Das 9-Euro-Ticket im Spannungsfeld von sozialer Teilhabe, Armut und Mobilität - Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von einkommensschwachen ...
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Das 9-Euro-Ticket im Spannungsfeld von sozialer Teilhabe, Armut und Mobilität Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von einkommensschwachen Haushalten Dr. Claudia Hille Online-Diskussion Wissenschaft und Politik im Dialog, 23. Februar 2023
Hintergrund: Soziale Teilhabe und Mobilität • Mobilität ist wesentliche Voraussetzung für soziale Teilhabe, aber Mobilität ist i.d.R. mit finanziellen Kosten verbunden Folge: Menschen mit geringen finanziellen Mitteln kann der Zugang zu Mobilität fehlen („Mobilitätsarmut“) Folge: ohne Zugang zu Mobilität fehlen Möglichkeiten an räumlich entfernten Orten Aktivitäten auszuüben oder soziale Kontakte aufrecht zu erhalten („mobilitätsbezogene soziale Exklusion“) Empirische Beispiele für Mobilitätsarmut: • Menschen mit niedrigerem ökonomischen Status legen in Dtl. weniger und kürzere Wege zurück als Menschen mit höherem ökonomischen Status (vgl. BMVI 2019) • 10 % der Menschen mit niedrigem ökonomischen Status können sich in Dtl. keine regelmäßige Nutzung des ÖPNVs leisten (vgl. Baptista & Marlier 2020) Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 2
Empirische Untersuchung • Haushaltsbefragung mit 6.000 verteilten Fragebögen • Rücklauf: 1.157 Fragebögen • Auswertung mit statistischen Verfahren und qualitativer Inhaltsanalyse • 457 auswertbare Kommentare • 39,5 % der Befragten nutzten das offene Kommentarfeld Forschungsfrage: • Welche Auswirkungen hat das 9-Euro-Ticket auf die Mobilität und soziale Teilhabe von Menschen mit geringen Einkommen gehabt? Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 3
Untersuchungsgebiet • 6 ausgewählte Stadtteile in Erfurt • Nicht zentral im Stadtgebiet gelegen • Sehr gute Anbindung an das ÖPNV-Netz (alle Gebiete haben eine Anbindung an die Straßenbahn) • Großwohnsiedlungen („Plattenbau“) der 1970er und 1980er Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 4
Untersuchungsgebiet • Deutlich geringeres Einkommensniveau wie durchschnittlich im Stadtgebiet • Überdurchschnittlich hohe Quoten an Transferleistungsempfänger:innen • Sehr hohe Bevölkerungsdichte • Im Sozialatlas der Stadt als Gebiete mit besonderem Unterstützungsbedarf gekennzeichnet Bildquelle: eigenes Fotoarchiv Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 5
Soziodemographische Merkmale der Befragten Einkommensverteilung der Stichprobe Nettoäquivalenzeinkommen der Befragten (n=1.060) 35% 32,2% 30% 25,4% 25% 20% 14,2% 15% 13,3% 9,6% 10% 5% 3,3% 2,0% 0% Bis 500 Euro 501 bis 750 751 bis 1.251 bis 1.751 bis 2.251 bis Über 2.750 Euro 1.250 Euro 1.750 Euro 2.250 Euro 2.750 Euro Euro Mittelwert: 1.368 Euro Median: 1.250 Euro Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 6
Erwerb des 9-Euro-Tickets und Nutzungsanlässe Besitz des 9-Euro-Tickets: • 87,2 % der Befragten haben das Ticket in min. einem der drei Monate gekauft Wegezwecke bei der Nutzung des 9-Euro-Tickets (n=968) Einkaufen 64,2% Besuche bei Verwandten, Freund/innen und/oder 50,1% Bekannten Tagesausflüge 46,2% andere Wege in der Freizeit (z.B. zum Sport) 35,1% Sonstiges 32,4% Arbeitsweg/Ausbildungsweg 32,0% Urlaub oder Kurzreise zu touristischen Zielen 22,5% Wege zur Begleitung von Personen (Kinder, Großeltern 18,6% usw.) Dienst- und Geschäftsreisen 3,9% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 7
Veränderungen des Mobilitätsverhaltens Veränderungen im Mobilitätsverhalten der Ticketbesitzer:innen nach Einführung des 9-Euro-Tickets (n=992) 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Insgesamt bin Zu Fuß... Mit dem Auto... Mit dem Mit dem Mit dem ich... Fahrrad... ÖPNV... Fernzug... Viel öfter unterwegs Eher öfter unterwegs Eher seltener unterwegs Viel seltener unterwegs Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 8
Veränderungen des Mobilitätsverhaltens Äquivalenzeinkommen Bis 500 Bis 750 Bis 1.250 Bis 1.750 Über 1.750 Euro Euro Euro Euro Euro Insgesamt bin ich… Viel seltener unterwegs 5,6 % 0,0 % 0,4 % 0,6 % 0,0 % Eher seltener unterwegs 2,8 % 1,0 % 1,2 % 1,7 % 1,9 % Gleich oft unterwegs 20,8 % 29,2 % 39,2 % 41,8 % 56,3 % Veränderung im Mobilitätsverhalten Eher öfter unterwegs 23,6 % 30,2 % 23,9 % 28,6 % 24,1 % Viel öfter unterwegs 43,1 % 37,5 % 35,0 % 26,4 % 14,6 % Kann ich nicht sagen/nie 4,2 % 2,1 % 0,4 % 1,1 % 3,2 % unterwegs Anzahl auswertbare Fälle (n) 72 96 260 182 158 Mit dem ÖPNV… Viel seltener unterwegs 5,6 % 3,4 % 0,4 % 0,9 % 0,6 % Eher seltener unterwegs 2,3 % 0,0 % 2,1 % 2,3 % 2,4 % Gleich oft unterwegs 23,6 % 27,7 % 27,7 % 29,3 % 36,3 % Eher öfter unterwegs 16,9 % 22,7 % 28,7 % 35,4 % 33,9 % Viel öfter unterwegs 49,4 % 45,4 % 40,8 % 31,6 % 26,2 % Kann ich nicht sagen/nie 2,3 % 0,8 % 0,4 % 0,5 % 0,6 % unterwegs Gesamtmobilität: ρ= -0,210 Anzahl auswertbare Fälle (n) 89 119 282 215 168 ÖPNV: ρ= -0,126 Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 9
Soziale Teilhabe – Freizeitaktivitäten Gründe für unterlassene Freizeitaktivitäten (n=1.068) Ja, aber die Fahrt dorthin ist mir zu teuer. 35,0% Ja, aber der Eintrittspreis ist mir zu hoch. 34,6% Ja, aber ich habe gesundheitliche Einschränkungen. 24,8% Ja, aber ich habe keine Zeit dafür. 21,2% Ja, aber die Aktivität ist mir zu weit entfernt oder zu 14,5% umständlich zu erreichen. Ja, aber ich finde keine Person die mich begleitet. 13,0% Nein, ich habe kein Interesse. 9,6% 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 10
Freizeitverhalten nach Einführung des 9-Euro-Tickets Veränderungen im Freizeitverhalten der Ticketbesitzer:innen 45% nach Einführung des 9-Euro-Tickets (n=992) 40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% Aktivitäten Ausflug in Regelmäßige Besuch von Ausgehen mit Nutzung Tagesaus- im Freien die Stadt gemeinsame oder bei Freund:innen kosten- flüge / Aktivitäten Freund:innen pflichtiger Reisen / Familie Angebote Viel öfter Eher öfter Eher seltener Viel seltener Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 11
Freizeitverhalten nach Einführung des 9-Euro-Tickets Äquivalenzeinkommen Bis 500 Bis 750 Bis 1.250 Bis 1.750 Über 1.750 Euro Euro Euro Euro Euro Ausflug in die Stadt Viel seltener 2,7 % 0% 0,4 % 0,9 % 0,6 % Eher seltener 5,4 % 6,1 % 3,1 % 3,9 % 3,2 % Gleich oft 35,1 % 35,7 % 41,5 % 46,6 % 52,9 % Eher öfter 20,3 % 24,5 % 26,9 % 29,4 % 29,3 % Viel öfter 33,8 % 28,6 % 22,3 % 14,7 % 8,9 % Kann ich nicht sagen/mache ich 2,7 % 5,1 % 5,8 % 5,0 % 5,1 % Freizeitaktivität nie Anzahl auswertbare Fälle (n) 74 98 260 204 157 Besuch von oder bei Freund:innen, Familie und/oder Bekannten Viel seltener 3,9 % 2,0 % 0,8 % 0,0 % 0,0 % Eher seltener 2,6 % 2,0 % 3,1 % 2,6 % 4,5 % Gleich oft 32,5 % 39,0 % 41,9 % 49,2 % 66,5 % Eher öfter 18,2 % 19,0 % 24,6 % 28,0 % 16,1 % Viel öfter 36,4 % 29,0 % 23,5 % 10,9 % 5,8 % Kann ich nicht sagen/mache ich 6,5 % 9,0 % 6,1 % 9,3 % 7,1 % nie Anzahl auswertbare Fälle (n) 77 100 260 193 155 Ausflug in die Stadt: ρ= -0,147; Besuch bei Freund:innen, Familie oder Bekannte: ρ= -0,221 Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 12
Mehr Wege in der Freizeit Ermöglichung von Ausflügen und kurzen Reisen, die vorher finanziell nicht leistbar waren „Das 9-Euro-Ticket bewirkt auch bei mir, dass man mehr unterwegs ist, öfter fährt und ja, auch Ausflüge unternimmt, die man sich sonst nicht hätte leisten können. Es ermöglicht den ‚kleinen Urlaub in Thüringen‘, wenn man sich Flugreisen nicht leisten kann. Also mehr Mobilität und Lebensqualität. Nicht nur Balkonien.“ (Fragebogen Nr. B-136: weiblich, 67 Jahre, in Rente, alleinlebend) Neben finanziellen Aspekten spielt auch die einfach und flexible Organisation eine Rolle „Es macht alles deutlich einfacher. Die Nutzung ist schön unkompliziert und ermöglicht kostengünstig auch mal einen Tagesausflug. Dies war sonst leider nur selten möglich. Ich hoffe auf eine Weiterführung des Angebots!“ (Fragebogen Nr. W-186: weiblich, 29 Jahre, arbeitslos, 3- Personen-Haushalt mit einem Kind) Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 13
Erfüllung von Grundbedürfnissen Bessere Erreichbarkeit von Angeboten zur Erfüllung von Grundbedürfnisse (Fachärzte, Einkauf), die am direkten Wohnort nicht erfüllt werden können „Ich habe endlich wieder ein Gefühl für das Leben bekommen. Ich konnte auch Arzttermine machen, was vorher nicht möglich war.“ (Fragebogen Nr. M-165: weiblich, 68 Jahre, in Rente, alleinlebend) „Man fühlt sich nicht so eingeschränkt. Ab September (sollte kein Nachfolger für das 9-Euro-Ticket kommen) muss ich mir sehr gut überlegen, ob ich mir leisten kann zum Zahnarzt zu gehen oder zum Augenarzt. Dafür muss ich öffentliche Verkehrsmittel benutzen. […]“ (Fragebogen Nr. M-20: weiblich, 57 Jahre, arbeitslos, alleinlebend) Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 14
Ein Ticket gegen Einsamkeit Pflege von Sozialkontakten auch mit Mobilitätskosten verbunden Förderung von sozialen Kontakten und weniger Einsamkeit „Das 9-Euro-Ticket hat mir gezeigt, dass man nicht alleine sein muss.“ (Fragebogen Nr. P-66: weiblich, 63 Jahre, in Rente, alleinlebend) „Sehr gute Erfahrungen. Gut gegen die Einsamkeit. Ich kam mehr unter Menschen [und hatte] dadurch mehr leistbare Sozialkontakte. […]“ (Fragebogen Nr. W-89: männlich, 66 Jahre, in Rente, alleinlebend) „Ich kann mich öfter mit Freunden treffen. Es hilft bei der Bewältigung von Alterseinsamkeit. […]“ (Fragebogen Nr. B-14: weiblich, 78 Jahre, in Rente, alleinlebend) Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 15
Finanzielle Entlastung Deutliche Entlastungseffekte bei Befragten Monatsticket zum Normalpreis kaum bezahlbar für Einkommensarme, insbesondere in Haushalten in denen mehrere Monatstickets gekauft werden müssten „Ich muss nicht täglich Fahrscheine kaufen und kann gelassen in die Bahn einsteigen. Es bleibt noch etwas Geld zum Leben übrig. Fand ich große klasse. […]“ (Fragebogen Nr. M-72: weiblich, 80 Jahre, in Rente, alleinlebend) „Als berufstätige, alleinerziehende Mutter ist so ein vergünstigtes Ticket ein riesen Gewinn für uns. Da wir es 3-fach benötigen und ich beim vollen Preis wesentlich mehr finanziell Haushalten müsste und es mehr Abstriche für die Kinder (16 und 15 Jahre) bedeuten würde.“ (Fragebogen Nr. H-67: weiblich, 38 Jahre, Vollzeit berufstätig, alleinerziehend mit 2 Kindern) Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 16
Zahlungsbereitschaft Zahlungsbereitschaft für Nachfolgeticket (n=987) 30% 24,8% 25% 20% 19,4% 14,6% 15% 14,0% 10% 8,2% 6,7% 5% 4,5% 4,0% 3,0% 0,9% 0% Bis 10 11 bis 15 16 bis 20 21 bis 25 26 bis 30 31 bis 35 36 bis 40 41 bis 45 46 bis 50 über 50 Euro Euro Euro Euro Euro Euro Euro Euro Euro Euro Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 17
Fazit: Wie gelingt mehr Mobilitätsgerechtigkeit? Das 9-Euro-Ticket hat Menschen mit geringen Einkommen vielfach einen Zugang zum ÖPNV ermöglicht der so vorher nicht möglich war. ÖPNV ist das Rückgrat des Verkehrssystems Ausbau und Weiterentwicklung des ÖPNV notwendig für Verkehrswende Menschen mit geringen Einkommen profitieren in urbanen, gut angebundenen Gebieten im besonderem Maß Was ist mit dem ländlichen Raum? Zugang zu Mobilität bestimmt Chancen der Teilhabe Fehlender Zugang ist gesellschaftlicher Missstand Verkehrspolitik, die sich an Bedürfnissen aller Einkommensschichten orientiert Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 18
Fragen? Kontakt: Dr. Claudia Hille Institut Verkehr und Raum Fachhochschule Erfurt Altonaer Str. 25, 99085 Erfurt Mail: claudia.hille@fh-erfurt.de www.verkehr-und-raum.de Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 19
Quellen Baptista, I. und Marlier, E. (2020): Access to Essential Services for People on Low Incomes in Europe. An Analysis of Policies in 35 Countries. European Commission/European Social Policy Network, Brüssel. Büttner, B.; Wulfhorst, G.; Crozet, Y. und Mercier, A. (2013): The impact of sharp increases in mobility costs analysed by means of the vulnerability assessment. In: World Conference on Transport Research, Rio de Janeiro. Lucas, K.; Mattioli, G.; Verlinghieri, E. und Guzman, A. (2016): Transport poverty and its adverse social consequences. Proc. Inst. Civ. Eng. Transp. 169 (6), 353–365. Mattioli, G. (2017): “Forced car ownership” in the UK and Germany: socio-spatial patterns and potential economic stress impacts. Soc. Incl. 5 (4), 147–160. Mattioli, G. (2021): Transport poverty and car dependence: A European perspective. In: Pereira, R.H.M. und Boisjoly, G. (Hrsg.): Advances in Transport Policy and Planning. Academic Press: Cambridge Rozynek, C.; Schwerdtfeger, S.; Lanzendorf, M. (2020): Über den Zusammenhang von sozialer Exklusion und Mobilität. Konzeptionelle Überlegungen zur Einrichtung eines Reallabors in der Region Hannover. Arbeitspapiere zur Mobilitätsforschung Nr. 23. Frankfurt a.M. Mit dem 9-Euro-Ticket zu mehr sozialer Teilhabe? – 23. Februar 2023 20
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