Das Chinesische Labyrinth - von Dr. Carsten Elsner - CrypTool

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Das Chinesische
     Labyrinth
  von Dr. Carsten Elsner
                 24. Dezember 2020

Vom CrypTool Team neu überarbeitet und um SageMath Beispiele ergänzt,
                       siehe: www.cryptool.de
 Danke an: https://www.heise.de/ct/Redaktion/bb/story/Labyrinth.htm

     Primzahlen offenbaren
     überraschende Eigenschaften
     der natürlichen Zahlen –
     einige davon können Sie
     hier in dieser historischen
     Geschichte erfahren, in
     der der Große Khan an mehr
     interessiert ist, als nur
     an den rein intellektuellen
     Fähigkeiten seiner
     zukünftigen Beamten und
     Berater.

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� @CrypTool      C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:     Bewerbung in K …

Bewerbung in K …

Markus Paulsen ist 24 Jahre alt, hat
ein Harvard-Informatik-Diplom in der
Tasche (allerdings liegt es gerade vor
ihm auf dem Tisch), und er geht seine
Jobsuche mit ungetrübtem Optimismus
und Selbstvertrauen an. Natürlich
hält er sich für einen so erfahrenen
Computerspezialisten, dass man es
hier im Technologiezentrum in K gar
nicht verantworten kann, ihm als
hochmotivierte, dynamische Fachkraft
die Türe zu weisen. Aber vor Markus
sitzt nun erst einmal ein ziemlich
verschmitzt lächelnder Professor,
der als Institutsleiter eben das
Bewerbungsgespräch mit ihm beendet hat
und ihn doch zunächst vor die Tür
hinauskomplimentiert. „Ich möchte mich
mit meinem Assistenten kurz beraten.
Wenn Sie sich bitte draußen für einige
Augenblicke gedulden …“

Man befindet sich hier in
der Forschungsabteilung für
Kryptographie und rechnergestützte
Verschlüsselungstechniken.
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Hochleistungsrechner werden hier nach
immer neuen Verfahren programmiert, um
dann in oft tagelanger Rechenarbeit
Teiler von riesigen Zahlen zu finden
und so eine zusammengesetzte Zahl in
ihre Bestandteile zu zerlegen – eine
Notwendigkeit, die bei fast jeder
Dechiffrierung unumgänglich ist. Aber
beim Aufsuchen von solchen Teilern
wird nicht planlos herumprobiert,
sondern mit raffinierten Tricks und
Ideen gearbeitet, um die Rechenzeit zu
verkürzen. Und eben hierfür sucht der
Professor Unterstützung durch einen
neuen Mitarbeiter.

„Der Bursche ist ja nicht gerade dumm,
aber sind seine Programmierkenntnisse
für uns wirklich von so großem
Nutzen?“ fragt vorsichtig der etwas
blassgesichtige Assistent, nachdem
die Tür hinter Markus ins Schloss
gefallen ist. „Mit Rechnern kennt er
sich hinlänglich aus“ erwidert der
Professor, „und das übrige gilt es
noch zu prüfen. Der junge Mann muss
sich erst noch die Hörner abstoßen,
auf die er so stolz ist, und dabei
bin ich ihm gerne behilflich!“ Der
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Assistent schaut den Institutsleiter
fragend an, der seinerseits wieder
das verschmitzte Lächeln aufgesetzt
hat und begonnen hat, in einer
Schreibtischlade zu kramen. „Irgendwo
hier muss es doch sein!?! …“ Der
Professor ist für seine ungewöhnlichen
Methoden bei der Suche nach neuen
Mitarbeitern im Hause bekannt, und so
harrt der Assistent der Dinge, die
sein Chef diesmal ausbrütet. „Ah, hier
ist es ja!“ Der Professor zieht einige
Blätter hervor. „Diesen Text habe ich
schon als Doktorand meinen Studenten
vorgelegt.“ Er grinst schelmisch. „Und
alle haben sich darüber den Kopf
zerbrochen. Herr Paulsen wird damit
auch nicht verschont. Wenn er die
Lösung bis morgen findet, bekommt er
die Stelle. Rufen Sie ihn bitte wieder
herein!“

Als der immer noch grenzenlos
optimistische Kandidat wieder dem
Professor und seinem Assistenten
gegenübersitzt, werden ihm die Blätter
über den Tisch geschoben. Doch zu
seinem Erstaunen ist es nicht der
erwartete Anstellungsvertrag. Mit
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gespieltem, aber nicht übertriebenen
Pathos erklärt ihm hierzu der
Professor: „Ein bekannter deutscher
Historiker hat in einer Bibliothek
in Padua einige mittelalterliche
Handschriften entdeckt, die nach Stil
und Inhalt zweifellos nach dem Diktate
Marco Polos niedergeschrieben worden
sind. Marco Polo berichtet darin über
eines seiner seltsamsten Abenteuer
in China, durch dessen glücklichen
Ausgang er zum Berater des Großkhans
aufgestiegen ist. Leider fehlen die
letzten Seiten des Manuskripts. Nach
diesen Aufzeichnungen verdankt Polo
seine Stellung am Hofe des Khans der
Fähigkeit, gewisse große Zahlen als
zusammengesetzt zu erkennen.“ Im
verdutzten Gesicht von Markus Paulsen
stehen einige Fragezeichen. Jedoch
unbeirrt fährt der Professor fort, auf
die Blätter vor ihm deutend: „Das hier
ist eine Übersetzung des Manuskripts,
die der Historiker mir geschickt hat.
Lüften Sie bitte bis morgen Nachmittag
das Geheimnis der fünften Kammer,
und Sie sind unser Mann! Außerdem
heben Sie dabei den Schleier über

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einem bis heute noch dunklen Punkt
in der Biographie des weitgereisten
Venezianers. Wundern Sie sich nicht:
mit solchen Problemen aus allen Teilen
der Welt werden wir hier regelmäßig
konfrontiert. Aber lassen Sie Ihr
Notebook ausgeschaltet: Marco Polo
hatte bestenfalls einen Abakus im
Reisegepäck.“
Der Professor erhebt sich und
streckt Paulsen rasch die Hand zur
Verabschiedung entgegen, um jede
Erwiderung oder Frage im Keim zu
ersticken. „Ich sehe Sie hier morgen
wieder um 15:00 Uhr.“ Ehe der junge
Mann sich versieht, steht er schon vor
der Tür zum Büro des Professors. Sein
Optimismus hat einen herben Dämpfer
erlitten. Mit einem flauen Gefühl in
der Magengegend macht er sich auf den
Rückweg in sein Hotel. Dort verlängert
er seinen Aufenthalt um einen Tag,
schließt sich in sein Zimmer ein und
vertieft sich in der Hoffnung auf
einen noch glücklichen Ausgang seiner
Bewerbung in das Manuskript:

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Bewerbung beim Khan

„…Im übrigen muss ich noch von jenem
gefährlichen Tage berichten, an
dem ich die allerhöchste Gnade des
Sohnes der Sonne erfuhr. Es ist in
diesem Lande nämlich Brauch, alle
Anwärter auf ein Amt im Staate
streng zu prüfen – je höher das Amt,
desto umfangreicher und schwieriger
die Auswahl der Kandidaten. Da
mich der Großkhan als persönlichen
Berater um sich wissen wollte (was
nur einem Mandarin oberhalb der
37.-ten Rangstufe der kaiserlichen
Hofhierarchie zusteht), musste ich
mich mit zwei Mitbewerbern der
vorgesehenen Prüfung unterziehen:
es waren dies der kaiserliche
Hofastronom, der ehrenwerte und
allseits geschätzte Meister Hyan Li–Pu
sowie der aus der Provinz Kiangnan
angereiste berühmte Mathematiker
Meister Wan Chi.

Wir drei fanden uns auf allerhöchsten
Befehl in einer Halle ein, wo uns
ein Mandarin der 38.-ten Rangstufe
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die Prüfung erläuterte. Er sagte mit
umständlichen Worten etwa folgendes:
‚Ehrenwerte Herren! Mögen Euch an
diesem Tag die Götter beistehen! Denn
Ihr werdet gleich ein Labyrinth
betreten, dessen Pforte hinter Euch
verschlossen wird. Euer Leben hängt
alsdann nur von Eurer Klugheit ab
– aber wer des allerhöchsten Nähe
(hier verbeugte sich der Mandarin)
sucht, muss todesmutig sein! Wohl
möget Ihr den Ausgang finden und
das Licht der allerhöchsten Sonne
erblicken‘ – wieder verbeugte sich
der Hofschranze. ‚Unter denen, die
glücklich den Ausgang finden, wird
das Amt geteilt. Doch nun hört: Ihr
gelangt in eine Kammer, in der Ihr die
Auswahl habt, Euren Weg in zwei Gängen
fortzusetzen. Doch gebt acht: sobald
einer von Euch die Kammer verlassen
hat, werden alle Ausgänge dieser
Kammer nach wenigen Augenblicken
geschlossen. Entweder entscheidet Ihr
Euch alle für denselben Weg, oder
aber ihr trennt Euch. Wer zaudert
und zurückbleibt, ist für elf Jahre
eingemauert, denn vor Ablauf dieser

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Zeit darf sich niemand um dieses Amt
bewerben und in diesem Labyrinth
geprüft werden. Solange wird es
von keinem Menschen betreten. Doch
auch wehe dem, der den falschen
Ausgang einer Kammer wählt! Dann endet
der Gang, den er betreten hat, als
Sackgasse, und er ist gleichfalls
eingeschlossen. Nur der richtige
Ausgang führt in eine neue Kammer.‘

Mir wurde zunehmend unbehaglicher
zumute. Der Mandarin aber fuhr in
dunklen Worten fort: ‚Aber Eure
Klugheit wird Euch bewahren und die
richtige Entscheidung treffen lassen.
Denn merkt Euch: in jeder der fünf
Kammern findet Ihr etwas, das geteilt
werden kann oder nicht. Wer meint,
das Ding ist teilbar, der wähle den
Ausgang zur linken Hand, wer anderer
Meinung ist, benutze den Gang zur
rechten Hand. Und nun frage ich Euch:
Wer tritt von der Bewerbung zurück …?‘

Mich durchfuhr es heiß und kalt. Meine
Weigerung hätte dem persönlichen
Wunsch des Khans entgegengestanden,
mich dieser Prüfung zu unterziehen,
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was mit unausweichlicher Gewissheit
mein Todesurteil gewesen wäre. So
hatte ich aber wenigstens noch eine
geringe Hoffnung auf einen glücklichen
Ausgang des Abenteuers, und ich gab
dem Mandarin durch ein leichtes
Kopfnicken meine Bereitschaft zu
verstehen. Keiner von uns sagte etwas,
auch die beiden anderen schüttelten
nur leicht den Kopf. ‚So sei es denn!‘

Ein Gong wurde geschlagen, und der
Mandarin geleitete uns bis an den
Eingang des gefährlichen Labyrinths.
Mit klopfendem Herzen und weichen
Knien trat ich als letzter durch die
Pforte in den dahinterliegenden
Gang und wandte mich noch einmal
um. Der Mandarin verbeugte sich,
ein Gongschlag ertönte und mit
ohrenbetäubendem Rasseln fuhr eine Tür
herunter und verschloss den Eingang.
Ich schlug ein Kreuz über der Brust,
verrichtete ein Stoßgebet und schloss
mich den beiden anderen an, die
scheinbar unbeirrt schon vorangegangen
waren.

Wie von dem Mandarin angekündigt,
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endete der dunkle Gang bald in einem
von zwei Fackeln erhellten Raum. “

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Kammer Eins

In den beiden Seitenwänden gähnten
dunkle Löcher und zeigten uns unsere
Alternativen an. Sonst konnte ich in
dem Raum zunächst nichts erkennen,
und ich suchte vergeblich nach einem
Gegenstand, wie ihn der Mandarin
gemeint haben könnte. Ratlos folgte
ich den Blicken meiner Begleiter,
die auf die gegenüberliegende Wand
starrten. Einige Schriftzeichen
waren dort aufgemalt, und obwohl
ich im Lesen der chinesischen
Schrift nicht unerfahren bin, bat
ich aus Höflichkeit Meister Wan
um die Übersetzung. Der sonst so
vornehme Mann schaute mich mit einem
herablassenden Blick an, dann sagte
er: „Dort steht nur eine Zahl: 8633“.
Ich war verblüfft. Unser aller Leben
hing also davon ab, ob wir Teiler
dieser Zahl finden oder nicht! Und
ich wurde stutzig: Hat mir Meister
Wan wohl die richtige Zahl genannt?
Denn immerhin bewarben wir uns um
dasselbe Amt! Aber rasch überzeugte
ich mich, dass er die Wahrheit
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gesagt hatte und begann über das
gestellte Problem nachzudenken. Etwas
unschlüssig begann ich schließlich
eine Diskussion. „Haben die Herren
einen Vorschlag?“ fragte ich, um die
Stille zu unterbrechen. Meister Li
ließ sich zu einer Antwort herab. Man
merkte ihm an, dass er uns nur ungern
von seinem Wissen etwas mitteilte.
„Deutet man diese Zahl als den Inhalt
eines Quadrats, so können von zwei
vielleicht vorhandenen Teilern nicht
beide größer sein als die Länge einer
Seite.“ Mir leuchtete das ein, und
Meister Wan setzte den Gedanken
als ein geschickter Kopfrechner
gleich praktisch um: „Ein solcher
Teiler, falls es ihn gibt, ist
dann kleiner als 93, und es reicht,
diejenigen Zahlen auszuprobieren,
die selbst keine echten Teiler
haben, also nach Eurem Gebrauch“ –
hier blickte mich der chinesische
Rechenmeister schief von der Seite an
– „Primzahlen heißen.“ Ich staunte
über die Kunstfertigkeit der beiden
Chinesen, und da ich noch keinen
Beitrag zur Diskussion geleistet

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hatte, blickte ich verlegen zur Seite.
Dabei entdeckte ich im Halbdunkel
einer Ecke der nur von den beiden
Fackeln spärlich beleuchteten Kammer
schemenhaft einen Gegenstand am
Boden liegen. Ich trat hinzu und hob
einen Abakus auf, neben dem noch
einige Kreidestücke lagen. „Seht doch,
man gibt uns etwas Hilfestellung“,
bemerkte ich in etwas gehobener
Gemütsverfassung.

Meister Li nahm mir jedoch gleich
den Abakus aus den Händen und
begann wortlos die Kugeln hin- und
herzuschieben. Ich spürte seine
Ungeduld, und ich habe deutlich
die Überheblichkeit des Chinesen
wahrgenommen, mir als Italiener den
Gebrauch dieses alten Rechengerätes
nicht zuzutrauen. Nach einigen Minuten
verkündete Meister Li tonlos: „8633
ist das Produkt der Zahlen 89 und 97,
also keine Primzahl.“

„Somit nehmen wir den rechten Gang!
Wenn die werten Herren vorgehen
wollen!“ bot Meister Wan an. Ich
durchschaute sofort seine Absicht.
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Wohl hatte ich mir genau gemerkt,
dass im Falle der Teilbarkeit der
linke Gang gewählt werden musste.
Ich wusste, dass ich mich auf mein
Gedächtnis in diesem Punkt genau
verlassen konnte, und suchte nach
einer höflichen Erwiderung. Wären
Meister Li und ich vorangegangen, wie
von Wan vorgeschlagen, hätte der
im letzten Augenblick sicher den
anderen Gang betreten und hätte uns
unserem Hunger- und Erstickungstod
überlassen. Auch Meister Li bemerkte
die so offenkundig hinterhältige
Absicht und korrigierte mit nur mühsam
unterdrücktem Zorn den Vorschlag, um
nicht schon in der ersten Kammer
offenen Streit hervorzurufen. Nur
allzu rasch und ohne Erwiderung ließ
sich Wan vom Gegenteil überzeugen
und betrat sogar als zweiter nach
Meister Li den linken Gang. Ich folgte
den beiden hastig, und kaum war ich
in das Dunkel eingetaucht, spürte
ich hinter mir schon den Luftzug der
nieder rasselnden Mauer. Schwarze
Dunkelheit umgab mich. Ich stieß mit
dem Kopf an die Decke des niedrigen

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Ganges und kam nur mühsam vorwärts,
mit den Händen an den Wänden tastend.
Vor mir in einiger Entfernung hörte
ich die beiden Chinesen, zwischen
denen nun doch offener und lauter
Streit ausgebrochen war – vermutlich
wegen des Vorfalls eben in der Kammer.

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Kammer Zwei

Plötzlich stieß in der Dunkelheit
mein Fuß an etwas: es waren Kugeln.
Die beiden Toren waren in ihrem
Streit gewiss handgreiflich geworden,
und dabei war der Abakus zu Bruch
gegangen! Ich sah jede Hoffnung
schwinden. Endlich gewahrte ich vor
mir einen Lichtschein und stand bald
neben den beiden Streithähnen in der
zweiten Kammer. Die beiden hatten
sich so rasch wieder beruhigt wie sie
aneinander geraten waren. Erst jetzt
wurde mir bewusst, dass ich in meinen
rechten Ärmel ein Stück Kreide aus der
ersten Kammer gesteckt hatte, und an
dieses unbedeutende Ding klammerte
sich nun meine ganze Hoffnung.

In diesem Raum wurden wir von der
Zahl „Vermehre drei Millionen und
Zweihundertvierzigtausend um Eins“ an
der Wand begrüßt. „Hilf Himmel“, sagte
ich laut, nachdem Meister Li die Zahl
aus dem Chinesischen übertragen und
mir vorgelesen hatte, „die werden ja
immer größer!“ Ich mochte gar nicht
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daran denken, was uns in der fünften
Kammer erwartet, falls wir überhaupt
soweit vordringen sollten. „Höchst
ehrenwerter Gebieter, vor dem wir im
Staube uns beugen“, erwiderte Meister
Wan in der devoten Gebildetensprache
seines Landes, „alles lässt sich durch
den Verstand begreifen. Man hat diese
Zahl für Deine gebildeten und weit
gereisten Augen nicht ohne Grund so
ausgewählt und dort angeschrieben.
Lasst uns gemeinsam überlegen!“ Trotz
unserer bedrohlichen Lage musste ich
heimlich über diese gedrechselte
Beamtensprache lächeln, fühlte mich
aber doch geschmeichelt. Ich blickte
verstohlen auf Meister Li. Der schaute
eher fragend Herrn Wan an und schien
dessen Optimismus gar nicht so recht
zu teilen.

Die folgenden Ereignisse in dieser
zweiten Kammer spielten sich wider
Erwarten in nur wenigen Augenblicken
ab, da Meister Li die Beherrschung
verlor. Das kam so. Meister Wan,
der nicht nur ein hervorragender
Mathematiker, sondern auch ein geübter
Kopfrechner war, dachte laut nach,
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dabei starr auf die Schriftzeichen an
der Wand starrend. „18 mal 18 ergibt
324, demzufolge ist 3 240 000 auch 1800
mal 1800. Und das Doppelte von 1800
ergibt 3600, und das ist das Quadrat
von 60.“ Ich konnte zwar die Rechnung
verfolgen, verstand aber gar nicht,
was das mit dem gestellten Problem
der Auffindung von Teilern der Zahl
3 240 001 zu schaffen haben sollte.
Meister Li’s Gesicht zeugte von
derselben Hilflosigkeit. Unbeeindruckt
fuhr Herr Wan fort:

„Unsere Zahl dort ist also nicht nur
das um Eins vermehrte Quadrat von
1800, sondern auch eine Summe aus
dem Quadrat von 1799 und dem Quadrat
von 60.“ Der Meister blickte endlich
von der Wand auf Herrn Li und mich,
lächelte wie ein kleines Kind und
verkündete: „Die Zahl ist somit eine
zusammengesetzte.“ „Hätte der Herr
nun auch die Güte, uns einen Teiler
derselben zu nennen?“ schrie Meister
Li, der dem Mathematiker überhaupt
nicht traute und zusehends die Geduld
hervor. „Erst den Abakus zerbrechen,
und nun so tun, als ob der Herr alles
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wüsste.“ „Ich kann keinen solchen
echten Teiler nennen, ich weiß nur,
dass es einen solchen gibt“ erwiderte
Wan in aller Seelenruhe. „Das ist
doch der Gipfel!“ Die Stimme von Li
überschlug sich. „Die Götter mögen
mich vor dem Scharlatan behüten.“ Und
unversehens stürmte Li in den rechten
Gang, dessen Eingang sich sofort
hinter ihm verschloss. „Kommen Sie!“
Wan packte mich am Arm und nötigte
mich in den Gang zur linken Hand, den
wir beide gerade eben noch erreichten,
ehe auch hier die Wand niederfuhr.
Ich hatte keinen Augenblick den
Gedanken Wans folgen können, und
bezweifelte, dass ich hier im
Labyrinth einer längeren Erläuterung
würde folgen können. So stellte ich
keine Fragen, und war froh, als wir
nach etlichem Herumtasten in dem
dunklen Gang endlich in einer neuen
Kammer anlangten. „Gott sei seiner
Seele gnädig!“, sagte ich halblaut
im Gedenken an Meister Li. Herr Wan
schien unbeeindruckt.

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Kammer Drei

Ich atmete tief durch, und kämpfte
wieder gegen meine aufkeimende
Furcht. Meister Wan hatte sich schon
mit den Schriftzeichen an der Wand
beschäftigt. Er wandte sich zu mir
um und sagte: „Hochgeehrtester
aller Freunde, in Demut wage ich
zu behaupten, dass wir hier keine
Probleme haben werden. Dort – Wan
deutete auf die Wand – werden wir
aufgefordert, alle Zahlen von Eins
bis Einhundert miteinander zu
multiplizieren und das Ergebnis noch
um Eins zu vermehren.“ Wan sah mich
erwartungsvoll an. Ich fingerte meine
Kreide umständlich aus dem weiten
Ärmel meines chinesischen Gewandes
und begann, an der einen Seitenwand
mit der Ausführung der Rechnung.
„Verzeiht es einem ungebildeten Bauern,
wenn er Euch wagt zu stören.“ Mir
missfiel zunehmend der so höhnisch
devote Tonfall. „Aber könnt ihr
abschätzen, wie groß diese Zahl ist
und wie groß die Gefahr, Euch bei
ihrer Berechnung zu vertun?“ Ich hielt
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inne und schüttelte den Kopf. „Mit
Eurem arabischen Zahlensystem benötigt
ihr gewiss mehr als einhundert Ziffern
zu ihrer Niederschrift. Lasst mich
Euch untertänigst fragen: Ist 101
eine Primzahl?“ „Diese Zahl kommt
doch gar nicht dabei vor!“ erwiderte
ich vorwurfsvoll. „Bitte, Herr,
beantwortet meine Frage!“ „Gewiss,
101 ist eine Primzahl.“ „Und daher
teilt sie unsere riesige Zahl! Folgt
mir also in den linken Gang, wenn
Ihr meinem schwachen Verstand die
Ehre zu geben bereit seid!“ – Ich
war wieder verblüfft. In der vorigen
Kammer erkannte Wan, dass die dortige
Zahl zusammengesetzt ist, ohne einen
Teiler nennen zu können; hier gab er
den Teiler 101 einer Zahl an, die er
gar nicht gesehen hat. Ich begann an
seinem Verstand zu zweifeln. Aber
Meister Wans selbstsicheres Auftreten
ließen mir keine andere Wahl, und ich
folgte ihm in den niedrigen Gang, in
dem wir nur noch in gebückter Haltung
vorwärts kamen.

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Kammer Vier

Bald erreichten wir die vierte Kammer,
und das zeugte ja davon, dass Wan
doch wieder Recht gehabt hatte. Im
Vertrauen auf den Meister übersetzte
ich laut die Schriftzeichen an der
Wand dieses Raumes. „Jetzt zähle
die Schuppen am Panzer des großen
Drachens: Es sind dies eine mehr
als das Ergebnis deiner Bemühung,
zweiunddreißig mal die Zwei mit sich
selber zu vervielfachen. Hüte dich vor
dem großen Drachen!“ Erwartungsvoll
blickte ich auf Meister Wan. Doch ich
erschrak: der sonst so selbstsichere
Mann war blass geworden. Er setzte
sich auf den Boden, ließ den Kopf
hängen und sagte mit bitterer Ironie:
„Nun, an dem klugen Mann aus dem
fernen Europa werde ich wohl nun
meinen Meister finden! Denn hier bin
ich überfragt. Nach meinem Wissen
vermutet man, dass die Zahl der
Schuppen eine Primzahl ist – aber
mehr ist mir nicht bekannt! – Welche
Antwort haben die Weisen in Europa auf
die Frage nach den Schuppen des großen
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Drachens? Aber wehe, Ihr erweist Euch
nun als Aufschneider und Blender, wie
ich schon lange vermutet habe!“ Ich
erwiderte leise: „Meister! Ich bin
kein Gelehrter wie ihr, noch habe ich
die hohe Rechenkunst in Paris oder in
meiner Heimatstadt studiert.“ Und
leiser fügte ich hinzu: „Ich kann Euch
auch keine Antwort geben!“

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Kammer Fünf

Meister Wan schien von mir auch
nichts anderes erwartet zu haben. Ich
musste mit ansehen, wie dieser eben
noch so stolze Mann leise vor sich
hinweinte, und als er nach geraumer
Zeit immer noch flennend dasaß, schlug
ich entschlossen vor: „Wie sind hier
in der vorletzten Kammer. Wenn wir,
ohne auf die Schriftzeichen zu achten,
willkürlich einen Gang auswählen und
im Falle der glücklichen Wahl in der
letzten Kammer ebenso verfahren,
begeben wir uns vielleicht auf den
einzig richtigen von vier Wegen und
überleben beide. Sollten wir uns aber
hier trennen, so wird einer von uns
den Ausweg aus diesem Labyrinth unter
nur zwei Möglichkeiten wählen können.
Wollen wir das Los werfen?“ Nach
einiger Zeit hob Wan langsam den Kopf.
„Ich bin einverstanden.“ Wir warfen
eine Münze, und Fortuna wies mir
wieder den linken Gang zu. Ich drückte
Meister Wan zum Abschied die Hand,
aber sein weichlicher Händedruck und
das ängstliche Gesicht verrieten wenig
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Haltung. „Nun denn!“ Ich betrat ohne
weitere Worte rasch den linken Gang,
und die hinter mir niederfahrende
Mauer schloss mich in Dunkelheit und
Einsamkeit ein.

Unbeschreiblich ist das Glücksgefühl
eines Eingeschlossenen, wenn er
vor sich wieder einen Lichtschein
sieht. Ich taumelte benommen in die
fünfte Kammer und sank in einer
Ecke des Raumes zusammen. Vor mein
inneres Auge drängten sich die
grausigen Szenen, die sich hier
wenige Zoll von mir entfernt hinter
den dicken Mauern abspielen mussten.
Gleich darauf erschrak ich, denn bei
einer letzten falschen Entscheidung
konnte mich immer noch dasselbe Los
treffen. Ich entsetzte mich über die
Unmenschlichkeit dieser barbarischen
Hofbeamten, mitleidslos die Menschen
verfaulen zu lassen, die auf demselben
Weg durch die Fehlentscheidung eines
Augenblicks gescheitert waren, auf
dem sie selbst einst erfolgreich
aufgestiegen waren – vielleicht nur
durch Zufall begünstigt. Ob sie
wohl eine Schadenfreude empfinden,
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wenn sie nach Jahren die traurigen
Überreste eines Kandidaten finden
und wegschaffen? Über solchen trüben
Gedanken schlief ich ein und träumte
Unbeschreibliches.

Ich erwachte schließlich und kam
mühsam auf die Beine; wie Blei lag es
auf mir – auf meinem Körper und in
meinem Hirn. Ich ergriff eine Fackel
und beleuchtete die Schriftzeichen an
der Wand gegenüber. Die Übersetzung
fiel mir schwer, obgleich ich doch in
dieser Kunst geübt war. Schließlich
las ich: „Vervielfältige die Vier
fünfzehn mal und alsdann die Fünfzehn
viermal. Deine Ergebnisse füge
zusammen zu himmlischer Harmonie und
entscheide dann über dein Geschick!“

Welch ein Sarkasmus! Wer die
himmlische Harmonie nicht erkennt,
darf auch dem Himmlischen nicht dienen
und bezahlt seine Verwegenheit mit
dem Leben. Na gut denn! Ich sah
die Aufforderung, die Ergebnisse
zusammenzufügen, als Additionsaufgabe
an, und rechnete mit der Kreide an der
Wand:
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                     15 mal
                  z     }|        {
                  4 · 4 · . . . · 4 +15 · 15 · 15 · 15
              = 1024 · 1024 · 1024 + 225 · 225
              = 1 073 792 449

Ich betete zu Gott, dass das Ergebnis
stimmt. Doch sank mein Mut ins
Bodenlose, als ich diese Zahl
betrachtete. Wenn es irgendwelche
Teiler geben sollte, so müssen sie
klein sein, sonst habe ich keine
Möglichkeit sie zu finden. Ich
hockte mich wieder in die Ecke und
bekritzelte die Wände. War zuviel Raum
beschrieben, wischte ich mit meinem
Ärmel das Geschreibsel wieder aus.
Ich probierte verzweifelt alle mir
bekannten kleinen Primzahlen durch
– immer blieb ich erfolglos, keine
wollte teilen. Immer rascher rechnete
ich; ich konnte mich nicht zu einer
ruhigen Arbeit aufraffen. Mit der
wachsenden Begierde, einen Teiler zu
finden, wuchs auch die Angst, einen
Teiler durch einen Rechenfehler zu
übersehen. Aber keine Rechnung führte
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zum Ergebnis: 1 073 792 449 blieb trotz
meiner Anstrengungen teilerlos. Immer
mehr drängte sich mir die Vermutung
auf, es mit einer Primzahl zu schaffen
zu haben.

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Kammer Fünf, Fortsetzung

Doch wer will in einer solchen Lage,
in der es auf Leben oder Tod geht,
nicht alle Möglichkeiten geprüft
haben. So rechnete ich wild weiter,
ohne auf ein Ende abzustellen und ohne
darüber nachzudenken, dass ich alle
in Frage kommenden Teiler hier gar
nicht ausprobieren kann. Schließlich,
als ich gerade die Zahl 293 prüfte,
fanden meine Bemühungen ein jähes
Ende: die Kreide ging mir aus. Ich
sank in meiner Ecke zusammen. Wie
lange ich so dagelegen habe, weiß ich
nicht. In meinem Kopf tobte ein Orkan.
Durch äußerste Willensanstrengung
zwang ich mich für einen Augenblick
zur Ruhe und schätzte meine Lage
ein. Zwei Gründe sprachen dafür,
den rechten Ausgang der Kammer zu
wählen: erstens hat doch eine Zahl,
wenn sie keine Primzahl ist, im
überwiegenden Teil aller Fälle einen
kleinen Primteiler, und einen solchen
habe ich hier nicht gefunden. Und
zweitens waren in den vorherigen
Kammern nie Primzahlen gewesen, und
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sich für eine solche hier nun zu
entscheiden, bedeutete auch eine
sicher beabsichtigte Mutprobe, da
jetzt Rechnungen wegen der Größe der
Zahl allein nicht zum Ziel führen
können. Aber welcher Mensch mag sein
Leben auf dieses Wagnis setzen?
Es fehlte mir an Willenskraft und
Wissen, das Verhältnis günstiger und
ungünstiger Möglichkeiten in meinem
Fall abzuschätzen, und so entschied
ich mich für den rechten Gang.

Lange wagte ich nicht, meinen Weg
in der beschlossenen Richtung
fortzusetzen. Was mir jetzt durch den
Kopf ging, soll die Feder auf dem
Papier nicht wiederholen. Nach einem
verzweifelten Gebet überschritt ich
hastig die Schwelle und stieß sofort
mit dem Kopf derb an ein Hindernis.
Ich war davon so benommen, dass ich
die hinter mir niedersausende Wand
nicht wahrnahm. Als der heftige
Schmerz endlich nachließ, war ich
wieder der Verzweiflung nahe. Ich
konnte die Hand nicht mehr vor den
Augen sehen, und der Gang war so
niedrig, dass ich nur in gebückter
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Haltung vorwärts kommen konnte.
Schließlich musste ich mich auf
die Knie herablassen und mich beim
Vorwärtskriechen auf den Händen
abstützen. In meinem Hirn hämmerte nur
ein Gedanke: du hast dich nun doch
geirrt und bist in eine Sackgasse
geraten. Ein so niedriger Gang kann
keinen Ausgang haben! Gleich kommst
du nicht mehr weiter und hast die
furchtbare Gewissheit! Ich muss es
eingestehen: ich bin wohl nicht
nur wie ein Hund auf allen Vieren
gekrochen – ich habe gewiss auch wie
ein solcher gewinselt. In diesem
Augenblick habe ich alle Würde und
Selbstachtung verloren. Was taugt
mein Geschwätz von vorhin, als ich
Wan kühl rechnend die Trennung
vorschlug und wo sich meine Klugheit
in meinen eigenen Ohren zu bestätigen
schien. Ich bin jetzt einfach nur im
Irrtum, und zahle dafür mit meinem
Leben. Wie zur Bestätigung dieses
hoffnungslosen Gedankens stoße ich in
diesem Augenblick mit den Händen vor
mir an eine Wand. Mir entfährt ein
kurzer Schrei. Aus, vorbei. Ich lasse

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mich auf den Bauch fallen und berge
mein Gesicht in den sandigen Händen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so
gelegen habe. Plötzlich nehme ich
durch meine Finger einen Lichtschein
wahr. Ich hebe den Kopf – die Wand vor
mir ist verschwunden, und ich schaue
in das feiste Gesicht des Mandarins
der 38.-ten Rangstufe. Einige Diener
ziehen mich aus dem Gang, und ich
finde mich in einem großen Saal
wieder. Zu meinem Erstaunen hocken
Meister Wan und Meister Li–Pu beide
auf dem Boden. Sie weinen hemmungslos
wie zwei kleine Kinder. Von ihrer
stolzen Würde ist nichts mehr
geblieben. Offenbar haben sie ähnliche
Erlebnisse gehabt wie ich und glaubten
sich auch dem Tode nahe. Aber wieso
sind sie nicht eingemauert? Nur ich
habe doch den richtigen Weg gefunden!
Aus meiner Benommenheit reißt mich ein
lauter Gongschlag.

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� @CrypTool       C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:          Ausgang

Ausgang

Erschrocken wende ich mich um, und
erblicke hinter mir in der ganzen
Länge des Raumes in der Wand eine
Vielzahl von Öffnungen, die durch
Holzklappen verschlossen sind. Aus
einer dieser Luken haben mich eben die
Diener gezogen. Der Mandarin verbeugt
sich vor mir und verkündet mit dem
unverbindlichsten Lächeln, zu dem
ein Chinese fähig ist: „Ich nehme
Euch die Mühe des Zählens ab, Herr.
Es sind 32 Stück!“ Erst allmählich
fasse ich die schier unglaubliche
Bedeutung dieser Zahl für die Prüfung
in dem Labyrinth. „Ich gratuliere,
Ehrwürdigster Herr. Da ihr alle Drei
nun wieder hier versammelt seid,
dürft Ihr auch glauben, dass es in
dem Labyrinth gar keine Sackgassen
gibt. Jeder Gang führt in eine neue
Kammer. Nach dem Willen unseres
gütigen Herrschers darf das Leben
aller Anwärter auf das Amt bei der
Auswahl nicht gefährdet werden.“ Mein
fragender Gesichtsausdruck forderte
den Mandarin zu weiteren Erklärungen
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auf: „Wie weise ist doch der Khan,
nicht Eure Rechenkunst allein auf die
Probe zu stellen! Über jeder Kammer
des Labyrinths hat vielmehr der
Wächter, der die Gänge verschlossen
hat, Euren Gesprächen mit Meister
Wan und Meister Li-Pu gelauscht. Wer
ein so hohes Amt begehrt, muss nicht
nur Mut und Verstand besitzen, es
darf auch an der schwierig zu übenden
Kunst nicht fehlen, die Argumente
anderer trotz der eigenen Überzeugung
anzuhören und zu erwägen. In diesem
Labyrinth brechen wir den Stolz der
Kandidaten, blicken hinter die Maske
der eingeübten Höflichkeiten und sehen
so, ob einer unter Gleichgestellten
nicht doch nur den eigenen Vorteil
sucht.“ Zu Wan und Li gewandt, die
noch immer erschöpft am Boden kauern,
fährt der Mandarin fort: „Erhebt Euch,
ihr Herren! Der letzte Teil Eurer
Prüfung steht nun an. In seiner
strahlenden Gerechtigkeit erwartet
Euch der Herrscher, um sich von
jedem die Frage nach der Teilbarkeit
der Zahl aus der letzten Kammer
beantworten zu lassen. Ihr seid alle

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� @CrypTool       C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:          Ausgang

in einer fünften Kammer gewesen, und
in jeder stand dieselbe Zahl. So folgt
mir nun!“

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� @CrypTool       C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:         Rückkehr

Rückkehr

An dieser Stelle endet die
Überlieferung. Am nächsten Tag
klopft kurz vor 15.00 Uhr ein
blasser junger Mann schüchtern an
die Bürotür des Abteilungschefs im
Technologiezentrum. Sofort wird die
Tür schwungvoll geöffnet, und ein
schelmisch dreinblickender Professor
begrüßt ihn mit den Worten: „Herr
Paulsen! Kommen Sie! Ich bin schon
ganz neugierig zu erfahren, wie
Marco Polo die Stelle beim Großkhan
gekriegt hat.“ Die Tür wird hinter
dem Kandidaten zugeworfen, und im
Vorzimmer kommentiert eine völlig
entgeisterte Sekretärin die Situation:
„Jetzt ist er völlig übergeschnappt!“

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� @CrypTool       C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:           Ende

Ende

Liebe Leser, hier endet die
Geschichte. Wenn Sie einen
vollständigen Schluss wünschen,
schlüpfen Sie in die Rolle des Markus
Paulsen und lösen Sie das Geheimnis
der fünften Kammer. Wenn Sie es
herausfinden, bekommt Paulsen den Job,
anderenfalls ….

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� @CrypTool       C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   Erläuterungen und Hinweise

Erläuterungen und
Hinweise

Marco Polo lebte von 1254 bis 1324
und er war bekannt für seine Reisen
nach China. Am Hofe des chinesischen
Kaisers hat er eine Prüfung zu
bestehen: Er geht gemeinsam mit zwei
Mitbewerbern durch ein Labyrinth mit
fünf Stationen. In jeder Kammer haben
die Bewerber Aufgaben zu lösen, die
alle mit der Teilbarkeit von Zahlen zu
tun haben. Spannend ist insbesondere
das Geheimnis der fünften Kammer.

Erste Kammer/Hinweise

Hier wird eine einfache Abschätzung
der möglichen Primteiler einer Zahl
vorgenommen: wenn die gegebene Zahl
keine Primzahl ist, ist wenigstens
einer der Primfaktoren nicht größer
als die Wurzel dieser Zahl.

Diese Abschätzung ist auch die
Grundlage eines bereits in der Antike
bekannten Verfahrens zur Ermittlung
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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.2. Zweite Kammer/Hinweise

von Primzahlen: Setzt man die
Primzahlen unterhalb 10 als bekannt
voraus (also: 2, 3, 5 und 7), so erhält
alle Primzahlen zwischen 10 und
10 · 10 = 100, indem man aus den Zahlen
10, 11, . . . , 100 erst alle Vielfachen
von 2 streicht (also alle geraden
Zahlen), dann alle Vielfachen von 3,
von 5, und zuletzt alle Vielfachen von
7. Das ist alles. Einige Zahlen werden
dabei mehrfach gestrichen, wie z.B.
die 30, da sie ein Vielfaches von 2,
3 und 5 ist. Übrig bleiben genau die
21 Primzahlen zwischen 10 und 100.

Das ist das Sieb des Eratosthenes (3.
vorchristl. Jahrhundert).

Zweite Kammer/Hinweise

Hier hat Meister Wan einen tieferen
Satz aus der Primzahltheorie
angewendet.

Zunächst hat er nachgewiesen, dass
die Zahl 3 240 001 auf zwei wesentlich
verschiedene Weisen als Summe von
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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.2. Zweite Kammer/Hinweise

zwei Quadraten natürlicher Zahlen
geschrieben werden kann:

18002 +1 = 18002 +12 = 3 240 001 = 17992 +602

Die linke Darstellung sieht man
schnell der Zahl selber an, die
rechte ergibt sich mit der zweiten
Binomischen Formel:

      a2 – 2ab + b2 = (a – b)2                                      | + 2ab
                    a2 + b2 = (a – b)2 + 2ab

         18002 + 12 = (1800 – 1)2 + 2 · 1800

Zum Zweiten sind aus der Zahlentheorie
folgende zwei Dinge bekannt über
Primzahlen > 2, die sich als Summe von
zwei Quadraten schreiben lassen:

  a) eine solche Primzahl ergibt bei
     der Division durch 4 den Rest 1.
     Dieses Kriterium erfüllt 3 240 001
     noch.
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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.3. Dritte Kammer/Hinweise

   b) Für eine solche Primzahl
      existiert nur eine solche
      Darstellung (als Summe zweier
      Quadratzahlen) (abgesehen
      vom Tausch der Summanden
      untereinander).

Die Zahl 3 240 001 kann also
keine Primzahl sein, da sie zwei
verschiedene Darstellungen als Summe
von zwei Quadraten besitzt.

Und in der Tat ist 3 240 001 = 1741 · 1861,
wobei beide dieser Faktoren Primzahlen
sind.

 Dritte Kammer/Hinweise

Was Meister Wan in dieser Kammer
angewendet hat, kennen spätere
Zeiten als den Satz von Wilson
(Sir John Wilson, 1741-1793)1 . Es
handelt sich dabei um das bis heute
theoretisch einfachste Mittel zur
Charakterisierung einer natürlichen
Zahl als Primzahl:
1 DieserSatz wurde zuerst von Joseph-Louis
 Lagrange (1736-1813) im Jahre 1770 bewiesen.

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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.3. Dritte Kammer/Hinweise

        Eine natürliche Zahl n > 1 ist
        genau dann eine Primzahl,
        wenn sie das um 1 vermehrte
        Produkt aller Zahlen von 1
        bis (n – 1) teilt.

Oder anders ausgedrückt: Eine
natürliche Zahl n > 1 ist genau dann
eine Primzahl, wenn gilt:

(n – 1)! ≡ –1 mod n bzw. (n – 1)! + 1 ≡ 0
mod n.

Das Zeichen ≡ bedeutet, dass die
linke Seite kongruent ist zur rechten
bezüglich des angegebenen Modulus. In
der Grundschule würde man sagen: a ist
kongruent zu b modulo n, wenn man
beim Teilen von a durch n den Rest b
erhält, z. B.: 11 ≡ 2 mod 3

Mit den Zahlen des Rätsels aus Kammer
3 hat man dann einerseits:

Da 101 eine Primzahl ist, teilt sie
die Zahl

              z := 1 · 2 · 3 · 4 · . . . · 99 · 100 + 1
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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.3. Dritte Kammer/Hinweise

In die andere Richtung bedeutet dies:
Man berechnet z = 100! + 1, und wenn z
durch n = 101 teilbar ist, ist 101
eine Primzahl.

Da aber, wie Meister Wan erwähnt
hat, das Produkt der ersten (n – 1)
natürlichen Zahlen sehr rasch mit n
anwächst (Mathematiker nennen dieses
Produkt heutzutage eine Fakultät),
eignet sich das Wilson-Kriterium
leider nicht zum praktischen Nachweis
einer größeren Zahl n als Primzahl.

Beispiel: Schon für die Primzahl 71
hat die zu prüfende Zahl 70! + 1 mehr
als 99 Stellen. Für kleine Zahlen
kann man Wilson aber gut verifizieren:
5 ist prim, denn 5 teilt 4! + 1 = 25
(aber 6 ist nicht prim, denn 6 teilt
nicht 5! + 1 = 121). Beispiel: Die
obige Zahl z aus der dritten Kammer,
hergeleitet aus der 3-stelligen
Zahl n = 101, hat 158 Dezimalstellen
(z ≈ 9,33 · 10157 )! Wollte man also mit
dem Wilson-Kriterium n = 101 auf seine
Primzahleigenschaft prüfen, müsste man
erst diese riesige Zahl z berechnen.

Ohne Computer geht das sicher nicht.
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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.3. Dritte Kammer/Hinweise

Heutzutage braucht man dafür mit
SageMath weniger als eine Sekunde:
sage: factorial(100)+1                   1

CPU times: user 23 µs, sys: 8 µs, �      2

  � total: 31 µs
Wall time: 33.9 µs                       3

933262154439441526816992388562667004 � 4
  � 9071596826438162146859296389521759 �
  � 9993229915608941463976156518286253 �
  � 6979208272237582511852109168640000 �
  � 00000000000000000001

Diese Zahl lässt sich durch 101
teilen, wie man hier an der
Faktorisierung sieht:
sage: factor(factorial(100)+1)           1

sage: factor(factorial(100)+1)           2

101 * 14303 * 149239 * 3504330071706 � 3
  � 16328107072379 * 12352868165729972 �
  � 5139850301753437870834851240077146 �
  � 5312124056290542248784139238223033 �
  � 2719595673628830482510147773644742 �
  � 07

Die Zerlegung von z = 100! + 1
in seine Primfaktoren dauert
allerdings ein klein wenig länger,
als die Berechnung von z. Mit
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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.3. Dritte Kammer/Hinweise

sage:%time factor(factorial(100)+1)!
kann man sich rückmelden lassen, wie
lange genau es dauert. Der MacMini,
an dem dieser Text editiert wurde,
brauchte dazu gut 3 Minuten:
CPU times: user 3min 1s, sys: 182 ms �                                                             1

  � , total: 3min 1s
Wall time: 3min 1s                                                                                 2

Im Folgenden soll ein Gefühl
gegeben werden, für welche
Größenordnungen man auf dem PC noch
realistischerweise die Fakultät
berechnen kann: Die
                       Berechnung
                        
                      7
der Fakultät z = 10 ! ist schon
nach wenigen Sekunden erfolgreich
und ergibt 1, 20 · 1065 657 059 – eine
Zahl mit 65 657 060 Dezimalstellen.
Vor 20 Jahren brauchte
                           schon die
                8
Fakultät z = 10 ! eine Rechenzeit
von einigen Stunden und stoppte dann
mit einer Overflow-Meldung. Heute
im Jahr 2020 mit SageMath liefert
sage:%time x=factorial(10**8)! eine
Rechenzeit wie folgt:
CPU times: user 49.5 s, sys: 1.87 s, �                                                             1

  � total: 51.3 s
Wall time: 51.9 s                                                                                  2

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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.3. Dritte Kammer/Hinweise

Man beachte, dass es, wenn man
sage:%time factorial(10**8)! (ohne
die Zuweisung x=...) verwendet,
wesentlich länger dauert, da das
Ergebnis dann von SageMath nicht nur
berechnet, sondern auch auf den
Bildschirm
         ausgegeben wird. Die Zahl
    8
  10 ! hat ca. achthundert Millionen
Dezimalstellen.
        
       9
Bei 10 ! geht die Berechnung schon
nicht mehr so schnell:

sage:%time factorial(10**9)!

CPU times: user 11min 43s, sys: 4min �                                                               1

  � 16s, total: 16min
Wall time: 22min 51s                                                                                 2

                                                        
Die Berechnung von       ! mit                    1010
SageMath schafft der 8GB Mac Mini
nicht mehr. Nach etwa einer Stunde
stürzt das Programm ab und man erhält
folgende Fehlermeldung Fehlermeldung:

/pathtosage/Contents/Resources/sage/ �
� src/bin/sage-python: line 2: 2305 �
� Killed: 9sage -python "$@"
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Die Größenordnung bzw. die Stellenzahl
von Fakultäten kann man mit der sog.
Stirlingschen Formel abschätzen:

                                        √          n n
                                n! ≈        2πn
                                                       e

Der auf eine ganze Zahl abgerundete
Zehnerlogarithmus dieser Zahl gibt
die Anzahl der Dezimalstellen dn!
von n! an. Für n = 10 hat demnach
1010 ! = 10 000 000 000! etwa 96
Milliarden Dezimalstellen:
sage: def stirling(n):                                                                             1

....:     ef=e.n()                                                                                 2

....:     pif=pi.n()                                                                               3

....:     x=sqrt(2*pif*n)*((n/ef)**n �                                                             4

  �)
....:     return x                                                                                 5

....:                                                                                              6

sage: stirling(10**10)                                                                             7

2.32579597597705e95657055186                                                                       8

sage: log(stirling(10**10),10)                                                                     9

9.56570551863666e10                                                                                10

Zum Vergleich: Die Anzahl der Atome im
Universum (die sog. Eddington-Zahl)
beträgt ca. 1080 , hat also 81
Dezimalstellen.
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Heutzutage werden Zahlen mit
mehr als 100 Dezimalen auf ihre
Primalität untersucht (siehe z. B.
https://primes.utm.edu/largest.html).
Würde man für den Primalitätstest
einer 100-stelligen Zahl das Wilson
Kriterium heranziehen wollen, müsste
man mindestens (101 00)! berechnen
können. Hier streikt sogar die
Stirling-Abschätzung:
sage: stirling(10**100)                                                                            1

+infinity                                                                                          2

Wenn man n = 10100 in die
Stirlingformel einsetzt und die
Abschätzung der Dezimalstellen
per Hand ausführt, kommt man auf
fast 10102 . Das heißt, für mehr als
hundertstelliges n hätte die Fakultät
n! mehr Dezimalstellen, als es Atome
im Universum gibt. Man sieht: Das
Wilson Kriterium hat für größere
Zahlen keinen praktischen Nutzen.

Meister Wan konnte also nur deshalb so
schnell urteilen, weil in der Aufgabe
die Konstruktionsvorschrift der Zahl z
bekannt gegeben wurde.
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Vierte Kammer/Hinweise

In der vierten Kammer geht es um die
berühmten Fermat-Zahlen (Pierre
de Fermat, 1601-1665), die man
erhält, indem man ganz bestimmte
Zweierpotenzen um eins erhöht, und
zwar diejenigen Zweierpotenzen, deren
Exponent selbst eine Zweierpotenz ist:

                                          n
                                                 
                                  Fn = 2 2 + 1

Mittlerweile weiß man, dass die von
Meister Wan beschriebene Vermutung
falsch ist. Zwar hat man lange
vermutet, das alle Fermat-Zahlen
Primzahlen sind, aber Leonhard Euler
(1707-1783) hat diese Vermutung für
n = 5 widerlegt:
sage: def f(n):                                                                                    1

....:      return(2**(2**n)+1)                                                                     2

....:                                                                                              3

sage: for i in range(6):                                                                           4

....:      print(f'F_{i}=2**(2**{i})+ �                                                            5

  � 1=2**{2**i}={f(i)}={factor(f(i)) �
  � }')
....:                                                                                              6

....:                                                                                              7

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F_0=2**(2**0)+1=2**1=3=3                                                                           8

F_1=2**(2**1)+1=2**2=5=5                                                                           9

F_2=2**(2**2)+1=2**4=17=17                                                                         10

F_3=2**(2**3)+1=2**8=257=257                                                                       11

F_4=2**(2**4)+1=2**16=65537=65537                                                                  12

F_5=2**(2**5)+1=2**32=4294967297=641 �                                                             13

  � * 6700417

Die Zahl F5 ist die Zahl, um die es
in der vierten Kammer geht. Wie man
sieht ist sie durch 641 teilbar.
Euler hat den Faktor 641 nicht
etwa dadurch gefunden, dass er F5
nacheinander durch alle Primzahlen
2, 3, 5, 7, . . . dividiert hat. Er fand
einen mathematischen Trick, nämlich,
dass jeder Primteiler von F5 von der
Form 64 · k + 1 sein muss:
sage: for k in range(11):                                                                          1

....:      print(f'k={k}: 64*{k}+1={6 �                                                            2

  � 4*k+1}={factor(64*k+1)}')
....:                                                                                              3

k=0: 64*0+1=1=1                                                                                    4

k=1: 64*1+1=65=5 * 13                                                                              5

k=2: 64*2+1=129=3 * 43                                                                             6

k=3: 64*3+1=193=193                                                                                7

k=4: 64*4+1=257=257                                                                                8

k=5: 64*5+1=321=3 * 107                                                                            9

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k=6: 64*6+1=385=5 * 7 * 11                                                                         10

k=7: 64*7+1=449=449                                                                                11

k=8: 64*8+1=513=3^3 * 19                                                                           12

k=9: 64*9+1=577=577                                                                                13

k=10: 64*10+1=641=641                                                                              14

Euler musste demnach nur fünf
Divisionen mit der Hand ausführen, da
aus obiger Liste nur die Primzahlen
als Teiler in Frage kommen.

Die sechste und siebte Fermatzahl
wurden erst im Jahr 1855 bzw. 1970
vollständig faktorisiert:
F_6=2**(2**6)+1=2**64=18446744073709 � 1
  � 551617=274177 * 67280421310721
F_7=2**(2**7)+1=2**128=3402823669209 � 2
  � 38463463374607431768211457=5964958 �
  � 9127497217 * 570468920068512905472 �
  �1

Selbst heute haben wir weder einen
Beweis, ob F0 , F1 , . . . F4 die einzigen
5 primen Fermat-Zahlen sind, noch
wissen wir, ob es unendlich viele
Primzahlen von dieser Gestalt gibt.
Für n ≥ 5 hat man bisher noch keine
weitere gefunden. Viele Details zu
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Fermat-Zahlen finden sich unter http:
//www.prothsearch.com/fermat.html.

Primalitätstests für sehr große
zufällige Zahlen funktionieren
(noch) nicht. Dagegen gibt es sehr
effiziente Algorithmen für bestimmte
Zahlenformen. Da man mit den reinen
Fermat-Zahlen keine großen Primzahlen
finden konnte, werden insbesondere
im GIMPS2 -Projekt Mersenne-Zahlen
untersucht. Das sind Zahlen der Form

                                        2p – 1,

wobei p selbst eine Primzahl ist.

Die heutigen Primzahlrekorde
wurden mit Zahlen von dieser Form
aufgestellt.
 sage: def mersenne(n):                                                                             1

 ....:      for i in range(1,n):                                                                    2

 ....:          if is_prime(i):                                                                     3

 ....:              print(f'{i}: 2**{i �                                                            4

   � }-1={2**i-1}={factor(2**i-1)}')
 ....:                                                                                              5

 sage: mersenne(30)                                                                                 6

 2: 2**2-1=3=3                                                                                      7

2 Great   Internet Mersenne Prime Search

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3: 2**3-1=7=7                                                                                      8

5: 2**5-1=31=31                                                                                    9

7: 2**7-1=127=127                                                                                  10

11: 2**11-1=2047=23 * 89                                                                           11

13: 2**13-1=8191=8191                                                                              12

17: 2**17-1=131071=131071                                                                          13

19: 2**19-1=524287=524287                                                                          14

23: 2**23-1=8388607=47 * 178481                                                                    15

29: 2**29-1=536870911=233 * 1103 * 2 �                                                             16

  � 089

Unter den ersten10 000 gibt es 22
solcher Primzahlen p.

sage: def countmersenne(N):                                                                        1

....:     count=0                                                                                  2

....:     for i in range(1,N):                                                                     3

....:         if is_prime(i):                                                                      4

....:             if is_prime(2**i-1 �                                                             5

  � ):
....:                 count=count+1                                                                6

....:     return(count)                                                                            7

....:                                                                                              8

sage: %time countmersenne(10000)                                                                   9

CPU times: user 9h 7min 26s, sys: 12 �                                                             10

  � s, total: 9h 7min 38s
Wall time: 9h 7min 39s                                                                             11

22                                                                                                 12

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� @CrypTool   C. Elsner   Das Chinesische Labyrinth:   XII.5. Lös. Kammer 5, Tip 1

Die derzeit größten bekannten
Primzahlen sind Mersenne-Primzahlen:

                                282 589 933 – 1

Diese Primzahl hat 24 862 084
Dezimalstellen (gefunden im Jahr
2018). Zum Vergleich: Im Jahr 2005 war
man noch bei 225 964 951 – 1, die Zahl hat
„nur“ 7 816 230 Dezimalstellen.
Weitere Informationen zur Suche
nach Primzahlformeln finden Sie
ausführlich im CrypTool Buch
(https://www.cryptool.org/images/ctp/
documents/CT-Book-de.pdf) im Kapitel
3.

Fünfte Kammer – erster Hinweis

Die Zahl in der fünften Kammer ist das
Produkt der beiden Primzahlen 29 153
und 36 833. Dem liegt ein tieferes
Geheimnis zugrunde.
Sie können ergründen, warum für
jede natürliche Zahl n > 1 die Summe
aus der n-ten Potenz von 4 und der
vierten Potenz von n stets eine
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zusammengesetzte Zahl ist. Man muss
dazu das Ergebnis N = 1 073 792 449 gar
nicht ausrechnen.

Unter etwas glücklicheren Umständen
und ohne die scheinbare Todesgefahr
hätte das Marco Polo einsehen können.

Hilfestellung:

Versuchen Sie den (mehr oder weniger
nahe liegenden) Faktorisierungsansatz
für eine Summe:

          N = n4 + 4n  für n = 15
                                             
  154 + 415 = 152 + 15a + 215 · 152 – 15a + 215

Die rechte Seite wird nun mit
Hilfe des Distributivgesetzes
ausmultipliziert:
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      152 + 15a + 215 · 152 – 15a + 215

= 154 – 153 a + 215 · 152 + 153 a – 152 a2 + 215 · 15a
+ 215 · 152 – 215 · 15a + 415
= 154 + 215 · 152 – 152 a2 + 215 · 152 + 41 5
= 154 + 216 · 152 – 152 a2 + 415
= 154 + (28 )2 · 152 – 152 a2 +415
        |         {z        }
                                 !
                                =0

Da der mittlere Teil verschwinden
muss, wenn man auf 154 + 415 kommen
will, folgt:

                                 a = 28 = 256

Damit kann man nun mit wenig
Rechenaufwand und ohne Computer eine
Zerlegung von 154 + 415 in Faktoren
angeben:

152 ± 15a + 215 = 225 ± 15 · 256 + 32 768
                  
                    225 + 3840 + 32768 = 3683
                =
                    225 – 3840 + 32768 = 2915
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Deshalb hätte man also nicht nur
leicht die Frage (prim oder nicht
prim) beantworten können, sondern
sogar die beiden Faktoren bestimmen
können. Diese Faktoren müssen nicht
prim sein, hier sind sie es aber:
sage: factor(15**4+4**15)                                                                        1

29153 * 36833                                                                                    2

Hinter diesem Ansatz verbirgt sich,
mathematisch ausgedrückt, eine
Zerlegung des Polynoms f(x) = x4 + 4n
in zwei quadratische Polynome mit
ganzzahligen Koeffizienten. Damit dies
möglich ist, muss n ungerade sein.
Dazu mehr im noch folgenden zweiten
Hinweis zur fünften Kammer.

Marco Polo’s wahrscheinlichkeitstheo-
retische Vermutung zu der Dominanz
kleiner Teiler bei zusammengesetzten
Zahlen wurde später bewiesen. Man
kann für jede natürliche Zahl a > 1
nämlich folgendes zeigen (siehe
Literaturverzeichnis, [5]):
Unter den ersten m natürlichen Zahlen
1, 2, 3, . . . , m konvergiert der relative
Anteil der Zahlen mit Primteilern
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