenztheit der Figuren aufgezeigt; ohne diese zu schikanieren. Der Autor
erreicht durch den lakonischen Sprachstil und Ironie den Spagat zwischen Fakt und Fiktion.
Auffällig ist auch die meist verwendete indirekte Rede. Zur Verwendung derer sagt Kehlmann: „Ein
Fachhistoriker geht nicht zu nah ran an die Figuren, an das, was er berichtet, und - und das ist der
entscheidende Punkt - er würde nicht behaupten zu wissen, was wörtlich gesagt wurde. Er würde
also die indirekte Rede verwenden. Und da dachte ich, das Experiment müsste eben darin liegen,
ein Buch zu schreiben, das beginnt wie ein Sachbuch. Deshalb gibt es auch in der ersten Zeile des
Romans eine Jahreszahl - und dann nie wieder.“ Autor und Leser gewinnen dadurch den nötigen
Betrachtungsabstand zum historischen Stoff. Unterstrichen wird diese Distanz weiterhin durch den
heterodigetische Erzähler. Er ist zwar mit den Geistesleben seiner Figuren vertraut, versetzt sich
allerdings nur andeutungsweise in sie hinein. Es wird sich nur auf die Beschreibung ihres Redens
und Handelns beschränkt. Ein distanzierter Erzähler sowie objektiv wirkende indirekte Rede
machen den Text hölzern.

9 Handlungsstruktur

Der Roman ist in 16 Kapitel unterteilt, die keine chronologische Abfolge bilden. Die
aufeinanderfolgende Erzählweise wird durch eine Retrospektive unterbrochen, in der mit einer
Parallelhandlung Gauß‘ und Humboldts Biografien episodenhaft dargestellt werden. Chronologisch
sind der Beginn des Romans (1828, Gauß reist nach Berlin auf Einladung Humboldts) und die
Kapitel 11 bis 16 erzählt. Darin eingeschoben sind die Kapitel 2 bis 10. Die geraden Kapitel
(2,4,6,8,10) sind Humboldt und die ungeraden (3,5,7,9) Gauß gewidmet. Auffällig hierbei ist, dass
Kehlmann Gauß die Primzahlen 3,5 und 7 als Kapitelnummern zugeordnet hat.
Die Handlung springt somit zwischen Gauß und Humboldt hin und her. Es lassen sich
Verbindungselemente wiederfinden, die dabei auf den jeweiligen anderen Charakter und dessen
Geschichte (Bsp.: das Fläschchen Curare, S.98, S.131, S.224) verweisen. Beide Lebensläufe werden
während des fortlaufenden Geschehens immer enger miteinander verzahnt. Dabei geht der Autor
jeweils nach dem gleichen Muster vor: Kindheit => Ausbildung => Karriere => Anerkennung,
wodurch eine parallele Struktur für Gauß und Humboldt entsteht. Beide Figuren haben jeweils
einen Begleiter (Bonpland, Eugen), der als Kontrastfigur ihre Eigenart hervorhebt.
Quellen:
www.kehlmann.com
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/bucherfolg-ich-wollte-schreiben-wie-ein-verrueckt-
gewordener-historiker-1304944.html

Oldenbourg Interpretationen. "Die Vermessung der Welt". interpretiert von Wolfgang Pütz. Hrsg.
von Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler. Band 110. 1 Aufl. Oldenbourg Schulbuchverlag,
München 2008

www.Avhumboldt.de
www.genie-gauss.de
www.humboldt-alexander-von.de
www.Math.uni-hamburg.de/spag/ign/gauss/gaussbio.html

http://mpg-muenchen.de/old/fachschaften/deutsch/projekte/kehlmann/7aufbauschema.htm
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